19. Kapitel
Am Nachmittag beseitige ich zusammen mit einigen Candor und Ferox die Splitter der zerbrochenen Fensterscheiben in der Eingangshalle. Ich konzentriere mich ganz auf das Fegen und auf den Staub, der sich zwischen den Glasscherben abgesetzt hat. Meine Muskeln verrichten mechanisch die Bewegung, aber wenn ich auf den Boden blicke, dann sehe ich statt des dunklen Marmors glatte weiße Fliesen und den Sockel einer hellgrauen Wand; ich sehe blonde Haarlocken, die meine Mutter abgeschnitten hat, und den Spiegel hinter der Schiebetür.
Bei dem Gedanken bekomme ich weiche Knie und muss mich auf den Besenstiel stützen.
Jemand berührt mich an der Schulter. Ich ducke mich zur Seite weg, aber es ist nur ein kleines Candor-Mädchen. Sie sieht mich mit großen Augen an.
»Geht’s dir gut?«, fragt sie mit ihrer hohen Kinderstimme.
»Ja, danke«, sage ich etwas zu schroff. Ich beeile mich, meinen Fehler wieder gutzumachen. »Ich bin nur müde. Aber danke, dass du fragst.«
»Ich glaube, du lügst«, sagt sie.
Unter ihrem Ärmel lugt ein Verband hervor, vermutlich verdeckt er die Einstichstelle. Bei der Vorstellung, dass dieses kleine Mädchen von einer Simulation gelenkt werden könnte, wird mir ganz schlecht. Ich kann sie nicht mehr anschauen und wende mich ab.
Und da sehe ich sie, ein Überläufer der Ferox stützt draußen eine Frau, deren Bein blutet. Ich sehe die grauen Strähnen im Haar der Frau, die krumme Nase des Mannes, die blauen Armbänder der Ferox-Abtrünnigen, die direkt unterhalb der Schultern befestigt sind, und ich erkenne sie beide. Tori und Zeke.
Tori zieht ihr verletztes Bein nach. Ein dunkler, nasser Fleck bedeckt den größten Teil ihres Oberschenkels.
Alle Candor hören mit dem Fegen auf und sehen zu ihnen hinüber. Die Ferox, die bei den Aufzügen Wache stehen, laufen mit den Waffen im Anschlag zur Eingangstür. Die anderen, die weitergefegt haben, weichen zur Seite, aber ich bleibe, wo ich bin; mir wird ganz heiß beim Anblick von Zeke und Tori.
»Sind die überhaupt bewaffnet?«, fragt jemand.
Die beiden sind am Eingang angekommen. Als Zeke die Wachen der Ferox sieht, hebt er eine Hand hoch, mit der anderen hält er Tori fest um die Hüfte gepackt.
»Sie braucht ärztliche Behandlung«, sagt er. »Und zwar dringend.«
»Warum sollten wir Verräter verarzten?«, fragt ein Ferox mit angelegter Waffe. Er hat feines blondes Haar und zwei Piercings in der Lippe. Auf seinem Unterarm ist ein blauer Farbfleck.
Tori stöhnt. Ich zwänge mich zwischen zwei Ferox hindurch und strecke die Hand nach ihr aus. Sie legt ihre Hand, die ganz blutverklebt ist, in meine. Zeke lässt sie mit einem Seufzer zu Boden gleiten.
»Tris«, sagt sie benommen.
»Zurück, Mädchen«, sagt der blonde Ferox zu mir.
»Nein«, sage ich. »Leg deine Waffe nieder.«
»Hab ich’s nicht gesagt, die Unbestimmten sind verrückt«, murmelt ein anderer Ferox der Frau neben ihm zu.
»Meinetwegen bringt sie nach oben und bindet sie am Bett fest, damit sie nicht Amok läuft«, sagt Zeke finster. »Aber lasst sie bitte nicht in der Eingangshalle des Hauptquartiers der Candor verbluten!«
Schließlich treten ein paar Ferox vor und heben Tori auf.
»Wohin sollen wir sie bringen?«, fragt einer von ihnen.
»Zu Helena«, sagt Zeke. »Sie ist eine Krankenschwester der Ferox.«
Die Männer nicken und tragen Tori zu den Aufzügen. Zeke und ich blicken uns an.
»Was ist passiert?«, frage ich ihn.
