15. Kapitel

Der Schmerz klingt ab und wird zu einem dumpfen Stechen. Vorsichtig greife ich unter meine Jacke und taste nach der Wunde. Ich blute nicht, aber die Wucht des Schusses hat mich zu Boden geworfen, also muss mich irgendetwas getroffen haben. Ich taste mit den Fingern meine Schulter ab und spüre eine harte Beule, wo sonst weiche Haut ist.

Ich höre ein Klicken auf dem Boden, direkt neben meinem Gesicht. Ein metallener Zylinder, ungefähr so groß wie meine Hand, rollt gegen meinen Kopf und bleibt liegen. Bevor ich ihn wegschieben kann, strömt aus beiden Enden weißer Rauch. Ich huste und schleudere den Zylinder weit weg, tiefer in die Eingangshalle. Aber das ist nicht der einzige Zylinder – sie sind überall, im ganzen Raum verteilt und verströmen Rauch, der weder brennt noch beißt, sondern einem nur für ein paar Augenblicke die Sicht nimmt, ehe er sich auflöst.

Was soll das?

Überall um mich herum liegen Soldaten der Ferox mit geschlossenen Augen. Stirnrunzelnd betrachte ich Uriah, suche ihn von Kopf bis Fuß nach einer Schusswunde ab. Er scheint nicht einmal zu bluten, und dort, wo lebenswichtige Organe sind, sehe ich auch keine Verletzungen; er kann also nicht tot sein. Wieso hat er das Bewusstsein verloren? Ich sehe über die Schulter zu Lynn, die in einer merkwürdigen, halb gekrümmten Stellung daliegt. Auch sie ist bewusstlos.

Die Ferox-Verräter gehen mit ihren Waffen im Anschlag in die Eingangshalle. Ich mache das, was ich immer tue, wenn ich nicht weiß, was los ist, ich verhalte mich so wie alle anderen. Ich lasse den Kopf sinken und schließe die Augen. Mein Herz pocht, denn die Schritte der Ferox kommen quietschend über den Marmorfußboden auf mich zu. Ich beiße mir auf die Zunge und unterdrücke einen Aufschrei, als mir jemand auf die Hand tritt.

»Ich verstehe nicht, warum wir denen allen nicht einfach einen Kopfschuss verpassen können«, sagt eine Stimme über mir. »Ohne Gegner haben wir doch leichtes Spiel.«

»Das ist schön und gut, Bob, aber wir können ja wohl kaum alle umbringen«, antwortet eine kalte Stimme.

Meine Nackenhaare stellen sich auf. Diese Stimme würde ich überall wiedererkennen. Sie gehört Eric, einem Anführer der Ferox.

»Wenn keiner mehr übrig ist, dann ist auch niemand mehr da, der später für unseren Wohlstand sorgt«, erklärt Eric. »Wie auch immer, wir sind nicht hier, um Fragen zu stellen.« Er hebt die Stimme. »Die Hälfte von euch in die Aufzüge, die andere Hälfte verteilt sich auf die Treppenhäuser rechts und links. Los jetzt!«

Links von mir liegt eine Pistole. Ich könnte die Augen aufmachen, sie mir schnappen und auf ihn schießen, ehe er überhaupt weiß, wie ihm geschieht. Aber ich kann nicht garantieren, dass ich nicht wieder in Panik verfalle, sobald ich die Waffe berühre.

Ich warte, bis die letzten Schritte hinter einer Fahrstuhltür oder in einem Treppenhaus verklungen sind, bevor ich die Augen aufschlage. Alle in der Eingangshalle scheinen bewusstlos zu sein. Was für ein Gas das auch ist, mit dem sie uns benebelt haben, es löst Simulationen aus, sonst wäre ich hier nicht die Einzige, die noch bei Bewusstsein ist. Ich kann mir keinen Reim darauf machen – es passt so gar nicht zu allem, was ich über Simulationen weiß –, aber ich habe jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken.

Ich nehme mein Messer und stehe auf, ignoriere den stechenden Schmerz in meiner Schulter. Ich laufe zu einer toten Ferox-Verräterin, die in der Nähe der Eingangstüren liegt. Sie ist nicht mehr die Jüngste, ihr schwarzes Haar ist schon von grauen Strähnen durchzogen. Ich versuche, nicht auf die Schusswunde zu achten, aber das matte Licht fällt auf etwas, was wie blanker Knochen aussieht, und ich muss würgen.

