39. Kapitel
»Yeah! Du siehst total aus wie ein Banjo zupfender Softie«, sagt Christina.
»Tatsächlich?«
»Nein. Nicht die Bohne. Also gut, lass mich mal ran, okay?«
Sie kramt kurz in ihrer Tasche und bringt eine kleine Schachtel zum Vorschein. Darin sind unterschiedlich große Tuben und Döschen mit etwas, was ich zwar ungefähr als Make-up identifizieren kann, mit dem ich aber rein gar nichts anzufangen wüsste.
Wir sind im Haus meiner Eltern. Mir ist kein anderer Ort eingefallen, an dem wir uns ungestört vorbereiten können. Christina hat keine Bedenken, hier herumzustöbern – sie hat schon zwei Lehrbücher aus der Ritze zwischen der Kommode und der Wand hervorgezogen – eindeutige Hinweise auf Calebs Ken-Veranlagung.
»Also verstehe ich das jetzt richtig? Du hast das Hauptquartier der Ferox verlassen, um in den Krieg zu ziehen – und hast dein Schminktäschchen mitgenommen?«
»Jep. Dachte, manche Leute würden es sich vielleicht zweimal überlegen, ob sie mich totschießen, wenn sie sehen, wie umwerfend attraktiv ich bin«, sagt sie und zieht belustigt die Brauen hoch. »Halt mal still.«
Sie nimmt ein schwarzes Röhrchen von der Größe eines Fingers und zieht den Deckel ab. Eine rote Spitze kommt zum Vorschein – offensichtlich ein Lippenstift. Sie streicht und tupft damit über meine Lippen, bis sie voller Farbe sind. Ich kann es sehen, wenn ich die Lippen schürze.
»Hast du schon jemals von einem Zaubertrick namens Augenbrauenzupfen gehört?«, fragt sie, während sie mit einer Pinzette vor mir herumfuchtelt.
»Komm mir damit bloß nicht zu nahe.«
»Na gut.« Sie seufzt. »Ich hätte auch noch etwas Rouge anzubieten, aber ich glaube, die Farbe steht dir nicht.«
»Wahnsinn … und das, wo wir doch fast denselben Hautton haben!«
»Ha-ha«, sagt sie.
Als wir aus dem Haus treten, habe ich rote Lippen und geschwungene Wimpern und trage ein knallrotes Kleid. Und knapp über dem Knie habe ich ein Messer an meinem Bein befestigt. Das alles ist einfach nur verrückt.
»Wo wollen wir Marcus, den Vernichter allen Lebens, eigentlich treffen?«, fragt Christina. Sie trägt nicht Rot, sondern Amite-Gelb. Es leuchtet hell auf ihrer Haut.
Ich muss lachen. »Hinter dem Hauptquartier der Altruan.«
Wir laufen in der Dunkelheit den Gehsteig entlang. Alle anderen sitzen im Moment beim Abendessen – davon habe ich mich vorsichtshalber überzeugt –, aber für den Fall, dass wir doch jemandem über den Weg laufen sollten, haben wir dunkle Jacken über unsre Amite-Kleider gezogen. Aus reiner Gewohnheit springe ich über einen Riss im Asphalt.
»Wohin seid ihr beide denn unterwegs?« Peter. Ich werfe einen Blick über die Schulter. Er steht hinter uns auf dem Gehweg. Ich frage mich, wie lange er da schon wartet.
»Warum bist du nicht mit deinem Angriffstrupp beim Abendessen?«, frage ich.
»Ich habe keinen Angriffstrupp.« Er deutet auf den Arm, den ich angeschossen habe. »Ich bin verletzt.«
»Oh, eine Runde Mitleid«, sagt Christina.
»Na gut, ich habe keine Lust, mit einem Haufen Fraktionsloser in die Schlacht zu ziehen«, sagt er. Seine grünen Augen funkeln. »Also bleibe ich einfach hier.«
»Was für ein Feigling!«, sagt Christina, ihre Lippen kräuseln sich vor Abscheu. »Du lässt immer die anderen die Drecksarbeit erledigen, was?«
»Jep!«, sagt er mit hämischem Grinsen. Er klatscht in die Hände. »Viel Spaß noch beim Sterben.«
Pfeifend läuft er auf die andere Straßenseite und setzt seinen Weg in die entgegengesetzte Richtung fort.
