Papas Geschichte
In den Korridoren warfen die Lampen Schatten an die Wände, als Arden und ich die Treppe hinaufgingen, die uns zum Dachboden und in die Kuppel führte … noch ehe wir den halben Weg zurückgelegt hatten, hörte ich Sylvias Stimme, die versuchte, mit Papa zu reden.
»Aud … driii … naaaa?«
»Ich weiß nicht, wo sie ist«, sagte Papa, als wäre er nicht er selbst. »Deshalb bin ich ja hierhergekommen. Von diesem Aussichtspunkt aus kann man meilenweit sehen … aber ich kann überhaupt nichts erkennen!«
»Ich bin hier, Papa«, sagte ich, als ich durch die Öffnung im Boden kam und wieder auf dem türkischen Teppich stand. Schnell schloß er das Fenster, um den Wind auszusperren, den Regen, so daß die Mobiles nicht mehr so wild klimperten.
Mein riesiger Vater schien erschöpft, zu müde, um sich all den Fragen zu stellen, die ich ihm stellen mußte.
»Was hast du mir angetan? Warum hast du mich belogen? Papa, wir haben in ihrem Grab nachgesehen – es ist leer!«
Er sackte zusammen, saß mit hängendem Kopf am Boden. »Ich habe getan, was ich für das beste hielt.«
Wie konnte er wissen, was das Beste für mich war? Er war ein Mann. Wie konnte irgendein Mann wissen, was es für ein Gefühl für ein Mädchen oder eine Frau war, vergewaltigt und erniedrigt zu werden?
Er hob den Kopf, seine dunklen Augen flehten um Verständnis, erzählten mir, daß er es versucht hatte, verzweifelt versucht hatte, mir den Stolz wiederzugeben, den die Jungs mir gestohlen hatten. »Sie hatten dir sowenig gelassen, und mit neun Jahren ist man noch lange nicht so weit, daß man sterben sollte.«
Seine Stimme war rauh und klang verletzt, als ich auf ihn hinabstarrte. Ardens Arme lagen um mich und verliehen mir noch zusätzliche Kraft. »Und wenn deine Mutter gelogen hat, und ich auch, dann haben wir beide alles getan, um dich glauben zu machen, daß es einmal eine erste Audrina gegeben hat und daß sie es gewesen war, die vergewaltigt wurde, und nicht du.«
»Aber, Papa!« schrie ich. »Wie konntet ihr mich vergessen machen, was geschehen war? Was gab euch das Recht, mir das Gedächtnis zu nehmen und es mit Löchern zu versehen, so daß ich durchs Leben ging und fürchtete, ich wäre verrückt?«
»Die Liebe zu dir gab mir das Recht«, antwortete er müde. »Es ist nicht schwer, ein Kind zu täuschen. Liebling, hör mir jetzt zu und verschließ dich nicht. Deine Tante hat wohl hundertmal gesagt, wir sollten ehrlich sein und dir helfen, damit fertig zu werden, und manchmal war deine Mutter ihrer Meinung. Aber ich war es, der nicht wollte, daß du mit dem leben mußtest, was geschehen war. Ich war es, der die Entscheidung traf, alles zu tun, was ich konnte, um diesen regnerischen Tag im Wald aus deinem Gedächtnis zu streichen.«
Ich riß mich aus Ardens Armen und fing an, auf dem Teppich hin und her zu gehen, starrte dabei Sylvia an, die an eines der Fenster gerückt war und nun zu den Mobiles hinaufschaute, als hörte sie sie klimpern. Dabei hingen sie jetzt ganz reglos dort.
Papa fuhr fort, folgte mir mit besorgten Blicken. »Du bist die einzige Audrina. Es gab niemals eine andere. Nachdem du … nachdem diese Sache geschehen war, habe ich ein Grab graben lassen, ließ auch einen Grabstein aufstellen, um dich zu überzeugen, daß du eine ältere, tote Schwester gehabt hast. Das war meine Art, dich vor dir selbst zu schützen.«
Seine Stimme war sehr, sehr leise und ausdruckslos.
