Kapitel 1

 

Man könnte mit Fug und Recht behaupten, daß Lockhart Flawse, als er seine Braut Jessica, geborene Sandicott, über die Türschwelle des Hauses 12 Sandicott Crescent in East Pursley, Grafschaft Surrey, trug, ebenso unvorbereitet in den Stand der Ehe mit all seinen Gefahren und glücklichen Momenten trat, wie er am Montag, den 6. September 1965 um fünf nach sieben die Welt betreten hatte, wodurch er seiner Mutter das Lebenslicht ausblies. Da Miss Flawse sich trotz der Brennesseln, aus denen ihr Totenbett bestand, standhaft geweigert hatte, den Namen seines Vaters zu nennen, und die Stunde seiner Entbindung und ihres Dahinscheidens damit verbrachte, abwechselnd zu heulen und »Großer Scott!« zu schreien, hatte sich sein Großvater darin gefallen, das Neugeborene nach dem Biographen des großen Walter Scott zu nennen und es Lockhart, unter beträchtlicher Gefährdung seines eigenen Rufes, zu gestatten, fürs erste den Nachnamen Flawse anzunehmen.
Von da an hatte Lockhart nichts mehr annehmen dürfen, nicht einmal eine Geburtsurkunde, wofür der alte Mr. Flawse gesorgt hatte. Wenn seine Tochter schon so bar jeder gesellschaftlichen Diskretion war, daß sie bei der Jungfuchsjagd unter einer Bruchsteinmauer einem Bastard das Leben schenkte, nachdem ihr Pferd, vernünftiger als sie, an eben dieser Bruchsteinmauer verweigert hatte, wollte Mr. Flawse wenigstens sicherstellen, daß sein Enkel ohne die Schwächen seiner Mutter aufwuchs. Dies war ihm gelungen. Mit achtzehn wußte Lockhart so wenig über Sex, wie seine Mutter von Verhütung gewußt hatte oder hatte wissen wollen. Er hatte sein Leben unter der Obhut mehrerer Haushälterinnen und später eines halben Dutzends Hauslehrer verbracht, erstere danach ausgewählt, ob sie willens waren, Kost und Logis des alten Mr. Flawse zu ertragen, letztere nach ihrer Weltfremdheit.
Alldieweil Flawse Hall auf der Flawse-Hochebene unterhalb der Flawse-Hügel und somit um die dreißig Kilometer von der nächsten menschlichen Siedlung entfernt in der trostlosesten Moorlandschaft nördlich des Römerwalls lag, hielten es nur die verzweifeltesten Haushälterinnen und die weltfremdesten Hauslehrer längere Zeit dort aus. Doch nicht allein die Unbilden der Natur schreckten. Mr. Flawse war äußerst reizbar, und der Reihe von Hauslehrern, die Lockhart ein äußerst dürftiges Allgemeinwissen vermittelt hatten, war dies nur unter der ausdrücklichen Bedingung gestattet worden, bei den Sprachen des Altertums ohne Ovid auszukommen und auf jegliche Literatur zu verzichten. Sie sollten Lockhart in den alten Mannestugenden und der Mathematik unterrichten. Mr. Flawse hielt besonders große Stücke auf Mathematik und glaubte ebenso inbrünstig an Zahlen, wie seine Vorfahren an Prädestination und Viehdiebstahl geglaubt hatten. Seiner Meinung nach stellten sie den soliden Grundstock einer Karriere in der Wirtschaft dar und waren ebenso bar aller deutlich sexuellen Anspielungen, wie die Formen seiner Haushälterinnen. Da Hauslehrer, und vor allem weltfremde Hauslehrer, nur selten sowohl Kenntnisse der Mathematik als auch der Sprachen des Altertums aufwiesen, verlief Lockharts Erziehung sprunghaft, war aber dennoch gründlich genug, um jeden Versuch örtlicher Behörden scheitern zu lassen, ihn auf öffentliche Kosten mit einer orthodoxeren Schulbildung auszustatten. Die Schulinspektoren, die sich nach Flawse Hall wagten, um Beweise für Lockharts unzulängliche Bildung zu finden, verblüffte seine Schmalspurgelehrsamkeit. Sie waren keine Knäblein gewohnt, die ihre neunzehn lateinischen Konjugationstabellen aus dem Stegreif hersagen oder das Alte Testament auf Urdu lesen konnten. Des weiteren waren sie es nicht gewohnt, Prüfungen in Gegenwart eines alten Mannes abzuhalten, der augenscheinlich mit dem Abzug eines demonstrativ geladenen und zerstreut in ihre Richtung deutenden Gewehrs herumspielte. Unter diesen Umständen kamen sie zu dem Schluß, daß Lockhart Flawse zwar kaum in sicheren, dafür aber bildungsmäßig in exzellenten Händen sei, und daß man sich durch den Versuch, ihn in öffentliche Obhut zu nehmen, höchstwahrscheinlich nichts einhandeln würde als eine Ladung Schrot, und so dachten auch seine Hauslehrer, die von Jahr zu Jahr seltener kamen.
