Wieder daheim
Als wir unsere lange, gewundene Auffahrt hinauffuhren, sah ich Papa schon auf der Veranda stehen, als hätte er im voraus gewußt, daß wir an diesem Tag heimkehren würden.
Da stand er, ein ehrfurchtgebietender Riese, in einem makellosen neuen, weißen Anzug, mit weißen Schuhen, einem leuchtendblauen Hemd und weißer Krawatte mit silbernen und blauen Schrägstreifen.
Ich schauderte und schaute zu Arden hinüber, der meinen Blick ebenso gespannt wie ängstlich erwiderte. Was würde Papa tun?
Mit einer Hand stützte ich mich auf Ardens Arm, mit der anderen führte ich Sylvia, als wir drei ganz langsam die Stufen zur Veranda hinaufstiegen. Die ganze Zeit über warf mir Papas Miene vor, ihn verraten und hintergangen zu haben, versagt zu haben. Dann, nachdem er mit mir fertig war, wandte er die dunklen, durchdringenden Augen Arden zu, als wollte er ihn als Gegner abschätzen. Papa lächelte herzlich und streckte meinem neuen Ehemann die riesige Hand entgegen. »Wie schön, euch alle wiederzusehen«, erklärte er leutselig. Er schüttelte Ardens Hand, endlos, so schien es mir.
Ich war stolz zu sehen, daß Arden keine Miene verzog. Die Hand eines anderen bei einem freundschaftlichen Händeschütteln fest zu drücken war Papas Art, die körperliche Kraft und die Charakterstärke eines Mannes einzuschätzen. Er wußte, daß sein mächtiger Griff schmerzte, und jemand, der das Gesicht verzog, wurde als ›Schwächling‹ abgetan.
Jetzt wandte er sich mir zu und sagte: »Du hast mich zutiefst enttäuscht.«
Nachlässig tätschelte er Sylvias Kopf, als wäre sie ein Hündchen. Zweimal küßte er mich auf die Wange, erst auf die eine, dann auf die andere, aber gleichzeitig brachte er es fertig, mich so fest ins Gesäß zu kneifen, daß ich am liebsten geschrien hätte. Diese Art des Kneifens war dazu gedacht, eine Frau zu testen, und ihre Reaktionen wurden notiert, katalogisiert und abgelegt.
Sollte er von mir halten, was er wollte. »Kneif mich nie wieder so«, erklärte ich wütend. »Das tut weh, und ich mag es nicht. Ich habe es noch nie gemocht – genausowenig wie meine Mutter oder meine Tante.«
»Oh, was bist du in den vier Tagen für ein widerspenstiges Ding geworden«, erklärte er und grinste ironisch übers ganze Gesicht. Dann tätschelte er spielerisch meine Wange, aber es fühlte sich an wie ein Schlag. »Du hättest nicht davonzulaufen brauchen, mein Herzblatt«, sagte er sanft. »Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, dich den Mittelgang in der Kirche entlang zu geleiten und dich in dem herrlichen Brautkleid deiner Mutter zu sehen.«
Gerade, als ich dachte, nichts, was er tat, könnte mich jemals wieder überraschen, verblüffte er mich doch. »Arden, ich habe mit deiner Mutter über dich gesprochen, und sie hat mir erzählt, daß du Schwierigkeiten hast, eine Stellung bei einer guten Baufirma zu finden. Ich bewundere dich dafür, daß du keinen drittklassigen Job in einem kleinen Betrieb angenommen hast. Wie wäre es, wenn du eine Stellung in meiner Firma annehmen würdest, bis du das Richtige findest? Audrina kann dir das Wichtigste beibringen, damit du die Prüfung bestehst, und ich werde natürlich auch tun, was ich kann, um zu helfen. Aber sie weiß fast genausoviel wie ich.«
Das war nun wirklich nicht das, was ich wollte. Aber als ich Arden ansah, mußte ich feststellen, daß er sehr erleichtert schien. Dieses Angebot würde eine Menge Probleme lösen. Wir hätten ein Einkommen und könnten eine kleine Wohnung in der Stadt mieten, weit fort von Whitefern. Arden machte einen dankbaren Eindruck und sah mich an, als hätte ich Papas Wunsch, mich ganz für sich zu behalten, übertrieben.
