22. Kapitel

Shauna liegt mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, ihr T-Shirt ist blutdurchtränkt. Lynn kauert neben ihr und blickt ins Leere.

»Das ist alles meine Schuld«, murmelt sie. »Ich hätte nicht auf ihn schießen dürfen. Ich hätte nicht …«

Ich starre auf den großen roten Fleck, der sich auf Shaunas Rücken ausbreitet; sie hat eine Kugel abbekommen. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch atmet. Tobias legt ihr zwei Finger an den Hals und nickt.

»Wir müssen weg von hier«, sagt er. »Ich werde sie tragen. Es wird ihr verdammt wehtun, aber wir haben keine Wahl.«

Lynn nickt. Tobias kniet sich neben Shauna und fasst sie unter den Armen. Sie stöhnt auf, als er sie hochhebt. Ich helfe ihm, ihren schlaffen Körper auf seine Schulter zu wuchten. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, und ich keuche laut auf, um den Druck loszuwerden.

Ächzend vor Anstrengung steht Tobias auf und gemeinsam machen wir uns auf den Rückweg; Lynn geht mit der Waffe voran, ich folge als Letzte. Immer wieder blicke ich mich um, ob uns jemand folgt, aber ich sehe niemanden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die abtrünnigen Ferox den Rückzug angetreten haben, aber man weiß ja nie.

»Hey!«, ruft jemand. Es ist Uriah, er kommt direkt auf uns zu. »Zeke musste ihnen helfen, Jack rauszuhauen … oh nein.« Er hält inne. »Oh nein. Shauna?«

»Wir haben jetzt keine Zeit«, sagt Tobias scharf. »Lauf zurück und hol einen Arzt.«

Aber Uriah kann den Blick nicht von Shauna losreißen.

»Uriah! Lauf! Sofort!« Der Ruf hallt über die verlassene Straße, wo nichts ist, was ihn dämpfen könnte. Da endlich dreht sich Uriah um und rennt los.

Wir haben nur noch ein paar Hundert Meter vor uns, aber wenn ich Tobias’ Keuchen und Lynns abgehackte Atemzüge höre und daran denke, dass Shauna jeden Moment verblutet, kommt mir der Weg endlos vor.

Ich sehe, wie sich Tobias’ Rückenmuskeln bei jedem angestrengten Atemzug zusammenziehen und wieder entspannen. Unsere Schritte höre ich nicht, ich höre überhaupt nur meinen Herzschlag. Als wir schließlich die Tür erreicht haben, bin ich nahe daran, in Ohnmacht zu fallen, mich zu übergeben oder wie eine Irre loszuschreien.

Uriah, Cara und ein Ken mit Halbglatze warten gleich hinter dem Eingang auf uns. Sie breiten eine Decke für Shauna aus. Tobias legt sie darauf ab. Der Arzt macht sich sofort an die Arbeit und schneidet das T-Shirt am Rücken auf. Ich drehe mich weg, ich will die Schusswunde nicht sehen.

Tobias steht direkt vor mir, er ist von der Anstrengung noch ganz rot im Gesicht. Ich wünsche mir, dass er mich wieder fest in seine Arme schließt, wie er es nach dem letzten Angriff getan hat, aber er macht keinerlei Anstalten, und ich werde sicher nicht den Anfang machen.

»Ich will nicht so tun, als wüsste ich, was in dir vorgeht«, sagt er. »Aber wenn du dein Leben noch einmal dermaßen sinnlos aufs Spiel setzt –«

»Ich setze mein Leben nicht sinnlos aufs Spiel. Ich versuche, Opfer zu bringen, wie es meine Eltern auch getan hätten, wie –«

»Du bist nicht wie deine Eltern. Du bist ein sechzehnjähriges Mädchen –«

»Wie kannst du es wagen …«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»… das nicht kapiert, dass der Sinn eines Opfers darin besteht, dass es notwendig ist, und nicht, dass man sein Leben einfach so aufs Spiel setzt! Wenn du noch einmal so etwas tust, will ich nichts mehr von dir wissen.«

Er erwischt mich völlig kalt, damit habe ich nicht gerechnet.

