Kapitel 17
Diesen ganzen Tag sowie den nächsten und
übernächsten war Mr. Taglioni mit seiner grausigen Arbeit
beschäftigt, während Lockhart kochte und Mr. Dodd in seinem Bett
saß und mißmutig auf die Gurkenbeete starrte. In ihrem Schlafzimmer
hatte Mrs. Flawse die Nase gestrichen voll von der Stimme ihres
vermaledeiten Gatten, die von der anderen Seite der Treppe
pausenlos über Himmel und Hölle, Schuld, Sünde und Verdammnis
salbaderte. Wenn der alte Trottel gestorben wäre oder sich
wenigstens nicht dauernd wiederholte, hätte es ihr ja nichts
ausgemacht, aber er nörgelte ununterbrochen weiter und immer
weiter, und in der dritten Nacht war Mrs. Flawse willens, Schnee,
Eisregen, Sturm und sogar Höhen zu trotzen, um zu fliehen. Sie band
ihre Bettlaken aneinander, riß ihre Decken in Streifen und knotete
diese an die Laken und die Laken ans Bett, bis sie schließlich in
ihren wärmsten Kleidern aus dem Fenster stieg und eher auf den
Boden rutschte als kletterte. Es war eine finstere Nacht, der
Schnee schmolz, und vor dem schwarzen Hintergrund aus Matsch und
Moor war sie unsichtbar. Sie schlidderte die Auffahrt hinunter auf
die Brücke zu, hatte diese gerade überquert und versuchte, das Tor
zu öffnen, als sie das Geräusch hörte, mit dem Flawse Hall sie
begrüßt hatte: Hundegebell. Die Meute war noch im Hof, doch in Mrs.
Flawses Schlafzimmerfenster brannte Licht, was bei ihrem Aufbruch
nicht der Fall gewesen war.
Sie wandte sich vom Tor ab und lief, oder besser gesagt stolperte
in dem verzweifelten Versuch, die Hügel am Tunnel zu erreichen, den
Graben entlang, als sie das Quietschen des hölzernen Tores zum Hof
und das lautere Kläffen der Hunde hörte. Die Flawse-Meute hatte
wieder einmal eine Fährte aufgenommen. Mrs. Flawse floh weiter in
die Dunkelheit, stolperte und fiel, stolperte wieder, und diesmal
fiel sie in den Graben. Das Wasser war nicht tief, doch überaus
kalt. Bei dem Versuch, das andere Ufer zu erklettern, rutschte sie
ab, gab auf und watete im knietiefen eisigen Wasser auf den dunklen
Umriß des Hügels und das noch dunklere Loch des großen Tunnels zu.
Bei jedem unsicheren Schritt, den sie machte, ragte es größer und
furchteinflößender vor ihr auf. Mrs. Flawse zögerte. Das schwarze
Loch vor ihr erzählte vom Hades, die bellende Meute hinter ihr von
Pluto, und zwar nicht von einer spaßigen Cartoonfigur aus
Disneyland, sondern von dem schrecklichen Gott der Unterwelt, vor
dessen dem Mammon geweihten Altar sie ohne es zu wissen gebetet
hatte. Mrs. Flawse war zwar keine gebildete Frau, wußte aber, daß
sie zwischen dem Teufel und œ über den Umweg der von den
Wasserwerken der Region Gateshead und Newcastle belieferten
Wasserhähne, Toiletten und Ausgüsse œ dem Beelzebub namens Ozean
wählen konnte. Doch als sie zögerte, blieben die kläffenden Hunde
abrupt stehen, und vor dem Himmel hoben sich die Umrisse einer auf
einem Pferd sitzenden Gestalt ab, die mit einer Peitsche
knallte.
»Zurück, ihr Mistviecher«, rief Lockhart, »zurück in eure Zwinger,
ihr höllisches Raubzeug!«
Vom Wind getragen, erreichte seine Stimme Mrs. Flawse, die
ausnahmsweise einmal dankbar war, daß es ihren Schwiegersohn gab.
Gleich darauf wurde sie eines Besseren belehrt. Im gleichen
Tonfall, mit dem er auf die Hunde eingeschimpft hatte, verfluchte
Lockhart Mr. Dodd wegen seiner Dummheit.
