Eier, Milch und Butter waren mittlerweile Mangelware und auch der Käsevorrat war fast erschöpft. All das war jedoch für Doktor Noyes’ bevorzugte Kost erforderlich. Und Schwester Hannah brauchte – weil schwanger – sowohl zusätzlich Obst und Gemüse als auch eine Extraportion Milch.
Zuerst wurde Schwester Hannah mit einer Einkaufsliste hinuntergeschickt, um diese Lebensmittel zu besorgen. Ihren Weidenkorb am Arm und ihr Tuch über die Haare gebreitet kam sie an, als würde sie dem Lebensmittelhändler um die Ecke einen Besuch abstatten, nur dass sie jetzt keinen Beutel mit Münzen bei sich trug: nichts, das sie mit der Frage: Und wie viel macht das alles, Mrs Noyes? auf dem Ladentisch hätte ausschütten können.
Mrs Noyes sagte: »Aber du hast erst gestern zwei Dutzend Eier gehabt…«, und »unsere Milch ist auch rationiert, weißt du. Und, was die Butter betrifft, ich habe keine Zeit zum Buttern gehabt. Vergiss nicht – wir haben zu wenig Leute, jetzt – wo ihr Emma genommen habt. Alles, aber auch alles, was sie hier gemacht hat, muss ich nun zusätzlich übernehmen. Übrigens – wo ich gerade dabei bin – hast du überhaupt eine Ahnung, wie schwer wir hier unten schuften? Was es heißt, all diese Tiere zu füttern? Jeden Tag, zweimal am Tag! Und du hast die Frechheit, hierher zu kommen und Butter zu verlangen! Schäm dich! Schäm dich!«
Es sprach immerhin für Hannah, dass sie noch Scham empfinden konnte, auch wenn sie selbst es als Bescheidenheit bezeichnete. Was zweifellos zum größten Teil in der Angst begründet war, die sie heimsuchte – im unbehaglichen Bewusstsein, zu viel von ihrem Selbst gegen das eingetauscht zu haben, das ihr Sicherheit und Ansehen versprochen hatte. Dieses Unbehagen war wie ein zweites Kind in ihrem Bauch und verlagerte sich jedes Mal mit, wenn sie sich bewegte; schwebte jedes Mal neben ihr, wenn sie stehen blieb; lag jedes Mal mit ihr im Bett, wenn sie schlief. Und dennoch ließ Hannahs Ehrgeiz es nicht zu, irgendetwas von dem, was sie erreicht hatte, wieder aufzugeben; allerdings war sie mittlerweile so weit, dass sie sich wünschte – und zwar inbrünstig –, das, was sie erreicht hatte, in anderer Gesellschaft erreicht zu haben.
Folglich stellte Hannah nach ein paar Tagen ihre Besuche ein, um für Noah und sogar für ihre eigenen Bedürfnisse Waren zu fordern. Sie begann vorzutäuschen, dass ihr Zustand den gefährlichen Gang über das offene Deck und die lange, steile Treppe zum Laderaum hinunter nicht mehr zuließ. Nun begann sie, sich auch für längere Zeit in ihre Kajüte zurückzuziehen, weil sie nachdenken und lesen wollte; sie sperrte die Tür zu, damit Sem nicht hineinkonnte, und – aus gutem Grund – auch Japeth und Noah nicht. Während dieser Tage kopierte sie am Rand von zwanzig verschiedenen Seiten in ihrem selbst gefertigten Heft folgendes Zitat aus dem Band mit Geschichten, der ihr als Einziger in ihrer Kajüte Gesellschaft leistete: Bei Gott, schrieb sie, wenn Frauen Geschichten geschrieben hätten, hätten sie mehr über die Lasterhaftigkeit der Männer geschrieben, als das ganze Geschlecht Adams wieder gutmachen kann.
Und sie, die seit Menschengedenken nicht mehr geweint hatte, fing jetzt an zu weinen.
Als Nächster kam Sem herunter, ohne Weidenkorb.
Mrs Noyes grüßte ihn mit schockierter Miene, da sie – um ehrlich zu sein – ihren ältesten Sohn kaum erkannte. »Was hast du mit dir angestellt?«, fragte sie. »Bist du das da drin?« Und sie stupste ihn mit dem Finger – etwa an der Stelle, wo sein Nabel auf etlichen Schichten neu erworbenen Fetts trieb. »Du siehst krank aus, entschuldige, wenn ich das sage… ein gesunder Junge wie du, und kein Gramm Muskeln! Und wo ist deine Farbe hin? Und deine Haare fallen aus! Das ist ein Zeichen für unausgewogene Kost…« Hier biss sich Mrs Noyes auf die Zunge. Das Thema ausgewogene Kost war natürlich eine offene Tür, durch die der Ochs seinen ersten Wunsch lancieren konnte: »Grünes Gemüse, Mutter. Wir wissen, dass ihr so was habt – Kraut und Rosenkohl – und ich bin da, um es zu holen.«
Mrs Noyes war entrüstet: »Kraut? Rosenkohl? Ich weiß nicht, wovon du sprichst… wieso denkt ihr, dass wir solche Leckerbissen haben? Kraut, ja! Aber Rosenkohl, dass ich nicht lache!«
»Wir können es riechen, wenn du kochst«, sagte Sem. »Eigentlich kann ich es gerade jetzt riechen.«
Mrs Noyes lief knallrot an.
