Schwestern
An diesem Abend hob mich Papa zum letzten Mal auf seinen Schoß. »Du wirst erwachsen, Audrina. Mit jedem Tag bist du mehr eine Frau. Ich sehe die Veränderungen, die mit deinem Körper vorgehen, und ich hoffe, daß deine Tante dir erklärt hat, wie man mit gewissen Situationen fertig wird. Von nun an werde ich dich nicht mehr so knuddeln können wie heute. Die Menschen denken oft böse Sachen – aber selbst wenn ich dich nicht so halte, heißt das nicht, daß ich dich nicht mehr liebe.«
Seine Hände lagen auf meinem Haar, und ich preßte mein Gesicht an sein Hemd. In diesem Augenblick spürte ich nichts als seine Liebe.
»Ich bin stolz und sehr froh, daß du versprochen hast, auf Sylvia aufzupassen«, fuhr er fort, so gefühlvoll, als hätte ich jetzt endlich doch bewiesen, wie seine erste und geliebte Audrina zu sein. »Es ist deine Pflicht, dich um deine unglückliche Schwester zu kümmern. Du darfst sie nie in ein Heim einweisen lassen, wo sie von anderen Patienten mißbraucht werden würde und auch von den Pflegern, die nicht anständig bleiben, wenn es um ein hübsches, junges Mädchen geht. Und Sylvia wird sehr schön werden, das kann man schon jetzt sehen. Sie wird keine geistigen Fähigkeiten besitzen, aber das kümmert die Männer nicht. Sie werden sie benutzen, mißbrauchen. Wenn sie die Pubertät erreicht, wird irgendein Junge ihr die Jungfräulichkeit rauben, wird sie vielleicht zur Mutter machen. Und Gott helfe ihrem Kind, für das du dann auch verantwortlich sein wirst. Sieh mich nicht so an und denke nicht, ich würde dir meine Last auf die jungen Schultern laden. Sylvia wird mich überleben, genau wie du. Ich denke nur an die Zeit, wenn ich nicht mehr bin und auch Tante Elsbeth nicht.«
Ich schluchzte an seiner Schulter, dachte, welch schweres Kreuz Sylvia doch war.
Papa trug mich zum letzten Mal die Treppe hinauf und brachte mich zu Bett, und vielleicht küßte er mich auch zum letzten Mal, als er mir nun eine gute Nacht wünschte. Unklare Erinnerungen tauchten vor mir auf von all den Abenden, an denen er mich zu Bett gebracht hatte, mir meinen Gutenachtkuß gegeben hatte, sich meine Gebete angehört und mich ins Zimmer der ersten Audrina gebracht hatte, wo ich im Schaukelstuhl sitzen und träumen mußte. Als er jetzt in der Tür stand und mich traurig ansah, erklärte er mir, daß er erwarten würde, daß ich von nun an erwachsen sei.
»Schon gut, Papa«, antwortete ich mit kräftiger Stimme, »ich habe jetzt keine Angst mehr, nachts durch den Flur zu gehen. Wenn Sylvia im Schlaf weint, laufe ich zu ihr, und du brauchst dich nicht darum zu kümmern. Aber du mußt sie auch liebhaben und alles für sie tun, was du für mich getan hast. Ich habe nicht einmal mehr Angst, im Schaukelstuhl zu sitzen. Wenn du nicht vor der Tür stehst, werde ich tatsächlich zu dem leeren Krug, der sich bis zum Überlaufen mit allem füllt, was schön ist. Die Jungs im Wald quälen mich nicht mehr, denn ich habe gelernt, sie nicht mehr so zu fürchten, wie ich es früher getan habe. Danke, Papa, dafür, daß du mir geholfen hast, meine Angst vor den Jungs zu überwinden.«
Eine lange, lange Weile stand er schweigend da. »Ich bin froh, daß sich der leere Krug gefüllt hat.«
»Wenn ich jetzt in dem Stuhl sitze, kann ich Mammi finden und mit ihr reden … ist das verrückt, Papa?«
Ein Schatten verdunkelte seine Augen. »Halte dich dem Schaukelstuhl fern, Audrina. Er hat alles für dich getan, was er konnte.«
Was? Wie merkwürdig, wie überraschend. Ich wußte jetzt, daß ich ihn nicht aufgeben würde. Papa schützte mich vor etwas, von dem er nicht wollte, daß ich es erfuhr. Und genau dieses Etwas mußte ich einfach kennen.
Er verließ mich, schloß die Tür hinter sich, und ich war allein. Ich lag so still im Dunkeln, daß ich das Haus atmen hören konnte, die Bretter des Bodens flüsterten, ersannen einen Weg, mich für alle Zeiten hier festzuhalten.
Im Dämmerlicht meines schattigen Zimmers, umgeben von all den Geistern früherer Whiteferns, hörte ich das leise Knarren meiner Tür, als sie geöffnet und dann wieder geschlossen wurde. Es schien, als schlüpfe ein Gespenst aus der Hölle herein. Das lange, weiße Gewand schleifte über den Boden. Ich hätte fast geschrien!
»Audrina … ich bin’s bloß … Vera.«
Mein Herz schlug so schnell nach dem Schrecken, den sie mir eingejagt hatte, daß meine Stimme bebte, als ich fragte, was sie wollte. Leise und stockend drangen ihre Worte an mein Ohr und verblüfften mich. »Ich möchte deine Freundin sein … wenn du mich haben willst. Ich habe es satt, in einem Haus zu leben, wo mich jeder haßt, sogar meine eigene Mutter. Audrina, ich habe niemanden! Zeig mir, wie man die Leute dazu bringt, einen zu mögen.«
»Deine Mutter mag mich nicht«, erwiderte ich erstickt.
»Doch, das tut sie. Auf alle Fälle mehr als mich. Dir vertraut sie das gute Porzellan an, das Kristall – und das ist der wahre Grund, warum sie dich meine Pflichten übernehmen läßt. Ich bin nicht einmal gut genug für eine Küchensklavin. Audrina, ist dir aufgefallen, wie oft sie Papa das ins Gesicht schleudert? Es ist ihre Waffe, um ihn zu verletzen, weil sie weiß, daß es ihm weh tut, wenn sie das sagt. Denn das ist es, was er aus deiner Mutter gemacht hat – seine Küchen- und Bettsklavin.«
Mir gefiel dieses Gespräch nicht, es schien verräterisch. »Meine Mutter hat ihn geliebt«, erklärte ich trotzig. »Ich glaube, wenn man liebt, gibt man auf, was man sich für sich selbst wünscht.«
»Dann gib du auch etwas für mich auf, Audrina. Liebe mich so, wie du bereit bist, Sylvia zu lieben. Und das, obwohl sie dumm und zurückgeblieben ist, auch wenn sie noch klein und bemitleidenswert und irgendwie süß ist. Ich werde deine beste Schwester sein. Bestimmt. Von jetzt an. Ich schwöre dir, daß ich nie wieder gemein zu dir sein werde. Bitte, werde meine Freundin, Audrina. Bitte, hab Vertrauen zu mir.«
Noch nie zuvor war Vera in meine Nähe gekommen, ohne wenigstens zu versuchen, mich zu verletzen. Sie zitterte, als sie neben meinem Bett stand. In ihrem langen, weißen Nachthemd mit merkwürdigem, aufrecht stehendem Haar, das so gespenstisch aussah, schien sie verletzlich. Und ich konnte sie verstehen. Es war schrecklich, von der eigenen Mutter nicht geliebt zu werden … und wenn sie sich meine Liebe wünschte, dann wollte ich es wenigstens versuchen.