»Hast du das Testament vergessen, du verdammter Trottel?« fuhr er
ihn an. »Soll das alte Miststück doch den Umkreis des Anwesens
ruhig um eine Meile verlassen, dann verliert sie das Erbe. Soll sie
doch verschwinden und verflucht sein.«
»Das war mir entfallen«, gab Mr. Dodd zerknirscht zu und wendete
sein Pferd, um hinter der Meute her nach Flawse Hall zu reiten,
während Lockhart ihnen folgte. Mrs. Flawse zögerte nicht länger.
Sie hatte ebenfalls die entsprechende Testamentsklausel vergessen.
Mitnichten würde sie verschwinden und verflucht sein. Mit letzter
Kraft krabbelte sie aus dem Graben und wankte zum Herrenhaus
zurück. Dort angekommen, fehlte ihr die Kraft, über die Laken in
ihr Schlafzimmer hinaufzuklettern, daher probierte sie es an der
Tür. Diese war unverschlossen. Sie ging hinein und stand zitternd
im Dunkeln. Die Küchentür stand offen, und unter der Kellertür sah
sie einen Lichtstrahl. Mrs. Flawse brauchte einen Drink, etwas
Starkes, um ihre Lebensgeister zu wecken. Leise ging sie zur
Kellertür und öffnete sie. Gleich darauf gellten ihre Schreie durch
das Haus, denn dort saß vor ihren eigenen Augen, nackt und mit
einer mächtigen Naht von der Leiste bis zur Kehle, der alte Mr.
Flawse auf einem blutverschmierten bloßen Holztisch, und seine
Augen waren die eines Tigers. Hinter ihm stand Mr. Taglioni mit
einem Stück Watte, das er, eine Melodie aus Der Barbier von Sevilla
pfeifend, ihrem Gatten in die Hirnschale zu stopfen schien. Ein
Blick war genug, und nach dem Geschrei wurde Mrs. Flawse
ohnmächtig. Lockhart trug die wirres Zeug brabbelnde Frau in ihr
Zimmer zurück, wo er sie aufs Bett legte. Dann zog er die Laken und
Decken hinauf und fesselte seine Schwiegermutter ans
Bettgestell.
»Du wirst nicht mehr beim Lichte des Mondes durch die Gegend
wandern«, sagte er vergnügt, ging hinaus und schloß die Tür. Er
hatte recht. Als Mr. Dodd ihr das Frühstück brachte, starrte sie
mit irrem Blick an die Decke und quasselte vor sich hin.
Unten im Keller quasselte Mr. Taglioni ebenfalls vor sich hin. Mrs.
Flawses hysterischer Ausbruch im Keller hatte ihn endgültig
demoralisiert. Schlimm genug, einen Toten auszustopfen, aber mitten
in der Nacht von einer kreischenden Witwe bei der Arbeit
unterbrochen zu werden, war einfach zuviel.
»Bringen Sie mich nach Hause«, flehte er Lockhart an, »bringen Sie
mich heim.«
»Erst wenn Sie fertig sind«, sagte Lockhart ungerührt. »Er muß
sprechen und die Hände bewegen können.«
Mr. Taglioni schaute zu dem maskenähnlichen Gesicht auf.
»Präparation ist das eine, Marionettenherstellung etwas anderes«,
sagte er. »Sie wollten, daß er ausgestopft wird, jetzt ist er
ausgestopft. Nun auf einmal soll er sprechen können. Was erwarten
Sie eigentlich von mir? Wunder? Da müssen Sie Gott
fragen.«
»Ich frage überhaupt keinen. Ich befehle«, sagte Lockhart und hielt
ihm den kleinen Lautsprecher hin. »Den bauen Sie in, wo sein
Kehlkopf ist ...«
»War«, korrigierte ihn Mr. Taglioni, »ich nix lassen drin.«
»Meinetwegen war«, fuhr Lockhart fort, »und dann will ich diesen
Empfänger in seinem Kopf installiert haben.« Er zeigte den
Miniempfänger Mr. Taglioni, doch der blieb hart.