»Die Abtrünnigen haben herausgefunden, dass wir Informationen über sie sammeln«, sagt er. »Tori wollte fliehen, aber dann haben sie auf sie geschossen. Ich habe ihr geholfen, hierher zu kommen.«
»Hübsche Geschichte«, sagt der blonde Ferox. »Würdest du das noch einmal unter dem Einfluss des Wahrheitsserums wiederholen?«
Zeke zuckt mit den Schultern. »Von mir aus jederzeit.« Er streckt die Arme vor sich aus und macht zwei Fäuste. »Führ mich ab, wenn du so wild darauf bist.«
Dann erweckt etwas hinter mir seine Aufmerksamkeit und plötzlich rennt er los. Ich drehe mich um und sehe Uriah, der mit schnellen Schritten von den Aufzügen herüberkommt. Er grinst übers ganze Gesicht.
»Ich habe gehört, dass du ein dreckiger Verräter bist«, sagt er.
»Ja, und?«, erwidert Zeke.
Sie stürzen aufeinander zu und liegen sich in den Armen, es tut fast weh, ihnen dabei zuzusehen, so fest klopfen sie sich auf die Schulter und lachen und heben die Fäuste.
»Ich kann gar nicht glauben, dass du uns nichts davon erzählt hast«, sagt Lynn. Ein Bein lässig hochgelegt, sitzt sie mit verschränkten Armen mir gegenüber am Tisch.
»Ach, sei nicht eingeschnappt«, sagt Zeke. »Ich durfte es ja nicht einmal Shauna und Uriah sagen. Es ist nicht gerade Sinn der Sache, wenn man jedem sagt, dass man ein Spion ist.«
Wir sitzen in einem Raum im Hauptquartier der Candor, dem Saal der Gemeinschaft – ein Name, über den die Ferox immer wieder spotten. Er ist groß und offen, an jeder Wand hängt schwarz-weißer Stoff und in der Mitte steht ein kreisrundes Podium. Um das Podium herum sind große, kreisrunde Tische angeordnet. Von Lynn weiß ich, dass hier monatliche Diskussionen stattfinden, nur so zum Vergnügen, und einmal in der Woche wird ein Gottesdienst gefeiert. Aber auch wenn keine Veranstaltung stattfindet, ist der Raum üblicherweise gut gefüllt.
Die Candor haben Zeke vor ungefähr einer Stunde im achtzehnten Stock kurz befragt. Es war keine so ernste Angelegenheit wie die Befragung von Tobias und mir – zum einen, weil es keine belastenden Videoaufnahmen von Zeke gibt, zum anderen, weil Zeke auch dann noch ein Witzbold ist, wenn er unter der Wirkung des Wahrheitsserums steht. Vielleicht gerade dann. Wie auch immer, wir sind in den Saal der Gemeinschaft gekommen, um eine Party zu feiern, weil Zeke nun doch gar kein dreckiger Verräter ist, wie Uriah es ausgedrückt hat.
»Seit dem Simulationsangriff haben wir dich zum Teufel gewünscht«, sagt Lynn. »Und jetzt komme ich mir deswegen wie ein Dummkopf vor.«
Zeke legt den Arm um Shauna. »Du bist ein Dummkopf, Lynn. Das ist Teil deines Charmes.«
Lynn wirft eine Plastiktasse nach ihm, die er abwehrt. Wasser spritzt über den Tisch und ihm ins Gesicht.
»Wie gesagt«, erklärt Zeke und reibt sich die Augen, »ich war meistens damit beschäftigt, Überläufer von den Ken in Sicherheit zu bringen. Deshalb sind so viele von ihnen hier, ein paar sind auch im Hauptquartier der Amite. Tori hingegen … ich habe keine Ahnung, was sie gemacht hat. Manchmal hat sie sich stundenlang davongeschlichen, und wenn sie mal da war, dann hat sie ausgesehen, als würde sie jeden Augenblick explodieren.«
»Wie hast ausgerechnet du diesen Job bekommen?«, fragt Lynn. »Du bist doch nichts Besonderes.«
»Es hatte mehr damit zu tun, dass ich mich nach dem Simulationsangriff zufällig mitten in einer Bande von Abtrünnigen wiederfand und kurz entschlossen mitgegangen bin«, sagt er. »Aber was Tori angeht, bin ich mir nicht sicher.
»Sie ist ursprünglich eine Ken gewesen«, sage ich.
