Kapitel 19
Dort hatte sich alles verändert. Die Häuser,
sogar das von Mr. O‘Brain, waren verkauft worden, und der Crescem
war wieder die gewohnt ruhige, ungestörte Vorortstraße. Auf
Jessicas Bankkonto lag ein Guthaben von 659000 Pfund, was
zurÜberschwenglichkeit des Bankdirektors und freudigen Erwartungen
des Finanzamtsleiters führte, der sich darauf freute, daß die
Vorschriften über die Kapitalgewinnsteuer zur Anwendung kamen.
Lockharts eine Million Pfund Schadenersatz von Miss Goldring und
ihrem ehemaligen Verlag ruhten in einer Bank in der City, wo sie
Zinsen anhäuften, aber ansonsten für die Steuerbehörden
unerreichbar waren, denen der gesetzliche Auftrag fehlte, sich um
durch solch gesellschaftlich produktive Tätigkeiten wie
Glücksspiel, das korrekte Ausfüllen von Fußballtoto-Tippscheinen,
Pferdewetten oder 5000-Pfund-Gewinnen durch Anlegen eines Pfundes
für ein Los beim PS-Sparen erworbenen Reichtum zu kümmern. Auch
Bingo-Gewinne blieben unangetastet. Das gleiche galt noch für
Jessicas Vermögen, und Lockhart wollte dafür sorgen, daß es so
blieb.
»Du mußt nichts weiter tun«, instruierte er sie am nächsten Morgen,
»als dem Direktor erklären, daß du die gesamte Summe in gebrauchten
Ein-Pfund-Noten abhebst. Hast du das verstanden?«
Jessica bejahte und begab sich mit einem großen leeren Koffer zur
Bank. Als sie wiederkam, war er immer noch groß und leer.
»Der Direktor wollte nicht«, berichtete sie unter Tränen; »er
sagte, das sei nicht empfehlenswert, und ohnehin müsse ich ihn eine
Woche vorher informieren, bevor ich Geld von meinem Sparkonto
abheben kann.«
»Ach ja?« sagte Lockhart. »Wenn das so ist, gehen wir heute
nachmittag wieder hin und informieren ihn eben eine Woche
vorher.«
Die Unterredung im Büro des Bankdirektors verlief nicht
reibungslos. Der Umstand, daß eine so geschätzte Kundin seinen Rat
in den Wind schlagen und solch eine riesige Summe in solch kleinen
Scheinen abheben wollte, hatte ihm viel von seiner
Überschwenglichkeit genommen.
»In gebrauchten Ein-Pfund-Noten?« sagte er ungläubig. »Das kann
doch wohl nicht Ihr Ernst sein. Der erforderliche Aufwand
...«
»Wird ein Stück weit für den Profit kompensieren, den Sie mit dem
Guthaben meiner Frau erzielt haben«, sagte Lockhart. »Sie berechnen
höhere Zinsen für Überziehungen, als Sie für Einlagen
zahlen.«
»Richtig, nun, das müssen wir tun«, sagte der Direktor.
»Schließlich ...«
»Außerdem müssen Sie das Geld an die Kunden auszahlen, wenn diese
es verlangen, und in dem gesetzlichen Zahlungsmittel, das diese
verlangen«, fuhr Lockhart fort, »also auch in gebrauchten
Ein-Pfund-Noten, wenn meine Frau das so will.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wozu«, sagte der Direktor. »Es wäre
der Gipfel der Torheit, dieses Gebäude mit einem Koffer voll nicht
wiederauffindbarer Scheine zu verlassen. Sie könnten auf der Straße
ausgeraubt werden.«
»Genausogut könnten wir hier drinnen ausgeraubt werden«, sagte
Lockhart, »und in meinen Augen werden wir das auch, wenn man Ihre
unterschiedlichen Zinsraten in Betracht zieht. Seit Sie dieses Geld
haben, ist es dank der Inflation entwertet worden. Das werden Sie
nicht leugnen.«
Das konnte der Bankdirektor nicht. »Es ist doch wohl kaum unsere
Schuld, daß die Inflation ein landesweites Problem ist«, sagte er.