Ich erlaubte ihr, zu mir ins Bett zu kriechen, und einander umarmend schliefen wir bald darauf fest ein.
Ich habe mich niemals gefragt, warum Vera gerade an dem Tag, an dem Sylvia heimkam, beschloß, daß sie mich brauchte. Ich war nur dankbar.
Schon bald standen Vera und ich uns sehr nahe. Wir hatten so viel Spaß miteinander, daß es unglaublich schien, daß ich sie noch vor so kurzer Zeit für meine ärgste Feindin gehalten hatte. Obwohl sie nur einmal pro Woche Unterricht bei Mr. Rensdale hatte, begleitete sie mich von nun an täglich. Anständig und bescheiden saß sie auf dem Sofa und hörte mir beim Spielen zu. Arden flüsterte mir zu, daß er froh war, daß Vera und ich endlich Freundinnen geworden waren. »So sollte es mit Schwestern auch sein – oder mit Cousinen. Familien gehören zusammen.«
»Ist schon in Ordnung, wenn du sie meine Schwester nennst. Die anderen denken das sowieso alle.«
Jetzt, wo ich Vera und meinen Musiklehrer zusammen sah, dachte ich, ich könnte erkennen, ob Vera mir Lügen oder die Wahrheit erzählt hatte. Waren sie wirklich ein Liebespaar? An einem heißen Sommernachmittag trug Vera nichts weiter als einen kurzen weißen Baumwoll-BH und hellgrüne Shorts. Ich hatte eine weiße Bluse und einen Rock an, was Papa der Klavierstunde für angemessen hielt. Die Art, wie Vera an- (oder aus-)gezogen war, war seiner Meinung nach für mich zu unanständig.
Während ich ernsthaft versuchte, mit dem Eifer eines vielversprechenden Künstlers zu arbeiten, räkelte sich Vera in einem von Mr. Rensdales Sesseln, hatte ein Bein über die Armlehne geworfen. Ihre Finger vollführten Kreise um ihre Brustwarzen, die bereits hervorstanden. Mr. Rensdales Blicke wanderten unweigerlich immer wieder in ihre Richtung. Wie herrlich ich auch spielte, oder wie viele Fehler ich auch machte, er bemerkte nichts davon. Welchen Sinn hatten Stunden des Übens, wenn Vera ihn dann so ablenkte? Gedankenlos umarmte Vera sich selbst, streichelte ihre Schenkel, ihre Arme, schüttelte ihre Brüste, als wollte sie Krümel aus ihrem BH entfernen. Es war erstaunlich, wie sie sich immer mit ihrem Körper beschäftigen konnte.
»Vera, um Gottes willen, ist mit dir was nicht in Ordnung?« fuhr Lámar Rensdale sie an.
»Eine Biene hat mich gestochen, an einer unaussprechlichen Stelle, und das tut weh«, heulte sie und sah ihn flehentlich an. »Ich muß den Stachel herausziehen, aber ich kann ihn nicht sehen. Er ist an der Unterseite meines –«
»Ich weiß, wo er ist«, unterbrach er sie. »Schließlich versuchst du seit einer halben Stunde, ihn herauszuziehen. Audrina, geh in mein Badezimmer und hilf deiner Schwester, den Stachel herauszuziehen.«
Mr. Rensdale hatte ihr den Rücken zugekehrt und sah mich bittend an. Hinter ihm schüttelte Vera heftig den Kopf und machte mir klar, daß sie meine Hilfe nicht wollte. Trotzdem stand ich auf und ging ins Bad, wo ich auf Vera wartete. Minuten vergingen. »Beeil dich, Vera. Arden wird gleich hiersein, um uns heimzufahren.«
»Ist schon gut«, kam Veras fröhliche Antwort. »Ich hab’s gerade geschafft, den Stachel selbst herauszuziehen.«
Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, lächelte sie und zog ihr knappes Oberteil nach unten. »Ich brauchte nichts weiter als einen guten Spiegel. Danke, daß ich Ihre Pinzette benutzen durfte, Mr. Rensdale.«
Warum war sein Gesicht so rot? Dann sah ich Veras zufriedene Miene und erriet, daß sie ihren BH vor ihm hochgeschoben und den Stachel entfernt hatte. Wenn da überhaupt einer gewesen war.
Von diesem Tag an bemerkte ich kleine Vertraulichkeiten zwischen den beiden. Er schien sich um meinetwillen zurückhalten zu wollen, aber ebenfalls meinetwegen wollte Vera unbedingt zeigen, welcher Art ihre Beziehung war. Wenn sie mit dem Klavierspiel an der Reihe war, bemühte sie sich, eine kindliche Weise zu klimpern … die ihn zusammenzucken ließ … und oft löste sich der Träger ihres Oberteils, oder ihr Tennisrock rutschte so hoch, daß man ihr Höschen sah. Sie flirtete mit Blicken, Gesten, mit der Art, wie sie sich sorglos hinsetzte, einladend, ihm auf alle nur mögliche Art klarmachte, daß sie freigebig war – wenn er sie wollte, und wann immer er sie wollte. Ich fing wieder an, sie zu verabscheuen. Sie erzählte Witze, die mich erröten ließen, und Mr. Rensdale saß mit niedergeschlagenen Augen da, scheinbar sehr müde. Er sah immer so müde aus. »Das ist die Hitze«, erklärte er, als ich ihn fragte. »Das Klima beraubt mich jeder Energie.«
»Ach, heben Sie sich bitte noch ein bißchen auf, Mr. Rensdale«, flötete Vera. »Bloß genug, damit das Vergnügen nicht zu kurz kommt.«
Er sagte nichts, stand lediglich auf und reichte mir die Unterlagen für die Hausaufgaben. »Ich hoffe, euer Haus ist nicht so feucht wie dieses hier.«
Vera gab er nichts, aber sie tauschten mit Blicken eine geheime Nachricht aus.
»Die Zimmer sind herrlich kühl«, zirpte Vera, »aber oben ist es genauso heiß und feucht wie hier. Ich würde die ganze Zeit nackt herumlaufen, wenn Papa und meine Tante dann nicht einen Anfall kriegen würden.«
Ich starrte Vera an. Einmal in all der Zeit, während einer langen Hitzeperiode, war unser Haus im Obergeschoß stickig gewesen, aber doch nicht so heiß, daß irgend jemand hätte nackt sein müssen.
Die Sommertage streckten sich dahin, heiß und feucht, und gelegentlich machte ich einen Ausflug an den Strand. Ich durfte mit Arden beisammensitzen, und Papa blieb in der Nähe und beobachtete, was wir miteinander trieben. Vera weigerte sich, irgendwohin zu fahren, wo Papa war, und meine Tante hatte zuviel zu tun, um Zeit für ein Vergnügen zu haben. Sylvia krabbelte durch den Sand. Sie sah gänzlich anders aus als die anderen Kinder in ihrem Alter und ihrer Größe. Sie konnte ihr Sandeimerchen nicht füllen, obwohl sie es geduldig immer wieder versuchte; sie hatte nicht genug Verstand, um vor den Wellen davonzulaufen, die sie hätten packen und ins Meer hinausziehen können. Arden und ich waren es, die wieder und wieder hinter ihr herliefen und sie retteten. Papa räkelte sich unter einem riesigen, bunten Sonnenschirm und beäugte all die hübschen Mädchen.