»Du stellst mir ein Ultimatum?« Ich bemühe mich, leise zu sprechen, damit die anderen nichts mitbekommen.

Er schüttelt den Kopf. »Nein. Ich rede von einer Tatsache.« Seine Lippen sind nur noch ein schmaler Strich. »Wenn du dich völlig grundlos und kopfüber in irgendwelche Gefahren stürzt, dann bist du auch nicht besser als einer von diesen Adrenalin-Junkies auf der Suche nach dem nächsten Kick, von denen es bei den Ferox schon genug gibt. Und dann werde ich dir sicher nicht bei deinen sinnlosen Aktionen helfen.« Er spuckt die Worte voller Verbitterung aus. »Ich liebe die Tris, die eine Unbestimmte ist, die ihre Entscheidungen unabhängig von ihrer Fraktion trifft. Die eine der wenigen ist, die sich nicht blind den Glaubenssätzen ihrer Fraktion unterordnet. Aber die Tris, die mit aller Kraft versucht, sich selbst zu zerstören … die kann ich nicht lieben.«

Ich möchte laut schreien. Aber nicht, weil ich wütend bin, sondern weil ich fürchte, dass er recht hat. Meine Hände zittern und ich kralle sie in den Saum meines T-Shirts, um sie ruhig zu halten.

Er drückt seine Stirn an meine und schließt die Augen. »Ich glaube, du bist immer noch da«, murmelt er ganz dicht an meinem Mund. »Komm zurück.«

Er küsst mich flüchtig, und ich bin viel zu geschockt, um mich zu wehren.

Dann geht er wieder zu Shauna und ich bleibe ratlos stehen, direkt auf einer der Waagschalen der Candor in der Eingangshalle.

»Lange nicht mehr gesehen.«

Ich lasse mich auf die Pritsche gegenüber von Tori fallen. Sie sitzt aufrecht in ihrem Bett und hat die Beine auf einen Stapel Kissen gelegt.

»Ja, stimmt«, sage ich. »Wie geht’s dir?«

»Ich fühle mich, als hätte ich eine Kugel abgekriegt.« Ein Lächeln umspielt ihre Lippen. »Das Gefühl dürfte dir nicht ganz unbekannt sein, oder?«

»Ja. Fühlt sich toll an, nicht?« Ich kann an nichts anderes als an die Kugel in Shaunas Rücken denken. Wenigstens werden Tori und ich uns von unseren Verletzungen wieder erholen.

»Hast du bei dem Treffen mit Jack irgendetwas Interessantes erfahren?«, fragt sie.

»Ein paar Dinge. Hast du eine Ahnung, wie wir die Ferox zu einem Treffen zusammentrommeln könnten?«

»Lass mich das machen. Das ist das Gute, wenn man in einem Tattoo-Studio bei den Ferox arbeitet – man kennt so ziemlich jeden.«

»Stimmt«, sage ich. »Außerdem hast du ja den Ruf, eine Spionin gewesen zu sein.«

Toris Mund zuckt. »Das hätte ich fast vergessen.«

»Hast du eigentlich etwas Interessantes herausgefunden? Als Spionin, meine ich.«

»Meine Mission hat sich ganz auf Jeanine Matthews konzentriert.« Sie betrachtet ihre Hände. »Ich habe beobachtet, was sie so macht, wie sie ihren Tag verbringt. Und was noch wichtiger ist, wo sie ihn verbringt.«

»Demnach also nicht in ihrem Büro?«

Tori lässt sich mit der Antwort Zeit.

»Ich nehme an, ich kann dir vertrauen, Unbestimmte.« Sie mustert mich von der Seite. »Im obersten Stockwerk hat sie ein privates Labor. Es ist mit den abartigsten Sicherheitsmaßnahmen von der Außenwelt abgeschirmt. Ich war gerade dabei, mich nach dorthin hochzuarbeiten, als sie mich erwischt haben.«

»Du wolltest da rein?«, frage ich. Sie weicht meinem Blick aus. »Nicht nur, um zu spionieren, vermute ich.«

»Ich dachte … es wäre für uns alle von Nutzen, wenn Jeanine nicht mehr allzu lange leben würde.«

In ihren Augen glimmt ein Hunger, genau wie damals im Hinterzimmer des Tattoo-Studios, als sie mir von ihrem Bruder erzählte. Vor dem Simulationsangriff hätte ich es für den Durst nach Gerechtigkeit gehalten, vielleicht auch für Rachedurst, aber jetzt weiß ich, was es ist: Blutdurst. Es entsetzt mich, aber gleichzeitig kann ich sie auch verstehen.