»Na ja, immerhin haben wir ihn abgelenkt«, sagt Christina leise. »Er hat vergessen, noch mal nachzufragen, was wir vorhaben.«
»Ja. Na dann.« Ich räuspere mich. »Also, was unseren Plan angeht – er ist eigentlich ziemlich dumm, oder?«
»Er ist nicht dumm.«
»Komm schon. Es ist dumm, Marcus zu vertrauen. Es ist dumm, sich an den Ferox vorbei zum Zaun zu stehlen. Es ist dumm, uns gegen die Ferox und die Fraktionslosen zu stellen. Und alles zusammen genommen ist … ist dümmer als es die Menschheit je gesehen hat.«
»Dummerweise ist das auch der beste Plan, den wir haben«, erinnert sie mich. »Vorausgesetzt wir wollen, dass alle die Wahrheit erfahren.«
Ich habe darauf vertraut, dass Christina diese Mission übernehmen würde, als ich dachte, ich müsste sterben. Warum ihr also nicht auch jetzt vertrauen?
Ich hatte Angst, sie würde nicht mitkommen wollen. Aber ich hatte vergessen, dass sie von den Candor stammt, denen die Suche nach der Wahrheit wichtiger ist als alles andere. Und auch wenn sie jetzt eine Ferox ist – wenn ich in der letzten Zeit eines gelernt habe, dann dass man seine alte Fraktion niemals ganz ablegt.
»Hier bist du also aufgewachsen. Hat es dir gefallen?« Sie runzelt die Stirn. »Aber was frage ich da? Schätze mal, du hättest nicht einfach gehen können, selbst wenn es dir hier nicht gepasst hätte.«
Langsam nähert sich die Sonne dem Horizont. Früher habe ich das Abendlicht nie gemocht, weil es das Viertel der Altruan noch farbloser erscheinen lässt, als es ohnehin schon ist, aber jetzt finde ich das ruhige Grau tröstlich.
»Manche Dinge habe ich gemocht, andere Sachen habe ich gehasst«, sage ich. »Und es gibt ein paar Dinge, die ich erst zu schätzen lernte, als ich sie schon verloren hatte.«
Wir sind am Hauptquartier angelangt. Liebend gerne würde ich in das Konferenzzimmer gehen, um den Geruch von Holz einzuatmen, aber dazu fehlt uns jetzt die Zeit. Wir biegen in eine Seitengasse und gehen ganz nach hinten, dorthin, wo Marcus uns treffen will.
Ein graublauer Lastwagen wartet mit laufendem Motor. Marcus sitzt hinter dem Lenkrad. Ich lasse Christina vor, damit sie auf den Platz in der Mitte rutschen kann. Ich will ihm nicht zu nahe kommen, wenn es sich vermeiden lässt. Ich habe das Gefühl, dass mein Verrat an Tobias irgendwie nicht mehr ganz so schlimm ist, wenn ich Marcus wenigstens hasse, während ich mit ihm gemeinsame Sache mache.
Du hast keine andere Wahl, rede ich mir selbst ein. Es geht nicht anders.
Mit diesem Gedanken schlage ich die Tür zu und taste nach einem Sicherheitsgurt. Aber da ist nur ein zerfaserter Gurt mit einer kaputten Schnalle.
»Wo hast du denn diese Schrottkiste aufgetrieben?«, fragt Christina.
»Von den Fraktionslosen gestohlen. Sie reparieren solche Dinger. Es war ein ziemliches Stück Arbeit, ihn zum Laufen zu bringen. Zieht jetzt besser die Jacken aus, Mädchen.«
Ich knülle unsere Jacken zusammen und werfe sie aus dem halb geöffneten Fenster. Marcus legt den Gang ein und der Wagen ächzt. Ich warte förmlich darauf, dass er sich nicht von der Stelle rührt, aber als Marcus auf das Gaspedal tritt, setzt sich der Lastwagen tatsächlich in Bewegung.
Soweit ich mich erinnern kann, dauert die Fahrt von den Altruan zu den Amite gut eine Stunde. Der Fahrer muss sein Auto hier gut im Griff haben. Marcus lenkt den Wagen auf eine der Hauptverkehrsstraßen und drückt das Gaspedal durch. Wir schlingern über die Straße und schlittern nur knapp an einem klaffenden Loch im Asphalt vorbei. Auf der Suche nach Halt klammere ich mich an das Armaturenbrett.
»Nur die Ruhe, Beatrice«, sagt Marcus. »Das ist nicht das erste Mal, dass ich ein Auto fahre.«
»Es gibt viele Dinge, die ich nicht zum ersten Mal mache, aber das heißt noch lange nicht, dass ich sie auch nur annähernd beherrsche.«
Marcus lächelt und reißt den Wagen nach links, um einer umgekippten Ampel auszuweichen. Christina kreischt, als wir über weiteren Schutt auf der Straße holpern. Ihr scheint das Ganze riesigen Spaß zu machen.