»Wenn Sie mich nun um Rat fragen, in was man am besten investiert
...«
»Uns schwebt da bereits etwas vor«, sagte Lockhart. »Nun denn, wir
halten an unserem Vorhaben fest, das Geld nicht abzuheben, ohne Sie
eine Woche vorher zu informieren, vorausgesetzt, wir bekommen das
Geld in gebrauchten Ein-Pfund-Noten. Das ist Ihnen hoffentlich
klar.«
»Ja«, sagte der Bankier, dem das keineswegs klar war, dem aber
Lockharts Gesichtsausdruck nicht gefiel. »Wenn Sie Donnerstag
kommen, werde ich alles vorbereitet haben.«
Jessica und Lockhart fuhren wieder in die Nummer 12 zurück und
verbrachten die Woche mit Packen.
»Die Möbel sollten wir am besten mit der Bahn schicken«, sagte
Lockhart.
»Aber geht da nicht immer alles mögliche verloren? Denk doch mal
dran, was mit Mamis Auto passiert ist.«
»Der Vorteil, meine Liebe, ist der, daß Frachtgüter zwar häufig
nicht an ihrem Bestimmungsort eintreffen, sie aber ausnahmslos auch
nicht wieder an den Ort zurückkehren, wo sie aufgegeben wurden. Ich
vertraue darauf, daß aufgrund dieser Schlamperei niemand
herausfindet, wohin wir verschwunden sind.«
»O Lockhart, du bist so gescheit«, sagte Jessica. »Daran hatte ich
nicht gedacht. Aber warum adressierst du diese Kiste an Mr. Jones
in Edinburgh? Wir kennen gar keinen Mr. Jones in
Edinburgh.«
»Meine Liebe«, sagte Lockhart, »den kennt die Eisenbahn
genausowenig wie wir, aber ich werde mit einem gemieteten Lkw am
Bahnhof sein, um es entgegenzunehmen, und ich bezweifle sehr, daß
uns irgendwer findet.«
»Heißt das, wir werden uns verstecken?« fragte Jessica.
»Nicht verstecken«, sagte Lockhart, »doch da ich als statistisch
und bürokratisch nicht existent eingestuft wurde und daher für jene
Zuwendungen nicht in Frage komme, die uns der Wohlfahrtsstaat
angeblich zukommen läßt, liegt mir nichts ferner, als dem Staat
eine jener Zuwendungen zukommen zu lassen, die wir anhäufen
konnten. Kurz gesagt: keinen Penny Einkommensteuer, keinen Penny
Kapitalgewinnsteuer, keinen Penny von irgendwas. Mich gibt es
nicht, und als Nichtexistenz beabsichtige ich, meinen Lohn
einzustreichen.«
»So habe ich das noch gar nicht gesehen«, gab Jessica zu, »aber es
stimmt. Gerechtigkeit muß sein.«
»Irrtum«, sagte Lockhart. »Es gibt keine Gerechtigkeit.«
»Aber man sagt doch auch: ‹Im Krieg und in der Liebe ist alles
erlaubt¤, Liebling«, sagte Jessica.
»Damit stellt man deine erste Redensart auf den Kopf«, sagte
Lockhart, »oder man behauptet einfach, daß es keine Regeln gibt,
nach denen man sein Verhalten ausrichten sollte. Daraus folgt, daß
im Krieg, in der Liebe und bei der Steuerhinterziehung alles
erlaubt ist. Stimmt das nicht, Rowdy?«
Der Bullterrier sah auf und wackelte mit seinem Stummelschwanz. Er
hatte die Familie Flawse ins Herz geschlossen. Sie schienen die
grausamen Eigenschaften mit Wohlwollen zu betrachteten, wegen derer
man ihn und seine Bullterrierkollegen gezüchtet hatte, nämlich sich
festzubeißen und wie der leibhaftige Tod hängenzubleiben.