Was mich eigentlich umso mehr entsetzen müsste.

»Ich werde die Sache in die Hand nehmen und ein Treffen organisieren«, versichert sie mir.

Die Ferox haben sich versammelt, sie stehen zwischen den Reihen der Etagenbetten und den Türen, die mit einem straff gespannten Betttuch verschlossen sind, denn ein besserer Riegel ließ sich auf die Schnelle nicht auftreiben. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass Jack Kang auf Jeanines Forderungen eingehen wird. Wir sind hier nicht mehr sicher.

»Welche Bedingungen hat sie genannt?«, fragt Tori. Sie sitzt zwischen ein paar Matratzen auf einem Stuhl und streckt ihr verletztes Bein aus. Ihre Frage war eigentlich an Tobias gerichtet, aber der scheint ihr überhaupt nicht zuzuhören. Er lehnt an einem Bettrahmen und starrt mit verschränkten Armen auf den Boden.

Ich räuspere mich. »Es waren drei Bedingungen. Eric muss den Ken übergeben werden. Außerdem wollen sie die Namen derjenigen, die beim letzten Angriff keine Injektion abgekriegt haben. Und schließlich sollen die Unbestimmten an das Hauptquartier der Ken ausgeliefert werden.«

Ich sehe Marlene an. Sie erwidert meinen Blick und lächelt traurig. Bestimmt macht sie sich Sorgen um Shauna, die immer noch vom Arzt versorgt wird. Lynn, Hector, ihre Eltern und Zeke sind bei ihr.

»Wenn Jack Kang ein Abkommen mit den Ken aushandelt, dann können wir nicht länger hier bleiben«, sagt Tori. »Aber wohin sollen wir gehen?«

Ich muss an Shaunas blutgetränktes Shirt denken und sehne mich nach den Obstplantagen der Amite, nach dem Rascheln des Windes in den Blättern, der Baumrinde unter meinen Händen. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich jemals nach diesem Ort zurücksehnen würde. Ich hätte nie geglaubt, dass dieser Ort sich so fest in meinem Inneren verankern könnte.

Ich schließe kurz die Augen, und als ich sie öffne, befinde ich mich wieder mitten in der Wirklichkeit und das Leben bei den Amite ist ferner als jeder Traum.

»Nach Hause«, sagt Tobias und hebt endlich den Kopf. Alle horchen auf. »Wir sollten uns das, was uns gehört, wieder holen. Wir werden die Überwachungskameras im Hauptquartier der Ferox zerstören, damit die Ken uns nicht ausspionieren können. Wir sollten einfach nach Hause gehen.«

Jemand stimmt ihm lautstark zu, ein anderer fällt in das Gejohle ein. So werden bei den Ferox Entscheidungen getroffen, mit einem Kopfnicken und lautem Geschrei. In solchen Augenblicken sind wir keine einzelnen Wesen mehr. Wir alle gehören zu einem einzigen großen Organismus, haben einen einzigen Willen.

»Aber bevor wir das machen«, sagt Bud, der früher zusammen mit Tori im Tattoo-Studio gearbeitet hat und der nun, den Arm auf die Stuhllehne gestützt, direkt hinter ihr steht, »müssen wir entscheiden, was wir mit Eric anfangen. Sollen wir ihn hierlassen, damit er zu den Ken zurückgeschickt wird, oder sollen wir ihn exekutieren?«

»Eric ist ein Ferox«, sagt Lauren und dreht mit ihren Fingerspitzen das Piercing in ihrer Lippe. »Das heißt, wir entscheiden, was mit ihm geschieht, nicht die Candor.«

Diesmal formt sich wie von selbst ein Schrei in meiner Kehle und ich stimme ein in das allgemeine Lärmen der Zustimmung.