Ich lasse aus, dass die Ken ihren Bruder umgebracht haben, weil er ein Unbestimmter gewesen ist; ich bin sicher, sie würde nicht wollen, dass alle das wissen. Aber das erklärt, warum sie sich im Hauptquartier der Ken so gereizt gezeigt hat. Ich habe es von ihr selbst gehört, dass sie nur auf eine Gelegenheit wartet, sich zu rächen.
»Oh«, sagt Zeke. »Woher weißt du das?«
»Alle Fraktionswechsler gehören einem Geheimen Club an«, sage ich und lehne mich in meinem Stuhl zurück. »Wir treffen uns an jedem dritten Donnerstag.«
Zeke schnaubt.
»Wo ist Four?«, fragt Uriah und sieht auf die Uhr. »Sollen wir ohne ihn aufbrechen?«
»Das können wir nicht«, sagt Zeke. »Er bekommt gerade die Info.«
Uriah nickt, als würde ihm das etwas sagen. »Und welche Info war das gleich noch mal?«, fragt er schließlich.
»Die Info über Kangs und Jeanines kleines Versöhnungstreffen«, antwortet Zeke. »Das ist doch logisch.«
Auf der anderen Seite des Saals sehe ich Christina mit ihrer Schwester sitzen. Beide lesen etwas.
Plötzlich werde ich ganz starr. Cara, Wills ältere Schwester, geht quer durch den Raum auf Christinas Tisch zu. Ich ziehe den Kopf ein.
»Was ist?«, fragt Uriah und blickt sich um. Ich würde ihn am liebsten schubsen.
»Lass das!«, sage ich. »Auffälliger geht’s ja wohl kaum.« Ich beuge mich vor und lege die Arme auf den Tisch. »Wills Schwester ist da drüben.«
»Ja, ich hab mal mit ihr geredet, wie man die Ken wieder verlassen könnte, als ich noch bei ihnen war«, sagt Zeke. »Während sie einen Auftrag für Jeanine ausführte, hat sie offenbar mit angesehen, wie eine Altruan umgebracht wurde, und von da an hielt sie es nicht länger dort aus.«
»Können wir sicher sein, dass sie nicht bloß für die Ken spioniert?«, fragt Lynn.
»Lynn, sie hat unsere halbe Fraktion vor diesem Zeug gerettet«, sagt Marlene und tippt auf den Verband an ihrem Arm. »Na ja, die Hälfte der Hälfte.«
»Es soll Menschen geben, die nennen das auch ein Viertel, Mar«, spottet Lynn.
»Und überhaupt, wen stört es, wenn sie eine Informantin ist?«, fragt Zeke. »Wir tun nichts, worüber sie die Ken informieren könnte. Und wenn doch, dann würden wir sie sicherlich nicht einweihen.«
»Hier gibt es jede Menge Informationen, die es zu sammeln lohnt«, sagt Lynn. »Zum Beispiel, wie viele wir sind oder wie viele von uns keine Transmitter injiziert bekommen haben.«
»Ihr wart nicht dabei, als sie erzählte, warum sie wegwill«, sagt Zeke. »Ich glaube ihr.«
Cara und Christina sind aufgestanden und verlassen den Raum.
»Bin gleich wieder da«, sage ich schnell. »Muss nur mal kurz auf die Toilette.«
Ich warte, bis Cara und Christina durch die Tür gegangen sind, dann gehe ich, nein, renne ich in die gleiche Richtung. So leise wie möglich öffne ich eine der Türen und schließe sie vorsichtig hinter mir. Ich bin in einem düsteren Gang, in dem es nach Abfällen riecht – hier muss der Müllschlucker der Ken sein.
Ich höre hinter einer Ecke zwei Frauenstimmen und schleiche mich ans Ende des Gangs, um besser lauschen zu können.
»Ich ertrage es einfach nicht, dass sie hier ist«, schluchzt die eine. Christina. »Ich muss immer daran denken … was sie getan hat … Ich verstehe nicht, wie sie das tun konnte!«
Christinas Schluchzen zerreißt mich fast.
Nach einer Weile antwortet Cara.
»Ich schon«, sagt sie.
»Wie bitte?«, fragt Christina und kämpft gegen ein Schluckauf.