So war also das Inventar des Hauses bis zum nächsten Donnerstag
gepackt und per Eisenbahn nach Edinburgh verfrachtet worden, um von
einem Mr. Jones abgeholt zu werden, und nun blieb nur noch der
Bankbesuch, um den Koffer mit den gebrauchten Ein-Pfund-Noten zu
füllen. Seine Million hatte Lockhart bereits in der gleichen Form
bei seiner Bank in der City abgehoben. Der dortige Direktor war
kooperativer gewesen, was hauptsächlich auf Lockharts Erläuterung
zurückzuführen war, er brauche das Geld sofort, da er eine kleine
Transaktion betreffs Ölquellen mit dem Scheich von Arabien vorhabe,
der sein Geld in Münzen haben wollte, vorzugsweise in
Fünf-Penny-Stücken. Die Vorstellung, eine Million Pfund in
Fünf-Penny-Münzen abzuzählen, hatte den Direktor so erschüttert,
daß er sich die größte Mühe gegeben hatte, Lockhart zur Annahme von
Ein-Pfund-Scheinen zu überreden. Und Lockhart hatte sich zögernd
bereiterklärt, vorausgesetzt, sie seien gebraucht.
»Warum gebraucht?« wollte der Direktor wissen. »Neue Scheine wären
doch mit Sicherheit vorzuziehen?«
»Der Scheich ist ein mißtrauischer Mensch«, sagte Lockhart. »Er bat
um Münzen, um sicherzugehen, daß er richtiges und kein gefälschtes
Geld bekommt. Wenn ich neue Scheine nehme, vermutet er sofort, daß
man ihn reinlegen will.«
»Aber er könnte sich doch problemlos bei uns oder der Bank von
England erkundigen«, sagte der Banker, der über Britanniens immer
schlechter werdenden Ruf in monetären Dingen nicht informiert
war.
»Mein Gott«, murmelte er, als Lockhart erklärte, der Scheich handle
immer noch nach der alten Maxime, man solle jedes Wort auf die
Goldwaage legen, und da das englische Pfund dermaßen an Wert
verloren habe, halte er alle Engländer für Lügner, »daß es soweit
kommen mußte!«
Aber er hatte die Million Pfund in gebrauchten Scheinen ausgezahlt
und war dankbar gewesen, als ihm dieser desillusionierende Kunde
den Rücken kehrte.
Der Bankdirektor in East Pursley ließ sich nicht so leicht
überreden.
»Ich bin immer noch der Meinung, Sie handeln äußerst töricht«,
sagte er zu Jessica, als sie mit dem Koffer die Bank betrat. »Ihre
Mutter, da bin ich mir sicher, hätte sich nie eine solch
überstürzte Vorgehensweise zu eigen gemacht. Sie war in Gelddingen
immer ungemein vorsichtig und in finanzieller Hinsicht mit allen
Wassern gewaschen. Ich weiß noch, wie sie mir 1972 riet, Gold zu
kaufen. Ich wünschte heute, ich wäre ihrem Rat gefolgt.«
Und ihr Interesse an Gold ließ nicht nach. Während er von Jessicas
Mutter sprach, folgte sie der Spur des Goldes aus dem Herrenhaus
und hielt alle paar Meter an, um einen weiteren Goldsovereign
aufzuheben. Vor ihr schritt Mr. Dodd zügig aus und ließ in
regelmäßigen Abständen ein Goldstück aus der Entschädigungszahlung
des verstorbenen Mr. Taglioni fallen. Nach tausend Metern hatte er
zweihundert Sovereigns auf den Weg fallenlassen, alle fünf Meter
einen. Anschließend hatte er die Entfernung auf zwanzig Meter
gestreckt, doch Mrs. Flawse folgte immer noch, blind für alles
andere und habgierig vor sich hin murmelnd. An der
Zweitausend-Meter-Marke angekommen, hatte Mr. Dodd
zweihundertfünfzig Stück fallengelassen, ebensoviele, wie Mrs.
