Kapitel 2
Und Jessica erging es ebenso. Ein Blick auf
diesen großgewachsenen, breitschultrigen jungen Mann, der sich
verbeugte, und Jessica wußte, sie war verliebt. Doch was bei dem
jungen Paar Liebe auf den ersten Blick war, war bei Mrs. Sandicott
Berechnung auf den zweiten. Lockharts Aufzug in Frack und Krawatte
sowie sein generell gehemmtes und verlegenes Benehmen verfehlten
ihre Wirkung auf sie nicht, und als er irgendwann stammelte, sein
Großvater speise in ihrer Luxuskabine, jubilierte Mrs. Sandicotts
Vorortseele beim Klang dieses Wortes.
»Ihre Luxuskabine?« hakte sie nach. »Sagten Sie wirklich
Luxuskabine?«
»Ja«, murmelte Lockhart. »Sehen Sie, er ist neunzig, und durch die
lange Anfahrt vom Herrenhaus erschöpft.«
»Vom Herrenhaus«, flüsterte Mrs. Sandicott und warf ihrer Tochter
einen vielsagenden Blick zu.
»Flawse Hall«, sagte Lockhart. »So heißt der
Familiensitz.«
Und wieder wurde Mrs. Sandicott in tiefster Tiefe aufgewühlt. Die
Kreise, mit denen sie Umgang pflegte, hatten keine Familiensitze,
und hier, in Gestalt dieses eckigen, großgewachsenen Jugendlichen,
dessen von Mr. Flawse übernommener Akzent im ausgehenden
neunzehnten Jahrhundert wurzelte, entdeckte sie die
gesellschaftlichen Attribute, nach denen sie schon lange
strebte.
»Und Ihr Großvater ist tatsächlich neunzig?« Lockhart nickte. »Wie
erstaunlich, daß ein Senior in dieser Lebensphase an einer
Kreuzfahrt teilnimmt«, fuhr Mrs. Sandicott fort. »Fehlt er denn
seiner armen Frau nicht?«
»Kann ich wirklich nicht sagen. Meine Großmutter ist 1935
gestorben«, sagte Lockhart, was Mrs. Sandicotts Herz noch höher
schlagen ließ. Als sich das Essen dem Ende zuneigte, hatte sie
Lockhart seine Lebensgeschichte entlockt, und beijeder neuen
Information wuchs Mrs. Sandicotts Überzeugung, daß sich ihr
endlich, endlich eine Gelegenheit bot, die sie keineswegs ungenutzt
verstreichen lassen durfte. Besonders beeindruckt hatte sie
Lockharts Geständnis, er sei von privaten Hauslehrern unterrichtet
worden. In Mrs. Sandicotts Welt gab es ganz gewiß keine Leute, die
ihre Söhne von Hauslehrern unterrichten ließen. Privatschulen waren
das höchste der Gefühle. Als der Kaffee serviert wurde, schnurrte
Mrs. Sandicott geradezu. Jetzt wußte sie, daß es kein Fehler
gewesen war, an dieser Kreuzfahrt teilzunehmen, und als Lockhart
schließlich aufstand und zunächst ihr und dann Jessica beim
Aufstehen behilflich war, schwebte sie mit ihrer Tochter in einem
Gefühl gesellschaftlicher Ekstase in die Kabine zurück.
»Was für ein netter junger Mann«, sagte sie. »Welch entzückende
Manieren, und so wohlerzogen.«
Jessica schwieg. Sie wollte den Reiz ihrer Gefühle nicht durch ein
Geständnis zerstören. Lockhart hatte sie überwältigt, aber anders
als ihre Mutter. Während er für Mrs. Sandicott eine erstrebenswerte
gesellschaftliche Sphäre verkörperte, war er für Jessica die
fleischgewordene Romantik. Und Romantik war ihr ein und alles. Sie
hatte sich die Beschreibung des Flawseschen Anwesens auf der
Flawse-Hochebene unterhalb der Flawse-Hügel angehört und jedem Wort
eine neue Bedeutung zugeordnet, die sie den Liebesromanen entnahm,
mit denen sie die Leere ihrer Jugendjahre gefüllt hatte, eine
Leere, die einem Vakuum glich.