»Ach, ja…« Sie brauste auf. »Nur ganz wenig, und wirklich zum allerletzten Mal.« Dann hatte sie eine Idee und entgegnete ihm mit einer Schmähung, die mit seiner Kindheit zu tun hatte. »Man stelle sich vor: Du, ausgerechnet du, verlangst einen Krautkopf! Ach, das Geheul und das Geschrei und die zusammengeklemmten Zähne, wenn ich versucht habe, ein einziges Blatt in dich hineinzubringen! Ein Krautblatt – du hast es durchs Zimmer geschleudert! Und jetzt kommst du her und tust, als ob Kraut die Speise der Könige wäre und als ob du krepieren würdest, wenn du keins kriegst. Na – ich sage dir, Semmi« (ein Name, den er nicht ausstehen konnte, wie sie sehr wohl wusste), »von mir kriegst du kein Kraut! Ja, das ist das Einzige, was wir haben! Bist du etwa hierher gekommen um den letzten Bissen vom Mund deiner Mutter zu stehlen? Schäm dich! Schäm dich!«
Sem fand keine Antwort, die er auszusprechen wagte, denn die unaussprechbare Antwort war ja – er war tatsächlich hierher gekommen, um den letzten Bissen aus dem Mund von irgendjemandem zu stehlen, sofern besagter Bissen eben Kraut war.
Endlich fiel ihm eine Möglichkeit ein, zumindest etwas als Belohnung für seine Mühe zu ergattern. »Aber – es ist ja nicht für mich, Mama. Es ist für Hannah und das Kind.«
Ach, dachte Mrs Noyes. Das Kind. Ja, ja – das Kind. Vor allem das Kind. In der Rangordnung der Bedürfnisse kamen zuerst die Ungeborenen, an zweiter Stelle die Neugeborenen. Und nichts durfte zwischen ihnen und dem Leben stehen.
»Also gut«, sagte sie. »Du kannst einen Krautkopf und zwölf Stück Rosenkohl haben – aber nur unter der ausdrücklichen Bedingung, dass sie direkt in Hannahs Hände wandern.«
»Ja, Mama.«
Mrs Noyes ging hinüber und kramte tief im Sägemehl herum, wo Kraut und Rosenkohl lagerten; sie erschrak, als sie feststellte, wie wenig von beiden Sorten noch da war, kehrte aber mit den versprochenen Waren zurück.
»Da hast du’s«, sagte sie kurz angebunden. »Ein Krautkopf, zwölf Stück Rosenkohl.«
Der Ochs drehte sie in seinen riesigen Händen.
»Sie sind nicht sehr groß«, sagte er.
»Pech«, sagte Mrs Noyes.
»Und da ist ein Wurm drin…!« Vor Entsetzen ließ Sem das Kraut fast zu Boden fallen. (Die Gefahr, Würmer zu finden, hatte vor langer Zeit seine Abneigung gegen Kraut verursacht.)
»Gut«, sagte Mrs Noyes. »Das garantiert mir, dass das Kraut dort hinkommt, wo es hingehört – auf Schwester Hannahs Teller, nicht auf deinen.«
Sem, der Ochs, kam danach nicht wieder zum Markt zurück. Da er selber keine Lust auf Kraut hatte und da es noch einen gewissen Vorrat an dem gab, wonach es ihn gelüstete – nämlich nach Trockenobst und Süßigkeiten –, war er damit zufrieden, in Noahs Speisekammer weiterzuschlemmen und sich ansonsten von den Nudeln und der Fischsuppe zu ernähren, woraus Hannahs Kochkünste fast ausschließlich bestanden. In seinen Freistunden – das heißt, in der Zeit, die nicht dem Essen gewidmet war – widmete Sem sich der Reinlichkeit seiner Kleidung. Er begann, seine Unterbekleidung zweimal pro Tag zu wechseln und bestand darauf, dass der Kragen seiner Tuniken gestärkt und seine gesamte Weißwäsche gebleicht wurden. Dafür war Emma zuständig. Für ihn selber blieb die anstrengende Arbeit der Körperpflege: sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen und ihn zu stutzen; seine dünner werdenden und an der Stirn ganz verschwindenden Haare zu waschen und endlos zu kämmen; seine lange vernachlässigten Zähne zu putzen und weiß zu machen, seine Nägel zu schneiden und mit Leder zu polieren. War all das erledigt, war er makellos sauber und glänzend und gestärkt, dann zwängte er seine massige Gestalt in den weichsten Sessel, den er finden konnte, starrte in den Raum und träumte von heißen Sommernachmittagen am Berghang und versuchte sich vergebens den Klang von zwanzig, dreißig, hundert Sensen und den Gesang ebenso vieler Bauernknechte in Erinnerung zu rufen. Weder dies noch den Geruch von frisch gemähtem Heu konnte er heraufbeschwören. Seine Erinnerungen waren unter den neuen Fettschichten seines Körpers unwiderruflich verblasst.
Japeth kam an, mit Schweißtropfen in den Augen und in der Hand ein Schwert.