Hatte ich es die ganze Zeit über gewußt und mich vor der Wahrheit versteckt? Diese Frage quälte mich. Hatte ich gewußt, daß ich die erste, aber nicht unbedingt eine unvergessene Audrina war? Ich schluchzte, hatte das Gefühl, mich aufzulösen. Vor meinem inneren Auge tauchte eine flüchtige Erinnerung auf, wie ich damals heimgetaumelt war, in dem Bewußtsein, daß das Haus voll mit Geburtstagsgästen war, deren Autos auf der Auffahrt parkten … und drinnen, an der Hintertür, hatte Mammi mich gepackt, hatte mich in das heiße Wasser gesetzt, obwohl ich schrie, hatte diese steife, harte Bürste benutzt, um mich zu schrubben, wo ich bereits blutete und mir mein ganzer Körper schon so weh tat. Meine eigene Mutter hatte mich mehr verletzt, als die Jungs es getan hatten. Sie hatte meine Haut zerschunden, bis sie blutig war, hatte versucht, mich von Schmutz und Schande zu befreien, und hatte mir gleichzeitig zu verstehen gegeben, daß ich niemals mehr rein sein würde, denn sie konnte nicht mein Gehirn erreichen und schrubben … und Papa würde mich jetzt nicht mehr wollen … würde mich nicht mehr wollen …
Ich wirbelte wieder zu Papa herum. »Was hast du getan, damit ich es vergaß? Wie hast du das geschafft?«
»Sei ruhig und laß es mich erzählen«, sagte er, und sein Gesicht wurde rot. »Ich werde versuchen, dir etwas zu gestehen, was ich nicht einmal mir selbst eingestehen wollte … ich dachte, du könntest mit dieser Vergewaltigung nicht fertig werden … weil ich nicht damit fertig werden konnte. Um mich selbst und meine Liebe zu dir zu retten … mußte ich aus dir wieder dasselbe keusche kleine Mädchen machen, das niemals eine häßliche Tat gekannt hat. Als du nicht wieder in die Schule gehen, nichts mehr essen und auch nicht in den Spiegel sehen wolltest, um nicht das Gesicht eines Mädchens zu sehen, daß so brutal benutzt worden war, brachte ich dich zu einem Psychiater. Er versuchte, dir zu helfen, aber am Ende beschloß er, das beste wäre, dich einer Behandlung mit Elektroschocks zu unterziehen. Ich war dort an dem Tag, als sie dich festbanden. Du hast geschrien, als sie dich anschnallten und dir einen Lederriemen zwischen die Lippen schoben, damit du dir nicht die Zunge abbeißen würdest. Innerlich schrie ich auch. Dann schossen sie den Strom in dein Hirn … und dein Rücken krümmte sich, als du zu schreien versuchtest. Ein entsetzliches Gurgeln war zu vernehmen, das ich bis zum heutigen Tage noch hören kann … und ich habe auch geschrien. Ich konnte nicht ertragen, daß sie so etwas noch einmal taten. Ich nahm dich mit nach Hause und entschied, daß ich auf meine Art dasselbe tun könnte, ohne all diese Qual und Folter.«
Ich blieb stehen und starrte zu ihm hinab. »Aber, Papa, ich kann mich doch noch an manche Sachen erinnern. An meine Katze namens Tweedle Dee … und ich kann mich erinnern, das Grab der ersten Audrina besucht zu haben … und damals war ich erst sieben, Papa, sieben!«
Er lächelte zynisch. »Du warst ein schlaues kleines Mädchen. Ich mußte dich überlisten. Aber so schlau du auch warst, du warst doch nur ein Kind. Es ist nicht schwer für einen Erwachsenen, einem Kind irgend etwas zu erzählen und es dazu zu bringen, das auch zu glauben. Ich wollte, daß du ein paar Erinnerungen behieltest, also habe ich sie mit einbezogen. Du warst sieben an dem Tag, als du Arden das erstemal gesehen hast; diese Erinnerung ließ ich dich behalten. Ich nahm dich auf den Schoß und während ich mit dir im Schaukelstuhl saß, erzählte ich dir von deiner älteren Schwester. Ich formte dich um, machte aus dir wieder das, was du vorher gewesen warst – sauber und rein, süß und liebevoll. Ja, ich war es, der dir eine Menge Gedanken eingegeben hat. Ich sah in dir einen Engel, der zu gut für diese Welt war, in der Unschuld eine Schande ist. Du hast für mich alles verkörpert, was süß und weiblich ist, und daß du vergewaltigt worden bist, war eine Schande, mit der ich nicht leben konnte. Was ich getan habe, habe ich auch für mich getan, um mich davon zu überzeugen, daß es nicht meine Tochter war, die man vergewaltigt hatte, nicht mein schönes, begabtes, unschuldiges Kind. Und ich habe dich doch wieder gesund gemacht, oder nicht? Ich habe dich davor bewahrt, zu glauben, daß du ruiniert seist, nicht wahr? Wenn ich nicht getan hätte, was ich getan habe, was wäre dann aus dir geworden, Audrina? Was?