Bald lernte ich, daß Sylvia alles aß, sogar Gras. Sie kroch im Haus herum, auch draußen, stand auf und stolperte durch die Gegend, stieß immer wieder gegen irgend etwas. Wie durch ein Wunder zerbrach sie nach dem ersten Tag nichts mehr. Wenn man sie auch nur ein paar Sekunden lang im Garten allein ließ, wanderte sie davon und verlief sich. Einmal, nachdem ich sie eine Stunde lang verzweifelt gesucht und gerufen hatte, fand ich sie unter einem Baum sitzend und wilde Erdbeeren essend. Sie sah so unschuldig aus wie ein Engel – ohne Verstand. Des Nachts schrie sie und bewies damit, daß ihre Stimmbänder in Ordnung waren und sie eines Tages auch sprechen könnte, wenn es mir je gelingen sollte, ihr schlafendes Gehirn zu wecken. Sie aß, indem sie ihr Essen nach unzähligen Versuchen ungeschickt mit den Händen aufnahm und dann alles, was sie in der Hand hielt, in den Mund stopfte. Leider gelang es ihr nie beim ersten Versuch; sie verfehlte ihr Ziel mindestens zweimal, ehe sie ihre Hände zum Mund führen konnte.
Am Ende jeder Mahlzeit sah Sylvia furchtbar aus; die Speisen klebten ihr überall im Gesicht, im Haar, in den Nasenlöchern. Ein Lätzchen half überhaupt nichts. Sie ließ fallen, verschüttete, erbrach sich häufig, vor allem, wenn sie Gras gegessen hatte. Aber das Schlimmste – schlimmer als alles andere – war, daß sie ihren Körper immer noch nicht beherrschte.
»Sie ist noch keine drei Jahre alt«, ermutigte mich Papa, als ich unser altes Nachttöpfchen entrüstet fortschob. »Selbst du hast in diesem Alter noch Windeln getragen.«
»Hat sie nicht!« verbesserte meine Tante. »Audrina war immer peinlich sauber. Sie hat sich das Töpfchengehen selbst beigebracht, und Lucietta hat ihr Kinderlieder vorgesungen und ihr hübsche Bilder gezeigt und sie mit Keksen belohnt, wenn sie es gut gemacht hatte.«
Papa runzelte mißbilligend die Stirn, ehe er sich entschloß, die Bemerkung zu ignorieren. »Du mußt sie sauberer halten, Audrina, sonst hat sie am Ende einen roten, wunden Hintern, der nicht leicht zu heilen sein wird – deshalb schreit sie nachts. Die Windeln tun ihr weh.«
»Damián! Hör auf damit! Du kannst von einem jungen Mädchen wie Audrina nicht erwarten, daß sie die volle Verantwortung für ein zurückgebliebenes Kind übernimmt. Bring sie in das Heim zurück, oder engagiere eine Pflegerin.«
»Die kann ich mir nicht leisten«, entgegnete Papa schläfrig, gähnte und reckte seine langen Beine, schickte sich an, ein Nickerchen im Liegestuhl auf der Veranda zu machen. »Ich muß schließlich noch dich und deine Tochter unterhalten, Ellie. Dafür geht mein ganzes Geld drauf.«
Ich starrte Papa an. Ich verabscheute die Art, wie er die Wahrheit so verdrehen konnte, daß sie schmerzte.
Eine halbe Stunde später versuchte ich es noch einmal mit dem Töpfchen, band Sylvia darauf fest, damit sie nicht fortkrabbeln konnte. Eine ganze Stunde lang las ich ihr vor, aber ohne Erfolg. Kaum hatte ich Sylvia wieder frisch gewickelt und ihr eine Gummihose angezogen, da war die Windel auch schon wieder schmutzig. Vera kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, daß ich meine Schwester erneut umzog. Sie lachte boshaft. »Mensch, bin ich froh, daß ich nicht für sie verantwortlich bin. Sonst würde sie schmutzig bleiben.«
»Du würdest eine feine Krankenschwester abgeben«, erklärte ich wütend. Dann fuhr mein Kopf herum, und ich funkelte sie an. »Wo bist du gewesen?«
Manchmal, wenn ich dachte, Vera säße in ihrem Zimmer und würde lesen, war sie überhaupt nicht da. Sie war nirgendwo, wo ich sie finden konnte. Für gewöhnlich tauchte sie kurz vor sechs auf, ehe Papa heimkam.
Gähnend ließ sie sich in einen meiner Sessel fallen. »Ich hasse die Schule im Sommer. Ich hasse sie im Winter. Ich weiß, daß die Schule um zwölf zu Ende ist, aber ich habe ein paar Freunde in der Stadt, wenn du auch keine hast, und …«
Sie lächelte mich geheimnisvoll an. Dann warf sie mir einen Riegel Schokolade zu. »Ein Geschenk. Ich weiß ja, daß du Schokolade magst.«
Irgend etwas ging in Veras Leben vor sich, aber ich bohrte nicht nach. Sie quälte mich zwar nicht mehr so oft, aber bei der Hausarbeit half sie immer noch nicht. Auch nicht, wenn es um Sylvia ging. »Ich bin erschöpft, Audrina, vollkommen ausgepumpt.«
Sie gähnte und rollte sich wie eine Katze zusammen. Ich konnte sie förmlich schnurren hören.
Während meine Tante und ich die Mahlzeiten zusammen vorbereiteten, das Haus putzten und die Betten frisch bezogen, entwickelte sich zwischen uns eine Art Zusammengehörigkeit, die Vera nicht mit einbezog. Manchmal durfte ich sie sogar Tante Ellie nennen. Ach, und wie sehr bemühte sie sich, so gut zu kochen, wie Mammi es getan hatte. Ihr größter Wunsch war es (wenn sie mir das auch nie sagte, so spürte ich es doch), sogar noch besser zu kochen als meine Mutter. Sie wollte, daß Papa alle seine Lieblingsgerichte bekam. Manchmal war es zwei Uhr morgens, ehe sie endlich zu Bett ging.
Es waren vielleicht sechs Monate seit dem Tag vergangen, als Sylvia zu uns kam, als Papa eines Tages bei Tisch, nachdem er sich den Mund abgewischt hatte und seine Serviette niederlegte, lächelnd sagte: »Nun, Ellie, diesmal hast du dich wirklich selbst übertroffen. Das hätte niemand besser machen können. Es war ein köstliches Mahl, wirklich köstlich.«
Wer hätte je gedacht, daß ich glücklich sein würde, wenn er das zu meiner Tante sagte? Ich freute mich so sehr über sein Kompliment, daß mir Tränen in die Augen traten – vielleicht, weil sie auch welche in den Augen hatte.
Für mich begann ein anderes Leben. Ein wildes Leben, das mir meinen Sommer stahl; ich konnte nur noch zweimal die Woche Klavierunterricht nehmen und hatte kaum noch Zeit, Billie und Arden zu sehen. Im Herbst war ich gezwungen, von der Stelle, wo der Schulbus mich absetzte, nach Hause zu rennen. Dort angekommen, suchte ich atemlos nach Sylvia, die die schlimme Angewohnheit hatte, sich immer irgendwo verstecken zu wollen.