»Kein Platz. Ganzes Kopf voll Watte.«
»Dann nehmen Sie eben etwas raus, bauen dieses Ding ein und lassen
noch Platz für die Batterien. Und wenn Sie schon mal dabei sind:
Seine Kinnlade soll sich bewegen. Hier habe ich einen Elektromotor.
Sehen Sie, ich zeige Ihnen das Ding.«
Den Vormittag über wurde der verstorbene Mr. Flawse verkabelt, und
als sie fertig waren, konnte man seinen Herzschlag hören, sobald
ein Schalter betätigt wurde. Sogar seine Augen œ mittlerweile die
eines Tigers œ drehten sich im Kopf, wenn man einen Knopf der
Fernbedienung drückte. So ziemlich das einzige, was er nicht
konnte, war gehen oder sich flach hinlegen. Ansonsten hatte er
schon seit geraumer Zeit nicht mehr so gesund ausgesehen, und er
befleißigte sich einer recht klaren Ausdrucksweise.
»In Ordnung«, sagte Lockhart, als sie seine Funktionen überprüft
hatten. »Jetzt können Sie sich einen genehmigen.« »Wer?« fragte der
inzwischen völlig verwirrte Mr. Taglioni.
»Er oder ich?«
»Sie«, sagte Lockhart und ließ ihn mit sich und dem Inhalt des
Weinkellers allein. Oben angekommen, fand er einen ebenfalls
betrunkenen Mr. Dodd vor. Sogar für eine so robuste Seele wie ihn
war die aus dieser schrecklichen Puppe dringende Stimme seines
Herrn zuviel gewesen, und er hatte bereits eine halbe Flasche
seiner northumbrischen Hausmarke intus. Lockhart nahm ihm den
Whisky ab.
»Ich brauche Ihre Hilfe, um den Alten ins Bett zu bringen«, sagte
er, »er ist ein wenig hüftsteif und muß um die Ecken bugsiert
werden.«
Mr. Dodd hatte Bedenken, doch gemeinsam brachten sie den in sein
rotes Flanellnachthemd gekleideten Mr. Flawse schließlich im Bett
unter, wo er saß und den Allmächtigen brüllend aufforderte, seine
Seele zu retten.
»Sie müssen doch zugeben, daß er sehr realistisch wirkt«, sagte
Lockhart. »Ein Jammer, daß wir nicht eher daran gedacht haben,
seine Worte aufzunehmen.«
»Ein viel größerer Jammer, daß wir überhaupt je daran gedacht
haben, sie aufzunehmen«, erklärte Mr. Dodd, blau, wie er war,
»außerdem war mir lieber, seine Kinnlade würde nicht andauernd
hochœ und runterklappen. Man wird unwillkürlich an einen
asthmatischen Goldfisch erinnert.«
»Aber die Augen passen wirklich gut«, sagte Lockhart. »Ich hab sie
von dem Tiger.«
»Das was mir ohnehin klar«, sagte Mr. Dodd und deklamierte
überraschend William Blake. »‹Tiger, Tiger, glutentfacht in den
Dickichten der Nacht. Welchen Gottes Griff und Schau schuf deinen
grausen Unterbau?¤«
»Das war ich«, bekannte Lockhart stolz, »außerdem bekommt er von
mir einen Rollstuhl, damit er sich ohne Hilfe durchs Haus bewegen
kann, und den steuere ich per Fernbedienung. So kommt keiner auf
den Gedanken, daß er nicht mehr lebt, und mir bleibt genug Zeit, um
herauszufinden, ob Mr. Boscombe in Arizona mein Vater
ist.«
»Boscombe? Ein Mr. Boscombe?« sagte Mr. Dodd. »Wie kommst du
darauf, er könnte dein Vater sein?«
»Er hat meiner Mutter jede Menge Briefe geschrieben«, sagte
Lockhart und erklärte, wie er sie bekommen hatte.
»Wenn du hinter dem herläufst, verschwendest du bloß deine Zeit«,
sagte Mr. Dodd. »Miss Deyntry hatte recht. Ich kann mich an das
Männlein erinnern, ein winziges Kerlchen, das deine Modder nie
beachtet hat. Du solltest besser hier inner Gegend die Augen
aufsperren.«
»Ich hab‘ keinen anderen Anhaltspunkt«, sagte Lockhart, »es sei
denn, Sie könnten mir einen Kandidat nennen, der eher in Frage
käme.«
Mr. Dodd schüttelte den Kopf. »Ich verrate dir aber eins: Das olle
Miststück hat Lunte gerochen und weiß, daß der alte Mann tot ist.