»Das gehört ebenfalls in die Kategorie dumm, meinst du nicht auch?« sagt sie, gerade laut genug, um den Fahrtwind zu übertönen.
Ich klammere mich an den Sitz und versuche verzweifelt, nicht daran zu denken, was ich zu Abend gegessen habe.
Der Lichtkegel unserer Scheinwerfer fällt auf die Ferox, die die Durchfahrt am Zaun versperren. Ihre blauen Armbinden heben sich leuchtend von ihrer übrigen Kleidung ab. Ich bemühe mich, ein freundliches Gesicht aufzusetzen. Sie werden mir nie und nimmer abnehmen, dass ich eine Amite bin, wenn ich sie finster anfunkle.
Ein dunkelhäutiger Mann mit einer Pistole in der Hand nähert sich der Fahrerseite. Er lässt das Licht seiner Taschenlampe erst über Marcus, dann über Christina und schließlich über mich gleiten. Ich blinzle in den Lichtstrahl und zwinge mich, den Mann anzulächeln, als würden mich das blendende Licht und Leute, die Pistolen auf meinen Kopf richten, nicht im Geringsten stören.
Wenn die Amite wirklich so denken, sind sie vollkommen übergeschnappt. Oder sie haben zu viel von ihrem Brot gegessen.
»So, dann erklärt mir mal«, sagt der Mann, »was ein Altruan in einem Lastwagen mit zwei Amite-Mädchen zu schaffen hat.«
»Die beiden Mädchen haben sich freiwillig gemeldet, um Proviant in die Stadt zu bringen«, sagt Marcus. »Und ich habe mich freiwillig gemeldet, sie zu begleiten, damit sie wohlbehalten wieder nach Hause kommen.«
»Außerdem können wir nicht fahren«, sagt Christina mit breitem Grinsen. »Mein Vater hat vor Jahren versucht, es mir beizubringen, aber ich habe einfach nicht auf die Reihe gekriegt, welches Pedal das Gas und was die Bremse ist. Ihr könnt euch vorstellen, in was für einer Katastrophe das geendet hat. Und überhaupt, es war total nett von Joshua, dass er sich bereit erklärt hat, uns mitzunehmen, weil wir sonst Ewigkeiten gebraucht hätten, und die Kisten waren ja so schwer –«
Der Ferox hebt die Hand. »Okay. Ich hab’s schon kapiert.«
»Oh ja, natürlich. Tut mir so leid.« Christina kichert. »Ich dachte nur, ich erkläre es lieber, weil ihr alle so verwirrt ausgesehen habt, und das ist ja auch kein Wunder – ich meine, wie oft erlebt man so was schon …«
»Gut«, sagt der Mann. »Und habt ihr vor, in nächster Zeit in die Stadt zurückzufahren?«
»In nächster Zeit nicht«, sagt Marcus.
»Okay. Dann fahrt weiter.« Er nickt den anderen Ferox am Tor zu. Einer von ihnen tippt einen Zahlencode in eine Tastatur und das Tor gleitet auf und lässt uns passieren. Marcus nickt dem Wachmann, der uns vorbeigewinkt hat, noch einmal zu und fährt über den ausgetretenen Pfad weiter. Das Scheinwerferlicht des Pick-ups fällt auf Reifenspuren und Steppengras und tanzende Insekten. Rechts von mir leuchten Glühwürmchen in der Dunkelheit rhythmisch auf und erlöschen wieder in der Kürze eines Herzschlags.
Nach einigen Sekunden wirft Marcus einen Blick auf Christina.
»Was zur Hölle war das denn?«
»Es gibt nichts, was die Ferox mehr zur Weißglut bringt, als fröhliches Amite-Geplapper«, sagt Christina mit einem Schulterzucken. »Ich dachte mir, wenn ich ihm auf die Nerven gehe, lenke ich ihn vielleicht ab und er lässt uns durch.«
Ich setze mein breitestes Grinsen auf. »Du bist ein Genie.«
»Ich weiß.« Sie wirft ihren Kopf zurück, als wolle sie ihre Haare über die Schulter werfen – nur sind sie dafür nicht lang genug.
»Dumm, dass Joshua kein Name der Altruan ist«, sagt Marcus.