Es war eine undankbare, nahezu unmögliche Aufgabe, die ich mir selbst gestellt hatte, zu versuchen, Sylvia so zu erziehen, wie man ein normales Kind erzogen hätte. Sie konnte sich nur für äußerst kurze Zeit konzentrieren und niemals still sitzen. Das Schlimmste war, daß Papa Sylvia vollkommen vergaß, sobald er sie mir in den Schoß gelegt hatte. Verzweifelt wandte ich mich an meine Tante und flehte um Hilfe. »Also gut«, willigte sie zögernd ein, »ich verspreche zu tun, was ich kann, solange du in der Schule bist. Aber in dem Augenblick, wo du heimkommst, am Wochenende und in den Ferien ist Sylvia allein deine Aufgabe.«
Oft bewahrte ich Sylvia in letzter Minute vor einer empfindlichen Bestrafung durch meine Tante, die das für völlig gerechtfertigt hielt. »Nein!« brüllte ich, raste in die Küche und warf meine Bücher nieder, »benutze diese Rute nicht bei Sylvia! Sie weiß nicht, daß sie nicht einfach alle Chrysanthemen aus der Erde ziehen darf. Sie findet sie hübsch, und sie liebt hübsche, bunte Sachen.«
»Tun wir das nicht alle?« meinte meine Tante ärgerlich. »Ich wollte sie für deinen Vater auf den Tisch stellen. Außerdem hat Sylvia meine Gemüsebeete zertrampelt! Alles, was ich schon fast hätte ernten können, ist ruiniert! Manchmal glaube ich, sie versucht absichtlich, mich so verrückt zu machen, wie sie es schon ist.«
Tränen des Selbstmitleids glänzten in Tante Elsbeths Augen.
Sylvias Zimmer war wie eine Gummizelle. In dem kleinen, jämmerlichen Raum befand sich ein niedriges Bettchen und ein dicker Teppich, auf dem sie sich nicht verletzte, wenn sie fiel.
Manchmal schien es wirklich, als hätte meine Tante recht: Sylvia hätte nie geboren werden dürfen. Aber sie war nun einmal da, und es gab zu meinem Leidwesen nicht viel, was ich für sie tun konnte.
Sylvia war jetzt drei Jahre alt, aber im Gegensatz zu anderen Kindern, die gern mit Bauklötzen und Bällen und Spielzeugautos hantierten, war Sylvia nicht daran interessiert. Sie wußte nichts mit sich anzufangen, konnte nur endlos umherstreifen. Sie kletterte gern, liebte es, zu essen, zu trinken, sich zu verstecken, und das war alles. Ich wußte nicht, wie ich sie erziehen sollte, wenn hübsche Bilderbücher ihre Aufmerksamkeit nicht fesseln konnten und Spielzeug für sie bedeutungslos und sinnlos war.
Selbst wenn ich sie in einem Sessel festband, wackelte sie immer noch mit dem Kopf und vermied es, irgend etwas anzuschauen, was ich ihr zu zeigen versuchte.
Dann, eines wunderschönen Tages, als ich im Schaukelstuhl der ersten unvergessenen Audrina saß, hatte ich plötzlich eine Vision. Ich sah ein kleines Mädchen, das irgendwie aussah wie ich oder die andere Audrina, und es spielte mit Kristallprismen. Das Mädchen saß in der Sonne und fing das Sonnenlicht mit den Kristallen ein. Die Farben, die ein Spiegel reflektierte, verwandelten das ganze Zimmer in ein Kaleidoskop. Auf dem Spielzeugregal der anderen Audrina bemerkte ich tatsächlich ein halbes Dutzend schön geformter Kristallprismen, zwei wie lange Tränen, einen wie einen Stern, einer glich einer Schneeflocke und ein weiterer einem riesigen Diamanten. Ich legte sie zusammen, zog dann die Vorhänge auf und setzte mich auf den Boden, um selbst mit den Prismen zu spielen. Sylvia hatte es sich angewöhnt, mir überallhin zu folgen, wenn ich zu Hause war. Sie war wie ein Schatten, oft so dicht hinter mir, daß ich mit ihr zusammenstieß und sie umwarf, wenn ich mich plötzlich umdrehte.
Die Sonnenstrahlen, die in die Prismen fielen, warfen Regenbogen durchs Zimmer. Aus dem Augenwinkel sah ich, daß Sylvia die Farben interessierten. Sie starrte die Regenbogen an, die durchs Zimmer tanzten. Ich ließ sie über ihr Gesicht tanzen, malte eine Wange rot, eine andere grün, ließ ihr das Licht dann kurz ins Auge blitzen. Es verwirrte sie, blendete sie, und aus irgendeinem Grund schrie sie auf. Sie stolperte vorwärts, stöhnte und grapschte nach den Prismen, wollte sie selber haben.
Ich bin sicher, daß die Dinger in meiner Hand für Sylvia harte, bunte Blumen waren. Sie nahm sie und verkroch sich in einer Ecke, als wollte sie sich vor mir verstecken, und dort versuchte sie, die Farben selbst zum Tanzen zu bringen. Es ging nicht. Ich beobachtete sie, rief ihr im Geiste zu, ins Sonnenlicht zu rücken. Nur in der Sonne würden die Farben lebendig.
Sylvia drehte die Prismen hin und her, grunzte verzweifelt; ein jammervolles Heulen kam tief aus ihrem Innern, und dann kroch sie los, ein Kristallstück mit einer Hand umklammernd, bis sie im größten Sonnenfleck angelangt war. Augenblicklich erwachte der Kristall zum Leben, erfüllte den Raum mit farbenprächtigen Strahlen. Zum ersten Mal sah ich, wie sich ihre Augen vor Überraschung weiteten. Sylvia ließ etwas geschehen! Sie wußte es. Ich konnte ihre Freude sehen, als sie die Farben durchs Zimmer blitzen ließ.
Ich setzte mich neben sie und umarmte sie. »Hübsche Farben, Sylvia. Sie gehören dir. Ich schenke dir, was ihr gehört hat.«
Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf ihren klaffenden Lippen. Es schien so, als würde sie diese Kristalle niemals mehr loslassen, jetzt, wo sie endlich etwas gefunden hatte, was sie tun konnte.
»O Gott, nimm ihr diese Dinger ab!« beschwerte sich meine Tante am nächsten Morgen, als Sylvia in ihrem Hochstuhl saß und einen Kristallzapfen in ihre Haferflocken fallen ließ, während sie mit einem anderen Lichtstrahlen durch die Küche sandte und jeden einzelnen der Anwesenden blendete. »Hast du ihr die gegeben?«
»Laß sie in Ruhe, Ellie«, befahl Papa. »Wenigstens hat sie endlich etwas zum Spielen gefunden. Sie ist von den Farben fasziniert; und wer weiß, vielleicht lernt sie noch etwas davon.«
»Was denn?« meinte meine Tante zynisch. »Wie sie uns blenden kann?«
»Nun«, meinte Papa nachdenklich und schmierte Butter auf seine dritte Scheibe Toast, »zumindest, wie man schmutzige Finger von den Wänden und den Möbeln fernhält. Sie hält diese Dinger so fest, als würden sie davonlaufen, wenn sie sie losläßt … also laß sie nur.«
Während ich für Sylvia sorgte und Vera weiterhin honigsüß zu mir war, versuchte ich wie verrückt, Zeit zu finden, um wenigstens einmal am Tag an Mammis Flügel zu üben. Sylvia gefiel es nicht, wenn ich übte. Sie saß im Sonnenlicht und warf bunte Strahlen auf meine Notenblätter, und wenn ich sie irgendwie abdeckte, warf sie die Strahlen in meine Augen, so daß ich die Noten nicht lesen konnte.