Es war typisch für Papa, eine Situation, die ihm nicht behagte, einfach zu seinem Vorteil zu wenden. Gutaussehende junge Angestellte waren sehr gefragt, und Arden war darüber hinaus noch klug und konnte rechnen.
»Ja, Arden«, fuhr Papa dröhnend fort und legte mit einer freundlichväterlichen Geste den Arm um die Schultern meines Mannes, »meine Tochter kann dir die Grundbegriffe und auch das Technische beibringen.«
Seine Stimme klang weich, entspannt.
»Sie weiß fast soviel wie ich, und vielleicht ist sie sogar noch besser, denn der Markt ist keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Audrina ist sehr intuitiv und sensibel – richtig, Audrina?«
Wieder lächelte er mir äußerst charmant zu. Doch während Arden nicht hinsah, streckte er den Arm aus und kniff mich, diesmal noch fester. Er lächelte, und als Arden zu uns herübersah, umarmte mich Vater liebevoll.
»So, und jetzt«, fuhr er fort, »habe ich noch eine wundervolle Überraschung für euch.«
Er strahlte uns beide an. »Ich habe mir die Freiheit genommen, deine Mutter aus diesem jämmerlichen kleinen Häuschen zu holen. Sie wohnt jetzt oben in den besten Zimmern, die wir haben.«
Wieder glänzte sein aufgesetztes Lächeln. »Das heißt, den besten nach meinen eigenen.«
Es tat weh, Arden so dankbar zu sehen, wo er es hätte besser wissen sollen. Vielleicht waren tatsächlich alle Männer mehr oder weniger gleich und verstanden sich deshalb gut. Ich tobte innerlich, weil Papa mein Leben immer noch beherrschte, obwohl ich jetzt verheiratet war.
Gemütlich eingerichtet in den Zimmern, die einmal meiner Tante gehört hatten, fanden wir Billie. Sie trug ein Spitzenkleid, das einem Bühnenstar angemessen gewesen wäre und eigentlich mehr auf eine Gartenparty gepaßt hätte.
Ihre Augen strahlten, als sie erzählte: »Er stürmte in mein Haus, kaum eine Stunde nachdem ihr abgefahren wart, beschimpfte mich, weil ich euch ermutigt hätte, durchzubrennen. Ich habe kein Wort gesagt, bis er sich beruhigt hatte. Ich glaube, da hat er mich zum erstenmal richtig angesehen. Er hat mir gesagt, daß ich schön wäre. Und dabei trug ich meine Shorts, und diese verdammten Stümpfe ragten heraus, aber er schien sich nicht darum zu kümmern. Liebling, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut das für mein Ego war.«
Papa war schlau, oh, so schlau! Ich hätte mir denken können, daß er einen Weg finden würde, um mich zu bestrafen. Jetzt hatte er meine Schwiegermutter auf seiner Seite.
»Dann sagte er, wir sollten das Beste aus der Situation machen, die sich nun ja doch nicht mehr ändern ließe, und dieser wundervolle Mann hat mich eingeladen, hier bei ihm und euch zu wohnen. War das nicht großzügig von ihm?«
Natürlich war es das. Ich sah mich in dem Zimmer um, in dem das Andenken an meine Tante hätte wachgehalten werden sollen, und es tat mir weh. Aber was hatte es für einen Sinn, das Andenken an eine Tote wachzuhalten, wenn Billie so dankbar war? Und Tante Elsbeth hatte niemals irgend etwas anerkannt, das getan worden war, um ihre Zimmer hübscher zu machen. Wenn irgend jemand Zimmer wie diese verdiente, dann war das Billie.
»Audrina, du hast mir nie erzählt, daß dein Vater so nett ist, so verständnisvoll und charmant. Irgendwie hast du ihn immer als rücksichtslos, hinterhältig und gemein dargestellt.«
Wie konnte ich ihr sagen, daß Papas gutes Aussehen, sein aufgesetzter Charme seine Waffen waren? Er benutzte sie bei allen Frauen, gleichgültig, ob jung oder alt. Neunzig Prozent seiner Kunden waren alte, reiche Frauen, die vollkommen von seinem Rat abhingen, und die anderen zehn Prozent waren reiche Männer, zu alt, um sich auf ihr eigenes Urteil verlassen zu können.