Gehst du nach Amerika, wird sie irgendwie das Haus verlassen und
Mr. Bullstrode alarmieren. Du hast ja gesehen, was sie neulich
nachts getan hat. Die Frau ist verzweifelt und gefährlich, und der
Italiener unten ist ein Tatzeuge. Da haste nicht dran
gedacht.«
Lockhart überlegte eine Weile. »Ich wollte ihn zurück nach
Manchester bringen«, sagte er. »Er hat keine Ahnung, wo er gewesen
ist.«
»Aye, aber er kennt sich prima im Haus aus, und unsere Gesichter
hat er auch gesehen«, gab Mr. Dodd zu bedenken, »und wenn das Weib
kreischt, man habe ihn ausgestopft, wird es der Polente nicht
schwer fallen, zwei und zwei zusammenzuzählen. «
Unten im Keller hatte Mr. Taglioni mehr als zwei und zwei
zusammengegossen und soff sich mit altem Portwein um den Verstand.
Umgeben von leeren Flaschen, saß er da und verkündete lallend, er
sei der beste Stopfer der Welt.
Normalerweise verwendete er dieses Wort nicht, aber so komplizierte
Fremdwörter wie Präparator bewältigte seine Zunge nicht
mehr.
»Da prahlt und plappert er wieder«, sagte Mr. Dodd, als er mit
Lockhart auf der obersten Kellertreppe stand, »der beste Stopfer
der Welt, was er nicht sagt. Für meinen Geschmack hat dieses Wort
zu viele Bedeutungen.«
Mrs. Flawse teilte seine Abneigung. Ans Bett gebunden, auf dem sie
von ihrem verstorbenen, ausgestopften Mann gestopft worden war,
jagte ihr Mr. Taglionis Kunstfertigkeit kalte Schauer über den
Rücken. Mr. Flawse war auch keine Hilfe. Mr. Dodd hatte eine
»Familiengeschichte, Erkenntnisse beim Studium der« betitelte
Kassette eingelegt, die kaum am Ende angelangt war, als sie sich
dank Lockharts elektronischer Erfindungsgabe zurückspulte und ihre
Erkenntnisse ad nauseam wiederholte. Da das Band fünfundvierzig
Minuten Spieldauer hatte und drei fürs Zurückspulen brauchte, wurde
Mrs. Flawse von unten Mr. Taglionis besoffenen Prahlereien
ausgesetzt, aus dem gegenüberliegenden Schlafzimmer dagegen
endlosen Wiederholungen der Moritat von Henker Flawse, wie Bischof
Flawse auf den Scheiterhaufen ging, sowie einem Vortrag des Liedes,
das Minnesänger Flawse unter dem Galgen von sich gegeben hatte.
Letzteres ging ihr am meisten an die Nieren.
»Ich weiß nicht wo meine Organe sind
Wenn ich im Bette lieg ich Tropf
Also hängt mich lieber verkehrt auf geschwind
Statt an meinem leeren Kopf.«
Die erste Strophe war schlimm genug, doch dann kam es noch
schlimmer. Als Mrs. Flawse den alten Mann scheinbar fünfzehn Mal
hatte fordern hören, daß man Sir Oswald seinen Arsch aufstemmen und
ihm seinen Schwanz zurückbringen solle, weil er Oswalds Tod kaum
erwarten könne, damit er endlich zum Pissen käme, ging es ihr kaum
anders. Nicht, daß sie einen Schwanz haben wollte, aber sie konnte
nicht mehr lange warten, weil sie pissen mußte. Und den ganzen Tag
über saßen Lockhart und Mr. Dodd außer Hörweite in der Küche und
beratschlagten hin und her.