Ich nahm auch weiterhin Unterricht bei Lámar Rensdale, obwohl ich nicht viel Zeit zum Üben hatte. Ich wußte, daß er sich darauf vorbereitete, nach New York zu gehen. Diesmal wollte er bleiben und in Juilliard Musikunterricht geben. »Besser, als sich mühsam in einem Ort durchzuschlagen, in dem jeder Künstler mißtrauisch angesehen wird«, hatte er erklärt. Er hatte mich am Abend zuvor angerufen, um mir die Neuigkeit mitzuteilen, und er hatte sich schrecklich aufgeregt angehört. »Es wäre mir lieb, wenn du niemandem davon erzählen würdest, Audrina. Und du mußt mir schwören, mit dem Musikstudium weiterzumachen. Eines Tages, das weiß ich, werde ich im Publikum sitzen und mir sagen, daß ich es war, der Audrina Adare auf die Straße zum Ruhm geführt hat.«
Ich hatte niemandem außer Arden etwas erzählt und beschlossen, bei Mr. Rensdale vorbeizuschauen und mich zu verabschieden. In meiner Tasche hatte ich ein kleines Abschiedsgeschenk, ein paar goldene Manschettenknöpfe, die meinem Großvater mütterlicherseits gehört hatten.
Früher war Lámar Rensdale mir wie der ordentlichste aller Männer erschienen. Jedes Ding stand an seinem Platz. Jetzt war sein einst makelloser Garten verwildert und mit Unrat übersät. Der Rasen müßte gemäht, das Unkraut gejätet werden, und Bierdosen rollten im Wind hin und her. Er hatte nicht einmal die Blätter zusammengeharkt oder die alten Vogelnester über der Tür entfernt. Ich wollte an der Hintertür klopfen, aber bei der leichten Berührung meiner Knöchel schwang sie auf.
Immer, wenn ich sein Haus betreten hatte, hatte ich ihn am Klavier gehört, und wenn er nicht dort war, war er in der Küche gewesen. Da das Haus sehr still war, nahm ich an, er wäre in die Stadt gefahren. Ich beschloß, mein Geschenk mit einer kurzen Notiz zurückzulassen und mich dann auf die Veranda zu setzen, um dort auf Arden zu warten. Ich fing an, eine Nachricht auf den Notizblock in der Küche zu kritzeln.
»Lieber Mr. Rensdale«, hatte ich gerade geschrieben, als ich ein Geräusch aus dem Wohnzimmer hörte. Ich öffnete den Mund, um zu rufen, als ich ein vertrautes Mädchenkichern hörte. Ich erstarrte, schauderte bei dem Gedanken, daß all die schrecklichen Geschichten, die Vera erzählt hatte, wahr sein konnten. Auf Zehenspitzen schlich ich zur Küchentür und öffnete sie einen Spalt. Mr. Rensdale und Vera saßen im Wohnzimmer. Ein Feuer prasselte im Kamin, Funken sprühten. Es war November und gerade kalt genug, um ein Feuer anzumachen. Dieser Nachmittag war feucht und düster, aber das Feuer verbreitete Gemütlichkeit in diesem kleinen Raum, als Lámar Rensdale jetzt aufstand, um eine Platte aufzulegen. Schuberts ›Serenade‹ erfüllte das Zimmer mit süßer Musik, und jetzt wußte ich, daß ich heimlich einer Verführungsszene zuschaute.
Da stand ich, unfähig zu entscheiden, was ich tun sollte. Eine Stunde mußte noch vergehen, ehe Arden mich abholen würde. Der Weg nach Hause war lang und auf der Schnellstraße zu Fuß nicht ungefährlich. Andererseits würde ich nicht so dumm sein, per Anhalter heimzukommen. Nein, ich wollte mich wieder auf die Veranda setzen, trotz der Kälte. Doch statt mich zu bewegen, überlegte ich hin und her, um mit ansehen zu können, was im Wohnzimmer vor sich ging.
»Du tanzt einfach prachtvoll«, sagte Lámar Rensdale. »Ich habe dir doch gesagt, daß man kaum merkt, daß du hinkst. Du machst aus einer Mücke einen Elefanten, Vera. Wenn ein Mädchen so hübsch ist wie du und deine Figur hat, dann wird kein Mann einen so kleinen Fehler bemerken …«
»Dann ist mein Hinken ein Fehler? Lámar, ich hatte gehofft, du würdest mich perfekt finden.«
Ihre Stimme klang klagend und süß, vorwurfsvoll und doch rührend. Liebte sie ihn wirklich? Konnte sie das? Sie war letzte Woche doch erst sechzehn geworden.
»Wirklich, Vera, du bist sehr hübsch und reizvoll und sehr verführerisch. Aber du bist zu jung für einen Mann meines Alters. Zwei Jahre lang haben wir wundervolle Stunden miteinander verbracht, und ich hoffe, du wirst niemals auch nur eine Sekunde davon bereuen. Aber jetzt reise ich ab. Du solltest dir einen Jungen in deinem Alter suchen, einen Jungen, der dich heiratet und dich von dem Haus fortholt, das du so sehr zu hassen scheinst.«
»Du hast gesagt, du liebst mich, und jetzt redest du so, als wäre das nicht der Fall«, heulte Vera, und Tränen liefen über ihr Gesicht. »Du hast mich nie geliebt, oder? Du hast das nur gesagt, damit ich mit dir ins Bett gehe … Und jetzt, wo du meiner müde bist, willst du eine andere, eine neue. Und dabei liebe ich dich so sehr!«
»Aber natürlich liebe ich dich, Vera. Nur bin ich nicht bereit zum Heiraten. Du weißt, daß mir diese Professur sehr wichtig ist. Ich habe in New York gesagt, daß ich nicht verheiratet bin, und das hat ihnen gefallen. Sie dachten, daß ich deshalb mehr Energie für den Unterricht haben würde. Bitte, Vera, vergiß nicht, daß ich nicht der einzige Mann auf der Welt bin.«
»Für mich bist du das aber!«
Ihr Heulen wurde lauter. »Ich würde für dich sterben! Ich habe mich dir geschenkt. Du hast mich verführt und mir geschworen, daß du mich immer lieben würdest, und jetzt, wo ich schwanger bin, willst du mich nicht!«
Zutiefst entsetzt fuhr ich zurück.
Mr. Rensdale zwang sich zu einem beherrschten Lachen. »Mein liebes Mädchen, du kannst unmöglich schwanger sein. Versuche nicht diesen alten Trick mit mir.«
»Aber ich bin es«, jammerte sie. Als das keine Wirkung zu haben schien, bewegte sie sich, schmollte, vergrub sich dann noch tiefer in seine Arme. Sie preßte sich so eng an ihn, daß die beiden zu einer Person zu verschmelzen schienen. »Lámar, du liebst mich, ich weiß, daß du mich liebst. Liebe mich noch einmal, jetzt, auf der Stelle. Laß mich noch einmal beweisen, wie sehr ich dich erregen kann …«
Ich stöhnte auf, als ich sah, wie ihre Hände über seinen Rücken glitten, dann hinab zu seinem Gesäß, während sich ihre Lippen öffneten und sie ihn mit wilder Leidenschaft küßte. Mir wurde allein vom Zuschauen schon fast schwindlig. Dann tat sie etwas, was ich nicht sehen konnte. Noch immer spielte die Musik, brannte das Feuer.