All dein Stolz und Selbstbewußtsein hatten dich verlassen. Du hast dich in die Schatten gedrückt. Hast versucht, in ihnen zu leben. Du wolltest sterben, und vielleicht wärest du auch gestorben, wenn ich dich nicht wieder aufgebaut hätte. Ich habe dir die schönen Dinge aus deinem Leben erzählt, habe dich gezwungen, alle schlechten zu vergessen … bis auf ein paar. Wir brauchen ein paar schlechte Erfahrungen, um die guten anerkennen zu können. Du warst nicht dumm; auf deine Art warst du vielleicht sogar sehr schlau.«
Ich nickte abwesend, erlebte alles noch einmal, wie er sein Bestes getan hatte, um mir das Entsetzen dessen zu nehmen, was jene Jungs mir an jenem schrecklichen Tag im Wald angetan hatten.
»Habe ich dein Gedächtnis nicht von dem Schrecken reingewaschen?« flehte er, und seine Augen glänzten von Tränen. »Habe ich nicht ein Märchenschloß für dich aufgebaut, in dem du leben konntest, und dich nur mit dem Besten umgeben? Nicht für deine Mutter, sondern für dich habe ich gestohlen und betrogen, um dir alles geben zu können, um wiedergutzumachen, was man dir angetan hatte. Habe ich nicht genug getan? Sag mir, was ich falsch gemacht habe.«
Mit der Faust wischte er die Tränen des Selbstmitleids beiseite, als hätte er mehr gelitten als ich.
»Tag für Tag hielt ich dich auf meinem Schoß, erzählte dir wieder und wieder, daß diese Schmach nicht dir, sondern deiner älteren Schwester zugestoßen wäre und daß sie die erste Audrina umgebracht und auf dem Hügel unter dem Goldregen liegengelassen hatten. Ich habe sogar versucht, ihren Tod schön zu machen. Nicht du, sagte ich immer wieder, es war die andere Audrina, die jetzt tot in ihrem Grab liegt. Nach einer Weile schienst du zu vergessen, und du selbst hast noch etwas getan, was mich überrascht hat. Du hast die Vergewaltigung vergessen, hast aus dem Tod der ersten Audrina etwas Mysteriöses gemacht. Ganz allein hast du die Erinnerung an die Vergewaltigung aus deinem Gedächtnis verdrängt.«
Ich schauderte, wandte mich dann von Papa ab, der immer noch redete. »Ich habe dich gewiegt, dich in meinen Armen gehalten und dir erzählt, daß alles nur ein böser Traum gewesen wäre, und du hast mich mit diesen riesigen, gequälten Augen so hoffnungsvoll angesehen, wolltest so gern glauben, daß es nicht dir geschehen war. Ich dachte, ich wäre auf dem richtigen Weg, also habe ich weitergemacht, Tag für Tag … auf meine Art habe ich für dich das Beste getan, was ich konnte.«
Das Beste, was er konnte, das Beste, was er konnte …
»Hörst du mir noch zu, Liebling? Ich habe aus dir wieder ein unschuldiges Mädchen gemacht. Vielleicht habe ich für dich alles ein bißchen durcheinandergebracht, aber es war das Beste, was ich tun konnte.«
Der Regen auf dem spitzen Kupferdach der Kuppel trommelte laut, sagte mir immer wieder, daß ich es tief in meinem Innern die ganze Zeit über gewußt hätte.
»War es leicht, die Zeit zu ändern, Papa, und mich sogar mein wahres Alter vergessen zu lassen?«
»Leicht?« fragte er heiser und rieb sich die müden Augen. »Nein, es war nicht leicht. Ich habe alles getan, um die Zeit auszuwischen, sie unwichtig zu machen. Weil wir so fern von anderen lebten, konnte ich dich täuschen. Ich ließ keine Zeitungen mehr bringen. Die Zeitungen, die kamen, waren alte, die ich in den Briefkasten stopfte. Ich machte dich zwei Jahre jünger. Ich versteckte alle Kalender und verbot deiner Tante, dich bei ihr fernsehen zu lassen. Ich verstellte alle Uhren hier im Haus, bis sie unterschiedliche Zeiten ansagten. Wir gaben dir Beruhigungs- und Schlafmittel für deine Kopfschmerzen, und du dachtest, es wäre nur Aspirin, und hast viel geschlafen. Manchmal bist du aufgewacht und hast gedacht, es wäre ein neuer Tag, obwohl nur wenige Stunden vergangen waren. Du warst verwirrt und bereit, alles zu glauben, was ich sagte, um dir Frieden zu schenken. Ich habe Vera schwören lassen, dir niemals die Wahrheit zu sagen. Ich drohte, sie andernfalls so hart zu bestrafen, daß sie niemals mehr in einen Spiegel schauen wollte. Und sie würde keinen roten Heller erben, wenn sie verraten würde, was ich tat. Deine Mutter und deine Tante hielten ihre Dienstags-Teestunde zweimal die Woche ab, damit du dachtest, die Zeit würde wirklich so schnell vergehen. Immer wieder hast du gefragt, welchen Tag wir hätten, welche Woche, welchen Monat. Sogar welches Jahr. Du wolltest wissen, wie alt du wärst, warum du keine Geburtstagsfeiern hättest und Vera auch nicht. Wir logen und erzählten dir alles mögliche, um dir dein Zeitgefühl zu nehmen. Eine Woche später überzeugten wir dich dann, daß Monate vergangen waren. Und nach siebzehn Monaten hatten wir dich davon überzeugt, daß es eine ältere Schwester gegeben hatte, die im Wald gestorben war – länger hat es nicht gedauert. Deine Mutter und deine Tante unterrichteten dich und hielten dich mit dem Schulplan auf dem laufenden, obwohl ich dir gesagt hatte, du wärest nie zur Schule gegangen. Es kam mir so sicherer vor. Als du wieder zurückgehen wolltest, haben wir dich in eine neue Schule gebracht, wo niemand deine Geschichte kannte.«
Tränen standen in meinen Augen. Keine erste und unvergessene Audrina also, nur ich.