Flawse aufgesammelt hatte. Und die glitzernde Goldspur führte die
ganze Zeit über an dem von Kiefern gesäumten Stausee vorbei auf die
offene Hochebene. Bei dreitausend Metern hatte Mr. Dodd immer noch
siebenhundert Sovereigns in seinem Waschlederbeutel. Unter einem
Schild mit der Aufschrift »GEFAHR. SCHIESSPLATZ DES
VERTEIDIGUNGSMINISTERIUMS. BETRETEN STRENG VERBOTEN« hielt er an
und dachte über dessen Bedeutung und das Moralische seiner
Vorgehensweise nach. Als er schließlich den über den Schießplatz
ziehenden Nebel sah, entschloß er sich, da er ein Ehrenmann war,
weiterzumachen. »Was der einen recht ist, ist dem anderen billig«,
murmelte er, wandelte die Redensart jedoch so ab, daß was der einen
zustieß, für den anderen notwendigerweise mit einem gewissen Risiko
verbunden war. Er ließ weitere Münzen fallen, diesmal dichter
hintereinander, um die Geschwindigkeit zu erhöhen. Nach viertausend
Metern war er bei fünfhundert Sovereigns angelangt, und bei
fünftausend Metern enthielt der Waschlederbeutel noch vierhundert
Stück. Und je dichter das Geld den Boden bedeckte, desto dichter
wurde auch der darüberliegende Nebel. Bei achttausend Metern leerte
Mr. Dodd die Reste auf den Boden und verteilte sie im Heidekraut,
wo man sie suchen würde. Dann drehte er sich um und gab Fersengeld.
Mrs. Flawse war nirgends zu sehen, doch ihr irres Gemurmel drang
durch den Nebel. Dies tat auch die erste Granate. Sie explodierte
am Hang, und ihre Splitter flogen an Mr. Dodds Kopf vorbei, so daß
er sein Tempo verdoppelte. Mrs. Flawse folgte seinem Beispiel
nicht. Taub für das Artilleriefeuer, ging sie weiter, hielt an,
bückte sich und sammelte den goldenen Schatz, der wie eine lebendig
gewordene Sage ihre Aufmerksamkeit derart gefesselt hatte, daß
alles andere in den Hintergrund trat. Wenn diese güldene Fährte so
weiterging, war sie bald eine reiche Frau. Der Marktwert jedes
einzelnen alten Sovereigns betrug sechsundzwanzig Pfund, und Gold
stieg immer noch. Sie hatte schon siebenhundert der glitzernden
Münzen gesammelt! Mrs. Flawse sah eine herrliche Zukunft voraus.
Sie würde das Anwesen verlassen. Sie würde mit dem nächsten neuen
Gatten ein Luxusleben führen, diesmal mit einem jungen, den sie
schikanieren, nach Belieben einsetzen und zur Befriedigung ihrer
sexuellen Bedürfnisse benutzen würde. Mit jedem Halt und jedem
Bücken wurden ihre Habgier und Lust von neuem entfacht, und sie
ließ ihre rosige Zukunft im Geiste Revue passieren. Bei achttausend
Metern dünnte die Spur schließlich aus und hörte auf. Doch überall
im Heidekraut glitzerte noch Gold, und sie grapschte nach jedem
einzelnen Stück. »Mir darf keins entwischen«, murmelte
sie.
Viertausend Meter weiter südlich waren die Richtschützen der
Königlichen Artillerie ebenso wild entschlossen, ihr Ziel nicht
entwischen zu lassen. Sehen konnten sie es zwar nicht, doch die
Entfernung stimmte, und als sie es eingegabelt hatten, bereiteten
sie eine Salve vor. Vor ihnen fand Mrs. Flawse die letzte Münze,
setzte sich mit ihrer Goldsammlung auf den Boden und fing an zu
zählen. »Eins, zwei, drei, vier, fünf ...« Weiter kam sie nicht.
Die Königliche Artillerie war ihrem Ruf gerecht geworden, und die
aus sechs Rohren abgefeuerte Salve hatte einen Volltreffer erzielt.
Wo eben noch Mrs. Flawse gesessen hatte, befand sich nun ein großer
Krater, um den herum wie goldenes Konfetti von einer
verschwenderischen Hochzeit eintausend Goldsovereigns verstreut
lagen. Aber schließlich hatte Mrs. Flawse schon immer Geld
geheiratet. Oder, wie sie als Kind von ihrer habsüchtigen Mutter
gelernt hatte: »Du sollst nicht Geld heiraten, mein Liebes, sondern
dorthin gehen, wo das Geld ist.« Und daran hatte Mrs. Flawse sich
gehalten.