Mrs Noyes wich nicht von der Stelle und sagte: »Ja? Was willst denn du?«
Japeth stürzte an ihr vorbei, in Richtung Stall.
Mrs Noyes lief hinterher.
»Wie? Was ist?«, schrie sie. Das Ziel, das er anpeilte, versetzte sie in Panik. »Warum willst du dorthin?«
Am Eingang zum Stall wandte sich Japeth gegen seine Mutter und sagte: »Geh zurück!«
»Das werde ich nicht tun! Wie kannst du es wagen? Was willst du hier unten überhaupt mit dem Schwert?«
Japeth stapfte über den Boden, wo das Einhorn gestorben war, und ging auf die Rinderverschläge zu.
»Nein!«, sagte Mrs Noyes. »Bleib stehen!«
Auf eine Hand gestützt, sprang Japeth über die Sperre und stand schon mitten unter den Rindern.
Mrs Noyes blickte erschrocken auf, als sie den ersten Schrei hörte – dann machte sie kehrt, rannte zum Gang zurück und rief nach Ham und Luci.
Aber Ham war ganz unten im Schacht bei Stoßzahn und Hippo und Luci, weit weg, fütterte gerade den Greif.
»Hilfe!«, schrie Mrs Noyes. »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
Jeder hörte sie, Mottyl und Krähe inbegriffen, aber da beide sich versteckt hielten, wussten sie nicht, ob sie herauskommen durften oder nicht. Was die anderen betrifft – abgesehen von Ham und Luci –, sie waren alle in ihrem Verschlag oder Käfig und hätten ihr erst dann zu Hilfe eilen können, wenn man ihre Tür geöffnet hätte.
Luci, die am nächsten stand, war bei Mrs Noyes, zumindest so rechtzeitig, dass ihr noch kein Schaden zugefügt werden konnte.
Da sie dachte, niemand würde ihr helfen, war Mrs Noyes auf Japeth losgestürzt, als er wieder aus dem Stall herauskam; sie hatte vor, ihn mit einer Mistgabel zu Fall zu bringen. Aber Japeth war nicht mehr der linkische, tölpelhafte Kriegerjunge, der wenige Monate zuvor noch seine Laterne mit einem Schwert verwechselt hatte. Seitdem er gegen die Piraten gekämpft und das Einhorn getötet hatte, hatte er sich zu einem tüchtigen Kriegsherrn und fähigen Schlachter entwickelt. Folglich funktionierten seine Reflexe, als er um die Stallecke erschien, perfekt – und als die Mistgabel auf ihn zukam – sie zielte zwischen seine Knie –, verpasste er ihr einfach mit seinem Schwert einen Rückhandschlag und schnitt den Stiel entzwei.
Als Folge davon wurde Mrs Noyes rückwärts gegen die Wand geschleudert, wo sie mit der Schulter sehr hart aufschlug und zu Boden fiel. Japeth beugte sich gerade mit seinem Schwert über sie, als Luci auftauchte.
»Wer bist du?«, fragte er, da er Luci in ihrer gegenwärtigen Verkörperung noch nie gesehen hatte.
»Es reicht«, sagte Luci, »wenn ich das weiß; du kannst gern raten.«
Sie starrten sich gegenseitig an – Japeth mit zusammengekniffenen, Luci mit weit geöffneten Augen.
Einer von beiden musste nachgeben, einen Rückzieher machen – doch bestimmt nicht Luci.
Japeth sagte: »Ich gehe jetzt. Versuche nicht mir zu folgen!«
»Fällt mir nicht im Traum ein«, sagte Luci.
Japeth zeigte mit dem Schwert auf seine Mutter. »Geh nie wieder so auf mich los, sonst bring ich dich um!«
Mrs Noyes hatte keine Worte mehr. Ihr eigener Sohn…
Japeth drehte sich um und marschierte den schwach beleuchteten Gang hinunter; die Beute hing über seinen Rücken.
Als Mrs Noyes sah, was da hing, war sie von Grauen so überwältigt, dass sie – endlich – in einen Schreikrampf verfiel und schrie, bis sie die Stimme verlor.
Luci kniete sich auf die Bretter vor ihr, hielt sie fest und wiegte sie hin und her, bis nur noch ein stummes Schluchzen und Händeringen von ihr kamen.
Japeths Trophäen bestanden aus den Köpfen von vier Kälbern, deren Blut ihm hinten die Beine hinunterlief und deren Maul noch voll Milch war, als er sie geschlachtet hatte.
An jenem Abend verspeiste Noah glasierte Zunge und Kalbshirn, und während er die Finger in den Teller tunkte und sie dann in seinen Schoß legte, wo die wartenden Mäuler der Katzen sie abschleckten, dachte er: Wenn der Altarstein größer wäre, könnte ich den Ochsen opfern, den ich aufgehoben habe. Aber es gibt auch noch den Widder – und falls er inzwischen dafür zu groß geworden ist, werden wir eben wieder Lämmer opfern…
Die schleckenden Mäuler saugten fester.