»Weiter, Papa«, flüsterte ich. Ich fühlte mich sehr schwach und sonderbar, und meine Augen beschworen ihn, als wollte ich jedes Fünkchen Wahrheit aus ihm herauspressen, solange er am Leben war.
Als er von früher erzählte, war es, als durchlebten wir alles noch einmal, und nichts davon war schön, auch nicht für ihn. »Audrina, ich habe dich nur belogen und betrogen, um dir Leid zu ersparen. Ich hätte jede Lüge erzählt, alles getan, um aus dir wieder das selbstsichere, freundliche Mädchen zu machen, das sich vor nichts fürchtete. Und wenn du jetzt an deine merkwürdige Kindheit denkst, an die du dich nicht erinnern kannst, dann vergiß nicht, daß du selbstmordgefährdet warst, versucht hast, dich selbst zu zerstören. Auf meine Art habe ich, glaube ich, nicht nur dein Leben, sondern auch deinen Verstand gerettet.«
Mein Herz hämmerte wild. Irgend etwas ging in meinem Körper vor, aber die Enthüllungen, die wie Schläge auf mich niedergingen, ließen mich weiterhin Fragen stellen – ich hätte erraten sollen, was nicht stimmte. Ich hatte am Grab der ersten Audrina gestanden und sie beneidet, weil er sie zuerst und mehr geliebt hatte als mich. Ich hatte mir gewünscht, sie zu sein, bloß um diese Art von Liebe kennenzulernen. Es schien verrückt, daß ich die ganze Zeit über sie gewesen war, die erste, die Beste … nicht die zweite, die Schlimmste.
Tränen liefen über meine Wangen, als ich auf die Knie fiel, so daß Papa mich in die Arme nehmen konnte. Als wäre ich noch immer das neunjährige, verstörte Mädchen, wiegte er mich hin und her.
»Nicht weinen, Liebling, nicht weinen. Es ist ja alles vorbei, und du bist immer noch dasselbe süße Mädchen. Du hast dich nicht verändert. Es gibt Leute, denen kann Schmutz einfach nichts anhaben. Du gehörst dazu.«
Doch immer noch fühlte ich mich hier oben in der Kuppel, als wäre ich neun Jahre alt, zerschunden, erniedrigt und nicht menschlich.
Erst da schaute ich zu der Öffnung im Boden hinüber und sah Vera. Ihre dunklen, glitzernden Augen zeigten solchen Haß, solche Bosheit, daß ihre Lippen bebten. Ihr sonderbares aprikosenfarbenes Haar schien lebendig vor Elektrizität, als sie mich anfunkelte. Bruchstücke aus der Vergangenheit zuckten hinter meinen Augen vorüber.
Der Ausdruck von Neid auf Veras Gesicht … so hatte ich mich gefühlt, als ich an die erste Audrina dachte. Vera würde mich liebend gern tot sehen, so, wie ich mich gefreut hatte, daß die erste Audrina tot war. Jetzt erinnerte ich mich an meinen neunten Geburtstag. Ich erinnerte mich an jenen Morgen, als ich mich für die Schule anzog. Ich war noch nicht ganz fertig. Vera und ich benutzten dasselbe Badezimmer. Vera starrte mich an, als ich aus der Badewanne stieg.