»Na und. Als ob das irgendjemandem auffallen würde.«
Vor uns ist ein schwaches Leuchten zu sehen – es ist das Hauptquartier der Amite, die Ansammlung von Holzhäusern mit dem Gewächshaus in der Mitte. Wir fahren durch die Apfelplantage. Die Luft riecht nach warmer Erde.
Wieder muss ich an meine Mutter denken, wie sie sich nach einem Apfel streckt, damals, vor vielen Jahren, als wir den Amite bei der Apfelernte geholfen haben. Es versetzt mir einen Stich, aber die Erinnerung erdrückt mich nicht mehr wie noch vor ein paar Wochen. Vielleicht, weil ich auf dieser Mission bin, um ihr Andenken gebührend zu ehren. Oder vielleicht fürchte ich mich zu sehr vor dem, was uns noch bevorsteht, um wirklich trauern zu können. Aber es hat sich etwas geändert.
Marcus parkt den Lastwagen hinter einem der Schlafsäle. Erst jetzt fällt mir auf, dass kein Schlüssel in der Zündung steckt.
»Wie hast du den Wagen zum Laufen gebracht?«, frage ich ihn.
»Mein Vater hat mir viel über Technik und Computer beigebracht«, sagt er. »Wissen, dass ich an meinen eigenen Sohn weitergegeben habe. Oder hast du etwa gedacht, er hätte sich das alles selbst beigebracht?«
»Eigentlich schon.« Ich stoße die Tür auf und klettere aus dem Wagen. Gras streift an meinen Zehen und Waden entlang. Christina steht neben mir und legt den Kopf in den Nacken. »Hier draußen wirkt alles so anders«, sagt sie. »Man könnte glatt vergessen, dass da drüben die Hölle los ist.« Sie zeigt mit dem Daumen auf die Stadt.
»Das tun sie hier auch gerne«, sage ich.
»Aber sie wissen, was jenseits der Stadt ist, oder?«, fragt sie.
»Sie wissen genauso viel wie die Patrouillen der Ferox«, sagt Marcus. »Und zwar, dass die Welt da draußen unbekannt und möglicherweise sehr gefährlich ist.«
»Woher weißt du, was sie wissen?«, frage ich.
»Weil es das ist, was wir ihnen gesagt haben«, erwidert er und eilt in Richtung Gewächshaus.
Christina und ich wechseln Blicke, dann verfallen wir in Laufschritt, um ihn wieder einzuholen.
»Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?«
»Wenn einem etwas sehr Wichtiges anvertraut wird, dann muss man entscheiden, wie viel davon die anderen wissen sollen«, sagt Marcus. »Die Anführer der Altruan haben den Betreffenden so viel gesagt wie nötig. Jetzt hoffe ich nur, dass Johanna an ihren Gewohnheiten festhält. Am frühen Abend, so wie jetzt, ist sie meist im Gewächshaus anzutreffen.«
Er öffnet die Tür zum Gewächshaus. Die Luft ist genauso dick wie beim letzten Mal, aber jetzt ist es auch noch neblig. Die Feuchtigkeit kühlt meine Wangen.
»Wow«, sagt Christina.
Der Raum ist nur vom Mondlicht erleuchtet, sodass man die Pflanzen kaum von den Bäumen oder den technischen Konstruktionen dazwischen unterscheiden kann. Blätter streichen über mein Gesicht, als ich mich an der Innenwand entlang durch das Dickicht schlage. Und dann entdecke ich Johanna, wie sie mit einer Schüssel in der Hand neben einem Busch kauert und etwas pflückt, was ganz nach Himbeeren aussieht. Sie hat ihre Haare zurückgebunden, sodass einem die Narbe sofort ins Auge springt.
»Miss Prior. Ich muss zugeben, ich habe nicht mit einem Wiedersehen gerechnet«, sagt sie.
»Weil ich eigentlich längst tot sein sollte?«, frage ich.
»Ich gehe immer davon aus, dass diejenigen, die gerne kämpfen, auch im Kampf umkommen. Aber oft erlebe ich auch angenehme Überraschungen.« Sie balanciert die Schüssel auf ihren Knien und sieht zu mir hoch. »Allerdings ist mir auch klar, dass du wohl kaum hierhergekommen bist, weil es dir bei uns so gut gefallen hat.«
»Nein«, sage ich. »Wir sind aus einem anderen Grund hier.«
»Na gut«, sagt sie und steht auf. »Dann lasst uns darüber reden.«
Sie trägt die Schüssel in die Mitte des Raums, wo sonst die Vollversammlungen der Amite stattfinden. Wir folgen ihr zu den Baumwurzeln, auf die sie sich setzt, um mir dann die Schüssel mit Himbeeren anzubieten. Ich nehme eine Handvoll Beeren und reiche die Schüssel an Christina weiter.