»Soso – die Idee gefällt euch wohl. Ja, meine Kinder, aller Wahrscheinlichkeit nach wird es auch Jahwe gefallen. Und wenn ihm der süße Geruch unseres Opfers in die Nase steigt, kann es sein, dass wir ihn mit unserem Gebet dazu überreden können, wieder auf uns herunterzulächeln. Und zu uns zurückzukehren…«
… aus seinem großen Schlaf, dachte Noah. Oder von seiner großen Reise… oder von seinem langen Aufenthalt im Land des Vergessens.
Noah hing förmlich über seinem Teller, immer noch wanderten seine Finger nach unten, sein Mund stand offen. Und sein Hirn stieß gegen die Wand, an der es nicht vorbeikonnte; und diese Wand war das Grab Jahwes – und es drückte sich gegen die Steine und stammelte: Nein – nein – nein – nicht tot. Seid nicht… tot!
Später am selben Abend, als Mottyl in ihrem Nest die Kätzchen füttern wollte, bemerkte sie, dass das silberne Männchen fehlte.
Sie schnatterte und zirpte ihm zu – doch es kam keine Antwort.
»Ihr müsst warten«, sagte sie zu den anderen. »Euer Bruder ist weg, und ich muss ihn finden, bevor Japeth ihn entdeckt…«
Japeths Name war jetzt gleichbedeutend mit gewaltsamem Tod und alle Kätzchen verstanden das und verkrochen sich in die entfernteste Ecke, wo sie sich unterm Stroh versteckten, wie Mottyl es ihnen beigebracht hatte.
Mottyl schob den von Mrs Noyes und Luci errichteten Tarnvorhang beiseite und kletterte den Maschendraht des darunter stehenden Einhornkäfigs hinunter.
Versehentlich und gegen ihren Willen – denn jedes kranke oder trauernde Tier darf sich an einen Zufluchtsort zurückziehen – verirrte sich ihr Blick in den Käfig. Aber sie konnte nicht sehen, ob die Dame darin war oder nicht. Seit dem Tod des Einhorns war die Dame wie verhext, wollte weder sprechen noch essen, noch trinken.
Mottyl beschnupperte die Luft, und obwohl ein ganz schwacher Rest vom Duft des Einhorns selber noch am Draht hing, dort, wo es sein Horn gewetzt hatte, war nicht das Geringste von einer Duftspur von der Dame zu erkennen, kein Geruch von Einhornkot, auch sonst kein Zeichen, keine Andeutung, dass sie sich überhaupt dort befand. Was Mottyl allerdings aufschnappte, war der eindeutige Geruch ihres Sohnes.
»Bist du da drin?«
»Ja, Mam.«
»Dann komm raus! Augenblicklich! Die Dame soll nicht gestört werden. Das habe ich dir schon mal gesagt. Komm raus!«
»Ja, Mam.«
»Hast du nicht gemerkt, dass es Zeit zum Abendessen ist?«
»Ja, Mam.«
»Also raus! Raus – raus – raus… Ich habe dir gesagt, du sollst nicht herumstreunen.«
»Ja, Mam.«
Auf wackeligen Beinen bewegte sich das silberne Kätzchen auf die Gestalt seiner Mutter zu, die vor ihm im Maschendraht hing.
»Wie bist du da hineingekommen?«
»Durch die Ecke.«
»Kommst du wieder alleine raus?«
»Ja, Mam.«
»Hast du die Dame gesehen?«, flüsterte Mottyl, als das Kätzchen die Ecke des Käfigs erreichte und sich zu ihr durchzuzwängen begann. »Hat sie mit dir gesprochen?«
»Nein, Mam.«
»Ich nehme an, dass sie immer noch sehr traurig ist…«
»Vielleicht, Mam. Aber ich glaube, dass nicht so viel von ihr da ist, was traurig sein könnte. Oder sonst was sein könnte.«
»Ach ja? Was genau meinst du damit? Nicht so viel von ihr da…«
Das Kätzchen drückte sich in die Ecke und Mottyl kletterte weiter den Draht hinunter, um ihm näher zu sein, wenn es herauskam.
»Das, was ich sage«, erklärte es. »Es ist kaum etwas von ihr übrig.«
Mottyl wurde schlagartig kalt.
»Na gut. Ich bringe dich erst zu den anderen hinauf, dann sollte ich wohl am besten Mrs Noyes holen.«
Sie nahm das Kätzchen ins Maul, trug es zu ihrem Nest zurück und sagte, es solle sich in der Ecke verstecken. Sobald es in Sicherheit war, kletterte sie wieder hinunter und klammerte sich an den Draht.
»Dame?…«
Es kam keine unmittelbare Antwort. Aber da war ein Geräusch.
Fliegen.
Waren sie die ganze Zeit dort gewesen? Warum hatte sie sie nicht gehört?
»Sprich, Dame! Sag was! Bist du da?«
Mottyl wäre gerne so klein gewesen wie ihr Sohn, um durch den Maschendraht kriechen zu können. Wenn die Dame sterben sollte…
Sie ließ sich zu Boden fallen und eilte den Gang entlang, wobei sie, bis sie unten an der Treppe ankam, den Luftzug zur Orientierung benutzte; dort blieb sie stehen, warf den Kopf in den Nacken und schrie, so laut sie konnte.
Mrs Noyes kam aus einer Richtung angelaufen, Luci aus einer anderen, Ham aus einer dritten. Alle drei drängten zur Treppe und Mrs Noyes stolperte fast dabei.