»Zieh heute deinen schönsten Unterrock an, Audrina. Den mit der handgearbeiteten Spitze und den kleinen Kleeblättern, den du so gern hast. Und zieh auch das passende Höschen dazu an.«
»Nein. Das zieh ich erst an, wenn ich heimkomme. Ich hasse die Schule. Und ich hasse Mammi, weil sie mich zwingen will, mein bestes Kleid in die Schule anzuziehen, wo alle Mädchen eifersüchtig auf mich sein werden und mich hassen, weil ich so etwas Schönes anziehe.«
»Ach, Dummchen, es war nicht Mammis Idee, sondern meine. Es wird Zeit, daß die Mädchen im Dorf endlich begreifen, was für schöne Kleider du hast. Ich finde es eine wunderbare Idee, denen zu zeigen, daß die Mädchen aus Whitefern immer noch seidene Kleider tragen – und alles andere auch aus Seide.«
Ich stand auf der Veranda und sah zu, wie Vera zum Schulbus lief, der sie abholte. Sie drehte sich noch einmal um und rief: »Genieße deine Besonderheit ein letztes Mal, Audrina. Denn wenn du heimkommst, wirst du genauso sein wie wir alle – nicht mehr so rein.«
Ich zuckte bei der Erinnerung zusammen und starrte Vera mit der neuen Erkenntnis an. Nein, versuchte ich mich selbst zu überzeugen, Vera würde doch diese Jungs nicht auf mich hetzen … oder? Sie war die einzige, die wußte, welche Wege ich immer benutzte. Es gab unzählige, kaum erkennbare Pfade in unserem Teil des Waldes.
Es waren diese dunklen Augen, die Vera verrieten, die listige Art, wie sie mich von oben bis unten musterte, innerlich über mich lachte, als würde sie immer die Gewinnerin bleiben, was immer ich auch tat.
»Du bist es gewesen, die mich verraten hat, nicht wahr, Vera?« fragte ich und versuchte, meine Stimme ruhig zu halten und klar zu denken. »Du hast mich gehaßt und mich so sehr beneidet, daß du dir gewünscht hast, Papa würde mich auch hassen. Ich habe geweint, den Kopf in Mammis Schoß vergraben, weil ich dachte, ich hätte irgend etwas getan, das diese häßlichen Jungs davon überzeugte, ich wäre gemein. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, weil ich sie geärgert hatte. Ich dachte, ich hätte in meiner Unschuld irgend etwas angestellt, was in ihnen böse Gedanken erweckt hat; aber ich konnte mich nicht erinnern, irgend etwas gesagt oder getan zu haben, um auf sie den Eindruck zu machen, ich wäre nicht das nette Kind, das Papa in mir sah. Du bist es gewesen, die ihnen verraten hat, welchen Pfad ich wählen würde!«
Gegen meinen Willen wurde meine Stimme lauter, nahm einen anklagenden Tonfall an. Ich stand auf, machte ein paar Schritte auf sie zu.
»Ach, hör doch auf!« kreischte sie. »Das ist doch alles längst vorbei! Woher sollte ich denn wissen, daß du nicht gehorchen würdest, daß du gegen den Wunsch deiner Eltern durch den Wald laufen würdest? Es war nicht meine Schuld, sondern deine eigene!«
»Moment mal!« mischte sich Papa ein, sprang auf die Füße und eilte an meine Seite, und auch Arden kam näher. »Ich habe im Dorf schon oft flüstern gehört, daß jemand aus diesem Haus hier meine Tochter verraten hat. Ich dachte, es wäre der Junge gewesen, der unsere Büsche stutzte und den Rasen mähte. Aber natürlich, du mußt diejenige gewesen sein! Er war nicht aus diesem Haus … wir haben eine Schlange in unserer Mitte genährt. Wer sonst hätte sich sehnlicher wünschen können, daß Audrina verletzt wurde, als das ungewünschte Kind, das nicht einmal wußte, wer sein Vater war!«
Vera schien verschreckt, wich zurück.
»Möge deine Seele in der ewigen Verdammnis der Hölle schmoren!« brüllte Papa und trat drohend vorwärts, als wollte er mit Vera ein Ende machen. »Damals dachte ich, es wäre ein zu großer Zufall. An ihrem Geburtstag – aber deine Mutter sagte immer wieder, daß du unschuldig wärst. Jetzt weiß ich es besser. Du hast mit diesen Jungs besprochen, daß sie meine Audrina vergewaltigen!«
Vera fuhr sich mit der Hand an die Kehle und versuchte, mit dem gebrochenen Arm hinter sich zu tasten. In ihren großen, dunklen Augen, die Papas so ähnlich sahen, stand nackte Angst.