Mit achtzehn war Jessica Sandicott mit körperlichen Reizen
ausgestattet, die jenseits ihrer Kontrolle lagen, und mit einem
unschuldsvollen Gemüt, an dem ihre Mutter sowohl Schuld war als
auch verzweifelte. Präziser gesagt, ihre Unschuld resultierte aus
dem Testament des verstorbenen Mr. Sandicott, in dem dieser alle
zwölf Häuser des Straßenzugs Sandicott Crescent »meiner liebsten
Tochter Jessica« vermacht hatte, »sobald sie das Alter ihrer Reife
erreicht«. Seiner Frau hinterließ er Sandicott & Partner,
Konzessionierte Buchprüfer und Steuerberater, Wheedle Street,
London. Doch das Testament des verblichenen Mr. Sandicott
hinterließ nicht allein diese konkreten Posten. Es hatte Mrs.
Sandicott mit einem Gefühl der Trauer und der Überzeugung erfüllt,
daß der frühzeitige Tod ihres Gatten mit fünfundvierzig der
unwiderlegbare Beweis dafür war, daß sie keinen Gentleman
geehelicht hatte, wobei der Beweis seiner mangelnden Ritterlichkeit
darin bestand, daß er die Welt nicht wenigstens zehn Jahre früher
verlassen hatte, als sie sich noch in einem einigermaßen
heiratsfähigen Alter befand, oder daß er ihr nicht zumindest sein
gesamtes Vermögen hinterließ. Aufgrund dieses doppelten Unvermögens
hatte sich Mrs. Sandicott zweierlei vorgenommen: Erstens sollte ihr
nächster Gatte ein sehr reicher Mann mit einer so kurzen
Lebenserwartung wie irgend möglich, vorzugsweise todkrank sein;
zweitens wollte sie dafür sorgen, daß Jessica das Alter der Reife
so langsam erreichte, wie es eine streng religiöse Erziehung
bewirken konnte. Bisher hatte sie ihr erstes Ziel gar nicht und ihr
zweites nur teilweise erreicht.
Jessica hatte mehrere Klosterschulen besucht, und der Plural
deutete bereits auf das partielle Versagen ihrer Mutter hin.
Zunächst hatte sie eine derart intensive religiöse Inbrunst
entwickelt, daß sie beschloß, Nonne zu werden und ihre eigenen
weltlichen Güter dadurch zu verringern, daß sie sie denen des
Ordens hinzufügte. Mrs. Sandicott hatte sie überstürzt auf eine
weniger überzeugende Klosterschule umgeschult, und eine Zeitlang
sah die Lage für sie viel rosiger aus. Leider empfanden das etliche
Nonnen genauso. Jessicas engelhaftes Gesicht samt ihrem
unschuldigen Wesen hatten bewirkt, daß sich vier Nonnen
gleichzeitig bis über beide Ohren in sie verliebten, und die Oberin
zur Rettung ihres Seelenheils darauf bestand, Jessicas störender
Einfluß müsse verschwinden. Mrs. Sandicotts einleuchtendes
Argument, sie sei für die Attraktivität ihrer Tochter nicht
verantwortlich, und wenn jemand relegiert werden müsse, dann doch
wohl die lesbischen Nonnen, verfing bei der Oberin nicht.
»Ich werfe dem Kind nichts vor. Sie wurde zur Liebe geschaffen«,
erklärte sie verdächtig gefühlsbetont und in direktem Widerspruch
zu Mrs. Sandicotts Ansichten zu diesem Thema. »Sie wird irgendeinem
braven Mann eine wunderbare Ehefrau sein.«
»Ich kenne Männer ein wenig intimer als Sie, möchte ich hoffen«,
parierte Mrs. Sandicott. »Sie wird den ersten besten Halunken
nehmen, der um ihre Hand anhält.«
Das war eine schicksalhaft zutreffende Prophezeiung. Um ihre
Tochter vor jeder Versuchung zu bewahren und ihre eigenen Einkünfte
aus den Mieten der Häuser am Sandicott Crescent zu behalten, hatte
Mrs. Sandicott Jessicas Aktivitäten auf ihr Wohnhaus und einen
Fernkurs in Maschineschreiben beschränkt. Als Jessica achtzehn
wurde, konnte noch immer keine Rede davon sein, daß sie das Alter
der Reife erreicht hatte. Wenn überhaupt, hatte sie sich
zurückentwickelt, und während Mrs. Sandicott die Geschäfte von
Sandicott und Partner überwachte œ der Partner war übrigens ein Mr.