»Johanna, das hier ist Christina«, sagt Marcus. »Geborene Candor, jetzt Ferox.«
»Willkommen im Hauptquartier der Amite, Christina.« Johanna lächelt wissend. Es ist kaum zu glauben, dass zwei Menschen, die beide von den Candor abstammen, so verschiedene Richtungen eingeschlagen haben – die eine zu den Ferox, die andere zu den Amite.
»Verrätst du mir den Grund eures Besuches, Marcus?«, fragt Johanna.
»Ich glaube, das sollte lieber Beatrice übernehmen«, sagt er. »Ich bin eigentlich nur der Chauffeur.«
Ohne weitere Fragen wendet Johanna sich mir zu und blickt mich an, aber der skeptische Ausdruck in ihren Augen spricht für sich. Sie hätte es lieber von Marcus gehört. Wenn ich sie darauf ansprechen würde, würde sie es natürlich abstreiten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Johanna Reyes mich hasst.
»Ähm …«, setze ich an, was nicht gerade ein vielversprechender Anfang ist. Ich wische mir die Handflächen ab. »Die Lage sieht ziemlich schlecht aus.«
Dann sprudeln die Worte aus mir heraus, ohne Schliff, ohne Rhetorik. Ich erkläre, dass die Ferox sich mit den Fraktionslosen verbündet haben und dass sie vorhaben, die Ken auszulöschen, sodass nur noch eine der zwei wichtigsten Fraktionen übrig bleiben würde. Ich sage ihr, dass die Ken in ihrem Hauptquartier wichtige Daten horten, die – genauso wie alles andere Wissen dieser Fraktion – nicht einfach so zerstört werden dürfen. Erst als ich geendet habe, fällt mir auf, dass ich kein Wort darüber verloren habe, was das Ganze eigentlich mit ihrer eigenen Fraktion zu tun hat. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich ihr das erklären kann.
»Ich bin ehrlich gesagt ziemlich verwirrt, Beatrice«, sagt sie. »Was genau wollt ihr von uns?«
»Ich bin nicht hier, weil ich dich um Hilfe bitten will«, sage ich. »Ich dachte nur, dass ihr wissen solltet, dass ziemlich bald ziemlich viele Leute sterben werden. Und ich weiß, dass du nicht einfach hier bleiben und zusehen willst, auch wenn manche aus deiner Fraktion genau das am liebsten tun würden.«
Sie blickt zu Boden und verzieht den Mund. Ihre Reaktion spricht Bände. Sie weiß, dass ich recht habe.
»Außerdem wollte ich dich fragen, ob wir mit den Ken, die ihr aufgenommen habt, sprechen können.«, sage ich. »Ich weiß, sie halten sich versteckt, aber ich brauche sie.«
»Und was hast du mit ihnen vor?«, fragt sie.
»Sie alle abknallen, natürlich«, erwidere ich und verdrehe die Augen.
»Das ist nicht lustig.«
Ich seufze. »Tut mir leid. Ich will nur ein paar Dinge von ihnen wissen. Weiter nichts«
»Na gut, aber du musst dich wohl oder übel bis morgen gedulden«, sagt Johanna. »Ihr könnt hier übernachten.«
Im selben Moment, in dem mein Kopf auf das Kissen sinkt, bin ich auch schon eingeschlafen. Allerdings wache ich viel früher auf, als ich wollte. Das schwache Leuchten am Horizont sagt mir, dass die Sonne bald aufgehen wird.
Auf der anderen Seite des schmalen Gangs zwischen den beiden Betten liegt Christina. Sie hat das Gesicht in der Matratze vergraben und sich das Kissen über den Kopf gezogen. Zwischen uns steht eine Kommode mit einer Lampe darauf. Die Holzdielen knarzen bei jeder Bewegung. An der linken Wand hängt wie selbstverständlich ein Spiegel. Für alle sind Spiegel an der Wand das Normalste der Welt, nur nicht für die Altruan. Ich erschrecke immer noch jedes Mal, wenn ich irgendwo auf einen Spiegel stoße.
Ich ziehe mich an, ohne dabei besonders leise zu sein – fünfhundert trampelnde Ferox können Christina nicht aufwecken, wenn sie erst mal im Tiefschlaf versunken ist. Das Flüstern eines einzigen Ken könnte sie jedoch abrupt aus dem Schlaf reißen. Was das angeht, ist sie manchmal seltsam.