Sie schrie ihn an: »Ich bin deine Tochter, und du weißt es! Leugne es nur, wenn du willst, Damián Adare, aber ich bin genau wie du! Ich werde alles tun, um zu bekommen, was ich haben will – genauso wie du. Ich hasse dich, Damián, hasse dich wirklich! Ich hasse die Frau, die mich geboren hat! Ich habe jeden einzelnen Tag gehaßt, an dem ich in dieser Hölle leben mußte, die ihr Whitefern nennt! Du hast meiner Mutter einen Scheck gegeben, als sie nach New York kommen und bei mir sein wollte … und er war nicht gedeckt. Ein verdammter, ungedeckter Scheck, um sie für all die Jahre zu bezahlen, in denen sie nichts als eine Sklavin in deinem Haus gewesen ist.«
Papa machte einen weiteren, drohenden Schritt auf Vera zu. »Kein Wort mehr, Mädchen, oder du wirst den Tag bedauern, an dem du geboren wurdest! Seit dem Tag, an dem deine Mutter dich hierhergebracht hat, warst du nichts weiter als ein Dorn in meinem Auge. Und du bist es gewesen, die mir freiwillig erzählt hat, daß Arden Lowe bei der Vergewaltigung meiner Tochter anwesend war und daß er nichts getan hatte, um sie zu retten. Du hast gelacht, als du mir erzählt hast, daß er davongerannt ist. Du warst voller Schadenfreude. Wenn du mich nicht daran erinnert hättest, hätte ich es vielleicht vergessen.«
Papas Augen verengten sich gefährlich.
Wie eine Tigerin sprang Vera vor, um Papa gegenüberzutreten. Sie schien ihren gebrochenen Arm zu vergessen, schien zu vergessen, daß sie eine Frau und er ein riesiger, kräftiger Mann war, der rücksichtslos sein konnte, wenn es um sie ging.
»Du!« spie sie ihm entgegen. »Was, zum Teufel, kümmert es mich, was du denkst? Du hast mir nichts gegeben, nachdem Audrina geboren war. Du hast mich behandelt, als existierte ich nicht, nachdem die süße Audrina aus dem Krankenhaus heimkam. Ich wurde aus dem hübschen Zimmer gedrängt, das du für mich eingerichtet hattest, und es wurde in ein Kinderzimmer für sie verwandelt. Es hieß nur noch die süße Audrina hier, die süße Audrina da, bis ich hätte kotzen können. Niemals hast du auch nur ein einziges nettes Wort zu mir gesagt. Du hast mich überhaupt nur bemerkt, wenn ich krank oder verletzt war. Ich wollte, daß du mich liebst, und du hast dich geweigert, irgend jemanden außer deine Audrina zu lieben …«
Sie schluchzte und eilte zu Arden, preßte ihr Gesicht an seine Brust. »Bring mich fort von hier, Arden … bring mich fort. Ich möchte spüren, daß mich jemand liebt. Ich bin nicht schlecht, nicht wirklich schlecht …«
Papa brüllte auf wie ein Stier. Schreiend ließ Vera Arden los, wirbelte herum und stürzte auf die Treppe zu. Aber sie hatte vergessen, daß sie den Schuh mit der dickeren Sohle trug. In diesen Schuhen hätte sie niemals rennen dürfen. Sie knickte auf der hohen Sohle des linken Schuhs um, verlor das Gleichgewicht und fiel … und die Öffnung der Wendeltreppe blieb wie ein riesiger, klaffender Mund hinter ihr.
Wie eine Puppe in Zeitlupe fiel sie mit dem Kopf zuerst die Wendeltreppe hinab. Ihre Schreie zerrissen in abgehacktem Rhythmus die Luft. Zuerst schlug eine Schulter gegen eine Seite des eisernen Geländers, dann drehte sie sich und fiel gegen die andere Seite.
Sie drehte und drehte sich, schlug immer wieder gegen das harte Metall, bis ihr letzter Schrei mitten im Ton abbrach und sie auf dem Boden aufschlug, wo sie liegenblieb.
Blitzschnell raste Arden die Treppe hinab, kniete an ihrer Seite, als Papa, Sylvia und ich ebenfalls hinunterliefen. Da lag sie, benommen, die dunklen Augen fingen schon an, glasig zu werden, als sie Arden anstarrte, der ihren Kopf im Schoß hielt.
»Bring mich fort, Arden«, krächzte sie leise. »Bring mich fort aus diesem Haus, wo mich alle immer nur gehaßt haben. Bring mich fort von hier, Arden … nimm mich –«
Sie wurde bewußtlos. Arden legte ihren Kopf auf den Boden, und ohne mich auch nur anzusehen, rannte er davon, um den Krankenwagen zu rufen, der Vera … wieder einmal – ins Krankenhaus bringen sollte.