»Nicht …«, bat er, als sie aggressiver wurde und an dem Reißverschluß seiner Hose zerrte. »Audrina hat gestern irgendwas davon erwähnt, sie würde vielleicht vorbeischauen, um sich zu verabschieden …«
»Bringst du ihr auch bei, was du mir beigebracht hast?« fragte Vera leise. »Ich wette, ich bin zehnmal besser als sie –«
Er packte sie und schüttelte sie an den Schultern, und dabei rief er: »Hör auf, so etwas zu sagen! Audrina ist ein reizendes, unschuldiges Mädchen! Gott allein weiß, wie es kommt, daß ihr beiden euch so verschieden entwickelt habt.«
Als er sie weiterhin beschimpfte, hob Vera ihren grünen Sweater hoch und zeigte ihre nackten Brüste. Sie hüpften auf und nieder, als er sie schüttelte, und sie lachte. Während er sie noch an den Schultern hielt, öffnete sie ihren Rock und ließ ihn zu Boden gleiten. Eine Sekunde später hakte sie die Daumen in ihren Schlüpfer und zog ihn hinunter. Lámar Rensdale konnte nicht anders, er mußte sie in ihrer Nacktheit einfach anstarren. Es schien albern, daß sie ihren Sweater noch immer bis unter die Achseln hochgezogen hielt, während sie ihn neckte: »Du willst mich, du willst mich, willst mich … also warum nimmst du mich nicht – oder muß ich tun, was ich das letzte Mal getan habe … Mr. Rensdale!«
Oh! Sie imitierte meine Art zu sprechen. Plötzlich riß er sie in seine Arme und küßte sie hart und rücksichtslos, beugte sie so weit nach hinten, daß ich fürchtete, sie würde zerbrechen. Sie fielen beide zu Boden, und dort wanden und küßten sie sich, atmeten schwer vor Leidenschaft, und das, obwohl sie sich häßliche Dinge an den Kopf warfen. Hin und her rollten sie …
Verängstigt, als wäre ich sieben Jahre alt und säße wieder im Schaukelstuhl, beobachtete ich sie, bis der leidenschaftliche Akt vorüber war und Vera nackt auf seinem großen, stark behaarten Körper lag. Zärtlich streichelte sie seine Wangen, liebkoste sein Haar, küßte seine Lider und knabberte an seinen Ohren, während sie mit irgendwie boshaftem Unterton murmelte: »Wenn du mich nicht mit nach New York nimmst, erzähle ich allen, daß du mich vergewaltigt hast – und Audrina auch. Die Polizei wird dich ins Gefängnis werfen, weil ich erst sechzehn bin und Audrina zwölf. Ich bin sicher, daß sie mir glauben und nicht dir, und du wirst nie wieder eine anständige Arbeit finden. Bitte, zwing mich nicht, das zu tun, Lámar, denn ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr, daß es sogar weh tut, so gemeine Sachen zu dir zu sagen.«
Mit diesen Worten setzte sie sich auf, drehte sich um und fing an, mit den intimsten Teilen seines Körpers zu spielen. Sein genüßliches Stöhnen verfolgte mich, als ich durch die Hintertür das Haus verließ und sie leise hinter mir schloß.
Draußen atmete ich tief die kalte Novemberluft ein, versuchte, meine Lungen vom Geruch der Leidenschaft zu befreien, der in den kleinen Zimmern hing, überall. Ich wollte nie wieder zurückgehen. Was immer auch geschah, ich würde nie wieder dorthin zurückgehen.
Schweigend saß ich neben der ganzen Rückfahrt neben Arden. »Ist alles in Ordnung? Warum sagst du nichts?« fragte er.
»Es ist alles prima, Arden.«
»Natürlich nicht. Wenn es prima wäre, dann würdest du drauflosplappern und mir von Lámar Rensdale erzählen und davon, wie wunderbar er ist. Aber du sagst nichts davon – warum nicht?«
Wie konnte ich ihm erzählen, was ich dachte? Vera hatte erst neulich damit geprahlt, auch mit Arden zu schlafen.
An diesem Abend stürzte sich Vera auf mich. »Du warst da, Audrina! Du hast uns beobachtet. Wenn du Papa etwas davon erzählst, wirst du dafür büßen – ich werde dafür sorgen, daß du büßen wirst. Ich werde ihm erzählen, daß du es mit Arden genauso machst, und mit Lámar noch außerdem!«
Sie schleuderte mir die goldenen Manschettenknöpfe entgegen, die ich für Mr. Rensdale zurückgelassen hatte. »Ich ging in die Küche und fand sie dort auf dem Tisch.«
Drohend hinkte sie näher. »Ich warne dich, wenn du es wagst, Papa etwas zu erzählen, dann werde ich etwas so Schreckliches tun, daß du nie mehr in den Spiegel zu schauen wagst!«
Ich haßte Vera in diesem Augenblick, ich verabscheute und verachtete sie so sehr, daß ich sie ebenso sehr verletzen wollte, wie sie mich zu verletzen drohte. »Du wolltest meine Freundin sein, was für eine wundervolle Freundin du doch bist, Vera. Mit dir als Freundin brauche ich keine Feinde mehr, nicht wahr?«
»Nein«, antwortete sie und lächelte, und ihre dunklen Augen funkelten düster. »Mit mir als Freundin hast du die beste aller möglichen Feindinnen. Ich wollte, daß du mich liebst, Audrina, damit es dich noch mehr verletzt, zu erkennen, wie sehr ich dich hasse! Wie sehr ich dich immer gehaßt habe!«
So heftig kamen ihre schrillen Worte, daß ich zu zittern anfing. »Warum haßt du mich so? Was habe ich dir getan?«
Sie breitete die Hände aus, umfaßte mit dieser Geste das Haus und alles, was darin war. Sie erklärte mir, daß ich alles gestohlen hätte, was rechtmäßig ihr gehören würde. »Du Verrückte! Wie kannst du bloß so blind sein? Sieh mich doch an, sieh in meine Augen – weißt du dann immer noch nicht, wer mein Vater ist? Ich bin die erste Audrina, nicht du! Dein Papa ist auch mein Vater! Ich bin die Älteste und sollte an erster Stelle stehen, nicht du! Papa hat sich mit meiner Mutter getroffen, ehe er deine Mutter überhaupt kennengelernt hat, und er hat meine Mutter geschwängert. Dann hat er deine Mutter gesehen, sie war jünger und hübscher. Aber er sagte kein Wort zu meiner Mutter, bis sie ihm erzählte, daß sie mit mir schwanger sei. Er weigerte sich zu glauben, daß er der Vater war, und zwang meine Mutter, die Stadt zu verlassen. Und diese dumme Frau, meine Mutter, tat genau das, was er wollte. Und die ganze Zeit über hat sie gedacht, daß er sie heiraten würde, wenn sie zurückkommen und er mich sehen würde, sehen würde, wie hübsch ich war. Ich war erst ein Jahr alt, und sie hatte mich so hübsch zurechtgemacht, daß er beeindruckt sein mußte – aber er war nicht beeindruckt, denn er hatte in der Zwischenzeit deine Mutter geheiratet. Ach, Audrina, du hast keine Ahnung, wie sehr ich ihn für das, was er mir und meiner Mutter angetan hat, hasse und verachte. Ich war erst ein Baby und wurde von meinem eigenen Vater zurückgestoßen. Er hat mir nie auch nur irgend etwas von den Dingen gegeben, dir mir rechtlich zustanden. Er will dir dieses Haus hinterlassen und all sein Geld außerdem. Das hat er meiner Mutter erzählt – aber es gehört mir! Alles hier sollte mir gehören!«
Sie schluchzte und schlug nach mir. Geschickt wich ich ihrem Schlag aus und sprang beiseite. Vera wirbelte herum, hieb in ihrer irren Wut nach Sylvia. Diese fiel flach aufs Gesicht und schrie aus vollem Hals.