Denk nach. Es ist egal, wer sie war, wie sie hieß oder wie alt sie wurde. Einzig ihr blaues Armband zählt. Also werde ich mich nur darauf konzentrieren. Ich fahre mit dem Finger unter den Stoff und ziehe daran, aber er lockert sich nicht. Er scheint an ihrer schwarzen Jacke angenäht zu sein. Mir bleibt nichts anderes übrig, als auch die Jacke mitzunehmen.

Ich ziehe meine eigene Jacke aus und werfe sie über ihr Gesicht, damit ich sie nicht ansehen muss. Dann öffne ich den Reißverschluss ihrer Jacke und ziehe sie der Frau aus. Erst den linken Arm, dann den rechten. Ich beiße die Zähne aufeinander, als ich die Jacke schließlich unter ihrem schweren Körper hervorzerre.

»Tris!«, ruft jemand. Ich drehe mich um, in der einen Hand die Jacke, in der anderen das Messer. Dann stecke ich das Messer wieder weg – die Ferox hatten keine Messer dabei, als sie hereingestürmt sind, und ich will keinen Verdacht erregen.

Hinter mir steht Uriah.

»Auch ein Unbestimmter?«, frage ich ihn. Jetzt ist nicht der richtige Augenblick, sich darüber zu wundern.

»Ja«, antwortet er knapp.

»Nimm dir eine Jacke«, sage ich.

Er kniet sich neben einen Ferox-Verräter, der noch sehr jung ist, nicht einmal alt genug, um ein richtiges Mitglied der Ferox zu sein. Beim Anblick seines bleichen, leblosen Gesichts zucke ich unwillkürlich zusammen. Ein so junger Mensch sollte nicht tot sein, sollte gar nicht erst hier sein.

Mein Gesicht brennt vor Zorn. Ich werfe mir die Jacke der Frau über die Schultern. Auch Uriah zieht seine Jacke an, seine Lippen sind zusammengepresst.

»Die hier sind die einzigen Toten«, sagt er leise. »Kommt dir das nicht auch merkwürdig vor?«

»Ihnen muss klar gewesen sein, dass wir auf sie schießen würden, aber sie sind trotzdem gekommen«, sage ich. »Aber das können wir später klären. Jetzt müssen wir erst mal nach oben.«

»Nach oben? Warum?«, fragt er. »Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden.«

»Du willst abhauen, bevor du weißt, was hier eigentlich los ist?«, frage ich grimmig. »Die anderen Ferox da oben wissen nicht, wie ihnen geschieht – wir können nicht einfach weg!«

»Und wenn uns jemand erkennt?«

Ich zucke mit den Schultern. »Hoffen wir, dass es nicht so ist.«

Ich renne in Richtung Treppenhaus und er folgt mir. Als ich meinen Fuß auf die erste Stufe setze, frage ich mich, was um Himmels willen ich eigentlich vorhabe. In diesem Gebäude müssen noch mehr Unbestimmte sein, aber vielleicht wissen sie überhaupt nicht, dass sie unbestimmt sind. Vielleicht ist ihnen nicht klar, dass sie sich verstecken müssen. Und was verspreche ich mir eigentlich davon, dass ich mich Hals über Kopf mitten in eine Armee von Ferox-Verrätern stürze?

Tief in meinem Inneren kenne ich die Antwort. Ich bin wieder einmal tollkühn. Ich werde wahrscheinlich nichts erreichen. Ich werde wahrscheinlich sterben.

Und was noch beunruhigender ist: Es macht mir nichts aus.

»Sie werden sich zu den obersten Stockwerken durchkämpfen«, keuche ich. »Also gehst du am besten … in die dritte Etage. Sag den anderen … sie sollen das Stockwerk räumen. Aber leise.«

»Und wo gehst du hin?«

»In den zweiten Stock.« Ich drücke mit meiner Schulter die Tür zur zweiten Etage auf. Mein Plan steht fest, ich will die Unbestimmten suchen.

Während ich den Gang entlang gehe und über bewusstlose Menschen in schwarz-weißer Kleidung steige, muss ich an einen Vers denken, den die Kinder der Candor immer gesungen haben, wenn sie dachten, dass niemand ihnen zuhört.

Die Ferox sind die grausamsten der fünf,

Sie reißen sich gegenseitig in Stücke.

Nie ist mir dieser Spruch so treffend vorgekommen wie heute, nachdem ich den Ferox-Verrätern dabei zusehen musste, wie sie mit einer Simulation sämtliche Menschen hier außer Gefecht gesetzt haben – und dass, obwohl es noch nicht einmal einen Monat her ist, dass ein ganz ähnliches Simulationsprogramm sie dazu zwang, wahllos Altruan abzuschlachten.