»Man hat uns beigebracht, alle Dinge so logisch wie möglich zu betrachten«, sagt Cara. »Halt mich nicht für herzlos, aber das Mädchen war wahrscheinlich zu Tode verängstigt und gar nicht mehr in der Lage, die Situation richtig einzuschätzen – wenn sie das überhaupt je war.«
Ich reiße die Augen auf. Was für eine – Im Geiste gehe ich eine Liste mit Beleidigungen durch, ehe ich weiter zuhöre.
»Und da Will in der Simulation gefangen war, konnte sie auch nicht vernünftig mit ihm reden; als er sie dann bedrohte, reagierte sie so, wie es ihr die Ferox beigebracht haben. Sie hat auf ihn geschossen, um ihn zu töten.«
»Was willst du damit sagen?«, fragt Christina verbittert. »Sollen wir einfach verzeihen und vergessen, weil alles so logisch ist?«
»Natürlich nicht«, antwortet Cara. Ihre Stimme zittert, aber nur ein bisschen, und sie wiederholt ihre Worte, diesmal ganz leise. »Natürlich nicht.«
Sie räuspert sich. »Es geht nur darum, dass du es in ihrer Nähe nicht so schwer hast. Du musst ihr nicht verzeihen. Ehrlich gesagt, wundere ich mich, weshalb ihr früher befreundet gewesen seid. Mir ist sie immer ein bisschen launisch vorgekommen.«
Gespannt warte ich darauf, dass Christina ihr zustimmt, aber zu meiner Überraschung – zu meiner Erleichterung – tut sie das nicht.
»Ist ja auch egal«, redet Cara weiter. »Du musst ihr nicht verzeihen, aber du solltest einsehen, dass sie es nicht aus bösem Willen getan hat, sondern aus Angst. Wenn du es so siehst, dann kannst du ihr ins Gesicht sehen, ohne ihr gleich eins auf ihre ungewöhnlich große Nase geben zu wollen.«
Ich fasse unwillkürlich an meine Nase. Christina lacht ein bisschen, was für mich fast wie ein Schlag in den Magen ist. Ich gehe wieder zurück in den Saal. Auch wenn Cara gemein war – und die Bemerkung über meine Nase war wirklich ziemlich mies –, bin ich ihr doch dankbar für das, was sie gesagt hat.
Tobias tritt aus einer Tür, die mit weißen Stoffbahnen verhüllt ist. Er schiebt das Tuch ärgerlich weg, dann kommt er auf uns zu und setzt sich neben mich an den Tisch.
»Morgen früh um sieben trifft sich Kang mit einem Abgesandten von Jeanine Matthews«, verkündet er.
»Mit einem Abgesandten?«, fragt Zeke. »Kommt sie nicht persönlich?«
»Klar tut sie das, sie präsentiert sich hier in aller Öffentlichkeit, auf die Gefahr hin, dass eine Horde wütender Leute sie mit ihren Waffen bedroht?« Uriah feixt ein bisschen. »So möchte ich sie mal sehen, ganz ehrlich.«
»Nimmt Kang der Oberschlaue wenigstens eine Ferox-Eskorte mit?«, fragt Lynn.
»Ja«, antwortet Tobias. »Einige der Älteren haben sich freiwillig gemeldet. Bud sagte, er wolle seine Ohren offen halten und Bericht erstatten.«
Ich blicke ihn stirnrunzelnd an. Woher weiß er das alles? Und weshalb benimmt er sich plötzlich wie ein Anführer der Ferox, nachdem er dies zwei Jahre lang um jeden Preis vermeiden wollte?
»Ich schätze, die Frage aller Fragen ist die«, sagt Zeke und legt die Hände auf dem Tisch zusammen, »wenn ihr ein Ken wärt, was würdet ihr bei diesem Treffen sagen?«
Alle blicken mich an. Erwartungsvoll.
»Was ist?«, frage ich.
»Du bist unbestimmt«, erwidert Zeke.
»Tobias auch.«
»Ja, aber er hat keine Eignung für die Ken gezeigt.«
»Und woher weißt du, dass ich die habe?«
Zeke hebt die Schultern. »Ist doch logisch, oder nicht?«
Uriah und Lynn nicken. Tobias’ Mundwinkel zucken, als wolle er lächeln, aber dann unterdrückt er es, und ich habe plötzlich das Gefühl, als läge mir ein Stein im Magen.