Ich gehe nach draußen, gerade als die Sonne zwischen den Baumstämmen hervorblitzt. Eine kleine Gruppe Amite hat sich in der Nähe der Obstplantage versammelt. Was sie dort wohl machen? Ich gehe etwas näher heran.
Sie halten sich an den Händen und stehen in einem Kreis. Die Hälfte ist noch ziemlich jung, gerade mal Teenager, die anderen sind Erwachsene. Die älteste, eine Frau mit geflochtenem grauem Haar, ergreift das Wort.
»Wir glauben an einen Gott, der unseren Frieden stiftet und erhält«, sagt sie. »Also schenken auch wir uns gegenseitig Frieden und erhalten ihn unter uns.«
Für die Amite scheinen diese Worte eine Art Signal zu sein, auch wenn ich es selbst nicht so interpretiert hätte. Alle setzen sich in Bewegung, gehen auf jemanden im Kreis zu und reichen sich die Hände. Als alle sich zu Paaren zusammengefunden haben, halten sie für einige Sekunden inne und blicken sich an. Einige murmeln ein paar Worte, andere lächeln, wieder andere stehen einfach da, ohne sich zu rühren oder ein Wort zu sagen. Dann trennen sie sich wieder, gehen auf jemand anderen zu und wiederholen das Ganze.
Das ist das erste Mal, dass ich eine religiöse Feier der Amite beobachte. Bis jetzt kannte ich nur die Religion meiner Eltern, den Glauben meiner früheren Fraktion. Ein Teil von mir klammert sich immer noch an diesen Glauben und ein anderer Teil findet ihn nur noch lächerlich – die Gebete vor dem Abendessen, die wöchentlichen Zusammenkünfte, die Gottesdienste, die Gedichte über einen selbstlosen Gott. Aber das hier ist etwas anderes, etwas viel Geheimnisvolleres.
»Komm her und mach mit«, sagt die grauhaarige Frau. Erst nach einigen Sekunden wird mir klar, dass die Worte an mich gerichtet sind. Sie winkt mich lächelnd zu sich.
»Oh, nein«, sage ich. »Ich bin nur –«
»Komm«, wiederholt sie, und ich habe das Gefühl, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als hinzugehen und mich zu den anderen zu stellen.
Sie kommt zu mir und greift nach meiner Hand. Ihre Finger fühlen sich trocken und rau an. Ihre Augen suchen meine, richten sich unbeirrbar auf mich. Ich fühle mich nicht ganz wohl, als unsere Blicke sich treffen.
Doch dann lasse ich mich in ihren Blick versinken und spüre prompt eine sonderbare Wirkung. Ich stehe wie angegossen da, ich kann mich nicht von der Stelle rühren, ich fühle mich schwerer als sonst. Aber dieses Gewicht fühlt sich nicht unangenehm an. Ihre Augen haben einen gleichmäßigen braunen Farbton und blinzeln kein einziges Mal.
»Möge der Friede Gottes mit dir sein«, sagt sie sanft, »auch inmitten dieser düsteren Zeit.«
»Warum sollte er?«, frage ich mit gedämpfter Stimme, sodass es niemand außer ihr hört. »Nach allem, was ich getan habe …«
»Das liegt nicht in deiner Hand«, sagt sie. »Es ist ein Geschenk. Du kannst es nicht verdienen, sonst wäre es keine Gnade mehr.«
Sie lässt mich los und geht weiter zu jemand anderem, aber ich bleibe einfach stehen, mit ausgestreckter Hand und ganz alleine. Jemand kommt auf mich zu und will nach meiner Hand greifen, aber da trete ich schon den Rückzug an, laufe weg, erst langsam, dann immer schneller.
Ich renne so schnell ich kann in Richtung der Bäume, und erst als meine Lungen brennen wie Feuer, bleibe ich wieder stehen.
Ich presse meine Stirn gegen den nächsten Baumstamm, auch wenn ich mir dabei die Haut aufschürfe, und kämpfe mit den Tränen.
Später am Morgen laufe ich durch leichten Nieselregen zum großen Gewächshaus. Johanna hat ein Notfalltreffen einberufen.
Ich halte mich so gut es geht im Hintergrund und ziehe mich in eine der Ecken zwischen zwei ausladenden Pflanzen zurück, die in einem Topf mit Minerallösung wuchern. Ich brauche ein paar Minuten, bis ich Christina im Gelb der Amite auf der rechten Seite entdecke. Marcus dagegen ist nicht zu übersehen, denn er steht zusammen mit Johanna auf den Wurzeln des Riesenbaumes.