Wir sind die einzige Fraktion, die sich in zwei feindliche Lager aufspalten kann. Die Amite würden niemals auch nur einen Zwist erlauben; keiner von den Altruan wäre egoistisch genug; die Candor würden miteinander diskutieren, bis sie alle eine Lösung gefunden hätten; nicht einmal die Ken würden etwas so Irrationales und Unlogisches tun. Wir sind wirklich die grausamste Fraktion von allen.

Ich stolpere über einen ausgestreckten Arm und über eine Frau mit aufgerissenem Mund und summe leise den Anfang des nächsten Verses vor mich hin:

Die Ken sind die kältesten der fünf,

Denn Wissen fordert seinen Preis.

Ich frage mich, wann genau Jeanine auf die Idee gekommen ist, dass die Ken und die Ferox zusammen eine tödliche Kombination bilden.

Die vereinte Kraft von Brutalität und eiskalter Logik schreckt vor keiner Tat mehr zurück. Auch nicht davor, eineinhalb Fraktionen einfach so zu betäuben.

Beim Gehen lasse ich den Blick über die reglosen Körper schweifen, halte Ausschau nach unregelmäßigen Atemzügen, zuckenden Augenlidern, nach Hinweisen darauf, dass die Menschen, die vor mir auf dem Boden liegen, sich nur bewusstlos stellen. Aber bis jetzt sind alle Atemzüge gleichmäßig, nirgendwo bewegt sich ein Augenlid. Vielleicht ist tatsächlich niemand von den Candor unbestimmt.

»Eric!«, höre ich jemanden aus der Eingangshalle rufen. Ich halte den Atem an, als Eric in meine Richtung kommt. Ich versuche, mich nicht zu rühren. Bei der kleinsten Bewegung wird er mich entdecken. Und dann wird er mich wiedererkennen, das weiß ich. Ich starre auf den Boden, alle meine Muskeln sind so angespannt, dass ich zu zittern beginne. Schau nicht in meine Richtung, schau nicht in meine Richtung, schau nicht in meine Richtung –

Eric stapft an mir vorbei und geht in den Gang links von mir; ich sollte so schnell wie möglich weiter, aber die Neugier treibt mich dazu, Eric zu folgen. Es hat sich dringend angehört.

Und dann sehe ich einen Ferox-Verräter über einer knienden Frau stehen. Sie trägt eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock, die Hände hält sie hinter dem Kopf verschränkt. Sogar von der Seite betrachtet, wirkt Erics Grinsen gierig.

»Unbestimmt«, sagt er. »Gut gemacht. Bring sie zu den Aufzügen. Wir entscheiden dann später, wen wir sofort töten und wen wir mitnehmen.«

Der Soldat packt die Frau an ihrem Pferdeschwanz und schleift sie hinter sich her in Richtung der Aufzugtüren. Sie schreit auf, als sie auf die Füße gerissen wird, dann taumelt sie vornübergebeugt hinter dem Ferox her. Ich will schlucken, aber irgendwie scheint ein riesiger Wattebausch in meiner Kehle zu stecken.

Eric geht weiter den Gang entlang, weg von mir. Ich versuche, nicht hinzusehen, wie die Candor an mir vorbeistolpert; der Soldat zieht sie immer noch an den Haaren hinter sich her. Aber inzwischen habe ich gelernt, mich aus dem Klammergriff der Panik zu winden; ich lasse mich für ein paar Augenblicke vom Entsetzen packen, dann zwinge ich mich, zu handeln.

Eins … zwei … drei

Mit neuer Entschlossenheit setze ich mich in Bewegung. Es wäre Zeitverschwendung, jeden hier unter die Lupe zu nehmen, zu beobachten, ob er möglicherweise wach ist. Der nächsten bewusstlosen Person auf dem Boden trete ich mit meinem Absatz fest auf den kleinen Finger. Keine Reaktion, nicht einmal ein Zucken. Ich gehe weiter und trete einem anderen mit der Fußspitze auf die Finger. Nichts rührt sich.

Aus einem weiter entfernten Gang ruft jemand: »Ich hab einen!« Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun. Ich springe über daliegende Männer und Frauen, über Kinder, Teenager und Ältere, trete hier auf einen Finger, komme da gegen einen Bauch oder einen Knöchel, immer auf der Suche nach den kleinsten Anzeichen von Schmerz. Nach einer Weile nehme ich die einzelnen Gesichter nicht mehr wahr, aber noch immer zeigt sich nirgends eine Reaktion.