Stunden vergingen, ehe ich eine ferne Tür zuschlagen hörte. Das Geräusch verriet mir, daß Arden aus der Klinik zurückgekehrt war. Ich stellte die Gaslampe neben meinem Bett kleiner und schloß die Augen, in der Hoffnung, er würde fortgehen und mich nicht mit Geschichten über Veras gebrochene Knochen belasten, die heilen würden. Ich hatte Angst davor, sein Mitleid mit ihr zu hören, Angst, daß er eingewilligt hatte, sie von hier fortzubringen.
Aber wie ein Kind, das Furcht vor der Dunkelheit hat, fühlte ich mich ohne ein schwaches Licht wehrlos. Doch als er mit seinen Neuigkeiten zu mir kam, wünschte ich mir die völlige Dunkelheit herbei. Leise öffnete und schloß sich meine Schlafzimmertür. Ardens Geruch schwebte zu mir.
»Ich habe gerade eine Weile bei Damián zugebracht, habe mit ihm über Vera gesprochen … darf ich jetzt mit dir über sie reden?« fragte er und setzte sich auf die Kante meines Bettes. Seine müden Augen erweckten Mitleid in mir. Ungewolltes Mitleid drohte meine Entschlossenheit zu rauben, die mich nicht mehr von dem abbringen sollte, was ich vorhatte.
»Du brauchst nicht vor mir zurückzuweichen«, sagte er müde und ungeduldig. »Ich habe nicht vor, dich anzurühren. Vera ist vor ungefähr zwei Stunden gestorben. Sie hatte zu viele innere Verletzungen, um zu überleben. Nahezu jeder einzelne Knochen in ihrem Körper war gebrochen.«
Ich fing an zu zittern. Ein Teil von mir hatte sich immer bemüht, Vera als meine Schwester zu betrachten.
»Ich weiß, was du fühlst«, sagte Arden. »Ein Teil von uns scheint immer zerstört zu werden, wenn irgend jemand stirbt. Vera hat uns noch etwas geschenkt, ehe sie starb, Audrina. Drei Tote nach Treppenstürzen in diesem Haus machten die Polizei mißtrauisch, und sie verhörten mich gerade, als Vera flüsterte, sie wäre gestolpert und gefallen … und es wäre ihre eigene Schuld gewesen.«
Ich drehte mich auf die Seite, den Rücken ihm zugewandt, und fing leise an zu schluchzen. In der Dunkelheit spürte ich, daß er anfing, sich auszuziehen, in der Absicht, mich die ganze Nacht zu halten, aber ich sprach schnell.
»Nein, Arden. Ich will dich nicht in meinem Bett. Geh in ein anderes Zimmer und schlaf dort, bis ich Zeit gehabt habe, das alles zu überdenken. Wenn Vera gesagt hat, der Sturz war ihre eigene Schuld, dann war er es schließlich auch, nicht wahr? Niemand hat sie gestoßen … aber sie war es, die mich gestoßen hat, und je mehr ich darüber nachdenke und mich daran erinnere, daß eine Tür leise zufiel, als ich meine Tante tot gefunden habe … es muß Vera gewesen sein, die ihre eigene Mutter die Treppe hinabgestoßen hat und den Scheck von der Pinnwand nahm, wohin ich ihn geheftet hatte. Und dann ist da auch noch Billie, die gefallen ist. Sie und Papa hätten vielleicht geheiratet, und das hätte einen weiteren Erben für Papas Vermögen bedeutet, denn sie muß die ganze Zeit über schon geplant haben, mich aus der Welt zu schaffen.«
Er antwortete nicht. Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloß.
Erst jetzt stand ich auf und zog einen Morgenrock an, ehe ich nach Sylvia sah. Aber sie war nicht in ihrem Zimmer. Ich fand sie in dem Spielzimmer, das einmal mir gehört hatte. Sie schaukelte sanft und summte ihr merkwürdiges, kleines Lied. Ich sah mich um mit meiner neuen Erkenntnis und erkannte die Puppen, die Papa beim Schießen auf einem Jahrmarkt gewonnen hatte. Und dann all die Plüschtiere!
Ich starrte in Sylvias hübsches, junges Gesicht, als sie unschuldig summte wie eine der Hexen aus Papas Geschichten von seinen Vorfahren. Diese Geschichten, die mich einst dazu gebracht hatten, einen Hexenfluch auszustoßen, um die Jungs aufzuhalten, die keine Angst davor hatten …
Kleine Puppen erschienen in Sylvias Händen, die sie anscheinend aus den Taschen ihres losen Kleides gezogen hatte. Winzige Püppchen, die ich selbst gekauft hatte, um ihr eine Freude zu machen. Puppen, geschlechtslose Wesen, aber irgendwo erschienen sie mir plötzlich mehr wie Jungs als wie Mädchen.