Johanna hat ihre Finger verschränkt und ihr Haar zurückgebunden. Die Verletzung, von der sie die Narbe hat, scheint auch ihr Auge in Mitleidenschaft gezogen zu haben – ihre Pupille ist so geweitet, dass sie fast die gesamte Iris verdeckt und ihr linkes Auge bewegt sich nicht synchron mit dem rechten Auge, als sie ihren Blick über die versammelten Amite schweifen lässt.
Aber es sind nicht nur Amite anwesend. Ich sehe Menschen mit kurz geschnittenen Haaren und straffen Haarknoten, die nur Altruan sein können. Dahinter stehen reihenweise Brillenträger – unverkennbar Ken. Unter ihnen entdecke ich Cara.
»Ich habe eine Nachricht aus der Stadt erhalten«, sagt Johanna, nachdem alle Gespräche verebbt sind. »Eine Nachricht, die ich euch allen gerne weitergeben möchte.«
Sie zupft am Saum ihres Shirts, dann verschränkt sie wieder ihre Finger. Sie wirkt nervös.
»Die Ferox haben sich mit den Fraktionslosen verbündet«, sagt sie. »Sie haben vor, die Ken in zwei Tagen anzugreifen. Sie wollen nicht nur zum Schlag gegen die feindliche Armee aus Ken und abtrünnigen Ferox ausholen, sondern auch gegen alle unschuldigen Ken. Auch vor ihrem gesammelten Wissen und allen Daten, in denen Jahre harter Arbeit und Forschung stecken, werden sie keinen Halt machen.«
Sie blickt zu Boden, atmet tief durch und fährt fort. »Ich bin mir bewusst, dass wir keinen Anführer anerkennen, also habe ich kein Recht, euch in dieser Rolle gegenüberzutreten«, sagt sie. »Aber ich hoffe, ihr seht es mir nach – nur dieses eine Mal –, wenn ich euch darum bitte, unsere früher gefällte Entscheidung, in dieser Sache unsere neutrale Stellung zu wahren, zu überdenken.«
Ein Raunen geht durch die Menge. Nicht wie bei den Ferox – dieses Raunen ist sanfter, es klingt wie ein Schwarm Vögel, der sich von den Ästen in den Himmel erhebt.
»Selbst wenn wir unsere Beziehung zu den Ken ganz außer Acht lassen, wissen wir immer noch besser als jede andere Fraktion, wie wichtig die Ken für unsere Gesellschaft sind«, sagt sie. »Wir müssen sie vor sinnlosem Gemetzel beschützen. In erster Linie, weil sie unsere Mitmenschen sind, aber auch weil wir ohne sie nicht überleben können. Ich schlage vor, dass wir als gewaltlose, neutrale Friedenswächter in die Stadt gehen, um die rohe Gewalt, die ohne Zweifel ausbrechen wird, irgendwie einzudämmen. Bitte lasst euch den Vorschlag durch den Kopf gehen.«
Feiner Regen legt sich auf die Glasplatten über unseren Köpfen. Johanna setzt sich auf eine Baumwurzel und wartet, aber die Amite stürzen sich nicht in die Diskussion wie beim letzten Mal. Das Geflüster, das anfangs kaum vom Rauschen des Regens zu unterscheiden ist, schwillt an. Manche erheben ihre Stimmen und übertönen alle anderen, fast schreien sie laut durch das Gewächshaus. Aber nur fast.
Jede erhobene Stimme fährt mir bis ins Mark. Ich habe in meinem Leben schon eine Menge Auseinandersetzungen erlebt, die meisten davon in den letzten zwei Monaten, aber kein Streit hat mir dermaßen Angst eingejagt wie das hier. Streit bei den Amite – so etwas darf es eigentlich gar nicht geben.
Ich kann nicht mehr länger warten. Ich laufe am Rand des Versammlungsbereiches entlang, dränge mich an den Amite vorbei, springe über Hände oder ausgestreckte Beine am Boden. Manche der Amite starren mich an – ich trage zwar ein rotes T-Shirt, aber die Tattoos an meinem Nacken fallen einem ins Auge, selbst aus der Entfernung sind sie noch deutlich zu erkennen. Als ich in der Nähe der kleinen Gruppe von Ken angelangt bin, halte ich kurz inne.
Cara springt auf, als ich auf sie zugehe. Sie verschränkt ihre Arme.
»Was machst du denn hier?«, fragt sie.