Mr. Flawse kompensierte ihre Abwesenheit, indem er Lockhart selbst unterrichtete. Er hatte 1887 das Licht der Welt erblickt, zur Blütezeit des britischen Weltreichs, und hielt immer noch die Dogmen hoch, die während seiner Jugend im Umlauf waren. Die Briten waren die herausragendsten Lebewesen, die Gott und Natur je geschaffen hatten, das Empire immer noch das größte Weltreich, das es je gegeben hatte. In Calais fingen die Kaffern an, und Sex war zwar zwecks Fortpflanzung notwendig, aber ansonsten tabu und generell ekelhaft. Daß es seit geraumer Zeit kein Empire mehr gab und die Kaffern schon lange nicht mehr in Calais anfingen, sondern den Spieß umgekehrt hatten und zahlreich in Dover landeten, wurde von Mr. Flawse ignoriert. Er abonnierte keine Zeitung und nahm den Umstand, daß es in Flawse Hall keine Elektrizität gab, zum Vorwand, kein Transistorradio im Haus zu dulden, geschweige denn ein Fernsehgerät. Sex hingegen konnte er nicht ignorieren. Noch mit neunzig nagten seiner Exzesse wegen Schuldgefühle an ihm, und daß diese sich, ähnlich wie das Empire, weitgehend aus der Realität in die Phantasie verflüchtigt hatten, machte die Angelegenheit nur noch schlimmer. Im Geiste blieb Mr. Flawse ein lasterhafter Mensch, der eine rigorose Lebensweise beibehielt, bestehend aus kalten Bädern und langen Spaziergängen, um den Körper abzuhärten und die Seele zu kasteien. Außerdem ging er Jagen, Fischen und Schießen und ermunterte seinen unehelichen Enkel eindringlich, diese gesunden Freiluftbetätigungen auszuüben, bis Lockhart mit einem 303er Lee-Enfield-Gewehr aus dem 1. Weltkrieg einen laufenden Hasen auf 450 Meter und mit einer 22er ein Moorhuhn auf hundert erlegte. Mit siebzehn hatte Lockhart die Fauna der Flawse-Hochebene und die Fische im Fluß North Teen bereits soweit dezimiert, daß es selbst den Füchsen, denen der relativ schmerzlose Tod durch Gewehrschuß mit Bedacht erspart blieb, damit sie von Jagdhunden gehetzt und in Stücke gerissen wurden, schwerfiel, über die Runden zu kommen, so daß sie lieber ihre Zelte abbrachen und sich in weniger aufreibende Moorgebiete verzogen. Weitestgehend war es auf diese Abwanderung zurückzuführen, die zeitlich mit der Abreise seiner letzten und begehrenswertesten Haushälterin zusammenfiel, daß der alte Mr. Flawse, als er zu sehr der Portweinflasche und der literarischen Gesellschaft Carlyles zugesprochen hatte, von seinem Hausarzt Dr. Magrew den Rat bekam, eine Urlaubsreise zu unternehmen. Unterstützung fand der Arzt bei Mr. Flawses Rechtsanwalt Mr. Bullstrode auf einer der monatlichen Abendgesellschaften, die der alte Mann seit dreißig Jahren gab, und die ihm als Forum für lautstarke Dispute über Fragen ewiger, metaphysischer, biologischer und allgemein beleidigender Natur dienten. Diese Dinners waren sein Ersatz für den Kirchenbesuch, die anschließenden Streitgespräche für ihn eine Art Ersatzreligion.