In diesem Augenblick ging ich auf Vera los und brüllte: »Schlag Sylvia nie wieder, Vera!«
Ich stieß Vera zu Boden, hockte mich auf ihren Brustkorb und hielt sie nieder. Sie wand sich und versuchte, mir die Augen auszukratzen. Sie wehrte sich heftig, ihre langen, scharfen Nägel drohten mein Gesicht zu zerkratzen. Sylvia kreischte immer noch. Ich sprang auf die Füße und lief zu ihr, um sie auf den Arm zu nehmen.
Vera gelang es schließlich, sich an einem Stuhl hochzuziehen. Sie taumelte auf die Tür zu, in den Korridor hinaus. Aber sie bemerkte das kleine Kristall nicht, mit dem Sylvia gespielt hatte. Sie trat drauf, verlor das Gleichgewicht und stürzte erneut zu Boden.
Sylvia heulte kummervoll auf, aber es war Vera, die am lautesten schrie. Als ich hinschaute, sah ich überrascht große Blutlachen am Boden.
Mit Sylvia auf dem Arm lief ich zu meiner Tante. »Tante Elsbeth, komm schnell! Vera blutet mein ganzes Schlafzimmer voll!«
Gleichgültig sah meine Tante mich an; ihr Kinn war weiß von Mehl.
»Sie blutet wirklich, und das Blut läuft ihr an den Beinen entlang …«
Erst jetzt ging meine Tante zum Spülbecken, um sich das Mehl von den Händen zu waschen. Sie trocknete sie an ihrer fleckenlosen, weißen Schürze ab. »Na, dann komm. Vielleicht brauche ich deine Hilfe. Dieses Mädchen hat eine wilde, selbstzerstörerische Ader in sich, und es kann gut sein, daß sie es geschafft hat, sich gewaltigen Ärger aufzuhalsen.«
Wir kamen noch rechtzeitig, um Vera auf dem Boden herumkriechen zu sehen, die Kleider blutdurchtränkt. Weinend und jammernd kroch sie durch die Blutlachen: »Das Baby … ich habe mein Baby verloren …«
Als wir eintraten, hob sie ihr wildes, verzweifeltes Gesicht. Ich drückte Sylvia an mich.
»Warst du schwanger?« fragte meine Tante kalt, tat nichts, um ihrer Tochter zu helfen.
»Ja!« schrie Vera und tastete noch immer im Blut herum. »Ich muß dieses Baby haben! Ich muß es haben!
Ich brauche dieses Baby! Es ist meine Fahrkarte heraus aus dieser Hölle, und jetzt ist es fort. Hilf mir, Mammi, hilf mir, mein Baby zu retten!«
Meine Tante warf einen Blick auf all das Blut. »Wenn du es verloren hast, um so besser.«
Vera sah aus wie eine Wahnsinnige. Ihr Blick wurde wild, ihre Finger krampften sich um einen riesigen Blutklumpen, den sie nach ihrer Mutter schleuderte. Er traf die Schürze meiner Tante und fiel mit einem dumpfen Ton auf den Boden. »Jetzt wird er mich bestimmt nicht mitnehmen«, heulte Vera.
»Putz den Dreck fort, den du hier gemacht hast, Vera«, befahl meine Tante, packte mich an der Hand und versuchte, mich fortzuziehen. »Wenn ich zurückkomme, wünsche ich, daß dieses Zimmer so sauber ist, wie es heute morgen war. Nimm für den Teppich kaltes Wasser.«
»Mutter«, weinte Vera und sah jetzt sehr schwach aus, einer Ohnmacht nahe, »ich hatte gerade eine Fehlgeburt, und du machst dir Sorgen wegen eines Teppichs?«
»Der Orientteppich ist wertvoll.«
Meine Tante schloß die Tür hinter uns und schob mich vor sich her. Sylvia wimmerte noch immer. »Ich hätte wissen müssen, daß es so kommt. Sie ist nicht gut, genau wie ihr Vater.«
Sie machte eine Pause, schien nachzudenken, ehe sie hinzufügte: »Und doch hat er auch andere Kinder gezeugt, ohne diese Makel …«
Mir war übel, aber ich fand dennoch den Mut zu fragen: »Ist Vera wirklich Papas Tochter?«
Ohne eine Antwort eilte meine Tante in die Küche zurück, wo sie sich unverzüglich die Hände wusch und sie mit einer Bürste schrubbte. Sie schleuderte ihre schmutzige Schürze ins Waschbecken, füllte es mit kaltem Wasser und nahm dann eine frische aus dem Wäscheschrank. Die Schürze war strahlend weiß und hatte scharfe Bügelfalten. Sobald Tante Ellie die Bänder gebunden hatte, rollte sie weiter den Teig aus, den sie liegengelassen hatte.
»Du siehst blasser aus als sonst«, bemerkte Papa zu Vera gewandt. »Bist du krank? Eine Grippe oder so etwas? Wenn ja, dann solltest du in der Küche essen, anstatt deine Viren zu verbreiten.«
Der Blick, den Vera ihm zuwarf, war so haßerfüllt, daß er hätte töten können. Sie stand auf und ließ ihr Abendessen zurück. Sie tat mir leid, als ich zusah, wie sie schwach aus dem Zimmer taumelte. Sie hinkte immer besonders stark, wenn sie müde war. »Vera, kann ich dir irgendwie helfen?« rief ich.
»Geh zum Teufel!«
Vera versuchte nicht einmal, meinen Teppich von all dem Blut zu säubern. Sie überließ das einfach mir. Stunden kniete ich an jenem Abend vor dem Teppich, ehe ich zu Bett ging, und versuchte, das Blut zu entfernen. Meine Tante kam herein, sah, was ich tat, ging und kehrte kurz darauf mit einem zweiten Eimer und einer harten Bürste zurück. Seite an Seite bearbeiteten wir den Teppich. »Dein Vater ist zu Bett gegangen«, sagte sie leise. »Er darf niemals davon erfahren. Sonst zieht er Vera die Haut bei lebendigem Leib über die Ohren. Audrina, erzähl mir, wie er ist, euer Musiklehrer. Vera sagt, er sei der Vater;«
Wie konnte ich ihr etwas erzählen, wo ich absolut nichts von Männern verstand? Für mich war er einmal ein feiner, netter und anständiger Mann gewesen, der niemals ein junges Mädchen verführen würde – jedoch was wußte ich schon davon?
Aber der Schaukelstuhl wußte Bescheid. Wußte alles, was Papa wußte, darüber, wie gemein Männer waren und auch über die schrecklichen, entsetzlichen Dinge, die sie mit Mädchen machten.