»Was ist? Was ist los?«
»Schnell! Schnell!«, schrie Mottyl. »Schnell! Schnell!« Und sie eilte den Gang zurück zu dem Einhornkäfig und ihrem eigenen Nest.
Mrs Noyes, Ham und Luci folgten und schauten zu, wie Mottyl den Maschendraht wieder hochkletterte und vor der Dame hängen blieb und keuchte: »Da…«
Mrs Noyes nahm Mottyl weg und hielt sie beiseite, während Luci und Ham die Tür zum Käfig entsicherten und öffneten.
Luci griff so weit wie möglich hinein und murmelte: »Fliegen…«
»Ja, ich weiß«, sagte ihr Mottyl. »Das bedeutet…«
»Schhh, schhhh«, sagte Mrs Noyes und hielt Mottyl fest und wiegte sie von einer Seite zur anderen. »Jetzt ist alles gut. Luci hat sie gefunden.«
Luci zog die Dame so weit nach vorne, wie sie es wagte – hob sie so behutsam hoch wie ein Stück Glas. Und sofort war nur allzu klar, was geschehen war. Die Dame war verhungert und es war nichts mehr von ihr übrig als Haut und Knochen – eine Brutstätte für Fliegen.
Luci zog ihre Hände zurück, und sie und Ham und Mrs Noyes wichen nach hinten.
»Ist sie tot?«, fragte Mottyl.
»Ja«, sagte Mrs Noyes. »Jetzt sind sie beide zum Wald zurückgekehrt.«
Von gegenüber schauten die Füchsin und der Waschbär, Bip und Ringer und die anderen zu, wie die Fliegenkrone sich senkte und die Dame darunter verschwand.
Plötzlich wurde jedem bewusst, wie klein die Käfige waren, wie niedrig die Decke war, wie wenig Luft es zum Atmen gab, und der Greif fragte: »Werden wir alle so sterben?«
Einen Augenblick sprach niemand. Dann sagte Luci ganz leise: »Ja. Wir werden alle so sterben. Aber nicht hier.«
»Wo gehen wir hin?«, fragte Mrs Noyes, die Luci in die Tiefe hinterhereilte.
Es war lange nach Mitternacht und Mrs Noyes wünschte, sie läge in ihrem Bett, aber Luci hatte gesagt, keiner würde in dieser Nacht schlafen. Während Ham ein ganzes Waffenarsenal aus Heugabeln, Besenstielen und Schälmessern sammelte, stiegen Luci und Mrs Noyes in den Schacht hinab; jede von ihnen trug einen Sack aus Rupfen und Luci hielt noch eine Laterne mit einer Kerze. Der metallene Glanz ihrer Haare war das Einzige, was Mrs Noyes weiter unten auf der Treppe noch erkennen konnte.
»Wir werden ein Paar Verbündete gefangen nehmen, die uns sehr nützlich sein können«, sagte Luci.
»Aber wenn sie Verbündete sind«, wandte die immer logisch denkende Mrs Noyes ein, »warum müssen wir sie dann gefangen nehmen?«
»Weil sie nicht wissen, dass sie Verbündete sind«, sagte Luci. »Noch nicht.«
Mrs Noyes war noch nicht so oft wie die anderen unten im Schacht gewesen, nur wenn sie ihre Bären besuchte. Dann stürzte sie jeweils schnurgerade auf den Bärenkäfig los, winkte Stoßzahn und Hippo über die Schulter zu – vor ihnen hatte sie nur wenig Angst – und ignorierte alles andere, was sonst noch da lebte: die Drachen, die Achneins, die Krokodile und die Nashörner.
Während sie aufpassen musste, dass sie nicht auf Lucis Federn trat – so dicht folgte sie ihr –, betete Mrs Noyes leise darum, dass sie doch bitte nicht die Achneins oder die Krokodile zu Verbündeten machen sollten. Mit Sicherheit kamen Nashörner oder Drachen als Verbündete nicht in Frage, da alle beide nicht in einen Rupfensack passten.
»Oh – bitte – sag mir doch, was wir hier machen«, bettelte sie.
»Ich brauche dir nichts zu sagen«, sagte Luci. »Du musst nur um dich schauen.«
Mrs Noyes schaute.
Dort in der Ecke ihres Käfigs saßen zwei Arten von Archebewohnern, die sie völlig vergessen hatte (sehr wahrscheinlich deswegen, weil sie von Anfang an nicht erfreut war, sie an Bord zu haben). Vier Dämonen, zwei von der einköpfigen Art und zwei andere, starrten sie mit glühenden Augen an; insgesamt sechsundzwanzig Augen – und alle in prächtigem, flammendem Orange.
In der Nähe ihres Käfigs roch es nach angesengtem Haar und nach Waldbränden, und sobald sie erkannten, dass Luci ihren Käfig aufmachen würde, drängten sie sich ans Gitter und haschten nach dem Piratenfleisch, das Luci in ihrem Sack mitgebracht hatte.