Ich spiele Verstecken mit den Unbestimmten – und das, obwohl nicht ich die Fängerin bin.

Und dann passiert es. Ich trete auf den kleinen Finger eines Candor-Mädchens und ihre Miene verzerrt sich. Es ist nur ein hauchfeines Zucken – ein beeindruckender Versuch, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen –, aber dennoch genug, um meine Aufmerksamkeit auf das Mädchen zu lenken.

Ich werfe einen Blick über die Schulter, um zu überprüfen, ob jemand in der Nähe ist. Aber der Hauptgang, in dem ich stehe, ist verlassen. Ich blicke mich suchend nach dem nächsten Treppenhaus um – da, nur ein paar Schritte von mir entfernt ist es, in einem Seitengang rechts von mir. Ich gehe neben dem Kopf des Mädchens in die Hocke.

»Hey, Kleine«, sage ich so leise ich kann. »Alles okay. Ich gehöre nicht zu denen.«

Sie schlägt vorsichtig die Augen auf.

»Ein paar Schritte von hier ist eine Treppe«, flüstere ich. »Wenn gerade niemand hersieht, gebe ich dir ein Zeichen. Dann musst du losrennen, verstanden?«

Sie nickt.

Ich stehe auf und drehe mich langsam im Kreis. Links von mir ist eine Abtrünnige. Sie steht mit dem Rücken zu mir und stößt einen leblosen Ferox mit dem Fuß an. Zwei Ferox-Verräter hinter mir lachen laut über irgendetwas. Einige Meter vor mir versperrt einer von ihnen den Gang, doch dann sieht er plötzlich hoch und entfernt sich von uns.

»Jetzt«, sage ich.

Das Mädchen springt auf und rennt zur Tür des Treppenhauses. Ich sehe ihr nach, bis die Tür ins Schloss fällt. In einem der Fenster sehe ich mein Spiegelbild. Aber ich stehe nicht so allein in dem Flur voller schlafender Menschen. Direkt hinter mir steht Eric.

Ich starre sein Spiegelbild an und unsere Blicke treffen sich im Fensterglas. Ich könnte versuchen zu fliehen. Wenn ich jetzt eine plötzliche Bewegung mache, ist er vielleicht nicht schnell genug, um mich festzuhalten. Aber im selben Moment, in dem ich die Idee habe, weiß ich schon, dass ich nicht schnell genug bin, um ihn abzuhängen. Ich kann nicht einmal auf ihn schießen, weil ich keine Waffe mitgenommen habe.

Ich wirble herum, reiße meine Ellbogen hoch und ramme ihn mit voller Wucht in sein Gesicht. Ich treffe ihn am Kinn, aber nicht hart genug, um ernsthaften Schaden anzurichten. Mit einer Hand packt er meinen linken Arm, während er mir mit der anderen Hand den Lauf der Pistole an die Stirn hält und mich von oben herab angrinst.

»Ich verstehe nicht«, sagt er, »wie du so grenzenlos dumm sein konntest, unbewaffnet hierher zu kommen.«

»Tja, wenigstens bin ich clever genug, um das hier zu machen«, erwidere ich und trete ihm mit aller Kraft auf den Fuß, in den ich ihm vor kaum einem Monat eine Kugel gejagt habe. Er schreit auf und rammt mir mit schmerzverzerrtem Gesicht den Griff seiner Waffe gegen das Kinn. Ich beiße die Zähne zusammen, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Über meinen Hals rinnt Blut, die Pistole hat meine Haut aufgerissen.

Währenddessen lockert er nicht ein einziges Mal den Griff um meinen Arm. Aber die Tatsache, dass er mir nicht einfach eine Kugel in den Kopf gejagt hat, spricht für sich, er darf mich noch nicht töten.

»Ich war wirklich überrascht, als ich erfahren habe, dass du noch lebst«, sagt er. »Immerhin war ich es, der Jeanine den Tipp gegeben hat, extra für dich diesen Wassertank anfertigen zu lassen.«

Ich überlege fieberhaft, wie ich ihm genug Schmerzen zufügen könnte, damit er mich loslässt. Gerade habe ich mich für einen kräftigen Tritt in die Weichteile entschieden, als er mich blitzschnell an beiden Armen packt, umdreht und mich so fest an sich zieht, dass ich kaum noch die Füße bewegen kann. Seine Fingernägel graben sich in meine Haut. Ich knirsche mit den Zähnen, sowohl vor Schmerz als auch wegen des ekelerregenden Gefühls, mit dem Rücken gegen seine Brust gepresst zu werden.