»Audrina, Liebes«, fuhr Billie fort und zog mich an ihre volle, feste Brust, »dein Vater ist ein solcher Schatz. So lieb und um jedermanns Wohlergehen besorgt. Ein Mann wie Damián Adare könnte niemals grausam sein. Ich bin überzeugt, du hast ihn falsch verstanden, wenn du glaubst, daß er dich schlecht behandelt hat.«
Papa war uns nach oben gefolgt, und bis sie das sagte, hatte ich ihn nicht gesehen. Er lehnte graziös im Türrahmen und saugte alles in sich auf. In der plötzlichen Stille wandte er sich an Arden. »Meine Tochter hat von dir geschwärmt, seit sie sieben Jahre alt war. Ich hätte wirklich nie gedacht, daß diese Liebe halten könnte. Mensch, ich habe mindestens ein Dutzend Mädchen geliebt, ehe ich zehn war, und zweihundert, ehe ich Audrinas Mutter geheiratet habe.«
Arden lächelte, scheinbar verlegen, und hastig bedankte er sich bei Papa dafür, ihm eine Stelle angeboten zu haben, was sonst niemand getan hatte – und dazu mit einem anständigen Gehalt!
Papa hatte erneut gewonnen. Tante Elsbeth war tot. Sie hatte mich genausowenig gerettet wie sich selbst. Aber Papa – er war bereit, diejenigen, die er – wie er behauptete – am meisten liebte, wieder und wieder zu verletzen.
Bald schon sprach Papa ernsthaft mit Arden und mir darüber, ihm einen Enkel zu schenken. »Ich habe mir immer einen Sohn gewünscht«, sagte er und sah mir direkt in die Augen. Es tat wirklich weh, ihn das sagen zu hören, wo er doch immer behauptet hatte, ich würde ihm solche Freude machen. Er mußte meinen Schmerz gesehen haben, denn er lächelte, als hätte er mich getestet und immer noch für treu befunden. »Das heißt, nach einer Tochter wollte ich einen Sohn. Aber ein Enkelsohn wäre prächtig, da ich schon zwei Töchter habe.«
Ich wollte noch kein Baby, nicht, wo es schon schockierend genug war, Ardens Frau zu sein. Stück für Stück lernte ich unter Schmerzen, mit diesen nächtlichen Liebesakten fertig zu werden, die für mich scheußlich und für ihn wundervoll waren. Ich lernte sogar, ihm Vergnügen vorzuheucheln, so daß er endlich nicht mehr so besorgt aussah und glaubte, daß ich den Sex inzwischen genauso genoß wie er selbst.
Noch ehe Arden und ich von unserer kurzen Hochzeitsreise zurückgekehrt waren, hatte Billie schon die Küche übernommen, die Tante Elsbeth erst vor so kurzer Zeit verlassen hatte. Billie hatte ihren Hochstuhl dort, den mein Vater höchstpersönlich zusammen mit dem größten Teil ihrer Habe in unser Haus gebracht hatte – mein Vater, der körperliche Arbeit verabscheute! Ich beobachtete ihn, wie er sie bewundernd ansah, als sie geschickt eine Mahlzeit vorbereitete, ohne viel Murren und ohne viel Aufhebens. Sie lächelte, lachte auch als Antwort auf einen seiner zahlreichen Witze. Sie sorgte für seine Kleider und führte das riesige Haus mit so wenig Anstrengung, daß Papa nicht aufhören konnte, ihr Tun zu bewundern.
»Wie schaffst du das nur, Billie? Warum möchtest du das überhaupt alles tun? Warum bittest du mich nicht, Diener anzustellen, die für dich sorgen?«
»O nein, Damián. Das ist doch das mindeste, was ich tun kann, um mich für all deine Wohltaten zu bedanken.«
Ihre Stimme war weich, ihre Augen leuchteten warm, als sie ihn ansah. »Ich bin so dankbar, daß du mich hierhergeholt und meinen Sohn als deinen eigenen willkommen geheißen hast, daß ich nie auch nur annähernd meine Dankbarkeit beweisen kann. Außerdem, wenn man Diener im Haus hat, hat man kein Privatleben mehr.«
Ich starrte Billie an, staunte darüber, daß eine Frau mit ihrer Erfahrung so leicht getäuscht werden konnte. Papa nutzte die Menschen aus. Sah sie denn nicht, daß sie ihm Unmengen Geld sparte, indem sie seine Haushälterin und Köchin spielte? – und dieses großzügige Angebot, Diener einzustellen, das war doch falsch, nur darauf abgezielt, ihr das Gefühl zu geben, nicht ausgenutzt zu werden.
