20. Kapitel
Ich sehe auf meine Armbanduhr. Es ist sieben Uhr abends. Noch zwölf Stunden, bis wir erfahren, was Jeanine Jack Kang zu sagen hat. In der vergangenen Stunde habe ich mindestens ein Dutzend Mal auf die Uhr geschaut, als würde die Zeit dann schneller vergehen.
Ich bin ganz zappelig vor lauter Ungeduld, ich will irgendetwas tun – nur nicht in der Cafeteria mit Lynn, Tobias und Lauren herumsitzen, in meinem Essen stochern und verstohlen zu Christina hinüberschielen, die mit ihrer Candor-Familie an einem der Tische sitzt.
»Ich frage mich, ob alles wieder so wird wie früher, wenn das hier vorüber ist«, sagt Lauren. Sie und Tobias unterhalten sich schon seit mindestens fünf Minuten über die Ausbildungsmethoden der Ferox. Wahrscheinlich das einzige Thema, das die beiden verbindet.
»Die Frage ist vielmehr, ob es dann überhaupt noch Fraktionen gibt«, sagt Lynn und häuft ihren Kartoffelbrei auf ein Brötchen.
»Sag bloß, du willst ein Kartoffelbrei-Sandwich essen«, frage ich.
»Ja, und?«
Einige Ferox gehen zwischen unserem und dem nächsten Tisch vorbei. Sie sind älter als Tobias, aber nicht sehr viel. Eines der Mädchen hat die Haare in fünf verschiedenen Farben gefärbt und ihre Arme sind so voller Tattoos, dass man kaum eine freie Stelle erkennen kann. Einer der Jungs beugt sich zu Tobias, der ihnen den Rücken zugewandt hat, und raunt im Vorbeigehen: »Feigling.«
Ein paar andere machen dasselbe; sie flüstern Tobias »Feigling« ins Ohr, dann gehen sie weiter. Seine Messerspitze ruht auf einer Scheibe Brot, ein Klecks Butter wartet darauf, aufs Brot gestrichen zu werden, aber Tobias sitzt reglos da und starrt auf die Tischplatte.
Ich warte nervös auf seine Reaktion.
»Was für Idioten«, empört sich Lauren. »Und die Candor sind auch Idioten, wenn sie Leute dazu bringen, ihr ganzes Leben in aller Öffentlichkeit auszubreiten.«
Tobias schweigt. Er legt sein Messer hin und rückt seinen Stuhl vom Tisch weg. Er fixiert irgendetwas auf der anderen Seite des Raums.
»Das muss ein Ende haben«, sagt er abwesend und setzt sich in Bewegung, bevor ich weiß, was er vorhat. Das bedeutet nichts Gutes.
Er gleitet so schnell zwischen den Tischen und den Menschen hindurch, als würden seine Füße den Boden nicht berühren. Ich stolpere hinter ihm her und murmle Entschuldigungen, als ich die Leute zur Seite schubse.
Und dann wird mir klar, wohin Tobias geht. Zu Marcus. Er sitzt bei einigen älteren Candor.
Als er bei ihm ist, packt er ihn am Kragen und zieht ihn hoch. Marcus will etwas sagen, aber das ist ein Fehler. Denn Tobias schlägt ihm ins Gesicht. Ein paar Leute schreien auf, aber niemand kommt Marcus zu Hilfe, schließlich ist der Raum voller Ferox.
Tobias schleppt Marcus zu einem freien Platz zwischen den Tischen, wo das Zeichen der Candor auf dem Boden abgebildet ist. Marcus stolpert bei dem Symbol der Waagschalen, er hält die Hände vors Gesicht, damit niemand sieht, wie ihn Tobias zugerichtet hat.
Tobias lässt Marcus auf den Boden fallen und setzt seinem Vater den Absatz auf die Kehle. Marcus schlägt auf Tobias’ Bein ein, über seine Lippen rinnt Blut, aber selbst an seinem besten Tag wäre er seinem Sohn noch immer unterlegen. Tobias öffnet seinen Gürtel und zieht ihn aus den Hosenschlaufen.
Er nimmt den Fuß von Marcus’ Kehle und holt mit dem Gürtel aus.
»Das ist nur zu deinem Besten«, sagt er.
Das hat Marcus in der Angstlandschaft immer zu Tobias gesagt, erinnere ich mich.
Der Gürtel zischt durch die Luft und trifft Marcus am Arm. Marcus’ Gesicht ist voller Blut und er hält die Hand schützend vor den Kopf, als der nächste Hieb kommt, diesmal trifft er seinen Rücken. Um mich herum lachen alle, vor allem die Ferox, aber ich lache nicht. Über so etwas kann ich nicht lachen.
Endlich löse ich mich aus meiner Erstarrung. Ich renne zu Tobias und packe ihn an der Schulter.
»Halt!«, rufe ich. »Sofort aufhören!«
Ich erwarte, einen wilden Ausdruck in seinen Augen zu sehen, aber als er mich anschaut, ist da etwas ganz anderes. Sein Gesicht ist nicht gerötet, sein Atem geht ruhig.
Das war keine Affekthandlung.
Es war pure Berechnung.