»Und jetzt«, sagte Luci – nachdem sie ihren Sack ausgeleert und ihn Mrs Noyes gereicht hatte –, »nimm diesen Sack und deinen eigenen und weiche sie im Wasserfass gründlich ein!«
Gewissenhaft tat Mrs Noyes, wie ihr geheißen; was bedeutete, dass sie gleich neben den Krokodilen volle zwei Minuten dastehen und die Säcke ins Wasser hinunterdrücken musste.
In der Zwischenzeit schmeichelte Luci den Dämonen, beschwichtigte sie, streichelte sie, kraulte sie unter dem Kinn, sprach zu ihnen in einer ihrer Fremdsprachen, die von den Dämonen offensichtlich verstanden wurde.
»Warum wollen wir die als Verbündete?«, fragte Mrs Noyes.
»Das wirst du schon sehen«, sagte Luci.
»Zu Hause habe ich ein ganzes Zimmer voll Möbel, die von Dämonen völlig ruiniert wurden«, sagte Mrs Noyes – wobei sie ziemlich übertrieb, denn genau genommen war es nur ein Stuhl gewesen, den ein Dämon, den Japeth mit nach Hause gebracht hatte, angesengt hatte, während Mrs Noyes ihm das Mittagessen auftischte. Sie musste zugeben, dass der Stuhl später ein sehr dankbares Gesprächsthema abgab. »Rate mal, woher diese Spuren stammen…«, fing sie dann immer an. Aber niemand kam auch nur annähernd auf die Antwort, denn es war nie üblich, Dämonen auf Stühlen sitzen zu lassen oder zum Mittagessen einzuladen.
Als die Rupfensäcke – Lucis Anleitung gemäß – eingeweicht und nur leicht ausgewrungen waren, schlich Mrs Noyes auf Zehenspitzen an den gähnenden und neugierig gewordenen Krokodilen vorbei und fragte: »Und jetzt?«
»Jetzt halte du die Säcke auf und ich stecke die Dämonen hinein.«
»Du meinst, du kannst sie wirklich hochheben?«
»Ja«, sagte Luci. »Ich bin geschützt. Schnell! Lass uns die Dunkelheit nutzen.«
Also machte Mrs Noyes zuerst den einen und dann den anderen Sack so weit wie möglich auf und hielt sie Luci auf Armeslänge hin.
»Vielleicht werden wir sie noch einmal nass machen müssen, bevor wir fertig sind«, sagte Luci – und steckte die einköpfigen Dämonen, die sich so folgsam wie Kaninchen benahmen, in den ersten Sack. Als die Dämonen es sich im feuchten Sack bequem machten, roch es sofort nach Feuer, das man gerade gelöscht hatte.
Das zweite Paar verhielt sich weniger kooperativ – die beiden beklagten sich (offensichtlich) darüber, dass im Sack sehr wenig Platz für ihre vielen Köpfe und sonstigen Anhängsel war. Mrs Noyes, die dem ganzen Gekreische keinen Sinn abgewinnen konnte, war drauf und dran, den Sack fallen zu lassen und wegzulaufen, doch Luci machte ihr klar, dass es sich nur um eine vorübergehende Krise handle, die sie einfach ignorieren solle.
»Du kannst die Einköpfigen tragen, wenn dir dabei wohler zumute ist«, sagte Luci – und tauschte die Säcke mit Mrs Noyes.
»Danke«, sagte Mrs Noyes. »Und wie trägt man nun einen Sack voller Dämonen?«
»Ganz einfach«, sagte Luci. »Man wirft ihn über den Rücken, genau wie einen Sack mit etwas anderem darin auch. Du wirst sehen… das gefällt ihnen ziemlich gut.«
Luci schwang den Sack mit den anderen Dämonen über ihre Schulter und sofort war ein ganzer Chor von entzücktem Quieken zu hören.
»Was es nicht alles gibt!«, sagte Mrs Noyes. »Du hast Recht. Es gefällt ihnen tatsächlich…« Und schon hievte sie den eigenen Sack über den Rücken, schwang ihn dabei durch die Luft.
»Aiiii!«, riefen die Einköpfigen im Sack Luci zu. »Sag ihr, sie soll das noch einmal machen!«
»Dazu haben wir keine Zeit«, sagte Luci. »Wenn ihr eure Aufgabe erfüllt habt, dürft ihr euch über Schultern schwingen lassen, sooft ihr wollt. Jetzt erst an die Arbeit.«
Dämonen zu schleppen war für Mrs Noyes, gelinde gesagt, ein recht seltsames Gefühl. Die Hitze, die von ihnen ausging, war nicht unangenehm – und da der Sack nass war, konnten sie kein Feuer entfachen. »Sie könnten einem nachts im Bett gute Dienste erweisen«, sagte sie zu Luci. »Oder bei einem Anfall von Arthritis.«
Sie eilten aus dem Schacht, liefen durch die Gänge und die nächste Treppe hinauf und mussten nur einmal Halt machen, um die Dämonen zu befeuchten. Als sie zu Ham und seinem Waffenlager zurückkamen, hatte Mrs Noyes vor Aufregung einen ganz roten Kopf.
»Ich bringe Dämonen!«, sagte sie. »Ich bringe uns Dämonen!« – wie ein Kind, dem es zum ersten Mal gelingt, eine Kobra aufzuheben.
Ham war nicht beeindruckt. Seine Gedanken waren bei dem, was ihnen bevorstand.
