Wünsche werden wahr
Wieder war es Frühling. Mammi war seit über anderthalb Jahren tot. Aber keiner hatte sie vergessen. Ich vergrub mich in ihre Bücher über Gartenbau und lernte, für ihre geliebten Rosen zu sorgen. Jedes Rosenblatt erinnerte mich an Mammi mit ihrer zarten Haut, dem leuchtenden Haar, den rosigen Wangen: Hinter dem Haus baute meine Tante Zwiebeln, Kohl, Radieschen, Gurken und alles andere an, was man essen konnte. Dinge, die wuchsen, ohne daß man sie essen konnte, waren für meine Tante wertlos.
Vera war oft gemein, dann aber wieder sehr nett zu mir. Ich traute ihr nicht, selbst wenn ich es wollte. Jetzt, wo Vera den Schaukelstuhl für sich beanspruchte, mied ich ihn mehr denn je. Aber Papa glaubte, daß ich immer noch darin schaukelte und früher oder später die Gabe übernehmen würde, die darin steckte.
»Wie alt bist du, was sagtest du?« fragte Mr. Rensdale eines Tages, nachdem er mir wieder erklärt hatte, daß ich die Musik. ›fühlen‹ und gleichzeitig lernen müßte, die richtigen Tasten anzuschlagen. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund liefen mir Tränen über das Gesicht, obwohl ich schon vor langer Zeit meine einzigartige, mißliche Lage akzeptiert hatte.
»Ich weiß nicht«, heulte ich. »Keiner sagt mir die Wahrheit. Ich habe ein Gehirn voll von halben Erinnerungen, das mir sagt, ich wäre vielleicht einmal zur Schule gegangen, aber mein Vater und meine Tante erklären mir, daß das nie der Fall gewesen ist. Manchmal glaube ich, ich bin verrückt, und deshalb schicken sie mich jetzt auch nicht zur Schule.«
Er hatte eine graziöse Art, sich zu erheben. Es war, als wenn sich ein Band entrollte. Langsam trat er hinter mich. Seine Hände, viel kleiner als Papas, streichelten mein Haar, dann meinen Rücken. »Sprich weiter, hör nicht auf. Ich würde gern mehr darüber erfahren, was in eurem Haus vor sich geht. Du verwirrst mich in vieler Hinsicht, Audrina. Du bist so jung, und doch wieder so alt. Manchmal sehe ich dich an und sehe einen gequälten Menschen vor mir. Ich möchte diesen Ausdruck von dir nehmen.«
Allein die zarte Art, wie er sprach, ließ mich Vertrauen zu ihm haben, und ich sprudelte alles heraus. Es war wie ein Fluß, der einen Damm durchbrochen hatte. Alles, was mich verwirrte, quoll hervor, einschließlich Papas Beharren darauf, daß ich in diesem Schaukelstuhl saß und das Talent übernahm, das einmal meiner toten Schwester innegewohnt hatte. »Ich hasse es, ihren Namen zu tragen! Warum haben sie mir nicht meinen eigenen Namen gegeben?«
Er stieß einen mitleidigen Laut aus. »Audrina ist ein sehr schöner Name, und er paßt so gut zu dir. Sei deinen Eltern nicht böse, daß sie versucht haben, an einem außergewöhnlichen Mädchen festzuhalten. Nur – du bist auch außergewöhnlich, vielleicht sogar noch mehr …«
Aber ich bildete mir ein, ich hätte in seiner Stimme etwas gehört, das mir verriet, daß er mehr über mich wußte als ich selbst und daß er Mitleid mit mir hatte und mich vor allen Dingen vor dem schützen wollte, was ich nicht wissen durfte.
Aber gerade das, was ich nicht wissen sollte und nicht wußte, gerade das mußte ich wissen.
Dann, noch ehe ich wußte, wie mir geschah, lagen seine Finger unter meinem Kinn, und er schaute mir tief in die Augen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, einem erwachsenen Mann so nah zu sein, der nicht mein Vater war.
Ich wich zurück, gemischte Gefühle erweckten etwas wie Panik in mir. Ich mochte ihn, und doch wollte ich nicht, daß er mich so ansah wie jetzt. Ich dachte an Papas Warnung, mit Jungs oder Männern allein zu sein, und eine flüchtige Vision von diesem regnerischen Tag im Wald tauchte vor meinem geistigen Auge auf.
