Kapitel 6
Als Mrs. Flawse am nächsten Morgen nach einer
unruhigen Nacht nach unten kam, hatte sich der alte Mann in seinem
Allerheiligsten vergraben und einen Zettel auf dem Küchentisch
hinterlassen, auf dem stand, sie solle sich ihr Frühstück selber
machen. Ein großer Topf Haferschleim blubberte zäh auf dem Herd;
nachdem sie seinen Inhalt gekostet hatte, begnügte sie sich mit
einer Kanne Tee und etwas Brot mit Marmelade. Von Mr. Dodd war
nichts zu sehen. Im Hof lümmelten sich die grauen Ergebnisse von
Mr. Flawses Eugenikexperimenten in der Wintersonne. Mrs. Flawse
ging ihnen aus dem Weg, indem sie die Küchentür benutzte, und
machte einen Rundgang durch den Garten. Er war durch eine hohe
Mauer vor Wind und Wetter geschützt und nicht ohne Reiz. Irgendein
früherer Flawse hatte Gewächshäuser sowie einen Küchengarten
angelegt, und Capability Flawse, dessen Porträt auf dem
Treppenabsatz hing, hatte in dem Viertelhektar, der nicht für
Gemüse bestimmt war, eine südliche Landschaft en miniature
entstehen lassen. Verkrüppelte Bäume und mit Sand bestreute Wege
wanden sich durch Steingärten, in einem Fischteich sprudelte ein
Springbrunnen. In einer Ecke stand ein Häuschen, ein Gartenhäuschen
mit Panoramablick, in dessen Beton Feuersteine und Muscheln
steckten und dessen winziges gotisches Fenster mit Buntglasscheiben
versehen war. Mrs. Flawse stieg die Treppe zur unverschlossenen Tür
hinauf, trat ein und entdeckte die ersten Anzeichen von Komfort auf
dem Anwesen. Der eichenholzgetäfelte, mit verblichenen
samtbezogenen Sitzgelegenheiten möblierte Raum hatte eine prunkvoll
geschnitzte Decke und bot eine Aussicht über die Hochebene bis zum
Stausee.
Mrs. Flawse nahm Platz und dachte wieder einmal darüber nach, in
was für eine eigenartige Familie sie törichterweise eingeheiratet
hatte. Daß diese Sippe bis in graue Vorzeit zurückreichte, hatte
sie sich schon zusammengereimt, und daß sie Geld besaß, vermutete
sie immer noch. Flawse Hall war zwar nicht unbedingt ein reizvolles
Gebäude, aber immerhin mit Kostbarkeiten aus längst verlorenen
Kolonien angefüllt, geklaut von jenen kühnen jüngeren Söhnen, die
Malaria, Skorbut und Gelbfieber nicht gescheut hatten, um ihr Glück
zu machen oder in abgelegenen Ecken des Empires verfrüht zu
sterben. Mrs. Flawse beneidete und begriff ihren
Unternehmungsgeist. Sie waren gen Süden und Osten (und oft genug
gen Westen) gereist, um der heimischen Trostlosigkeit und
Langeweile zu entkommen. Mrs. Flawse sehnte sich danach, ihrem
Beispiel zu folgen. Alles war der unerträglichen Isolation des
Flawseschen Anwesens vorzuziehen, und sie dachte gerade darüber
nach, wie sie am besten ihre eigene Flucht in die Wege leiten
könnte, als sie die hagere Gestalt ihres Gatten aus dem
Küchengarten auftauchen und durch die Steingärten und Zwergbäume
auf das Gartenhäuschen zukommen sah. Mrs. Flawse wappnete sich für
die Konfrontation. Das hätte sie sich sparen können. Der Alte war
offenkundig gut gelaunt. Er kam die Stufen hoch und klopfte an die
Tür. »Darf ich eintreten?«
»Ich denke schon«, sagte Mrs. Flawse. Mr. Flawse blieb auf der
Schwelle stehen. »Wie ich sehe, hast du Perkins Pavillon gefunden«,
sagte er. »Eine charmante Konstruktion, 1774 von Perkins Flawse
erbaut, dem Dichter der Familie. Hier schrieb er seine berühmte
‹Ode an die Kohle¤, zweifellos von jenem Bergwerksstollen
inspiriert, den du dort drüben siehst.« Er deutete durch das
Fensterchen auf einen Erdwall auf dem gegenüberliegenden Hügel.