»Nach unseren Gesetzen können nur Anführer der Ferox eine Hinrichtung vornehmen. Alle fünf früheren Anführer sind zu Abtrünnigen geworden«, sagt Tori »Daher ist es an der Zeit, dass wir uns neue Anführer wählen. Die Gesetze sagen, dass wir mehr als einen und nur eine ungerade Zahl von Anführern wählen müssen. Jeder, der einen Vorschlag hat, soll ihn jetzt vorbringen. Ruft einfach den Namen und dann werden wir darüber abstimmen, falls das nötig sein sollte.«

»Du!«, ruft jemand.

»Okay«, sagt Tori. »Noch jemand?«

Marlene legt die Hand an den Mund und ruft »Tris!«

Mein Herz klopft, aber zu meiner Verwunderung erhebt sich nirgends Protestgemurmel und niemand lacht. Stattdessen nicken ein paar Leute so wie vorhin, als Toris Name gerufen wurde. Ich lasse meinen Blick über die Menge gleiten und entdecke Christina. Sie steht mit verschränkten Armen da, meine Nominierung scheint sie völlig kalt zu lassen.

Ich frage mich, wie ich auf die anderen wirke. Anscheinend sehen sie nicht mich, sondern jemanden, der die Dinge in die Hand nimmt, der stark ist. Jemanden, der ich nicht sein kann. Jemanden, der ich sein könnte.

Tori nickt Marlene zu und lässt ihren Blick auf der Suche nach weiteren Vorschlägen über die Versammlung schweifen.

»Harrison«, sagt jemand. Ich habe keine Ahnung, wer Harrison ist, bis jemand einem Mann mittleren Alters, der einen blonden Pferdeschwanz hat und anfängt zu grinsen, auf die Schulter klopft. Jetzt erkenne ich ihn – es ist der Ferox, der mich Mädchen genannt hat, als Zeke und Tori von den Ken zu uns gekommen sind.

Einen Moment lang sagt keiner etwas.

»Ich schlage Four als Kandidaten vor«, sagt Tori.

Mit Ausnahme einiger weniger, die hinten im Raum zu murren anfangen, widerspricht niemand. Keiner nennt ihn jetzt noch einen Feigling, nicht nachdem er Marcus in der Cafeteria zusammengeschlagen hat. Ich frage mich, wie sie wohl reagieren würden, wenn sie wüssten, was für ein gerissener und berechnender Schachzug die ganze Sache gewesen ist.

Jetzt kann er genau das haben, was er immer wollte. Vorausgesetzt, ich stehe ihm dabei nicht im Weg.

»Wir brauchen nur drei Anführer«, sagt Tori. »Wir müssen also abstimmen.«

Wahrscheinlich wäre keiner auf die Idee gekommen, mich vorzuschlagen, wenn ich nicht den Simulationsangriff gestoppt hätte. Und wahrscheinlich wäre ihnen das nicht im Traum eingefallen, wenn ich nicht Eric niedergestochen hätte oder unter diese Brücke geklettert wäre. Je waghalsiger ich bin, desto beliebter werde ich bei den Ferox.

Tobias sieht mich an. Auf die Dauer kann ich bei den Ferox nicht so beliebt sein. Tobias hat recht – ich bin keine Ferox, ich bin eine Unbestimmte. Ich bin das, wofür ich mich entscheide, das, was ich sein will. Und so will ich ganz bestimmt nicht sein. Ich muss mich raushalten.

»Nein«, sage ich. Dann räuspere ich mich noch einmal und wiederhole es lauter. »Nein, ihr müsst nicht abstimmen. Ich kandidiere nicht.«

Tori zieht die Augenbrauen hoch. »Bist du dir sicher, Tris?«

»Ja«, antworte ich. »Ich bin mir sicher. Ich verzichte.«

Und dann, ganz ohne Diskussion oder offizielle Wahl, ist Tobias plötzlich Anführer der Ferox. Und ich nicht.

Veronica Roth - Die Bestimmung Band 2 - Tödliche Wahrheit
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