Treyer œ, versank Jessica in einem literarischen Morast aus
Liebesromanen, in denen es von herrlichen jungen Männern nur so
wimmelte. Kurz, sie lebte in einer Phantasiewelt, deren Dominanz
sich eines Morgens erwies, als sie verkündete, sie habe sich in den
Milchmann verliebt und wolle ihn heiraten. Am nächsten Tag sah sich
Mrs. Sandicott den Milchmann genau an und befand, nun sei die Zeit
für verzweifelte Maßnahmen reif. So sehr sie ihre Phantasie auch
strapazierte, sich den Milchmann als Zukünftigen ihrer Tochter
vorzustellen, wollte ihr nicht in den Sinn. Doch ihre
entsprechenden Argumente, durch die Tatsache untermauert, daß er
nicht nur neunundvierzig, verheiratet und Vater von vier Kindern
war, sondern auch noch nichts von seinem Glück wußte, prallten an
Jessica ab.
»Ich werde mich seinem Glück opfern«, verkündete sie. Mrs.
Sandicott war anderer Meinung und buchte umgehend zwei Fahrkarten
für die Ludlow Castle, in der Überzeugung, ganz gleich, was für
potentielle Ehemänner für ihre Tochter auf dem Schiff warten
mochten, sie könnten auf keinen Fall ungeeigneter sein als der
Milchmann. Außerdem mußte sie auch an sich selbst denken, und
Kreuzfahrtschiffe waren ein berüchtigtes Jagdrevier für nicht mehr
ganz junge Witwen auf der Suche nach dem Volltreffer. Daß Mrs.
Sandicott es auf einen steinalten, möglichst unheilbar kranken
Greis mit Unmengen von Geld abgesehen hatte, machte die Reise nur
noch spannender. Und Lockharts Auftauchen hatte den doppelten
Volltreffer angekündigt: Einen annehmbaren und offensichtlich
geistig zurückgebliebenen jungen Mann für ihre bescheuerte Tochter,
während in seiner Luxuskabine ein neunzig Jahre alter Gentleman mit
einem riesigen Gut in Northumberland wartete. An diesem Abend begab
sich eine vergnügte Mrs. Sandicott zu Bett. In der Koje über ihr
seufzte Jessica und flüsterte die magischen Worte: »Lockhart Flawse
von Flawse Hall auf der Flawse-Hochebene dicht unterhalb der
Flawse-Hügel«. Sie ergaben eine Flawse-Litanei, die zu ihrer
Religion namens Romantik paßte.
Auf dem Bootsdeck beugte sich Lockhart über die Reling und starrte
auf das Meer hinaus, Gefühle im Herzen, so turbulent wie das
schäumende Kielwasser des Schiffes. Er hatte das wunderbarste
Mädchen der Welt kennengelernt und zum allerersten Mal bemerkt, daß
Frauen nicht einfach nur wenig anziehende Lebewesen waren, die
Essen kochten, Fußböden fegten und, nachdem sie die Betten gemacht
hatten, nachts in selbigen eigenartige Geräusche von sich gaben.
Mit ihnen ließ sich mehr anfangen als das, doch was das wohl sein
mochte, konnte Lockhart nur raten.
Auf sexuellem Gebiet beschränkte sich sein Wissen auf die beim
Ausnehmen von Karnickeln gemachte Entdeckung, daß Rammler Eier
hatten und Weibchen nicht. Zwischen diesen anatomischen
Unterschieden und der Tatsache, daß Frauen Kinder bekamen und
Männer nicht, bestand offenbar irgendein Zusammenhang. Als er ein
einziges Mal versuchte, Näheres über diese Unterschiede
herauszufinden, indem er den Hauslehrer auf Urdu fragte, wie
Mizraim in 1. Mose 10, Vers 13 die Luditer zeugete, hatte er eine
Ohrfeige erhalten, die ihn vorübergehend taub machte und ihm den
Eindruck vermittelte, solche Fragen blieben am besten ungestellt.