»Audrina«, sagte Billie eines Tages, als ich etwa zwei Monate verheiratet war und Arden noch immer die Bücher für seine Börsenprüfung studierte, »ich habe Sylvia beobachtet. Aus irgendeinem Grund haßt sie mich und würde mich gern tot sehen. Ich versuche so zu denken, wie sie vielleicht denkt. Es könnte sein, daß sie eifersüchtig ist, weil sie sieht, daß du mich auch gern hast, und sie mußte deine Liebe noch niemals mit irgend jemandem teilen. Als ich noch in unserem Häuschen lebte, war das etwas anderes, aber jetzt lebe ich in ihrem Heim und stehle ihr deine Aufmerksamkeit und deine Zeit. Auch Arden ist ein Konkurrent für sie, aber sie ist nicht eifersüchtig auf ihn vielleicht, weil er sie in Ruhe läßt. Ich bin es, die sie beneidet. Mehr noch, ich glaube, sie ist nicht annähernd so zurückgeblieben, wie du glaubst, Audrina. Sie ahmt dich nach. Sobald du ihr den Rücken zudrehst, folgt sie dir. Und sie kann genauso normal gehen wie du – wenn sie weiß, daß du sie nicht sehen kannst.«
Ich wirbelte herum und ertappte Sylvia direkt hinter mir. Sie schien überrascht, und hastig öffneten sich ihre geschlossenen Lippen, ihre Augen wurden leer, wie blind. »Billie, du solltest solche Dinge nicht sagen. Sie kann hören. Und wenn es stimmt, was du sagst – obwohl ich es nicht glaube –, dann könnte sie es verstehen und verletzt sein.«
»Natürlich versteht sie es. Sie ist nicht besonders intelligent, aber auch nicht vollkommen dumm.«
»Aber ich verstehe nicht … warum sollte sie so tun …«
»Wer hat dir gesagt, daß sie hoffnungslos zurückgeblieben ist?«
Sylvia war in den Korridor hinausgewackelt, hatte Billies kleinen roten Karren mitgenommen. Während ich sie beobachtete, setzte sie sich darauf und fing an, sich herumzuschieben, wie Billie es machte.
»Papa hat sie erst heimgebracht, als sie zweieinhalb Jahre alt war. Er hat mir erzählt, was die Ärzte ihm gesagt haben.«
»Ich bewundere Damián, auch wenn ich es nicht gutheiße, wie er dein Leben mit der Fürsorge deiner kleinen Schwester belastet hat. Vor allem, da er es sich leisten könnte, eine Pflegerin oder besser noch einen Therapeuten für sie zu engagieren. Tu, was du kannst, um ihr etwas beizubringen, und mach vor allem mit deinem Sprachtraining weiter. Gib Sylvia nicht auf. Auch wenn diese Arzte ihre ehrliche Meinung gesagt haben: Es werden oft Fehler gemacht. Es gibt immer Hoffnung für eine Besserung.«
In den nun folgenden Monaten überzeugte Billie mich davon, daß ich meinen Vater vielleicht doch falsch eingeschätzt hatte. Sie betete ihn offensichtlich an. Er ignorierte die Tatsache, daß sie keine Beine hatte, und behandelte sie mit so viel Galanterie, daß ich überrascht und erfreut war. Papa ließ sogar einen besonderen Rollstuhl für Billie anfertigen. Er haßte ihren kleinen roten Karren von ganzem Herzen, aber der schmucke Sessel mit versteckten Rädern rollte ihr nicht schnell genug herum. Sie benutzte ihn nur, wenn Papa in der Nähe war.
Arden schuftete wie ein Sklave, studierte dann die halbe Nacht und versuchte, sich an alles zu erinnern, was er für die Prüfung wissen mußte. Er sagte, daß er es so haben wollte, aber ich wußte, daß er nicht mit dem Herzen bei der Sache war.