Arden war hinter mir hergekommen und stand da, beobachtete uns. Sylvia starrte uns an, ehe sie langsam aus dem Zimmer schlurfte.
»Setz dich«, brummte Arden, zog mich ins Spielzimmer und drückte mich in den Schaukelstuhl. Er ging neben mir in die Knie und versuchte, meine Hand zu halten. Ich setzte mich darauf, um sie vor ihm zu bewahren. Er seufzte, und ich dachte an Billie und all die kleinen Hinweise, die sie mir zu geben versucht hatte, um mir klarzumachen, daß ihr Sohn nicht perfekt war. Aber ich wollte ihn perfekt.
Vielleicht stand das in meinen Augen, als ich ihn anfunkelte, als ich ihm jetzt Vorwürfe machte, außer mir und enttäuscht, weil er mich im Stich gelassen hatte, als ich ihn am meisten brauchte. Trauer und schlechtes Gewissen spiegelten sich in seinen Augen, so daß ich fast seine Gedanken lesen konnte. Er hatte soviel von mir in Kauf genommen, um die Geschehnisse dieses schändlichen Tages wiedergutzumachen. Selbst jetzt liebte ich ihn noch, obwohl ich seine Schwäche verabscheute.
»Das ist der Augenblick, vor dem ich mich seit dem Tag deines neunten Geburtstags gefürchtet habe. Ich eilte damals heim, wollte zu eurem Haus rasen und rechtzeitig für deine Feier dort sein. Ich war noch nie in Whitefern gewesen, und es war ein großer Tag für mich. Auf dem Weg durch den Wald ins Häuschen hielten mich drei Jungs an. Sie forderten mich auf, in der Nähe zu bleiben und mich zu amüsieren. Ich wußte nicht, was sie meinten. Das bißchen Freizeit, das ich hatte, verbrachte ich mit Arbeit, und Spaß mit älteren Jungs war etwas, was ich nicht kannte. Es freute mich, daß ich endlich einer von ihnen werden sollte, und so schloß ich mich ihnen an, als sie mich aufforderten, mich hinter den Büschen zu verstecken. Dann kamst du den Sandweg entlanggehüpft, hast vor dich hin gesungen. Keiner sagte ein Wort. Als sie herausstürzten und losrannten, um dich zu fangen, und als ich hörte, wie du sie anschriest, wie sie brüllten, was sie dir antun wollten, da war das wie ein Alptraum. Meine Arme und Beine waren wie betäubt … ich wußte nicht, was ich tun sollte, um sie aufzuhalten. Mir war übel vor Angst um dich, und mir wurde schwach, so sehr haßte ich sie … und ich konnte mich nicht rühren. Audrina, ich habe mich gezwungen, aufzustehen … und da hast du mich gesehen. Du hast mich mit Blicken angefleht, mit Schreien, ehe sie dir etwas in den Mund stopften … und die Scham, wie gelähmt zu sein, ließ mich noch schwächer werden. Ich wußte, daß du mich verachten würdest, weil ich nichts tat, so, wie ich mich noch immer dafür verachte, nichts anderes getan zu haben, als loszurennen, um Hilfe zu holen. Deshalb bin ich gerannt, denn ich hatte keine Chance im Kampf gegen sie. Einer gegen einen, hätte ich vielleicht noch gewinnen können, aber gegen drei … Audrina, es tut mir leid. Ich weiß, daß das nicht ausreicht. Heute wünschte ich, ich wäre geblieben und hätte versucht, dich zu verteidigen – dann würdest du mich jetzt nicht mit soviel Zorn in deinen Augen anstarren.«
Er machte eine Pause und streckte die Arme aus, zog mich an sich, und vielleicht dachte er auch, er könnte mit seinen Küssen ein anderes Feuer entfachen, ähnlich dem auf dem Friedhof, und ich würde wieder ihm gehören und ihm vergeben.
»Vergib mir, daß ich damals versagt habe, Audrina. Vergib mir, daß ich immer versagt habe, wenn du mich wirklich gebraucht hast … gib mir noch eine Chance, und du wirst mir nie wieder verzeihen müssen, nicht zu handeln, wenn ich es tun sollte.«
Vergeben? Ihm? Wie konnte ich ihm vergeben, wenn ich nie vergessen konnte? Zweimal hatte er nichts unternommen, um mich vor Menschen zu retten, die mich zerstören wollten. Ich wollte ihm keine dritte Chance geben.