Er lässt den Gürtel fallen, greift in seine Tasche und zieht eine Silberkette hervor, an der ein Ring baumelt. Marcus liegt keuchend auf der Seite. Tobias lässt den Ring neben dem Gesicht seines Vaters auf den Boden fallen. Der Ring ist aus mattem, unpoliertem Metall, ein Ehering der Altruan.
»Schönen Gruß von meiner Mutter«, sagt Tobias.
Dann geht er, und ich brauche ein paar Sekunden, bevor ich wieder Luft holen kann. Ich lasse Marcus liegen, der sich am Boden krümmt, und laufe Tobias hinterher. Erst auf dem Gang hole ich ihn ein.
»Was sollte das denn?«, will ich von ihm wissen.
Tobias drückt den Abwärtsknopf am Aufzug und sieht mich nicht an.
»Es musste sein«, sagt er.
»Und weshalb?«
»Tut er dir etwa leid?«, fragt Tobias finster. »Weißt du, wie oft er das mit mir gemacht hat? Wieso war mir jeder Handgriff wohl so vertraut? Was denkst du?«
Ich fühle mich schwach, als könne ich jeden Augenblick auseinanderbrechen. Es hat ausgesehen, als habe er die Szene eingeübt, so, als hätte er sich jeden Schritt überlegt und die Worte vor einem Spiegel geprobt. Er kannte die Szene auswendig; nur hat er diesmal die andere Rolle gespielt.
»Nein«, sage ich leise. »Nein, er tut mir nicht leid, ganz und gar nicht.«
»Was ist es dann, Tris?« Seine Stimme ist rau, und das allein reicht, damit ich wirklich fast auseinanderbreche. »Du hast dich in den letzten Tagen nicht darum geschert, was ich tue, warum also jetzt?«
Ich könnte fast Angst vor ihm haben. Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll, wenn er so unberechenbar ist, und dieses Unberechenbare brodelt jetzt ganz dicht unter der Oberfläche, genauso wie bei mir. In uns beiden tobt ein Krieg. Manchmal hilft er uns zu überleben. Manchmal bringt er uns fast um.
»Nichts«, sage ich.
Das Signal ertönt und der Aufzug ist da. Tobias steigt ein und drückt wieder auf den Knopf, damit sich die Tür zwischen uns beiden schließt. Ich starre auf das matte Metall und lasse die letzten zehn Minuten im Geiste an mir vorüberziehen.
»Das muss ein Ende haben«, hat er gesagt. Mit das hatte er den Spott gemeint, den er nach der Befragung über sich ergehen lassen musste, weil er zugegeben hat, aus Angst vor seinem Vater die Ferox gewählt zu haben. Und deshalb hat er seinen Vater in aller Öffentlichkeit geschlagen, sodass alle Ferox es sehen konnten.
Doch warum? Um seinen Stolz zu wahren? Nein. Dazu war es viel zu überlegt.
Als ich in die Cafeteria zurückgehe, sehe ich, wie ein Candor Marcus zum Waschraum bringt. Er geht langsam, aber nicht vornübergebeugt, also hat Tobias ihn vermutlich nicht ernsthaft verletzt. Ich sehe zu, wie sich die Tür hinter ihm schließt.
Ich hatte fast vergessen, was ich bei den Amite gehört habe – dass mein Vater für eine Information sein Leben riskiert hat. Angeblich riskiert hat, rufe ich mir ins Gedächtnis. Vielleicht ist es nicht klug, Marcus zu vertrauen. Und ich habe mir geschworen, dass ich ihn nicht noch einmal fragen werde.
Ich trödle vor dem Waschraum herum, bis der Candor herauskommt, dann gehe ich hinein, bevor sich die Tür wieder richtig schließen kann. Marcus sitzt neben dem Waschbecken auf dem Fußboden und hält sich Papierhandtücher vor den Mund. Er scheint nicht sehr glücklich zu sein, mich zu sehen.
»Treibt dich die Schadenfreude hierher?«, fragt er. »Verschwinde.«
»Nein«, sage ich.
Was will ich eigentlich hier?
Er blickt mich fragend an. »Und?«
»Ich möchte deiner Erinnerung ein wenig auf die Sprünge helfen«, sage ich. »Was auch immer du von Jeanine willst, du wirst nicht allein da herankommen, und nur die Altruan werden dir auch nicht helfen können.«
»Ich dachte, darüber hätten wir schon gesprochen.« Durch die Papierhandtücher klingt seine Stimme gedämpft. »Die Vorstellung, dass ausgerechnet du helfen könntest …«
»Ich weiß nicht, weshalb du dir einbildest, ich sei nutzlos, aber genau so ist es – du bildest es dir ein«, antworte ich scharf. »Und ich will davon jetzt nichts hören. Ich möchte dir nur sagen, dass du weißt, an wen du dich wenden kannst, wenn du endlich aufhörst, dich selbst zu belügen. Wenn du dann nicht weißt, was du tun sollst, weil du es alleine nicht schaffst, dann denk an mich.«
Ich verlasse den Waschraum gerade noch rechtzeitig, bevor der Candor mit einem Eisbeutel zurückkommt.