Andererseits war ihm bewußt, daß es so etwas wie die Institution
der Ehe gab und daß Ehen Familien zur Folge hatten. Eine seiner
entfernten Flawse-Kusinen hatte einen Bauern aus Eisdon geheiratet
und in rascher Folge vier Kinder bekommen. Das hatte ihm die
Haushälterin erzählt, mehr nicht, außer, daß die Heirat ein
Schnellschuß gewesen sei, was das Geheimnis nur noch vertiefte, da
ein Schuß, wie Lockhart wußte, Lebewesen ins Jenseits und nicht auf
die Welt beförderte.
Um die Angelegenheit vollends zu verwirren, hatte ihm sein
Großvater nur erlaubt, seine Verwandten zu besuchen, wenn deren
Beerdigung anstand. Mr. Flawse genoß Begräbnisse ungemein. Sie
bestärkten ihn in seiner Auffassung, daß er zäher als alle anderen
Flawses war und nur eines gewiß war, nämlich der Tod. »In einer
unsicheren Welt dürfen wir in der Wahrheit, jener ewigen Wahrheit,
Trost finden, daß der Tod uns schließlich alle holt«, sprach er
beispielsweise einer trauernden Witwe Trost zu, was schreckliche
Folgen hatte. Und anschließend, in der zweisitzigen Kutsche, die er
für solche Ausflüge benutzte, ließ er sich vor Lockhart über den
Wert des Todes als Hüter der Moral aus. »Ohne ihn würde nichts
verhindern, daß wir uns wie Kannibalen benähmen. Aber wenn man
einem Menschen die Angst vor dem Tod einimpft, hat das eine
herrlich heilsame Wirkung.«
Und so war Lockhart weiterhin in Unwissenheit über das Leben
verblieben, während er sich ein umfangreiches Wissen über den Tod
aneignete. Seinen Körperfunktionen und Gefühlen blieb es
überlassen, ihn in sexuellen Fragen in ganz unterschiedliche
Richtungen zu lenken. Da er mutterlos aufwuchs und die meisten
Haushälterinnen seines Großvaters verabscheute, hegte er Frauen
gegenüber entschieden negative Gefühle. Positiv blieb zu vermelden,
daß ihm nächtliche Samenergüsse viel Vergnügen bereiteten, ohne daß
er allerdings um deren Bedeutung wußte. In Gegenwart von Frauen
bekam er keine feuchten Träume, und Frauen bekam er überhaupt
keine.
Wie er sich so auf die Reling stützte und im Mondlicht auf die
weiße Gischt hinuntersah, übersetzte Lockhart seine neuen Gefühle
in die Bilder, die ihm am vertrautesten waren. Er sehnte sich
danach, für den Rest seines Lebens selbsterlegte Lebewesen Jessica
Sandicott zu Füßen zu legen. Mit dieser poetischen Vorstellung von
Liebe begab sich Lockhart in die Kabine, wo der mit einem roten
Flanellnachthemd bekleidete Mr. Flawse lautstark schnarchte, und
stieg in seine Koje.
Hatte Lockharts Auftritt Mrs. Sandicotts Erwartungen beim
Abendessen geweckt, so bestätigte der alte Mr. Flawse diese beim
Frühstück. In einem Anzug, der bereits 1925 aus der Mode gekommen
war, bahnte er sich den Weg durch unterwürfige Kellner mit einer
Arroganz, die weit älter als sein Anzug war, und musterte, nachdem
er mit einem »Ihnen einen guten Morgen, Ma‘am«, Platz genommen
hatte, voller Abscheu die Speisekarte.
»Ich will Haferbrei«, informierte er den Oberkellner, der nervös
von einem Fuß auf den anderen trat, »und nicht Ihren halbgaren
Matsch. Hafer, Mann, Hafer.«
»Jawohl, Sir, und danach?« »Eine doppelte Ration Eier mit Speck.
Und treiben Sie ein paar Nierchen auf«, fuhr Mr. Flawse zum
prognostischen Vergnügen von Mrs. Sandicott fort, die über
Cholesterin genau Bescheid wußte. »Und wenn ich doppelt sage, meine
ich doppelt. Vier Eier und ein Dutzend Speckstreifen. Anschließend
Toastbrot, Marmelade und zwei Kannen Tee. Der Junge bekommt das
gleiche.«
Der Kellner eilte mit der tödlichen Bestellung fort, während Mr.