Neben dem Wall sah man ein dunkles Loch und ein paar verrostete
Maschinenteile. »‹Von der Natur geformt, von der Natur gefällt Doch
nicht die Natur hat‘s uns heute erhellt. Sondern des Menschen
Wissensdrang, was andres kaum Enthüllt schwarze Reste von
so
manchem Baum Und daher mit Wäldern, lang schon tot Kochen wir unsre
Eier, backen wir unser Brot.
Erstklassiger Dichter, Ma‘am, leider viel zu wenig gewürdigt«, fuhr
der Alte nach Beendigung seiner Rezitation fort, »aber schließlich
haben wir Flawses ungeahnte Talente.«
»Wie ich bereits herausfand«, sagte Mrs. Flawse einigermaßen
verbittert.
Der alte Mann neigte den Kopf. Auch er hatte eine schlaflose Nacht
verbracht, mit seinem Gewissen gerungen und klar
verloren.
»Ich bin gekommen, um dich um Vergebung zu bitten«, sagte er
schließlich. »Mein Verhalten als Ehemann war unverzeihlich. Ich
hoffe, daß du meine ergebensten Entschuldigungen
annimmst.«
Mrs. Sandicott zögerte. Ihre erste Ehe hatte sie nicht gelehrt, ihr
Recht auf Groll zu schnell aufzugeben. Daraus ließen sich Vorteile
ableiten, Macht beispielsweise. »Du hast mich ein blödes junges
Ding genannt«, gab sie zu bedenken.
»Ein blutjunges Ding, Ma‘am, blutjunges«, sagte Mr. Flawse. »Das
heißt ein sehr junges Mädchen.« »Wo ich herkomme, verstehen wir
darunter etwas ganz anderes«, sagte Mrs. Flawse. »Ich versichere
dir, daß ich jung gemeint habe und keineswegs beabsichtigte, deine
Intelligenz in Frage zu stellen.«
Das bezweifelte Mrs. Flawse eher. Sein Verhalten in der
Hochzeitsnacht hatte sie Vorsicht gelehrt, was seine Absichten
betraf. »Egal, was du beabsichtigt hast, auf jeden Fall hast du
mich beschuldigt, ich hätte dich wegen deines Geldes geheiratet.
Das lasse ich mir von keinem vorwerfen.«
»Ganz recht, Ma‘am. Der Satz fiel in der Hitze des Gefechts und im
bescheidenen Bewußtsein, daß es einen einleuchtenderen Grund als
meine armselige Person geben müsse. Ich ziehe die Bemerkung
zurück.«
»Das freut mich. Ich habe dich geheiratet, weil du alt und einsam
warst und jemanden brauchtest, der sich um dich kümmerte. An Geld
zu denken, wäre mir nicht im Traum eingefallen.«
»Ganz recht«, sagte Mr. Flawse, der diese beleidigenden
persönlichen Attribute mit einigen Schwierigkeiten schluckte, »wie
du sagst, bin ich alt und einsam und brauche jemanden, der sich um
mich kümmert.«
»Und man kann von mir nicht erwarten, daß ich mich bei dem
gegenwärtigen Mangel an Komfort um jemanden kümmere. Wenn ich hier
bleiben soll, will ich Strom, heiße Bäder, Fernsehen und
Zentralheizung.«
Mr. Flawse nickte traurig. Daß es soweit kommen mußte! »Das sollt
Ihr haben, Ma‘am«, sagte er, »das sollt Ihr haben.«
»Ich bin nicht hier, um an einer Lungenentzündung zu sterben. Ich
will, daß all das umgehend installiert wird.«
»Ich werde die Angelegenheit sofort in Angriff nehmen«, sagte Mr.
Flawse, »und nun sollten wir uns zum warmen Kamin in meinem
Arbeitszimmer begeben und die Frage meines Testaments
erörtern.«
»Dein Testament?« wiederholte Mrs. Flawse. »Sagtest du ‹mein
Testament?«
»Allerdings, Ma‘am«, bestätigte der Alte und geleitete sie die
Stufen des Gartenhäuschens hinunter und durch den mit verkrüppelten
Bäumen bestandenen Garten ins Haus. Dort saßen sie sich in den
großen Ledersesseln gegenüber, während sich vor dem Kohlenfeuer
eine räudige Katze räkelte, und setzten ihr Gespräch
fort.
»Ich werde offen mit dir reden«, behauptete Mr. Flawse. »Lockhart,
mein Enkel, dein Schwiegersohn, ist ein Bastard.«
»Wirklich?« sagte Mrs. Flawse, unsicher, ob sie das Wort in seiner
wörtlichen Bedeutung nehmen sollte. Der Alte beantwortete die
Frage.