»Arden, wenn du kein Börsenmakler werden willst, dann gib auf und mach etwas anderes.«
»Ich will aber – mach weiter, bring’s mir bei.«
»Nun«, fing ich an, als er mir am Tisch in unserem Schlafzimmer gegenübersaß, »sie werden dir verschiedene Tests geben, um deine Aufnahmefähigkeit zu prüfen. Danach kommt deine Wortgewandtheit, und du mußt verstehen, was du sagst, was ja eigentlich selbstverständlich ist.«
Ich lächelte ihm zu und schob seinen Fuß von meinem Bein. »Bitte beantworte mir jetzt folgende Fragen: Würdest du ein Bild lieber malen, ansehen oder verkaufen?«
»Malen«, antwortete Arden schnell.
Stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf. »Zweite Frage. Würdest du ein Buch am liebsten lesen, schreiben oder verkaufen?«
»Schreiben … aber das ist wahrscheinlich falsch. Die richtige Antwort ist: ein Buch verkaufen, ein Bild verkaufen, stimmt’s?«
Nachdem er dreimal durchgefallen war, bestand mein Mann endlich die Prüfung und wurde ein ›Wall-Street-Cowboy‹.
Eines Tages, als ich mit meiner Hausarbeit fertig war, schlenderte ich in das Zimmer, in dem der Flügel meiner Mutter stand. Ich lächelte ironisch, als ich Tante Mercy Maries Foto hervorholte und auf den Flügel stellte. Wer hätte je gedacht, daß ich einmal freiwillig etwas so Verrücktes tun würde? Vielleicht kam es, weil ich an meine Tante denken mußte und traurig war, daß ich nicht bei ihrer Beerdigung war. Um das wiedergutzumachen, ging ich oft an ihr Grab und legte frische Blumen hin – natürlich auch auf das Grab meiner Mutter. Nie, niemals brachte ich Blumen für die erste Audrina.
Zur Erinnerung an Tante Ellie fing ich mit meiner eigenen ›Teestunde‹ an. Während ich mit dieser Routine begann, die einst von zwei anderen Schwestern ins Leben gerufen worden war, kroch Sylvia ins Zimmer, setzte sich mir zu Füßen auf den Boden und starrte mit verwirrtem Ausdruck in mein Gesicht empor. Ich hatte das Gefühl, die Zeit wäre zurückgestellt worden, alles würde sich wiederholen. »Lucietta«, sagte die dicke Frau, für die ich jetzt sprach, »was für ein hübsches Mädchen deine dritte Tochter doch ist. Sylvia, ein schöner Name. Wer ist Sylvia? Es gab da einmal ein Lied über ein Mädchen namens Sylvia. Lucietta, bitte, spiel dieses Lied noch einmal für mich.«
»Aber natürlich, Mercy Marie«, antwortete ich und imitierte die Stimme meiner Mutter. »Ist sie nicht hübsch, meine süße Sylvia? Ich finde, sie ist die schönste von meinen Töchtern.«
Ich spielte eine kleine Melodie auf dem Klavier, die recht tölpelhaft klang. Aber wie eine Marionette, die vom Schicksal geführt wird, konnte ich nicht aufhören, nachdem ich erst einmal angefangen hatte. Lächelnd reichte ich Sylvia einen Keks. »Und jetzt sprichst du für die Dame auf dem Foto.«
Mit überraschender Gelenkigkeit sprang Sylvia auf die Füße, rannte zum Klavier, packte das Foto von Tante Mercy Marie und schleuderte es in den Kamin. Der Silberrahmen zerbrach, das Glas splitterte, Sylvia zerfetzte das Foto. Als es zerrissen war, sah sie mich erschrocken an und wich zurück.
»Wie konntest du es wagen?« brüllte ich. »Das war das einzige Foto, das wir von Mutters bester Freundin hatten! So etwas hast du doch noch nie getan!«
Sie fiel auf die Knie, kroch wimmernd zu mir wie ein kleiner Hund. Zu meinen Füßen kauernd, grapschte Sylvia nach meinem Rock, öffnete die Lippen, und bald netzte Speichel ihr Kinn und tropfte auf ihr weites Kleid. Ein kleines Kind hätte mich nicht unschuldiger ansehen können. Billie mußte sich irren. Sylvia konnte ihre Augen nicht länger als ein, zwei Sekunden auf einen Punkt heften.