Flawse über den Rand seiner Brille hinweg Mrs. Sandicott und
Jessica musterte.
»Ihre Tochter, Ma‘am?« erkundigte er sich.
»Meine einzige Tochter«, murmelte Mrs. Sandicott.
»Gratuliere«, sagte Mr. Flawse, womit offen blieb, ob das Lob der
Schönheit ihrer Tochter oder dem Einzelkinddasein galt. Mrs.
Sandicott errötete zustimmend. Mr. Flawses altmodische
Umgangsformen fand sie beinahe so bezaubernd wie sein Alter. Das
die restliche Mahlzeit begleitende Schweigen wurde nur durch die
Behauptung des alten Mannes unterbrochen, der Tee sei schwächer als
Quellwasser, man möge gefälligst eine ordentliche Kanne starken
Frühstückstees bringen, in dem der Löffel senkrecht stehenblieb.
Doch obwohl Mr. Flawse den Anschein erweckte, er konzentriere sich
auf die Eier mit Speck und den Tee, der genug Tannin enthielt, um
ein verstopftes Abflußrohr zu säubern, kreisten seine Gedanken doch
um andere Dinge, gar nicht so weit von denen Mrs. Sandicotts
entfernt, wenn auch mit anderem Schwergewicht. Im Laufe seines
langen Lebens hatte er gelernt, einen Snob eine Meile gegen den
Wind zu riechen, und Mrs. Sandicotts Ehrerbietung kam ihm gelegen.
Sie würde, überlegte er, eine ausgezeichnete Haushälterin abgeben.
Außerdem gab es da noch ihre Tochter. Sie war fraglos ein dämliches
Mädchen und paßte ebenso fraglos zu seinem dämlichen Enkel. Mr.
Flawse beobachtete Lockhart aus dem Winkel eines wäßrigen Auges und
erkannte die Symptome von Verliebtheit.
»Schafsaugen«, murmelte er laut vor sich hin,
zur Verwirrung des wartenden Kellners, der sich entschuldigte, daß
so etwas nicht auf der Speisekarte stand.
»Und wer hat das behauptet?« fuhr Mr. Flawse ihn an und entließ den
Mann mit einem Wink seiner fleckigen Hand.
Mrs. Sandicott registrierte alle diese Verhaltensweisen und kam zu
dem Schluß, Mr. Flawse sei genau der Mann, auf den sie gewartet
hatte, ein neunzigjähriger Großgrundbesitzer mit einem mächtigen
Bankkonto und Appetit auf genau die Speisen, die sich am besten
eigneten, ihm im Nu den Garaus zu machen. Daher war die Dankbarkeit
nicht gespielt, mit der sie nach dem Frühstück seine Einladung zu
einem Deckspaziergang annahm. Mr. Flawse schickte Lockhart und
Jessica zu einem gemeinsamen Wurfringspiel fort, und gleich darauf
drehten er und Mrs. Sandicott in einem für letztere atemberaubenden
Tempo ihre Runden über das Promenadendeck. Als sie die üblichen
dreieinhalb Kilometer des Alten zurückgelegt hatten, verschlug es
Mrs. Sandicott aus anderen Gründen den Atem. Mr. Flawse war nicht
der Mann, der ein Blatt vor den Mund nahm.
»Um alle Unklarheiten zu beseitigen«, sagte er überflüssigerweise,
als sie auf den Liegestühlen Platz nahmen, »ich neige nicht dazu,
mit meinen Gedanken hinter dem Berg zu halten. Sie haben eine
Tochter im heiratsfähigen Alter und ich einen Enkel, der unter die
Haube gehört. Stimmt‘s oder habe ich recht?«
Mrs. Sandicott rückte die Decke auf ihrem Schoß zurecht und sagte
einigermaßen geziert, da sei wohl etwas Wahres dran.
»Mit Sicherheit habe ich recht, mit Sicherheit«, sagte Mr. Flawse.