»Was ist los, Audrina?« fragte er. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wollte dich nur beruhigen. Du bist nicht verrückt, du bist auf deine eigene, ganz besondere Art einfach wundervoll. In deiner Musik und in deinen Augen liegt Leidenschaft, wenn du dich nicht beobachtet fühlst. Eines Tages wird die Natur dich aufwecken, Audrina; dann wird die schlafende Schönheit in dir zum Leben erweckt. Unterdrücke sie nicht, Audrina. Laß sie heraus. Gib ihr eine Chance, dich zu befreien, und deine tote Schwester wird dich nicht mehr heimsuchen.«
Hoffnung erwachte in mir, als ich ihn bittend anstarrte, unfähig, meine Wünsche und Bedürfnisse in Worte zu fassen. Trotzdem verstand er. »Audrina, wenn du gern zur Schule gehen möchtest, dann werde ich einen Weg finden, um dir dabei zu helfen. Es ist gegen das Gesetz in diesem Staat, ein Kind daheim zu behalten, außer wenn dieses Kind geistig oder körperlich nicht in der Lage ist, am Unterricht teilzunehmen. Ich werde mit deinem Vater oder deiner Tante sprechen … und du wirst zur Schule gehen, das verspreche ich dir.«
Ich glaubte ihm. Es stand in seinem schokoladebraunen Blick geschrieben, daß er meinte, was er sagte. Ich weiß, daß meine Augen in diesem Augenblick vor Dankbarkeit für Lámar Rensdale leuchteten, und er schwor, schon am nächsten Tag meine Tante aufzusuchen. Ich warnte ihn, daß mein Vater ihm wahrscheinlich nicht zuhören würde.
In jenem Sommer schwammen Arden, Vera und ich im Fluß, fischten und lernten mit dem kleinen Boot zu segeln, das Papa gekauft hatte. Mit jedem Monat wurde Papa ein klein wenig reicher. Jetzt schmiedete er Pläne, das Haus wieder zu seiner ursprünglichen Pracht herrichten zu lassen. Er redete so viel davon, ohne irgend etwas zu tun, daß ich schon fürchtete, es würde niemals etwas geschehen. Aber es war jetzt auch nicht mehr wichtig, denn Mammi war tot.
Meine Tante war nicht mehr so griesgrämig wie früher, tatsächlich sah sie manchmal sogar richtig glücklich aus. Papa machte keine ironischen Bemerkungen mehr über ihr langes Gesicht und ihre knochige Gestalt. Er machte ihr sogar ein Kompliment zu ihrer neuen Frisur und dem Makeup, das sie jetzt auftrug.
Noch immer wollte Papa mir nicht sagen, warum er Sylvia nicht heimbringen konnte. Ich sparte von meinem Taschengeld, um Sylvia Rasseln und Beißringe zu kaufen, aber er brachte meine Schwester nie heim. Jetzt war sie schon zu alt für diese Dinge. Er erzählte mir, in der Klinik erlaubte man nicht, daß sie eigenes Spielzeug besaß. Ich verstand immer noch nicht, was mit Sylvia nicht in Ordnung war.
Von Tag zu Tag wurde Arden größer. Er war jetzt fünfzehn, wirkte aber viel älter. Schon machte er Pläne für seine Zukunft. »Bitte, halte das nicht für albern«, fing er vorsichtig an, »aber schon als Kind habe ich mir gewünscht, Architekt zu werden. In der Nacht träume ich von den Städten, die ich baue, funktionsgerecht und doch schön. Ich möchte auch die Landschaft planen, wünsche mir Bäume mitten in der Stadt. Ich würde die Schnellstraßen auf verschiedenen Ebenen führen, damit sie nicht so viel Platz einnehmen.«
Er lächelte mich an. »Audrina, warte nur ab, du wirst sehen, was für Städte ich baue.«
Ich wünschte mir für Arden, was er sich selbst wünschte, und oft fragte ich mich, warum er sich mit mir abgab, wo so viele ältere Mädchen ihn interessieren mußten. Warum erweckte er in mir den Verdacht, daß er sich mir irgendwie verpflichtet fühlte?
Arden hatte Tage, da war er bester Laune, dann wieder – aber seltener – wirkte er bedrückt. Er liebte es, sich draußen aufzuhalten, mehr als im Haus, und wieder und wieder sagte ich mir, daß das der Grund dafür war, daß wir nie zu ihm ins Haus gingen. Und Billie mußte das genaue Gegenteil von ihm sein, denn sie kam niemals nach draußen. In der ganzen Zeit, die ich Billie und Arden kannte, hatte sie mich nicht ein einziges Mal zu sich eingeladen. Natürlich, ich konnte Arden auch nicht zu uns einladen wegen Papa, und vielleicht zahlte er es mir einfach heim. Vera neckte mich oft und erklärte, Billie hielt mich einfach nicht für gut genug für ihren Sohn und nicht einmal gut genug für ihr Haus.