»Verflucht will ich sein, wenn ich so was mache«, hatte er festgestellt, als Dr. Magrew zum erstenmal das Gespräch auf eine Reise brachte. »Und der Trottel, der behauptet hat, nichts gehe über eine Luftveränderung, lebte nicht in diesem finsteren Jahrhundert.«
Dr. Magrew genehmigte sich noch etwas Port. »Ohne Haushälterin und in Ihrem ungeheizten Haus können Sie nicht erwarten, noch einen Winter zu überleben.«
»Dodd und der Bastard kümmern sich um mich. Und das Haus ist nicht ungeheizt. Im Stollen von Slimeburn liegt Kohle, die Dodd fördert. Der Bastard übernimmt das Kochen.«
»Da wir gerade beim Thema sind«, sagte Dr. Magrew, der den Verdacht hegte, daß Lockhart ihr Abendessen gekocht hatte, »Ihre Verdauung wird die Belastung nicht aushalten, und Sie können nicht erwarten, den Jungen ewig hier oben einzupferchen. Es wird Zeit, daß er etwas von der Welt sieht.«
»Erst muß ich herausfinden, wer sein Vater ist«, polterte Mr. Flawse los. »Und sobald ich es weiß, werde ich das Schwein bis auf einen Zoll an sein Leben peitschen.«
»Wenn Sie nicht auf uns hören, werden Sie niemanden mehr auspeitschen können«, konstatierte Dr. Magrew. »Meinen Sie nicht auch, Bullstrode?«
»Als Ihr Freund und Rechtsberater«, erklärte der im Kerzenlicht glühende Mr. Bullstrode, »muß ich sagen, daß ich das vorzeitige Ende dieser angenehmen Zusammenkünfte aufgrund einer halsstarrigen Mißachtung klimatischer Gegebenheiten sowie unseres Rates bedauern würde. Sie sind kein junger Mann mehr, und die Frage Ihres Testaments ...«
»Scheiß auf mein Testament, Sir«, sagte der alte Mr. Flawse. »Wenn ich weiß, wem ich mein Geld vermache, setze ich ein Testament auf, vorher nicht. Und wie lautet der Rat, den Sie so bereitwillig anbieten?«
»Unternehmen Sie eine Kreuzfahrt«, sagte Mr. Bullstrode, »in irgendeine heiße, sonnige Gegend. Das Essen soll hervorragend sein.«
Mr. Flawse starrte in die Tiefen seiner Karaffe und dachte über den Vorschlag nach. Am Rat seiner Freunde war etwas dran, außerdem hatten sich in letzter Zeit etliche Pächter beschwert, Lockhart habe sich mangels leichtfüßiger Jagdbeute inzwischen angewöhnt, Schafe auf dreizehnhundert Meter Entfernung abzuknallen, Beschwerden, die Lockharts Menüs untermauerten. Für Mr. Flawses Verdauung und Gewissen hatten sie in letzter Zeit etwas zu oft nicht durchgebratenen Hammel gegessen, zudem war Lockhart achtzehn, und es wurde Zeit, daß er den Knaben unter die Haube brachte, bevor der irgendwen unter die Erde brachte. Wie zur Untermalung dieser Überlegungen hörte man aus der Küche Mr. Dodds northumbrischen Dudelsack eine melancholische Weise spielen, während Lockhart ihm gegenübersaß und lauschte, so wie er Mr. Dodds Erzählungen über die gute alte Zeit und die beste Methode, wie man Fasane wilderte oder Forellen kitzelte, zu lauschen pflegte.
»Ich werde es mir überlegen«, versprach Mr. Flawse schließlich.
In dieser Nacht half heftiger Schneefall bei seiner Entscheidung nach, und als Dr. Magrew und Mr. Bullstrode zum Frühstück nach unten kamen, fanden sie ihn in einer zugänglicheren Laune vor.
»Ich überlasse Ihnen die Vorbereitungen, Bullstrode«, sagte er, als er seinen Kaffee getrunken und eine geschwärzte Pfeife angezündet hatte. »Und der Bastard kommt mit.«
»Um einen Paß zu kriegen, braucht er eine Geburtsurkunde«, sagte der Rechtsanwalt, »außerdem ...«
»In einem Graben geboren, in einem Kanal wird er sterben. Ich lasse ihn erst registrieren, wenn ich weiß, wer sein Vater ist«, knurrte Mr. Flawse.
»Durchaus«, bemerkte Mr. Bullstrode, der das Thema Auspeitschen so früh am Morgen vermeiden wollte. »Ich schätze, man kann ihn in Ihren Paß eintragen lassen.«
»Nicht als sein Vater«, fauchte Mr. Flawse, dessen Gefühle für seinen Enkel sich in ihrem Ausmaß teilweise durch seinen schrecklichen Verdacht erklärten, daß er persönlich möglicherweise nicht bar jeder Verantwortung für Lockharts Zeugung sein könnte. Die Erinnerung an eine trunkene Begegnung mit einer Haushälterin, die, wenn er es recht bedachte, nicht nur jünger, sondern auch widerspenstiger gewesen war, als ihr Aussehen ihn tagsüber hatte erwarten lassen, bereitete ihm immer noch Gewissensqualen. »Nicht als sein Vater.«
»Als sein Großvater«, sagte Mr. Bullstrode. »Dafür brauche ich ein Foto.«
Mr. Flawse begab sich in sein Arbeitszimmer, wühlte in einer Schreibtischschublade herum und kam mit einem Schnappschuß zurück, auf dem ein zehn Jahre alter Lockhart zu sehen war. Mr. Bullstrode musterte es zweifelnd.
»Er hat sich seitdem stark verändert«, sagte er.