»Ich weiß es, und Sie wissen es auch. Tatsächlich wissen wir es
beide. Nun, ich bin ein alter Mann und rechne in meinem Alter nicht
mit einer so langen Zukunft, daß ich den Tag erlebe, an dem mein
Enkel standesgemäß heiratet. Kurzum, Ma‘am, wie der große Milton es
formulierte: ‹In mir ist kein Aufschub.¤ Verstehen Sie, was ich
meine?«
Mrs. Sandicott verstand, was sie jedoch leugnete. »Für Ihr Alter
sind Sie in bemerkenswert guter Form, Mr. Flawse«, stellte sie
aufmunternd fest.
»Kann schon sein, aber fest steht, daß die große Gewißheit kommt«,
sagte Mr. Flawse, »und ebenso fest steht, daß mein Enkel ein
Trottel ist, der bald, als mein einziger Erbe, ein reicher Trottel
sein wird.« Er gestattete Mrs. Sandicott, diese Aussicht für eine
Weile auszukosten. »Und als Trottel braucht er eine Frau, die nicht
auf den Kopf gefallen ist.«
Er machte noch eine Pause, und Mrs. Sandicott verkniff sich die
Bemerkung, wenn Jessica schon nicht auf den Kopf gefallen sei, dann
doch zumindest mit dem Kopf gegen eine Wand gelaufen.
»Damit könnten Sie recht haben«, sagte sie.
»Das kann ich und das habe ich«, fuhr Mr. Flawse fort. »Seit eh und
je war es bei den Flawses Brauch, Ma‘am, uns die Mütter näher
anzusehen, wenn wir unsere Frauen auswählten, und ich bekenne ganz
offen, daß Sie in geschäftlichen Dingen einiges auf dem Kasten
haben, Mrs. Sandicott, Ma‘am.«
»Das ist aber wirklich zu nett von Ihnen, Mr. Flawse«, flötete Mrs.
Sandicott, »seit dem Tod meines armen Gatten mußte ich nämlich die
Brötchen verdienen. Sandicott & Partner sind konzessionierte
Buchprüfer, und mir obliegt die Geschäftsführung.«
»Eben«, sagte Mr. Flawse. »Ich habe einen Riecher für solche Dinge,
und zu wissen, daß mein Enkel in guten Händen ist, wäre mir ein
Trost.« Er brach ab. Mrs. Sandicott harrte
erwartungsvoll.
»Und an welche Hände dachten Sie dabei, Mr. Flawse?« fragte sie
endlich, aber Mr. Flawse hatte beschlossen, es sei an der Zeit, so
zu tun, als sei er eingeschlafen. Die Nase über der Decke, die
Augen geschlossen, schnarchte er leise. Er hatte den Köder
ausgelegt. Es war sinnlos, die Falle zu bewachen, und alsbald stahl
Mrs. Sandicott sich leise und mit gemischten Gefühlen davon.
Einerseits hatte sie diese Kreuzfahrt nicht angetreten, um einen
Ehemann für ihre Tochter zu finden, sondern um einen loszuwerden.
Andererseits war Mr. Flawse, wenn man seinen Worten glauben konnte,
auf der Suche nach einer Frau für seinen Enkel. Einen unwirklichen
Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, Lockhart für sich zu
reklamieren, verwarf ihn aber sofort wieder. Jessica oder keine
hieß die Devise, und der Verlust Jessicas bedeutete den Verlust der
Mieteinnahmen aus den zwölf Häusern am Sandicott Crescent. Hätte
der alte Narr ihr einen Antrag gemacht, sähe die Sache schon anders
aus.
»Zwei Fliegen mit einer Klappe«, murmelte sie vor sich hin, als sie
an den doppelten Streich dachte. Die Sache war es wert, sorgfältig
geplant zu werden. Und so machte Mrs. Sandicott es sich in einer
Ecke des Erste-Klasse-Salons bequem und stellte Überlegungen an,
während die beiden Frischverliebten über das Sonnendeck tollten.
Durch das Fenster konnte sie Mr. Flawses deckenumhüllte, in dem
Liegestuhl ruhende Gestalt im Auge behalten. Gelegentlich zuckten
seine alternden Knie. Mr. Flawse hatte sich den sexuellen Exzessen
seiner Phantasie hingegeben, die sein nonkonformistisches Gewissen
heimsuchten, und in denen zum ersten Mal Mrs. Sandicott eine
Hauptrolle spielte.