Am Waldrand blieben Arden und ich stehen, um uns zu verabschieden. Die Sonne ging langsam am Horizont unter; einsam und düster ragte Whitefern vor dem purpurfarbenen, von roten und orangefarbenen Streifen durchzogenen Himmel auf. »Was ist das für ein Himmel?« fragte ich leise und hielt Ardens Hand noch fester umklammert.
»Ein Matrosenhimmel«, antwortete er leise. »Er verheißt für morgen einen besseren Tag.«
Typisch für Arden, so etwas zu sagen, auch wenn es nicht stimmte. Ich blickte vom Haus zur Auffahrt, starrte dann in die Richtung des Familienfriedhofes. Ich mußte mich räuspern, ehe ich fragen konnte: »Arden …, wie lange kennst du mich eigentlich?«
Warum ließ er meine Hand los, wurde rot und wandte sich ab? War es denn eine so ungewöhnliche Frage? Überzeugte ich ihn mit einer solchen Frage davon, daß ich wirklich verrückt war?
»Audrina«, sagte er endlich mit erschreckend heiserer Stimme, »ich habe dich das erste Mal getroffen, als du sieben warst.«
Das war nicht die Antwort, die ich haben wollte.
»He, nun hör schon auf, die Stirn kraus zu ziehen. Lauf heim, damit ich dich sicher ins Haus gehen sehe, ehe ich gehe.«
Von der Haustür aus sah ich noch einmal zurück, sah ihn dort warten. Ich winkte und wartete dann darauf, daß er zurückwinkte. Zögernd betrat ich schließlich das düstere Whitefern.
Die Zeit verstrich jetzt langsamer, und der August schleppte sich förmlich dahin. Die heißen Tage erweckten in mir den Wunsch nach einem Aufenthalt irgendwo, wo es kühl war. Aber wir verließen niemals unser Haus. Durch die hohen Decken war es im Haus kühler als draußen, aber in den schattigen Räumen leuchteten die bunten Glasfenster noch greller, und noch immer versuchten mir die Mobiles unter der Kuppel Geheimnisse zuzuflüstern.
»Papa«, sagte ich im September, als Vera wieder zur Schule ging, »ist Vera drei oder vier Jahre älter als ich?«
»Sie ist drei, fast vier Jahre älter«, sagte er, ohne nachzudenken. Dann sah er mich sonderbar an. »Was hat sie dir denn erzählt, wie alt sie sei?«
»Es ist unwichtig, was sie mir erzählt, weil sie die ganze Zeit nur lügt. Aber sie hat Arden erzählt, daß sie älter sei.«
»Vera ist vierzehn«, erklärte Papa gleichgültig. »Ihr Geburtstag ist am 12. November.«
Ich merkte mir das Datum, weil es möglicherweise stimmte. Ich wußte, daß Geburtstage in unserem Haus einfach nicht so wichtig waren wie anderswo. Und ich wußte auch, daß die Geburtstagsfeier der ersten Audrina die Geburtstage für alle anderen verdorben hatte.
Ich erinnerte mich an meinen elften Geburtstag, denn da schenkte mir Arden das Stück Rosenquarz, das er zu einer Rose hatte schneiden lassen. An einer dünnen Goldkette hing es um meinen Hals und gab mir das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Niemand im Haus schenkte mir irgend etwas zu meinem Geburtstag – man gratulierte mir nicht einmal.
Ich arbeitete noch immer mit meinem Faden-und-Ring-Trick und gab Papa meine Tips. Manchmal fand ich die Listen im Papierkorb in seinem Arbeitszimmer, und manchmal beobachtete ich, wie er sie lange, lange anstarrte, als wollte er sich jede einzelne Aktie genau einprägen, ehe er meine Zettel fortwarf.
Im November erwischte ich ihn dabei. »Du hast von mir erwartet, daß ich dir irgendwie helfe, und wenn ich es dann tue, gibst du vor, ich hätte es nicht getan. Papa, warum gibst du dir solche Mühe, mich davon zu überzeugen, ich sei etwas Besonderes, wenn du dann anschließend meine Listen fortwirfst, als würdest du es selbst nicht glauben.«
»Weil ich ein Dummkopf bin, Audrina. Ich will aus meiner eigenen Kraft gewinnen, nicht aus deiner. Und ich habe dich bei deinem albernen, kleinen Spiel mit dem Ring und dem Faden beobachtet. Ich möchte Träume, ehrliche Träume, keine ausgedachten. Ich weiß, wann du ehrlich bist und wann nicht. Und ich werde dich zu dem machen, was du sein solltest, und wenn es bis ans Ende meines – und deines – Lebens dauert.«
Ich erstarrte, verängstigt durch seinen entschlossenen Ton. »Was soll ich denn sein?«
»Du sollst so sein wie meine erste Audrina«, erklärte er entschieden.