»Wir können den Südländer nicht laufenlassen«, sagte Mr. Dodd. »Es
wäre besser, ihn ein für allemal loszuwerden.«
Doch Lockhart dachte praktischer. Mr. Taglionis wiederholtes
Prahlen, er sei der beste Stopfer der Welt, und die Zweideutigkeit
dieser Bemerkung gaben ihm Zeit und Stoff zum Nachdenken. Mr. Dodds
Verhalten war ebenfalls eigenartig. Daß er hartnäckig bestritt, Mr.
Boscombe in Dry Bones sei Miss Flawses Liebhaber und Lockhans Vater
gewesen, hatte ihn überzeugt. Wenn Mr. Dodd etwas sagte, stimmte es
unweigerlich. Jedenfalls belog er Lockhart nicht œ oder hatte es
bisher nicht getan. Und nun behauptete er kategorisch, die Briefe
seien keine Hilfe. Davor hatten ihn Miss Deyntry und die RomaœFrau
gewarnt. »Papier und Tinte werden dir nicht helfen.« Lockhart fand
sich damit zwar ab, doch ohne Mr. Boscombe hatte er keinerlei
Hoffnung, seinen Vater zu finden, bevor der Tod seines Großvaters
bekannt wurde. So gesehen hatte Mr. Dodd recht. Mrs. Flawse wußte
Bescheid und würde erzählen, was sie wußte, sobald sie frei war.
Ihr crescendo anschwellendes Geschrei, das sogar die
Familiengeschichte des alten Mr. Flawse und Mr. Taglionis wirre
Äußerungen übertönte, veranlaßte Lockhart, ihr zu Hilfe zu eilen.
Als er endlich die Schlafzimmertür aufschloß, schrie sie, wenn sie
nicht sofort pinkeln könne, würde sie platzen. Lockhart band sie
los, und sie wankte zum Plumpsklo. Als sie in die Küche zurückkam,
hatte Lockhart eine Entscheidung getroffen.
»Ich habe meinen Vater gefunden«, verkündete er. Mrs. Flawse
starrte ihn angewidert an. »Du bist ein Lügner«, sagte sie, »ein
Lügner und Mörder. Ich habe gesehen, was du mit deinem Großvater
hast machen lassen, und glaub‘ ja nicht ...«
Das tat Lockhart nicht. Er und Mr. Dodd zerrten Mrs. Flawse in ihr
Zimmer und banden sie erneut ans Bett. Diesmal verpaßten sie ihr
einen Knebel.
»Ich hab‘s dir doch gesagt, die olle Hexe weiß zuviel«, sagte Mr.
Dodd, »und da sie fürs Geld gelebt hat, wird sie nicht ohne welches
sterben, da kannste ihr noch soviel drohen.«
»Dann müssen wir ihr eben zuvorkommen«, sagte Lockhart und ging in
den Keller. Mr. Taglioni, soeben bei seiner fünften Flasche
angelangt, musterte ihn verschwommen aus blutunterlaufen
Augen.
»Bester Präp ... Stopfer von Welt. Ich«, gurgelte er, »Fuchs,
Flalke, Flasan œ sagen Sie‘s mir, ich stopfe es aus. Und jetzt hab
ich ”n Mann gestopft. Was sagste dazu?«
»Daddy«, sagte Lockhart und legte den Arm zärtlich um Mr. Taglionis
Schultern, »mein geliebter Daddy.«
»Daddy? Wessen verfluchter Daddy?« sagte Mr. Taglioni, zu
betrunken, um die ihm zugewiesene neue Rolle zu würdigen. Lockhart
half ihm auf die Beine und die Treppe hinauf. In der Küche stand
Mr. Dodd am Herd und kochte Kaffee. Lockhart lehnte den Präparator
gegen die Rückenlehne der Sitzbank, wo dieser versuchte, seinen
Blick auf diese neue, um ihn kreisende Umgebung zu richten. Es
brauchte eine Stunde, einen halben Liter Kaffee und jede Menge
Eintopf, um ihn auszunüchtern. Und die ganze Zeit über bestand
Lockhart darauf, ihn Daddy zu nennen. Wenn es noch etwas gebraucht
hätte, um den Italiener zu zermürben, so war es dies.