Mr. Dodd ebenfalls, doch der war weit lebendiger als sie. Er ging
guten Gewissens. Er hatte sein eigenes Leben riskiert, um das olle
Miststück loszuwerden, und wie der Dichter sagt: »Die Freiheit
liegt in jedem Hieb! Laßt uns bestehen oder sterben!« und Mr. Dodd
hatte für die Freiheit getan, was er konnte, und lebte immer noch.
Auf dem Rückweg nach Flawse Hall pfiff er: »Jemand sieht jemand,
Der kommt durch die Roggenähren. Jemand tötet jemand, Muß da jemand
weinen bittre Zähren?« Aye, der alte Robbie Burns wußte, wovon er
sprach, dachte er, auch wenn man den Sinn ein wenig modifizieren
mußte. Und als er im Herrenhaus war, zündete er im Arbeitszimmer
des Alten ein Kaminfeuer an, holte seinen Dudelsack, nahm auf der
Sitzbank in der Küche Platz und spielte »Twa Corbies« in der
wehmütigen Erkenntnis, daß über Mrs. Flawses weißen Knochen, schon
gebleicht, der Wind soll weh‘n so lang die Zukunft reicht. Er
spielte immer noch, als ihn das Geräusch einer Hupe, die am
verschlossenen Brückentor betätigt wurde, die Auffahrt
hinuntereilen ließ, um Lockhart und seine Frau zu
begrüßen.
»Die Flawses sind wieder im Herrenhaus«, sagte er, als er das Tor
öffnete. »Das ist ein großer Tag.« »Aye, es ist gut, endgültig hier
zu sein«, sagte Lockhart.
An diesem Abend speiste Lockhart statt seines Großvaters am ovalen
Mahagonitisch, Jessica ihm gegenüber. Bei Kerzenlicht sah sie
unschuldiger und schöner aus denn je, und Lockhart prostete ihr zu.
Er hatte seine Gabe zurückbekommen, wie von der Zigeunerin
prophezeit, und das Wissen, daß er nun wahrhaftig das Oberhaupt der
Flawseschen Sippe war, entband ihn von der bisher ihm auferlegten
Keuschheit. Später, als Rowdy und der Collie sich in der Küche
mißtrauisch beäugten und Mr. Dodd zur Feier des Tages eine
Eigenkomposition vorblies, lagen sich Lockhart und Jessica nicht
nur in den Armen, sondern gingen etwas weiter.
So groß war ihr Glück, daß das Fehlen von Mrs. Flawse erst nach
einem späten Frühstück auffiel.
»Ich hab sie seit gestern nicht mehr gesehen«, sagte Mr. Dodd. »Sie
war auf der Hochebene unterwegs und viel besser gelaunt als sonst
in letzter Zeit.«
Lockhart sah in ihrem Schlafzimmer nach und stellte fest, daß ihr
Bett unberührt geblieben war.
»Aye, das gibt auch mir zu denken«, gab Mr. Dodd zu, »aber ich hab‘
das Gefühl, daß sie sich dennoch zur Ruhe begeben hat.«
Doch Jessica war zu entzückt von dem Haus, um ihre Mutter zu
vermissen. Sie lief von einem Zimmer ins andere, betrachtete die
Porträts und die schönen alten Möbel und schmiedete
Zukunftspläne.
»Ich finde, wir sollten Großvaters alten Ankleideraum zum
Kinderzimmer umbauen«, sagte sie zu Lockhart, »hältst du das nicht
auch für eine gute Idee? Dann haben wir Baby in unserer
Nähe.«
Lockhart war mit all ihren Vorschlägen einverstanden. Ihm gingen
andere Dinge als Babys durch den Kopf. Er besprach sich mit Mr.
Dodd im Arbeitszimmer.