»Das Ergebnis einer unerlaubten Vereinigung meiner verstorbenen
Tochter mit einer unbekannten Person oder unbekannten Personen, und
ich habe mir das Lebensziel gesetzt, erstens seine väterliche
Herkunft festzustellen und zweitens jene Neigungen auszumerzen, auf
die ich, aufgrund der Tatsache, daß er teilweise ein Flawse ist,
einwirken kann. Hoffentlich kannst du meinen Darlegungen
folgen.«
Mrs. Flawse konnte zwar nicht, nickte aber folgsam.
»Ich bin, wie du nach einer Durchsicht meiner Bibliothek wohl schon
vermutet hast, ein eiserner Anhänger der Theorie, daß sowohl
physische wie psychische Eigenschaften von den Vorfahren vererbt
werden. Um den großen William zu variieren: Daß die Vorväter unsre
Zwecke formen, wie wir sie auch entwerfen. Vorväter, Ma‘am, nicht
Vormütter. Die Begattung von Hunden, bei der ich beträchtliche
Erfahrung sammeln konnte, deutet darauf hin.«
Mrs. Flawse schüttelte sich und starrte ihn wild an. Wenn ihre
Ohren sie nicht trogen, hatte sie einen Mann geheiratet, der
unglaublichen Perversionen frönte.
Mr. Flawse beachtete ihre Verblüffung nicht und fuhr fort: »Die
läufige Hündin«, ergänzte: »Hoffentlich erregt dieses etwas heikle
Thema bei dir keinen Anstoß?« und wiederholte, da er ihren
zitternden Kopf als Bestätigung verstand, daß dem nicht so sei:
»Die läufige Hündin lenkt die Aufmerksamkeit eines Rudels Rüden auf
sich, die ihr über Berg und Tal folgen und untereinander um das dem
bissigsten und stärksten Rüden gewährte Vorrecht kämpfen, sie prima
nocte zu begatten. Daher wird sie zuerst von dem besten Exemplar
geschwängert, doch um die Zeugung zu gewährleisten, wird sie
anschließend von allen anderen Hunden im Rudel besprungen, bis
hinunter zum kleinsten und schwächsten. Daraus resultiert das
Überleben der Art, Ma‘am, und des Tüchtigsten. Das stammt von
Darwin, Ma‘am, und Darwin hatte recht. Nun bin ich der Meinung, daß
auch menschliches Verhalten in erster Linie erblich bedingt ist.
Die Flawsesche Nase und das Flawsesche Kinn beweisen, wie physische
Eigenheiten, die von unseren Flawseschen Ahnen herrühren, im Laufe
der Jahrhunderte weiterverebt wurden, und ich bin der festen
Überzeugung, daß wir nicht nur körperliche Eigenheiten von unseren
Vorvätern erben, sondern auch geistige. Anders ausgedrückt, der
Hund ist Vater des Menschen, und das Temperament eines Hundes wird
durch seine Ahnen bestimmt. Aber wie ich sehe, glaubt Ihr mir
nicht.«
Er hielt inne und musterte Mrs. Flawse genau; die Zweifel standen
ihr ins Gesicht geschrieben. Doch die Zweifel galten der
Zurechnungsfähigkeit ihres Ehemannes, nicht dem intellektuellen
Gehalt seiner Rede.
»Ihr wendet ein«, fuhr der alte Mann fort, »was Euer gutes Recht
ist, wenn die Vererbung das Temperament bestimmt, wie wirkt sich
dann die Erziehung auf unser Wesen aus? Das denkt Ihr doch, hab‘
ich recht?«
Wieder nickte Mrs. Flawse unfreiwillig. Ihre eigene Erziehung war
von toleranten Eltern und progressiven Lehrern so verwässert
worden, daß sie seinem Gedankengang unmöglich folgen konnte. Davon
abgesehen, daß er sich offensichtlich zwanghaft intensiv mit dem
Liebesleben und den Fortpflanzungsgewohnheiten von Hunden
beschäftigte und offen zugegeben hatte, daß in der Familie Flawse
ein Hund anscheinend Vater des Menschen gewesen war, hatte sie
keine Ahnung, wovon er redete.