Der Plan war relativ einfach und gut auszuführen. Luci hatte vor, mit Hilfe der Dämonen die Holztür an der Treppe, die zu den oberen Decks führte, durchzubrennen und, wenn sie oben angelangt waren, Japeth im Arsenal zu überwältigen.
»Wenn wir ihn ausschalten können, sind die anderen hilflos. Schwester Hannah wird sehr wahrscheinlich nicht kämpfen, Doktor Noyes ist zu alt zum Kämpfen und Sem ist so faul geworden, dass er nicht wird kämpfen können, Emma wird natürlich auf unserer Seite sein und uns helfen. Aber das Wichtigste ist, dass uns der Überraschungseffekt gelingt. Die Dämonen haben einen zweifachen Vorteil: Sie werden uns durch die Tür bringen – und sie werden uns leise durch die Tür bringen. Kein Hammer; kein Meißel; keine Eisensäge – nur ein schöner sauberer Brand.«
Hams Waffenvorrat war eher mager ausgefallen – aber immerhin war genug da, um jeden mit einem Küchenmesser und einer Heugabel auszustatten. Aus den Besen hatte er einen Satz Speere gemacht, insgesamt sechs, die er selber tragen würde. Jeder Speer hatte als Spitze ein weiteres Küchenmesser – er hatte sich aber nicht entschließen können, die größeren Fleischmesser zu benutzen, denn ihre Schärfe und ihre Größe wirkten so einschüchternd, dass er sich nicht vorstellen konnte, sie im Kampf einzusetzen. Die Wunden, die sie zufügen könnten, wären einfach zu grässlich.
Luci nannte das Feigheit, und zwar der schlimmsten Art -»intellektuelle Feigheit« sagte sie dazu. »Ein Messerstich ist ein Messerstich«, sagte sie. »Das Blut deines Bruders ist nicht weniger das Blut deines Bruders, nur weil du es mit einer kleineren Klinge vergießt, Ham. Was für Unsinn ihr Menschen manchmal redet!«
»Ja – aber ich will sie nicht töten«, sagte Ham.
»Nun mein Lieber«, sagte Luci, »es tut mir Leid, dir das sagen zu müssen, aber Tatsache ist, wenn du nicht bereit bist, sie zu töten – werden wir nicht gewinnen.«
»Aber – ich kann doch meinen eigenen Bruder nicht töten!«, rief Ham.
»Nun gut. Aber sag mir Folgendes: Kannst du dir vorstellen, dass Japeth so etwas sagen würde?«
Während Ham schwieg, stieg vor Mrs Noyes’ geistigem Auge ein Bild von Japeth auf, wie er im Gang sein Schwert schwang und sagte: Wenn du das noch einmal tust, bringe ich dich um…
»Nein«, meinte sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Japeth so etwas sagen würde.«
»Das sagst du so leicht«, sagte Ham, »aber ich muss ihn töten.«
»Warum lässt du das Problem nicht einfach auf dich zukommen?«, fragte Luci.
Ham sagte nichts mehr. Am liebsten wäre ihm gewesen, wenn das Thema gar nie zur Sprache gekommen wäre, und insgeheim war er noch immer überzeugt, dass niemand getötet werden sollte. Doch es war sinnlos, mit Luci darüber zu streiten. Sie hatte etwas Hartes, Erbarmungsloses, das er nie verstehen würde, womit er vielleicht immer Probleme haben würde. Doch so viel verstand er: Ohne Lucis Härte hätte der Aufstand an Bord der Arche nicht stattgefunden. Die Härte hätte sich dann ausschließlich auf der anderen Seite befunden, bei den Menschen hinter der Tür, die sie jetzt in Angriff nehmen wollten.
Luci stieg die Treppe bis ganz oben hinauf und gab Mrs Noyes ein Zeichen, ihr leise zu folgen. Auch Ham folgte, blieb aber oben auf der Seite stehen. Sobald das Holz um Schlösser und Riegel verbrannt wäre, würde er als Erster durch die Tür gehen. Er schwitzte bereits trotz des eiskalten Luftzugs, der unter der Tür durchblies und die Kerzen zum Flackern brachte.
»Bring deine Dämonen her!«, rief Luci leise Mrs Noyes zu.
Luci hockte vor dem Türrahmen, Mrs Noyes neben ihr mit den Säcken samt den Dämonen.
»Ich fürchte, du musst einen Eimer Wasser holen«, sagte Luci. »Die Säcke fangen an zu brennen. Schnell!«
Mrs Noyes sauste die Treppe hinunter zum Stall, wo sich, wie sie wusste, ein Eimer und ein Fass befanden. In der Zwischenzeit griff Luci in den ersten Sack und zog einen Dämon heraus.
Ham schaute fasziniert und nicht wenig erschrocken zu, als Luci in einer Fremdsprache zu dem Dämon sprach und ihm ein leckeres Stückchen Leber aus ihrer Tasche anbot.
Der Dämon verschlang die Leber – briet sie gleichzeitig – und fast sofort begann er, an den unteren Körperteilen etwas heller zu glühen. Eine längere Diskussion zwischen den beiden hatte einen außergewöhnlichen Anblick zur Folge: Der Dämon streckte Luci sein glühendes Hinterteil hin, und diese fing an, ihm mit ihrer großen, mit Schwimmhäuten versehenen Hand schnell Luft zuzufächeln.