»Sie haben das Geld zum Mann in die Whiskywand gebracht?« fragte
er. »Aye, Kiste und Koffer sind gut versteckt«, sagte Mr. Dodd,
»aber du hast doch gesagt, es würde niemand nachsehen
kommen.«
»Was ich nicht mit Sicherheit weiß«, sagte Lockhart, »deshalb ist
es unumgänglich, auf Notfälle vorbereitet zu sein, und ich habe
nicht vor, mir mein Eigentum abnehmen zu lassen. Wenn sie das Geld
nicht finden, können sie sich des Hauses und alles anderen
bemächtigen. Ich habe fest vor, mich auf diese Eventualität
rechtzeitig vorzubereiten.«
»Das Gebäude läßt sich nur schwer unter Gewaltanwendung einnehmen«,
sagte Mr. Dodd, »aber vielleicht hast du ja andere
Pläne.«
Lockhart sagte nichts. Sein Bleistift kritzelte eine Art Moosräuber
auf den vor ihm liegenden Schreibblock.
»Diese Notwendigkeit möchte ich tunlichst vermeiden«, sagte er nach
langem Schweigen. »Zuerst werde ich mich mit Mr. Bullstrode
unterhalten. Er hat sich immer um die Steuerprobleme meines
Großvaters gekümmert. Sie rufen ihn vom Telefon in Black
Pockrington aus an.«
Als Mr. Bullstrode am nächsten Tag eintraf, fand er Lockhart an dem
Schreibtisch im Arbeitszimmer sitzend vor, und ihm schien, als
hätte der junge Mann, den er als Bastard gekannt hatte, eine nicht
unerhebliche Veränderung durchgemacht.
»Damit Sie es gleich wissen, Bullstrode«, tat ihm Lockhart nach der
Begrüßung kund, »ich beabsichtige nicht, irgendwelche
Erbschaftssteuern zu zahlen.«
Mr. Bullstrode räusperte sich. »Möglicherweise gelingt es uns, eine
hohe Veranlagung zu vermeiden«, sagte er. »Der Besitz hat immer
Verluste erwirtschaftet. Ihr Großvater hatte die Angewohnheit,
Geschäfte nur gegen Bargeld und ohne Rechnung abzuwickeln, und
außerdem habe ich als sein Anwalt einen gewissen Einfluß auf
Wieman.«
»Wie, Mann?« sagte Lockhart schroff.
»Nun, um ehrlich zu sein, weil ich seine Scheidung für ihn
abgewickelt habe und bezweifle, daß er es gern sähe, wenn manche
Details seiner, sagen wir, seiner sexuellen Neigungen größere
Verbreitung fänden«, erklärte Mr. Bullstrode, der die Frage falsch
verstanden hatte.
»Interessiert mich einen feuchten Kehricht, was der Blutsauger im
Bett treibt«, sagte Lockhart; »er heißt Wieman?«
»Damit haben Sie den Nagel bereits ziemlich auf den Kopf getroffen,
was seine Bettaktivitäten betrifft. Wenn Sie Blut durch einen
gewissen Körperteil ersetzen und ...«
»Es geht um den Namen Wieman, Bullstrode, nicht um die mit
irgendeinem Körperteil verbundene Neigung.«
»Ach ja, der Name«, sagte Mr. Bullstrode, aus dem Tagtraum
zurückgeholt, in den Mr. Wieman seine Phantasie so häufig
versetzte. »Mr. William Wieman heißt der Mann. Er ist der
Steuereintreiber Ihrer Majestät für die Mittelmarken. Sie brauchen
nicht zu befürchten, von ihm über Gebühr behelligt zu
werden.«
»Er wird mich überhaupt nicht behelligen. Andersrum wird‘n Schuh
draus, wenn er die Flawse-Hochebene auch nur betritt. Richten Sie
ihm das aus.«
Mr. Bullstrode versprach es, wenn auch zögernd. Lockharts
Veränderung erstreckte sich sogar auf seine Redeweise; aus dem
bislang vom alten Mr. Flawse übernommenen gebildeten Akzent war ein
Dialekt geworden, der eher an den von Mr. Dodd erinnerte. Lockharts
nächste Erklärung klang sogar noch eigenartiger. Er stand auf und
funkelte den Anwalt an. Sein Gesicht bekam etwas Wildes, seine
Stimme nahm einen bedrohlichen Singsang an:
»Gehen Sie zurück nach Hexham und sagen Sie dem Steuerlümmel, wenn
er im Bette sterben will und nicht unter freiem Himmel, soll er am
besten die Flawse Hall meiden und einen Umweg finden, sonst geht
mitnichten Jagen er, sondern gerät vor unsre Flinten. Ich laß‘
keinen von denen durchs Schlüsselloch spähn wie‘s ihm gefällt oder
forschen nach sauer verdientem Geld. Ich zahle, was erforderlich,
begleiche Steuern, wie ich‘s hab‘, aber wenn der Finanzmensch hier
auftauchen sollte, wird er bluten, nicht zu knapp. Aye, schwitzen
können sie und schimpfen auch und gehen vor‘s Gericht, doch ich bin
mal hier und mal dort, werde nie erwischt. Drum warnt ihn,
Bullstrode, merkt Euch das. Ich möchte keinen erschlagen; doch
kommt er mich durchsuchen, bei Gott, dann geht‘s ihm an den
Kragen.«
Das leuchtete Mr. Bullstrode voll und ganz ein. Was auch immer œ
und er zweifelte nicht mehr daran, daß Lockhart kein Zeitgenosse,
sondern irgendeine Erbkrankheit war œ, was auch immer vor ihm stand
und Unmengen gereimte Drohungen ausstieß, dem war jede einzelne
Silbe davon ernst. Und ein Mensch, der seinen eigenen Großvater
aussto... Mr. Bullstrode suchte nach einem Ersatzwort und fand es:
»konservieren ließ«, war aus härterem Holz geschnitzt als die
Gesellschaft, in der er lebte.
Einen weiteren Beweis für diese Annahme fand er später, als er,
nachdem er sich hatte überreden lassen, seine frühere Angewohnheit
beizubehalten und zum Essen sowie über Nacht zu bleiben, im Bett
lag. Aus der Küche drang der Klang von Mr. Dodds northumbrischem
Dudelsack, der eine Singstimme begleitete. Mr. Bullstrode stieg aus
dem Bett, schlich auf Zehenspitzen zum oberen Treppenabsatz und
lauschte. Der Sänger war Lockhart, doch obwohl Mr. Bullstrode auf
seine Kenntnisse der Grenzlandballaden stolz war, hatte er diese
noch nie gehört.
»In der alten Flawse Hall sitzt ein toter Mann,
Unter Erden sollt‘ ruh‘n seine Leiche
Und dort zwischen Mauern er sitzen kann
Bis erblüht die große Eiche.
Aye, blühen soll die Eiche so blau
Und das Moos soll funkeln rot,
Doch er wird sitzen und grübeln, im Bau
Bis alle Welt ist tot.
Drum sattle mein Pferd und hole die Meute
Die Wildnis ruft uns geschwind
Dann zerreiß‘ ich meine Fesseln noch heute
Ich hinterm Erdwall geborenes Kind.
Der alte Flawse-Clan knüpft die Schlingen
Die Moosräuber hervor sich drängen
Und bedrohlich die Glocken klingen
Bis an den Eisdon-Baum sie mich hängen.«
Als das Lied verstummte und das dünne Pfeifen des Dudelsacks in der
Stille des Hauses erstarb, schlich Mr. Bullstrode, mehr aus Angst
vor zukünftigen Ereignissen als vor Kälte zitternd, leise ins Bett
zurück. Was er soeben gehört hatte, erhärtete seine Vermutung.
Lockhart Flawse war ein Relikt der trüben und gefährlichen
Vergangenheit, als die Moosräuber durch Tyndale und Redesdale zogen
und vom Flachland an der Ostküste Vieh stahlen. Und wenn sie es
gestohlen hatten, versteckten sie es in ihren Festungen im
Hochland. Zu dieser wilden Gesetzlosigkeit hatte sich eine Dichtung
gesellt, ebenso herb und unerschrocken tragisch in ihrer Sicht des
Lebens wie fröhlich im Angesicht des Todes. Mr. Bullstrode zog sich
die Decken über den Kopf und sah voraus, was auf sie zukommen
könnte. Schließlich, nach einem stummen Stoßgebet, Mr. Wieman möge
der Vernunft gehorchen und keine Katastrophe heraufbeschwören, fiel
er in einen unruhigen Schlaf.