»Wo ist Vera?« fragte Papa, als ich am nächsten Morgen eine saubere, süß duftende Sylvia in die Küche trug. Ich band sie in ihrem Hochstuhl fest, sie bekam ein riesiges Lätzchen um den Hals, und ich gab ihr ihre Prismen, damit sie damit spielen konnte, bis ich ihr Frühstück fertig hatte. Schließlich schaute Papa von seiner Morgenzeitung auf und sah mich. »Was ist denn mit deinem Gesicht los? Hast du dich geprügelt? Audrina … wer hat dir aufs Auge geschlagen und dir die Wange zerkratzt?«
»Papa, du weißt doch, daß ich manchmal schlafwandle. Letzte Nacht habe ich das auch getan und bin gefallen.«
»Ich glaube, du lügst. Mir ist gestern abend schon aufgefallen, daß dein Gesicht rot war, aber Vera hat mich so verdammt wütend gemacht, daß ich mich kaum um dich gekümmert habe. Jetzt sag die Wahrheit.«
Ich weigerte mich, mehr zu sagen, und schickte mich an, den Speck zu braten, den Papa wünschte. Er nahm wieder seine Zeitung auf und fing an zu lesen. Bis vor kurzer Zeit waren die Zeitungen nie zum Haus gebracht worden, sondern kamen mit der Post. Ich runzelte die Stirn, als ich jetzt darüber nachdachte. »Papa«, sagte ich und steckte Brot in den Toaster, »warum liest du jetzt die Morgenzeitung, wenn du das nicht getan hast, als Mammi noch lebte?«
»Damit ich etwas zu tun habe, Liebling, und nicht immer nur mit deiner Tante streite.«
Bei seinen Worten marschierte Tante Ellie in die Küche. Kaum sah sie, was ich tat, schob sie mich beiseite und übernahm das Umwenden des Specks.
Wir waren mit dem Frühstück fertig, ehe meine Tante ein Sterbenswörtchen sagte. Dann kamen leise ihre Worte: »Sie ist fort, Damián.«
»Wer ist fort?« fragte er gleichgültig und faltete die Zeitung sauber zusammen, so daß er die nächste Seite lesen konnte.
»Vera ist fort.«
»Ein Glück.«
Tante Ellie wurde bleich. Für einen Moment ließ sie den Kopf hängen. Dann zog sie eine zusammengefaltete Nachricht aus der Schürzentasche. »Hier«, sagte sie und reichte sie ihm. »Die hat sie für dich auf dem Kopfkissen gelassen. Ich habe sie schon gelesen. Ich hätte gern, daß du sie laut liest, damit auch Audrina es hört.«
»Ich hab’ keine Lust, sie zu lesen, Elsbeth. Sie ist deine Tochter, und ich bin sicher, sie schreibt nichts, was meinen Tag fröhlicher machen würde.«
So reichte Elsbeth die Nachricht mir. Tränen traten mir in die Augen, als ich las, was sie geschrieben hatte.
»Warte, Papa«, rief ich, als er aufstand und sein Jackett anzog. »Du mußt das hören, zum Wohl deiner eigenen Seele.«
Aus irgendeinem Grund blieb er stehen, schien sich nicht wohl zu fühlen, als er das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Es sah mich nicht an, als ich las:
»Lieber Papa, Du hast mir nie erlaubt, Dich so zu nennen, auch nicht Vater. Aber diesmal werde ich nicht gehorchen und werde Dich Papa nennen, wie Audrina es tut. Du bist mein Vater, und Du weißt es, meine Mutter weiß es, Audrina weiß es, und ich weiß es.
Als ich noch sehr jung war, wünschte ich mir nichts weiter, als daß Du mich liebst. Nachts lag ich wach und schmiedete Pläne für all die guten Sachen, die ich tun wollte, damit Du mich wenigstens bemerkst, sagst: ›Danke, Vera.‹ Aber es ist mir nie gelungen, Deine Zuneigung zu erringen, wie sehr ich mich auch bemüht habe, und deshalb habe ich es bald aufgegeben.
Ich habe Deine Frau beobachtet, um zu lernen, so zu sein, wie sie war – sanfte Stimme, immer gut gekleidet und nach Parfüm duftend, und du hast mich geschlagen, weil ich ihr Parfüm benutzt habe, hast mich verprügelt, weil ich meine guten Kleider anhatte wenn ich spielte. Du hast mir aus allen möglichen Gründen den Hintern versohlt. Also habe ich aufgehört zu versuchen, Dir zu gefallen, vor allem, nachdem Du ›Deine süße Audrina‹ bekommen hast, die keinen Fehler machen konnte. Sie hat Dir in jeder Beziehung und immer gefallen.
Wenn Du dies liest, bist Du zweifellos froh darüber, mich losgeworden zu sein, denn Du hast mich ja nie haben wollen. Ich bin sicher, Du würdest Dich freuen, mich tot zu sehen. Aber so leicht verschwinde ich nicht. Ich komme wieder, Damián Adare, und jeder, der mich zum Weinen gebracht hat, wird zehnmal mehr weinen, als ich es je tat.
Ich will in diesem Brief keine Geheimnisse ausplaudern, aber der Tag wird kommen, an dem all die Deinen ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Verlaß Dich darauf, lieber Papa. Träum davon. Denk an meine dunklen Augen, die genauso aussehen wie Deine, und frage Dich, was auf Dich und die Deinen wartet. Und vor allen Dingen vergiß nicht, daß Du allein es herausgefordert hast, weil Du herzlos und grausam warst Deinem eigenen Fleisch und Blut gegenüber.
Jetzt ohne Liebe werde ich dennoch die Tochter sein, die Dir am besten dient … und am längsten.
Vera«
Langsam, ganz langsam drehte Papa sich um und starrte mich an. »Warum wolltest du, daß ich das höre? Audrina. Liebst du mich auch nicht?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich leise und unsicher. »Ich finde nur, du schuldest ihr eine Menge, was sie nie bekommen hat. Vera ist fort, Papa, – und sie hat dir die Wahrheit gesagt. Du hast nie zugehört, wenn sie gesprochen hat. Du hast versucht, sie nicht zu sehen. Du hast nie mit ihr geredet, außer um ihr zu befehlen, dies oder jenes zu tun. Papa, wenn sie deine Tochter ist, bist du ihr dann nicht etwas schuldig? Wären ein bißchen Freundlichkeit und ein bißchen Liebe zu viel gewesen?«
Papa reckte seine breiten Schultern. »Du hast Veras Ansicht gehört, Audrina, nicht meine. Ich denke nicht daran, mein Handeln zu verteidigen. Ich werde nur das eine sagen: Hüte dich vor dem Tag, an dem Vera in unser aller Leben zurückkehrt. Knie heute abend nieder und bete, daß sie fernbleibt. Wäre nicht deine Tante gewesen, hätte ich sie schon lange in ein Internat gegeben, schon vor langer, langer Zeit. Es gibt Menschen, die sollten besser nie geboren werden.«
Ohne mit der Wimper zu zucken, sah er meiner Tante in die Augen. Ich bildete mir ein, ihre dunklen Blicke wie Schwerter aneinanderprallen zu hören. Sie war es, die die Augen als erste niederschlug. Dann ließ sie den Kopf hängen, so tief, daß ihr langer, gerader Scheitel zu sehen war. Ihre Stimme war leise und dünn, als sie sprach. »Du hast genug gesagt, Damián. Du hattest recht, und ich habe mich geirrt. Aber sie ist meine Tochter, und ich habe gehofft, sie würde sich anders entwickeln.«
»Wir hatten alle unsere Hoffnungen, nicht wahr?«
Mit diesen Worten verließ er die Küche.