Mir wurde noch kälter; ich wich zurück. Vielleicht war er verrückt, nicht ich. Seine dunklen Augen folgten jeder meiner Bewegungen, als wollten sie mir befehlen, auf der Stelle zu ihm zu laufen und ihn zu lieben, wie sie ihn geliebt hatte – aber ich konnte nicht tun, was er wollte. Ich wollte nicht sie sein. Ich wollte nur ich selbst sein.
Ich schlenderte in den Salon und fand dort Vera. Sie lag auf Mammis purpurfarbenem Sofa ausgestreckt. Sie hatte es sich in letzter Zeit angewöhnt, immer auf Mammis Lieblingssofa herumzuliegen und die Taschenbücher zu lesen, die Mammi so geliebt hatte. Sie behauptete, sie würde aus diesen Liebesromanen viel über das Leben und die Liebe lernen. Und das schien tatsächlich der Fall zu sein, denn es waren bestimmt nicht nur ihre Medizinbücher, die diesen erfahrenen Ausdruck in Veras dunkle Augen zauberten, die jetzt noch glühender bückten und funkelten. Wieder und wieder sagte sie mir, sie würde es lernen, so schön und charmant zu sein, daß kein Mann bemerken würde, daß ihr linkes Bein kürzer war als das rechte.
»Vera«, fragte ich, »warum läßt du dein kürzeres Bein nicht strecken, wie dein Arzt es dir geraten hat? Er hat gesagt, es könnte noch genauso lang werden wie das andere.«
»Aber das würde weh tun. Du weißt ja, daß ich keine Schmerzen ertragen kann, und außerdem hasse ich Krankenhäuser.«
»Wäre der Erfolg diese Schmerzen nicht wert?«
Sie schien den Erfolg gegen die Schmerzen abzuwägen. »Das habe ich auch einmal gedacht.«
Doch nach weiterem Nachdenken fügte sie hinzu: »Aber jetzt habe ich meine Meinung geändert. Wenn ich normal gehen könnte, würde meine Mutter mich zu einer Sklavin machen, wie sie Papas Sklavin ist und wie du die ihre bist. Aber so kann ich ein Leben in Luxus führen, wie deine Mutter es getan hat, während meine Mutter geschuftet hat, bis sie vollkommen erschöpft ins Bett fiel.«
Sie grinste boshaft. »Ich bin nicht dumm, du Närrin – oder ein Hohlkopf. Ich denke die ganze Zeit über nach. Und mein lahmes Bein wird mir bessere Dienste erweisen als dir deine beiden gesunden.«
Es hatte keinen Sinn, vernünftig mit Vera zu reden. Es mußte immer alles geschehen, was sie wollte. Vera wollte überhaupt nichts tun. Und wenn es ihr dienlich war – was häufig vorkam –, quälte sie mich mit der Erklärung, meine Mutter hätte ihre ständige Müdigkeit nur vorgetäuscht, um Papas Mitleid zu erregen und sich die Dienste ihrer Schwester zu sichern.
Als ich am nächsten Nachmittag zu Arden lief, blies der Wind Blätter umher, ließ sie über den Boden schweben. Gänse über mir zogen nach Süden. Bald würde der erste Schnee fallen. Wir waren beide bis zu den Ohren in dicke Mäntel gehüllt. Unser Atem bildete kleine, weiße Wolken vor unseren Gesichtern. Warum spazierten wir bei solch eisigem Wetter durch den Wald? Warum konnten wir nicht jeder ins Haus des anderen gehen wie andere Leute?
Ich seufzte, als ich ihn anstarrte. Dann schlug ich die Augen nieder.
»Arden, du weißt, warum ich dich nicht nach Whitefern einladen kann. Aber ich verstehe nicht, warum Billie mich nie in euer Haus bittet. Glaubt sie, ich sei nicht gut genug für euch?«
»Ich weiß, was du denkst, und ich verstehe dich.«
Er ließ den Kopf hängen, schien sehr verlegen. »Weißt du, sie bringt alles in Ordnung. Wir malen und tapezieren. Sie näht neue Kissenbezüge, Vorhänge, Überdecken. Vom Tag unseres Einzugs an hat sie daran gearbeitet. Aber sie muß immer wieder aufhören und für andere Leute nähen, und deshalb dauert es so lange. Unser Haus ist noch nicht schön genug. Aber eines Tages, schon bald, wenn wir fertig sind, kannst du uns besuchen kommen.«
Thanksgiving, Weihnachten und Neujahr kamen und gingen, und noch immer hielten Arden und seine Mutter das Haus nicht für gut genug, um mich einzuladen. Arbeiter kamen in unser Haus, malten, tapezierten, entfernten alten Lack und strichen, polierten, brachten das ganze Haus wieder auf Vordermann. Wir hatten viele, unzählige Räume. Das Häuschen von Billie und Arden hatte nur fünf.