»Jeanine fand, dass es überaus spannend wäre, zu beobachten, wie eine Unbestimmte in einer realen, ausnahmsweise nicht virtuellen Version einer Simulation reagiert«, sagt er und schiebt mich nach vorne, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als mitzugehen.

Sein Atem kitzelt meine Haare. »Und ich habe ihr da voll und ganz zugestimmt. Du siehst, Raffinesse – eine der Gaben, die wir Ken besonders wertschätzen – geht immer Hand in Hand mit Kreativität.«

Die Schwielen seiner Handflächen fühlen sich rau an. Ich verlagere mein Gewicht beim Gehen leicht nach links, damit ich einen Fuß zwischen seine Beine setzen kann. Mit grimmigem Vergnügen stelle ich fest, dass er hinkt.

»Manchmal scheint Kreativität ja eher unnütz und irrational – es sei denn, sie dient einem höheren Zweck. In diesem Fall war der höhere Zweck das Anhäufen von Wissen.«

Ich bleibe gerade lange genug stehen, um ihm meinen Absatz mit aller Kraft zwischen die Beine zu rammen. Ihm entfährt ein schriller, wenn auch rasch unterdrückter Schrei. Sein Griff wird für einen Moment schlaff. In diesem Augenblick wirble ich herum und reiße mich los. Ich weiß nicht, wohin, aber ich muss losrennen, ich muss –

Er packt mich am Ellbogen, zerrt mich zurück und drückt mit dem Daumen in meine Schulter, bewegt den Daumen in der Wunde hin und her, bis mir schwarz vor Augen wird. Ich schreie aus voller Kehle.

»Ich meine, mich daran zu erinnern, dass du auf den Filmaufnahmen vom Wassertank eine Schusswunde in der Schulter hattest«, sagt er, »und anscheinend habe ich mich nicht geirrt.«

Meine Knie geben nach. Er packt mich achtlos am Kragen und schleift mich zu den Aufzügen. Der Stoff schneidet mir die Luft ab, ich würge und stolpere hinter ihm her. Mein ganzer Körper pocht vor Schmerzen.

Als wir bei den Aufzügen angekommen sind, zwingt er mich neben der Candor, die ich schon zuvor gesehen habe, auf den Boden. Sie und vier andere sitzen an der Wand zwischen den Aufzugtüren; zwei bewaffnete Ferox halten sie in Schach.

»Drück ihr eine Waffe an den Kopf«, sagt Eric. »Nicht nur auf sie zielen. Ich will, dass sie die Waffe am Kopf hat.«

Ein Ferox drückt mir seine Pistole ins Genick. Ich spüre den Lauf eiskalt auf meiner Haut. Ich blicke zu Eric hoch. Sein Gesicht ist rot angelaufen, seine Augen tränen.

»Was ist los, Eric?«, frage ich und ziehe die Augenbrauen hoch. »Hast du Angst vor einem kleinen Mädchen?«

»Ich bin nicht so dämlich, wie du denkst«, sagt er und fährt sich mit der Hand übers Haar. »Die Nummer mit dem kleinen Mädchen hat vielleicht früher mal funktioniert, aber jetzt nicht mehr. Du bist der beste Kampfhund, den sie haben.« Er beugt sich zu mir. »Und deshalb bin ich sicher, dass man dich ziemlich bald zur Strecke bringen wird.«

Eine der Aufzugtüren öffnet sich und ein Ferox-Verräter schubst Uriah – dessen Lippen blutverschmiert sind – auf die kleine Gruppe von Unbestimmten zu. Uriah sieht mich an, aber ich kann in seinem Gesicht nicht lesen, ob er erfolgreich gewesen ist. Dass er hier gelandet ist, spricht dagegen. Jetzt werden sie alle Unbestimmten in dem Gebäude aufspüren und die meisten von uns werden sterben.

Ich sollte eigentlich Angst haben. Aber stattdessen steigt hysterisches Gelächter in mir auf, denn mir ist etwas eingefallen.

Ich kann vielleicht nicht mehr mit einer Pistole umgehen. Aber in meiner Hosentasche habe ich ein Messer.

Veronica Roth - Die Bestimmung Band 2 - Tödliche Wahrheit
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