»Die Antwort lautet, Ma‘am, und auch hier dient der Hund als unser
Bezugspunkt, daß der Hund nicht von Natur aus Haustier war, sondern
dies erst durch soziale Symbiose geworden ist. Hund und Mensch,
Ma‘am, leben aufgrund gegenseitiger Bedürfnisse zusammen. Wir jagen
zusammen, wir essen zusammen, wir wohnen zusammen und wir schlafen
zusammen, doch vor allem erziehen wir einander. Durch den ständigen
Umgang mit Hunden habe ich mehr gelernt als durch Menschen oder aus
Büchern. Eine Ausnahme bildet Carlyle, doch auf ihn komme ich
später zu sprechen. Vorher möchte ich sagen, daß ein Hund
abgerichtet werden kann. Bis zu einem gewissen Punkt, Ma‘am, nur
bis zu einem gewissen Punkt. Ich weiß genau, daß selbst der beste
Schäfer der Welt aus einem Terrier keinen Schäferhund machen kann.
Das ist unmöglich. Ein Terrier ist ein Erdhund, wie Eure
Lateinkenntnisse Euch verraten werden. Terra œ Erde, Terrier œ
Erdhund. Den kann man hüten lassen soviel man will, sein Hang zu
graben läßt sich nicht austreiben. Soviel man ihn auch abrichtet,
im Grunde seines Herzens wird er ein Wühler von Löchern bleiben.
Auch wenn er nicht buddelt, der Instinkt ist da, und genauso ist es
beim Menschen, Ma‘am. Nach diesen Ausführungen bleibt mir nur noch
die Feststellung, daß ich mir bei Lockhart die größte Mühe gegeben
habe, jene Instinkte auszumerzen, die uns Flawses, wie unsere
bitteren Erfahrungen zeigen, zu eigen sind.«
»Freut mich zu hören«, murmelte Mrs. Flawse, die aus eigener
bitterer Erfahrung die Instinkte kannte, die den Flawses zu eigen
waren. Der alte Mann erhob warnend einen Zeigefinger. »Aber, Ma‘am,
da ich nichts über die Vorfahren seines Vaters weiß, war ich im
Nachteil. Aye, schwer im Nachteil. Die von Lockharts väterlicher
Seite herrührenden Laster kenne ich nicht, und da ich sie nicht
kenne, kann ich lediglich Vermutungen anstellen. Auch unter
Aufbietung größter Phantasie konnte man meine Tochter wohl kaum ein
wählerisches Mädchen nennen. Die Umstände ihres Todes beweisen das.
Sie starb in einem Graben, Ma‘am, als sie ihren Sohn gebar. Und sie
weigerte sich, den Vater zu nennen.«
Mr. Flawse hielt inne, um seine Verbitterung auszukosten und die
bohrenden Zweifel zu verdrängen, daß die Starrköpfigkeit seiner
Tochter hinsichtlich Lockharts Vater eine letzte Geste
töchterlicher Großzügigkeit darstellte, um ihm die Schmach des
Inzestes zu ersparen. Während er in die Tiefen des Kaminfeuers
starrte, als wäre es die Hölle selbst, gab sich Mrs. Flawse mit der
Erkenntnis zufrieden, daß Lockharts uneheliche Geburt einen
weiteren Pfeil auf dem Bogen ihrer ehelichen Macht darstellte. Für
dieses Eingeständnis würde der alte Trottel büßen. Mrs. Flawse
hatte einen neuen Grund zu grollen gefunden.
»Wenn ich daran denke, daß meine Jessica mit einem unehelichen Mann
verheiratet ist, muß ich ehrlich sagen, daß ich dein Benehmen
unentschuldbar und unehrenhaft finde, also wirklich«, sagte sie,
Mr. Flawses demütige Stimmung ausnutzend. »Hätte ich das gewußt,
hätte ich nie und nimmer meine Einwilligung zu der Heirat
erteilt.«
Mr. Flawse nickte ergeben. »Du mußt mir verzeihen«, sagte er, »aber
Not kennt schließlich kein Gebot, und das fromme Wesen deiner
Tochter wird das Lockhart väterlicherseits vererbte Böse
mildern.«
»Das hoffe ich inständig«, sagte Mrs. Flawse. »Und da wir gerade
beim Vererben sind: Wenn ich mich recht entsinne, erwähntest du,
daß du dein Testament ändern willst.« Damit wandten sie sich von
der Theorie den praktischen Dingen zu.