»Arden«, fragte ich schließlich eines Tages, »warum dauert es so lange, bis euer Haus fertig ist? Mir ist es egal, ob es schön ist oder nicht.«
Er hatte die Angewohnheit, meine Hand zu halten und mit seiner eigenen zu vergleichen, was die Größe anging; es war eine Möglichkeit, meinem Blick auszuweichen. Seine Finger waren doppelt so lang. Aber wenn es auch ein schönes Gefühl war, so wollte ich doch, daß er meinen Blick erwiderte und ehrlich mit mir war. Aber seine Antwort klang ausweichend. »Ich habe irgendwo noch einen Vater. Er ging fort, als … als –«
Er stotterte, stammelte, errötete, rutschte mit den Füßen hin und her, und es schien so, als wäre er von panischer Angst erfüllt. »Es ist wegen Mammi …«
»Sie mag mich nicht wirklich.«
»Aber natürlich mag sie dich!«
Er zog mich vorwärts, als wollte er mich in sein Haus schleifen, ganz gleich ob seine Mutter es guthieß oder nicht. »Es ist nicht leicht, darüber zu reden, Audrina. Vor allem, weil sie mich gebeten hat, dir nichts davon zu erzählen. Ich habe von Anfang an gesagt, wir müßten ehrlich sein, aber sie wollte nicht auf mich hören, obwohl es uns eine Menge Schmach und Ärger erspart hätte. Ich habe gesehen, wie du sie anschaust, dann mich, und dich fragst, was, zum Teufel, hier vorgeht. Ich weiß, dein Vater will nicht, daß ich einen Platz in deinem Leben einnehme, also frage ich dich nicht, warum ich nicht nach Whitefern eingeladen werde. Aber laß es uns jetzt hinter uns bringen. Es wird Zeit, daß du es erfährst.«
Es schien so, als hätte ich mein ganzes Leben in nur einem einzigen Gebäude verbracht. Noch nie war ich in einem anderen Haus gewesen – einem ohne Geister der Vergangenheit. Die kleinen Zimmer des Häuschens konnten nicht so düster und furchterregend sein wie unsere riesigen Räume, und genausowenig konnten sie erfüllt sein von der verblassenden Pracht verfallener Antiquitäten.
Zum erstenmal in meinem Leben sollte ich ein kleines, gemütliches, normales Haus sehen.
Als wir ankamen, schwebte Rauch zum Himmel. Möwen flogen hm und her, ließen den Tag trübe und düster erscheinen. Abrupt blieb ich stehen, als Arden mich durch die Tür ziehen wollte. »Ehe wir hineingehen, mußt du mir eine Frage beantworten. Wie lange kennen wir uns schon?
Ich habe es schon einmal gefragt, aber du hast mir keine offene Antwort gegeben. Diesmal möchte ich eine ehrliche Antwort.«
Obwohl ich eine so einfache Frage stellte, er schlug die Augen nieder. »Wenn ich zurückdenke, kann ich mich an keine Zeit erinnern, in der ich dich noch nicht kannte. Vielleicht habe ich schon von dir geträumt, ehe ich dich wirklich kennengelernt habe. Als ich dich im Wald sah, versteckt hinter Büschen und Bäumen, da war es, als wäre ein Traum wahr geworden – das ist der erste Tag, an dem ich dich wirklich gekannt habe. Aber ich bin schon damit geboren worden, dich zu kennen.«
Seine Worte waren Trost für mich, als wir nun die Tür öffneten und Hand in Hand ins Haus traten, die Blicke ineinander versenkt.
Diesmal saß Billie nicht am Fenster. Ich sah sie auch nicht in diesem Zimmer, als ich eintrat. Arden flüsterte: »Ich glaube, Mammi möchte diesen Tag ewig hinausschieben. Also vertrau mir, wie ich dir vertraue. Es wird schon alles gut werden.«
Das war alles, was er sagte, um mich vorzubereiten. Später habe ich mich oft gefragt, warum er nicht mehr, viel mehr sagte.