»Soweit ich weiß, arbeiten eure Gehirne alle einwandfrei«, antworte ich. »Ihr könnt also selber denken wie ein Ken.«
»Aber wir haben keine speziellen Gehirne wie die Unbestimmten!«, sagt Marlene. Sie berührt meinen Kopf mit den Fingerspitzen und drückt leicht darauf. »Komm schon, fang an zu zaubern.«
»Mit Zauberei hat das nichts zu tun, Mar«, sagt Lynn.
»Und selbst dann sollten wir die Finger davon lassen«, fügt Shauna hinzu. Seit wir uns hingesetzt haben, sind dies ihre ersten Worte. Sie würdigt mich dabei keines Blickes, sondern funkelt ihre ältere Schwester an.
»Shauna –«, beginnt Zeke.
»Hör auf mit deinem Shauna!«, faucht sie, und jetzt bekommt Zeke ihren finsteren Blick ab. »Bist du nie auf die Idee gekommen, dass jemand, der für mehrere Fraktionen infrage kommt, womöglich ein Loyalitätsproblem hat? Wenn sie für die Ken geeignet ist, wie können wir da sicher sein, dass sie nicht auch für die Ken arbeitet?«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagt Tobias leise.
»Das ist nicht lächerlich.« Sie haut auf den Tisch. »Ich weiß, dass ich zu den Ferox gehöre, weil absolut alles im Eignungstest angezeigt hat, dass ich eine Ferox bin. Deshalb bin ich meiner Fraktion ergeben – denn ich könnte nirgendwo anders sein. Aber sie? Und du?« Sie schüttelt den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, wem eure Loyalität gehört. Aber ich werde nicht so tun, als wäre alles in bester Ordnung.«
Sie springt auf. Zeke greift nach ihrem Arm, aber sie schlägt seine Hand weg und geht in Richtung Tür. Ich sehe ihr nach, bis sich die Tür hinter ihr schließt und der schwarze Stoff davor wieder ruhig hängt.
Ich könnte laut aufschreien, aber Shauna, die ich anschreien möchte, ist nicht mehr da.
»Es ist keine Zauberei«, sage ich wütend. »Man muss sich lediglich die Frage stellen, was in einer bestimmten Situation die vernünftigste Antwort ist.«
Alle sehen mich verständnislos an.
»Versetzt euch doch mal in die Lage des Gegners«, sage ich. »Wenn ihr Jack Kang und einer Gruppe von Ferox gegenüberstündet, würdet ihr wohl kaum Gewalt anwenden, oder?«
»Vielleicht doch, wenn ich eigene Soldaten bei mir habe. Ein Schuss – peng – und schon ist Kang tot und die Ken sind fein raus«, sagt Zeke.
»Wen auch immer die Ken als Unterhändler schicken, er ist bestimmt kein unbedeutender Grünschnabel, sondern jemand, der wichtig ist«, sage ich. »Es wäre ein ziemlich dummer Schachzug, auf Jack Kang loszuballern und dafür in Kauf zu nehmen, dass man Jeanines Abgesandten erschießt.«
»Siehst du, deshalb brauchen wir dich, damit du die Situation analysierst«, sagt Zeke. »Wenn ich zu entscheiden hätte, würde ich ihn töten. Dieses Risiko wäre es mir wert.«
Ich massiere meine Nasenwurzel, denn mittlerweile habe ich Kopfschmerzen. »Also gut.«
Ich versuche, mich in Jeanine Matthews hineinzuversetzen. Ich weiß bereits, dass sie nicht mit Jack Kang verhandeln will. Warum auch? Er kann ihr nichts anbieten und sie wird seine Lage zu ihrem Vorteil ausnutzen.
»Jeanine Matthew wird alles daran setzen, ihn auf ihre Seite zu bringen«, überlege ich laut. »Und er wird alles tun, um seine Fraktion zu schützen, selbst wenn er dafür die Unbestimmten opfern muss.« Ich mache eine kleine Pause, denn mir ist gerade wieder eingefallen, wie er sich bei der Versammlung mit seinem Einfluss innerhalb der Fraktionen gebrüstet hat. »Oder er wird die Ferox opfern. Deshalb müssen wir unbedingt herausfinden, was bei diesem Treffen besprochen wird.«
Uriah und Zeke blicken sich an. Lynn lächelt, aber es ist nicht ihr übliches Lächeln. Die Augen lächeln nicht mit, sie funkeln goldener als je zuvor und sie haben diese ganz spezielle Kälte.
»Dann belauschen wir sie eben«, sagt sie.