»Ich bin nicht Ihr verfluchter Daddy«, sagte er, »ich habe keine
Ahnung, wovon Sie reden.«
Lockhart erhob sich, ging in das Arbeitszimmer seines Großvaters
und schloß den hinter Surtees gesammelten Werken verborgenen Tresor
auf. Als er zurückkam, hatte er einen waschledernen Beutel dabei.
Er bedeutete Mr. Taglioni, er möge an den Tisch treten, und leerte
dann vor ihm den Inhalt des Beutels aus. Tausend Goldsovereigns
bedeckten die gescheuerte Kiefernholzplatte. Mr. Taglioni glotzte
sie mit offenem Mund an.
»Was soll das viele Geld da?« fragte er. Er nahm einen Sovereign
und betastete ihn. »Gold. Pures Gold.«
»Und alles für dich, Daddy«, sagte Lockhart.
Diesmal ließ Mr. Taglioni sich das Wort gefallen. »Für mich? Sie
bezahlen mit Gold, weil ich einen Menschen ausgestopft
habe?«
Aber Lockhart schüttelte den Kopf. »Nein, Daddy, etwas anderes.«
»Was?« erkundigte sich der Präparator mißtrauisch.
»Daß du mein Vater bist«, sagte Lockhart. Mr. Taglionis Augen
drehten sich beinahe so ungläubig in seinem Kopf wie die des Tigers
im Kopf des Alten.
»Ihr Vater?« keuchte er. »Sie wollen, daß ich Ihr Vater bin? Warum
soll ich denn Ihr Vater sein? Sie haben doch bestimmt schon
einen.«
»Ich bin ein Bastard«, sagte Lockhart, doch das wußte Mr. Taglioni
bereits. »Sogar ein Bastard muß einen Vater haben. War Ihre Mutter
Jungfrau?«
»Lassen Sie meine Mutter aus dem Spiel«, sagte Lockhart, und Mr.
Dodd schob einen Schürhaken in das grelle Feuer des Küchenherdes.
Als er eine rotglühende Farbe angenommen hatte, war in Mr. Taglioni
ein Entschluß gereift. Lockharts Alternativen ließen ihm kaum eine
Wahl.
»Also gut, ich bin einverstanden. Ich sage diesem Mr. Bullstrode,
ich sei Ihr Vater. Ich habe nichts dagegen. Sie bezahlen mir das
Geld. Von mir aus geht das in Ordnung. Was immer Sie
sagen.«
Lockhart sagte noch viel mehr. Es hatte mit der Gefängnisstrafe zu
tun, die man wahrscheinlich über einen Tierpräparator verhängen
würde, der einen alten Mann ausgestopft hatte, nachdem er ihn
vorher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wegen der
Tausend Goldsovereigns in seinem Tresor umgebracht hatte.
»Ich habe niemanden umgebracht«, ereiferte sich Mr. Taglioni, »das
wissen Sie. Er war schon tot, als ich hier ankam.«
»Beweisen Sie‘s«, sagte Lockhart. »Wo sind seine inneren Organe,
die von einem Polizeichirurgen und Gerichtsmediziner untersucht
werden müssen, damit man den Todeszeitpunkt bestimmen
kann?«
»In den Gurkenbeeten«, rutschte es Mr. Dodd heraus, ein Umstand,
der ihn belastete.
»Vergessen Sie das«, sagte Lockhart, »es kommt darauf an, daß Sie
nie und nimmer beweisen können, meinen Großvater nicht getötet und
es nicht auf sein Geld abgesehen zu haben. Außerdem mögen wir in
dieser Gegend keine Ausländer. Die Jury wäre gegen Sie
voreingenommen.«
Das erschien auch Mr. Taglioni wahrscheinlich. Irgendwie schien
sich zur Zeit alles gegen ihn verschworen zu haben.
»Also gut, na schön. Ich sage, was Sie von mir verlangen«, sagte
er, »und dann kann ich mit dem vielen Geld verschwinden.
Stimmt‘s?«
»Stimmt«, sagte Lockhart, »ich geben Ihnen mein Wort als
Gentleman.«
Am selben Abend ging Mr. Dodd nach Black Pockrington und fuhr,
nachdem er Miss Deyntrys Auto aus dem alten Kalkbrennofen geholt
hatte, nach Hexham, um Mr. Bullstrode mitzuteilen, er und Dr.