In dieser Nacht, während Arden friedlich neben mir schlief, träumte ich. Ich hörte Trommeln und Eingeborenenlieder. Tiere heulten. Ich schoß hoch, wollte gerade Arden wecken, entschied dann aber, daß das Heulen der Tiere nur Sylvias Geschrei war. Ich rannte ¡n ihr Zimmer, nahm sie in die Arme. »Was ist los, Liebes?«
Ich schwöre, daß ich dachte, sie würde zu sagen versuchen »Schlecht … schlecht …«. Aber ich war mir wirklich nicht sicher. »Hast du ›schlecht‹ gesagt?«
Ihre blauen Augen waren vor Angst weit aufgerissen – aber sie nickte. Ich fing an zu lachen und zog sie noch fester an mich. »Aber nein, es ist nicht schlecht, daß du reden kannst. O Sylvia, ich habe es so sehr versucht, habe mich so bemüht, es dir beizubringen, und endlich versuchst du es. Du hattest einen schlimmen Traum, das ist alles. Schlaf jetzt weiter und denke daran, wie wundervoll das Leben werden wird, jetzt, wo du dich verständlich machen kannst.«
Ja, sagte ich mir selbst, als ich mich an Arden kuschelte – ich liebte das Gefühl seiner Arme um mich, wenn er nicht leidenschaftlich war –, das war alles, ein böser Traum von Sylvia.
Bis Thanksgiving Day dauerte es noch eine Woche. Ich war mehr oder weniger glücklich, als ich mit Billie in der Küche saß und das Menü zusammenstellte. Doch noch immer ging ich wie ein Kind durch die langen Flure, achtete darauf, nicht auf eines der bunten, geometrischen Muster zu treten, die die Bleiglasfenster auf den Boden warfen. Ich blieb lange stehen und starrte die Regenbogenfarben an der Wand an, genauso wie als Kind. Meine Erinnerungen an meine Kindheit waren noch immer so verschwommen.
Als ich die Küche verließ und zur Treppe gehen wollte in der Absicht, das Spielzimmer aufzusuchen und die Vergangenheit herauszufordern, die Wahrheit zu enthüllen, drehte ich mich plötzlich um und ertappte Sylvia, die mir wie ein Schatten folgte. Natürlich hatte ich mich an sie als meine ständige Begleiterin gewöhnt. Aber was mich erstaunte, war die Art, wie sie einen verirrten Sonnenstrahl mit ihrem Kristall auffing und mir die Farben direkt in die Augen scheinen ließ.
Geblendet stolperte ich rückwärts, bekam es aus irgendeinem Grund mit der Angst zu tun. Im Schatten an der Wand zog ich die Hand fort, mit der ich meine Augen bedeckt hatte, und starrte zu dem riesigen Leuchter hinüber, der alle Farben auffing. Die Spiegel an den Wänden brachen sie und schickten sie zu Sylvia, die sie ihrerseits wieder in meine Richtung dirigierte, als wollte sie mich vom Spielzimmer fernhalten. Ich war wie benommen, aber Visionen zuckten vor meinem geistigen Auge vorbei. Ich sah meine Tante auf dem harten Boden liegen. Wenn nun Sylvia unten in der Halle gewesen war und ihre Kristalle dazu benutzt hatte, meine Tante mit den Sonnenlichtfarben zu blenden? Könnte das meine Tante so sehr verwirrt haben, daß sie gefallen war? Und versuchte Sylvia jetzt, auch mich zu Fall zu bringen?
»Leg das Ding weg, Sylvia!« schrie ich. »Leg es sofort weg. Und blitze mir nie wieder damit in die Augen! Hörst du?«
Wie das wilde Tier, mit dem Papa sie immer verglich, lief sie davon. Einen Moment war ich so verblüfft, daß ich nur hinter ihr herstarren konnte. Ich war erschrocken über meine eigene heftige Reaktion, setzte mich auf die unterste Stufe und versuchte, mich zusammenzureißen – und in diesem Augenblick öffnete sich die Haustür.
Eine Frau stand da, groß und schlank, mit einem hübschen Hütchen aus grünen Federn aller Schattierungen. Ein Nerzcape hing lässig über einer Schulter, und ihre grünen Schuhe paßten haargenau zu dem ausgesprochen teuer aussehenden grünen Kostüm.
»Hallo«, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme. »Da bin ich wieder. Erkennst du mich nicht, süße Audrina?«