»Ich werde meinen Anwalt, Mr. Bullstrode, herbestellen und ihn ein
neues Testament aufsetzen lassen. Ihr werdet die Begünstigtste
sein, Ma‘am, das versichere ich Euch. Natürlich innerhalb der
Grenzen, die mir meine Verpflichtungen gegenüber meinen
Angestellten auferlegen, und mit der Maßgabe, daß das Erbe mit
Eurem Ableben Lockhart und seinen Nachkommen zufällt.«
Mrs. Flawse lächelte zufrieden. Sie sah eine sorgenfreie Zukunft
vor sich. »Und in der Zwischenzeit sorgst du dafür, daß das
Herrenhaus modernisiert wird?« fragte sie. Wieder nickte Mr.
Flawse.
»Wenn das so ist, werde ich bleiben«, erklärte Mrs. Flawse gnädig.
Diesmal zeichnete sich auf Mr. Flawses Gesicht ein kurzes Lächeln
ab, das aber sofort wieder erstarb. Es war überflüssig, sich zu
verraten. Er würde Unterwürfigkeit heucheln und dadurch Zeit
schinden.
Am selben Nachmittag schrieb Mrs. Flawse an Jessica. Es handelte
sich weniger um einen Brief als um eine Liste ihrer Habseligkeiten,
die mit dem Möbelwagen nach Flawse Hall gebracht werden sollten.
Als sie fertig war, gab sie den Brief Mr. Dodd, damit dieser ihn in
Black Pockrington aufgab. Doch als sie an diesem Abend zu Bett
ging, war der Brief immer noch nicht unterwegs. In der Küche
stellte Mr. Flawse einen Wasserkessel auf den Herd, öffnete über
dem Dampf den Umschlag und las den Inhalt.
»Du kannst ihn einwerfen«, teilte er Mr. Dodd mit, als er den
Umschlag wieder zuklebte. »Die olle Forelle hat den Köder
geschluckt. Jetzt muß ich nur noch mit ihr spielen.«
Und das tat er die nächsten Monate. Flawse Hall wurde nicht
modernisiert. Die Klempnerfirma sollte immer nächste Woche kommen,
was sie jedoch nie tat. Die Elektrizität blieb in der Schwebe, und
die Post weigerte sich, das Telefon anzuschließen, außer zu Kosten,
die sogar Mrs. Flawse exorbitant hoch fand. Überall gab es
Schwierigkeiten. Das Eintreffen ihrer Habseligkeiten verzögerte
sich, weil der Möbelwagen die Brücke in der Talsohle nicht
bewältigen konnte und die Möbelpacker sich weigerten, Kartons und
Kisten einen Kilometer bergauf zu schleppen. Schließlich entluden
sie den Lastwagen, verschwanden und überließen es Mrs. Flawse und
Mr. Dodd, ein Teil nach dem anderen bergauf zu schaffen, ein
langwieriger Prozeß, zusätzlich verlangsamt durch Mr. Dodds
vielfältige andere Aufgaben. Der Frühling neigte sich seinem Ende,
als der gesamte Tand und Tinneff aus Sandicott Crescent Nummer 12
endlich im Salon verstaut war, wo er vergeblich mit dem antiken
Plunder aus Empirezeiten konkurrierte. Das Schlimmste war, daß Mrs.
Flawses Rover mit der Bahn geschickt, nach Mr. Dodds Intervention
beim Stationsvorsteher, wobei Geld den Besitzer wechselte, über
Glasgow nach East Pursley zurückgeschickt und Lockhart und Jessica
in unbenutzbarem Zustand und mit einem Schildchen mit der
Aufschrift »Empfänger unbekannt« zugestellt wurde. Ohne ihr Auto
war Mrs. Flawse verloren. Sie konnte Mr. Dodd im Einspänner bis
Black Pockrington begleiten, doch in Pockrington besaß niemand ein
Telefon, und weiter zu fahren, weigerte er sich.
Nach drei Monaten Unsicherheit und Unbequemlichkeit ihrerseits
sowie Hinhaltetaktik ihres Gatten, was das Testament betraf, hatte
sie genug. Mrs. Flawse stellte ihr Ultimatum.
»Entweder hältst du deine Versprechungen, oder ich gehe«, sagte
sie. »Aber Ma‘am, ich habe mir allergrößte Mühe gegeben«, sagte Mr.
Flawse. »Die Sache ist im Gange und ...«
»Es wäre besser, wenn sie schon hier eingetroffen wäre«, entgegnete
Mrs. Flawse, die ihre Redeweise der ihres Mannes angepaßt hatte.