»Ich bin hergekommen, um Johanna zu berichten, was draußen los ist«, sage ich. »Und auch, weil ich Hilfe brauche.«
»Von mir?«, fragt sie. »Warum –«
»Nicht von dir«, sage ich. Ich versuche, nicht an die Dinge zu denken, die sie über meine Nase gesagt hat, aber das ist gar nicht so leicht. »Ich meine euch alle. Ich habe einen Plan, wie wir einige Daten eurer Fraktion noch retten können, aber dazu brauche ich eure Hilfe.«
»Eigentlich«, sagt Christina, die wie aus dem Nichts links von mir auftaucht, »haben wir einen Plan.«
Cara blickt von mir zu Christina und wieder zurück zu mir.
»Du willst den Ken helfen?«, sagt sie. »Das überrascht mich.«
»Du wolltest den Ferox helfen«, erwidere ich. »Glaubst du, du bist die Einzige, die nicht einfach blind alles tut, was die eigene Fraktion vorschreibt?«
»Tja, genau das würde dir jedenfalls ähnlich sehen«, antwortet Cara. »Leute abzuknallen, die einem im Weg stehen, hört sich für mich immer noch nach einem Markenzeichen der Ferox an.«
Ich spüre ein Stechen in der Kehle. Sie sieht ihrem Bruder so ähnlich, vom Grübchen zwischen ihren Augenbrauen bis zu den dunklen Strähnen in ihrem sonst blonden Haar.
»Cara«, sagt Christina. »Willst du uns nun helfen oder nicht?«
Cara seufzt. »Natürlich will ich. Ich bin mir sicher, die anderen sehen das genauso. Kommt einfach nach dem Treffen in den Schlafsaal der Ken und erzählt uns von eurem Plan.«
Die Versammlung dauert noch eine Stunde. Mittlerweile hat der Regen nachgelassen, obwohl an den Wänden und Glasplatten immer noch Wasser herabrinnt. Christina und ich haben uns an eine Wand gelehnt und verbringen die Zeit mit einem Spiel, bei dem jeder versucht, den Daumen des anderen auf dem Boden zu halten. Sie gewinnt jede Runde.
Schließlich stellen sich Johanna und die anderen, die als Wortführer aus den einzelnen Diskussionen hervorgegangen sind, in einer Reihe auf. Johannas Haar hängt lose herab, sie hält den Kopf gesenkt. Eigentlich müsste sie uns jetzt die Ergebnisse der Diskussion verkünden, aber stattdessen steht sie einfach nur mit verschränkten Armen da und trommelt mit den Fingern auf ihre Ellbogen.
»Was ist da vorne eigentlich los?«, fragt Christina.
Endlich sieht Johanna auf.
»Es hat sich als schwierig herausgestellt, einen Kompromiss zu finden«, sagt sie. »Aber die Mehrheit ist dafür, sich auch weiterhin aus allem herauszuhalten.«
Eigentlich ist es ziemlich egal, ob die Amite sich dafür entscheiden, in die Stadt aufzubrechen oder nicht. Aber ich hatte schon fast gehofft, dass nicht alle Amite Feiglinge sind. Diese Entscheidung hört sich für mich allerdings ziemlich feige an.
Enttäuscht lasse ich mich gegen das Fenster sinken.
»Das Letzte, was ich möchte, ist eine Spaltung unserer Gemeinschaft in zwei Lager. Dafür hat mir diese Gesellschaft viel zu viel gegeben«, sagt Johanna. »Aber mein Gewissen drängt mich, gegen diese Entscheidung zu handeln. Jeder, der diese Entscheidung ebenso wenig mit seinem Gewissen vereinbaren kann, ist eingeladen, mit mir zusammen in die Stadt zu gehen.«
Zunächst kann ich kaum glauben, was ich da höre. Allen anderen scheint es genauso zu gehen. Johanna legt den Kopf schräg, sodass ihre Narbe wieder deutlich zu sehen ist. »Ich verstehe, wenn ich deshalb die Gemeinschaft der Amite verlassen muss.« Sie schnieft. »Aber ihr sollt wissen, dass ich euch in Liebe und ohne jeden Groll verlasse.«
Johanna macht eine kleine Verneigung, streicht sich die Haare hinter die Ohren und geht zum Ausgang. Ein paar Amite springen auf, dann immer mehr und bald sind alle auf den Füßen und manche – nicht viele, aber immerhin manche – folgen Johanna aus der Halle.
»Das«, sagt Christina, »hätte ich nie erwartet.«