»Nicht daß ich wüßte«, sagte Mr. Flawse, »und wenn es einer weiß, dann ich. Er war schon immer ein dussliger Knilch.« »Wie wahr, und zwar einer, den es praktisch gar nicht gibt«, sagte Dr. Magrew. »Wie Sie wissen, ist er nicht bei der staatlichen Krankenversicherung registriert, und falls er jemals erkranken sollte, wird er es sicherlich schwer haben, überhaupt behandelt zu werden.« »Der ist in seinem ganzen Leben noch nicht einen Tag krank gewesen«, entgegnete Mr. Flawse. »Ein gesünderes Ekel findet sich schwerlich.« »Er könnte einen Unfall haben«, gab Mr. Bullstrode zu bedenken. Doch der alte Mann schüttelte nur den Kopf. »Zu schön, um wahr zu sein. Dodd hat ihm beigebracht, wie man sich in einem Notfall verhält. Sie kennen doch bestimmt das Sprichwort, daß ein Wilderer den besten Wildhüter abgibt?« Mr. Bullstrode und Dr. Magrew kannten es. »Nun, mit Dodd ist es umgekehrt. Er ist ein Wildhüter, der den besten Wilderer abgeben würde«, fuhr Mr. Flawse fort, »und genau das hat er aus dem Bastard gemacht. Wenn der durch die Gegend stromert, ist im Umkreis von dreißig Kilometern keine Kreatur vor ihm sicher.« »Apropos stromern«, sagte Mr. Bullstrode, der als Jurist nicht in Lockharts illegale Unternehmungen eingeweiht sein wollte, »wohin möchten Sie denn reisen?«
»Irgendwohin südlich von Suez«, sagte Mr. Flawse, der sich nicht mehr so gut an Kipling erinnerte wie früher. »Alles weitere überlasse ich Ihnen.«
Drei Wochen später verließen Lockhart und sein Großvater Flawse Hall in der uralten geschlossenen Kutsche, die Mr. Flawse als offizielles Transportmittel benutzte. Wie alles Moderne war ihm auch das Automobil verhaßt. Mr. Dodd saß vorn auf dem Kutschbock, und hinten hatte man den 1910 von Mr. Flawse auf einer Reise nach Kalkutta benutzten Überseekoffer festgezurrt. Als die Pferdehufe über die kiesbedeckte Auffahrt klapperten, hing Lockhart seinen hochgesteckten Erwartungen nach. Dies war seine erste Reise in die Welt der Erinnerungen seines Großvaters und seiner eigenen Phantasie. In Hexham bestiegen sie den Zug nach Newcastle, und in Newcastle stiegen sie um nach London und Southampton. Die ganze Zeit über beschwerte sich Mr. Flawse, die London-North-Eastern-Eisenbahn sei nicht mehr das, was sie vor vierzig Jahren gewesen war, während Lockhart erstaunt entdeckte, daß nicht alle Frauen Damenbärte und Krampfadern hatten. Am Schiff angekommen, war der alte Mr. Flawse derart erschöpft, daß er aus dem Teint zweier Bahnsteigschaffner schloß, er befinde sich bereits in Kalkutta. Nur unter maximalen Schwierigkeiten und nach minimaler Kontrolle seines Passes, schaffte man ihn endlich die Gangway hinauf in seine Kabine.
»Ich werde meine Mahlzeit hier in meiner Luxuskabine einnehmen«, informierte er den Steward. »Der Bursche wird oben zu Abend essen.«
Der Steward sah den »Burschen« an und beschloß, weder zu erwähnen, daß die Kabine nicht gerade luxuriös war, noch daß Abendessen in Kabinen der Vergangenheit angehörten.
»Wir haben einen Burschen von altem Schrot und Korn in Nummer neunzehn«, teilte er anschließend der Stewardeß mit, »und wenn ich alt sage, dann meine ich alt. Würd‘ mich nicht wundern, wenn er schon auf der Titanic mitgefahren wäre.«
»Ich dachte, die sind alle ertrunken«, sagte die Stewardeß aber der Steward wußte es besser. »Von wegen. Dieser alte Knochen ist ein Überlebender, wenn ich je einen gesehen habe, und sein verfluchter Enkel kommt offenbar direkt aus der Arche, und zwar nicht aus der Knuddeltierabteilung.«
Als die Ludlow Castle den Soient hinabfuhr, speiste der alte Mr. Flawse in seiner Luxuskabine, während sich Lockhart, auffällig in Frack und weiße Krawatte gekleidet, die einmal einem größeren Onkel gehört hatten, auf den Weg in den Speisesaal der Ersten Klasse begab, wo man ihn zu einem Tisch führte, an dem bereits Mrs. Sandicott und ihre Tochter Jessica saßen. Von Jessicas Schönheit überwältigt zögerte er einen Augenblick, dann machte er einen Diener und nahm Platz.
Lockhart Flawse hatte sich nicht nur auf den ersten Blick verliebt. Er hatte sich Hals über Kopf verknallt.