»Ich meine es ernst. Mr. Bullstrode, der Anwalt, muß ein Testament
zu meinen Gunsten aufsetzen, oder ich breche meine Zelte hier ab
und kehre dorthin zurück, wo man meine Anwesenheit zu schätzen
weiß.«
»Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg«, sagte der Alte, wobei er
über die möglichen Interpretationen dieser Sentenz nachsann und an
Schopenhauer dachte. »Wie der große Carlyle sagte ...«
»Das ist auch so ein Punkt. Keine Predigten mehr. Ich habe soviel
von Mr. Carlyle gehört, daß es mir bis ans Lebensende reicht.
Möglich, daß er so bedeutend war, wie du sagst, aber genug ist
genug, und ich habe von Helden und Heldenverehrung die Nase
gestrichen voll.«
»Ist das dein letztes Wort?« erkundigte sich Mr. Flawse
hoffnungsvoll. »Ja«, sagte Mrs. Flawse, sich dadurch Lügen
strafend. »Ich habe deine Gesellschaft und die Unannehmlichkeiten
dieses Hauses lange genug ertragen. Entweder läßt sich Mr.
Bullstrode innerhalb einer Woche blicken, oder ich werde mich
entfernen.«
»Mr. Bullstrode ist morgen hier«, sagte Mr. Flawse. »Ich gebe dir
mein Wort.«
»Das möchte ich hoffen«, sagte Mrs. Flawse, stürmte aus dem Zimmer
und ließ den Alten zurück, der bedauerte, ihr je Samuel Smiles Buch
über Selbsthilfe empfohlen zu haben.
An demselben Abend wurde Mr. Dodd mit einem versiegelten Umschlag
losgeschickt, der das Flawsesche Wappen trug, einen in Wachs auf
die Umschlagrückseite gedruckten Moosräuberwimpel. Er enthielt
genaue Anweisungen über den Inhalt von Mr. Flawses neuem Testament,
und als Mrs. Flawse am nächsten Morgen zum Frühstück nach unten
kam, erfuhr sie, daß ihr Mann endlich einmal Wort gehalten
hatte.
»Seht selbst, Ma‘am«, sagte Mr. Flawse und reichte ihr Mr.
Bullstrodes Antwortschreiben, »er kommt heute nachmittag her, um
das Testament aufzusetzen.«
»Das ist auch besser so«, sagte Mrs. Flawse. »Es war mir
bitterernst.«
»Und ich meine jedes Wort ernst, das ich sage, Ma‘am. Das Testament
wird aufgesetzt, und ich habe Lockhart herbestellt, der bei der
Verlesung anwesend sein soll.«
»Ich wüßte nicht, warum er vor deinem Tod anwesend sein sollte«,
wandte Mrs. Flawse ein. »Normalerweise wird ein Testament erst
danach verlesen.«
»Dieses Testament nicht, Ma‘am«, sagte Mr. Flawse. »Gewarnt sein
heißt gewappnet sein, wie es in dem alten Sprichwort heißt.
Außerdem muß der Junge die Sporen spüren.«
Er zog sich in sein Allerheiligstes zurück, so daß Mrs. Flawse mit
dieser rätselhaften Bemerkung allein blieb; nachmittags traf Mr.
Bullstrode an der Brücke über der Schlucht ein und wurde von Mr.
Dodd eingelassen. Die nächsten drei Stunden drang Stimmengemurmel
aus dem Arbeitszimmer, doch obwohl sie am Schlüsselloch lauschte,
bekam Mrs. Flawse von der Unterredung nichts mit. Sie hielt sich
wieder im Salon auf, als der Anwalt seine Aufwartung machte, bevor
er ging.
»Eine Frage noch, bevor Sie gehen, Mr. Bullstrode«, sagte sie. »Ich
hätte gern Ihre Zusicherung, daß ich die Hauptnutznießerin des
Testaments meines Mannes bin.«
»Dessen können Sie versichert sein, Mrs. Flawse. Sie sind wirklich
die Hauptnutznießerin. Ich möchte sogar weitergehen, gemäß den
Klauseln in Mr. Flawses neuem Testament fällt Ihnen bis zu Ihrem
Tode sein gesamtes Erbe zu.«
Mrs. Flawse seufzte erleichtert auf. Es war eine anstrengende
Schlacht gewesen, aber die erste Runde war an sie gegangen. Jetzt
mußte sie nur noch darauf bestehen, daß moderne sanitäre Anlagen im
Haus installiert wurden. Sie konnte es auf den Tod nicht mehr
ertragen, das Plumpsklo zu benutzen.