Magrew müßten am nächsten Tag ins Herrenhaus kommen, um die
beeidete Aussage von Lockharts Vater zu bezeugen, daß dieser für
Miss Flawses Schwangerschaft verantwortlich sei. Anschließend
brachte er das Auto nach Divit Hall zurück.
Lockhart und Mr. Taglioni saßen in der Küche, wo der Italiener mit
dem Auswendiglernen seiner Aussage zu kämpfen hatte. Oben kämpfte
Mrs. Flawse mit ihren Fesseln. Sie war zu dem Entschluß gekommen,
daß nichts, nicht einmal die Aussicht auf ein Vermögen, sie dazu
bewegen konnte, liegen zu bleiben und auf ein ähnliches Schicksal
wie das ihres Mannes zu warten. Sie würde sich unter allen
Umständen aus dem Bett befreien und aus dem Herrenhaus
verflüchtigen, und nicht einmal die Vorstellung, von der
Flawse-Meute verfolgt zu werden, konnte sie an ihren Fluchtplänen
hindern. Da sie sich wegen des Knebels nicht stimmlich ausdrücken
konnte, konzentrierte sie sich auf die Stricke, mit denen sie an
das eiserne Bettgestell gebunden war. Sie schob ihre Hände immer
wieder nach unten und zog sie hoch, und zwar mit einer Ausdauer,
die Rückschlüsse auf ihre Angst zuließ.
In Hexham versuchte Mr. Bullstrode beharrlich, Dr. Magrew zu
überreden, am nächsten Morgen mit ihm nach Flawse Hall zu fahren.
Dr. Magrew war nicht leicht zu bewegen. Sein letzter Besuch hatte
eine erstaunlich abschreckende Wirkung auf ihn ausgeübt.
»Bullstrode«, sagte er, »in meiner Eigenschaft als Arzt fällt es
mir nicht leicht, die vertraulichen Mitteilungen eines Mannes zu
enthüllen, den ich seit so vielen Jahren kenne und der in diesem
Augenblick höchstwahrscheinlich auf dem Totenbett liegt, aber ich
muß Ihnen sagen, daß der alte Edwin ein paar grobe Bemerkungen über
Sie fallenließ, als ich ihn zuletzt hörte.«
»Und wenn schon«, sagte Mr. Bullstrode. »Er hat bestimmt deliriert.
Auf das Gewäsch eines senilen alten Mannes sollte man nichts
geben.«
»Wie wahr«, sagte Dr. Magrew, »doch einige seiner Kommentare
entbehrten nicht einer gewissen Präzision, die meines Erachtens
keineswegs auf Senilität schließen läßt.«
»Als da wären?« sagte Mr. Bullstrode, doch Dr. Magrew rückte nicht
mit der Sprache heraus. »Ich wiederhole keine Beleidigungen«, sagte
er, »und ich habe nicht vor, ins Herrenhaus zurückzukehren, ehe
Edwin tot oder bereit ist, sich bei Ihnen zu
entschuldigen.«
Mr. Bullstrode vertrat einen philosophischeren und finanziell
einträglicheren Standpunkt. »Sie als sein Hausarzt wissen bestimmt
am besten, was zu tun ist«, sagte er, »ich für mein Teil jedoch
habe nicht vor, auf mein Honorar als sein Anwalt zu verzichten,
zumal das Erbe umfangreich ist und die Abwicklung eine aufwendige
Angelegenheit wird. Außerdem ist das Testament zweideutig genug, um
Raum für einen Rechtsstreit zu lassen. Wenn Lockhart seinen Vater
gefunden hat, bezweifle ich stark, daß Mrs. Flawse dies nicht
anfechten wird, und bei einem solchen längeren Gerichtsverfahren
fiele ein Profit von beträchtlicher Höhe ab. Es wäre töricht, Edwin
nach so vielen Jahren freundschaftlicher Verbundenheit in der
Stunde der Not im Stich zu lassen.«
»Auf Ihre Verantwortung«, sagte Dr. Magrew. »Ich komme mit, aber
ich warne Sie. Im Herrenhaus gehen merkwürdige Dinge vor, die mir
ganz und gar nicht gefallen.«