Als das Glühen dadurch so hell und heiß wie möglich geworden war, wies Luci den Dämon an, genau so am Türpfosten stehen zu bleiben. Ihre Finger dienten ihm dabei als Stütze.
Das Bild, das sich nun bot, sah so aus: ein glühend heißer Dämon, der sich in der Hocke nach vorn beugte und sein Hinterteil fest gegen den Türpfosten drückte, während Luci seine Pfoten genauso hielt, wie eine Mutter die Hände eines Kindes hält, das auf dem Töpfchen sitzt und den Anforderungen nicht gerecht wird.
Auch wenn das Bild sehr friedlich war, die Wirkung war haargenau so, wie Luci vorausgesagt hatte: Das Holz loderte auf und brannte wie Wunderkohle, und bald klaffte im Türpfosten ein Loch vom Durchmesser eines Besenstiels.
Bis Mrs Noyes mit ihrem Eimer Wasser zurückkam, war Luci schon mit dem zweiten Dämon beschäftigt, der erste lag erschöpft auf einer Stufe; dabei war er so vorsichtig, sich auf den Bauch zu legen, um die Treppe nicht in Brand zu setzen. Der Rupfensack mit den mehrköpfigen Dämonen rauchte wie ein Lagerfeuer und Mrs Noyes ließ ihn in den Eimer hinunter, wo er wohltuend zischte.
Jeder Dämon musste zweimal eingesetzt werden, damit das Loch, das entstand, nicht nur so groß war, dass Luci ihren Arm durchstecken konnte, sondern ihr auch genug Freiraum ließ, um die Riegel auf der anderen Seite der Tür zurückzuschieben. Das erste Ziel war endlich erreicht, doch dann wurde es schwieriger, was hauptsächlich damit zusammenhing, dass Luci versuchte, möglichst leise zu sein. Die Riegel waren verrostet und quietschten leicht, was bedeutete, dass Luci sie sehr langsam betätigen musste. Schließlich gelang es ihr fast ohne jegliches Geräusch.
»Geschafft!«, flüsterte sie – und zog den Arm triumphierend heraus. »Wir sind frei!«
Bald war es so weit: Der Aufstand der Unteren Schichten würde beginnen.
Luci und Mrs Noyes ließen die Säcke mit den Dämonen über ihren Rücken gleiten – ganz langsam, um im Innern kein Gejuchze auszulösen –, dann hoben sie ihre Küchenmesser und Heugabeln auf und stellten sich zu beiden Seiten der Tür.
Ham, der einen Umhang aus Rupfen um die Schultern trug, trat vor die Tür, die Speere in der einen Hand und die Heugabel in der anderen. Sein Messer steckte sicher in seinem Gürtel.
»Na, dann los«, sagte er, und drückte die Tür mit der Zehe auf.
Den Anblick, mit dem sie begrüßt wurden, hätte keiner für möglich gehalten.
Es schneite.
»Ach – wie schön!«, flüsterte Mrs Noyes; mit weit geöffneten Augen blickte sie auf die Szenerie.
»Es wird weniger schön sein, wenn wir einmal da draußen sind«, sagte Luci. »Pass auf!«, sagte sie zu Ham. »Es ist bestimmt glatt.« Aber Ham war schon hinausgegangen.
Die Luft war von einem milchigen Licht durchdrungen, dabei war es zwei oder drei Uhr nachts und ansonsten stockfinster. Jeder Zentimeter des Decks – Kastell, Pagode und Arsenal mit eingeschlossen – war mit einer dicken, nassen, weißen Schicht bedeckt, und es war absolut windstill. Der Schnee fiel senkrecht nach unten in Flocken so groß wie Kupferpfennige – und er war so dicht, dass er eine unheimliche, jedoch tröstliche Stille erzeugte.
Die Dämonen, vom Geruch des Schnees fasziniert, steckten die Köpfe aus den Säcken und streckten ihre Zungen aus, um ihn aufzufangen, was sich anhörte wie Wassertropfen, die in eine Pfanne mit heißem Fett spritzen.
Mrs Noyes drehte sich zum Arsenal um und sah all die Vögel, die sich unter ihren Schneeumhängen auf der Reling zusammenkauerten – bei einigen war der Schnabel länger geworden, Eiszapfen hatten sich an der Spitze gebildet. Und in der Tat dauerte es auch nicht lange, bis an ihren eigenen Haarspitzen Eiszapfen hingen, denn der Schnee schmolz allmählich und lief ihr den Nacken hinunter.
Ham lag – wie zuvor abgesprochen – auf dem Dach des Arsenals, und zwar genau über der Tür. Aus dieser Position würde er Japeth aus dem Hinterhalt überfallen. Luci marschierte mitsamt dem glühenden Sack voller Dämonen hin zu der Tür und schlug mit dem Stiel ihrer Heugabel fest dagegen: Bumm.
Es kam keine Reaktion, nur einige Vögel wachten auf und veränderten auf der Reling ihre Position, um besser sehen zu können, was los war; dabei schüttelten sie den Schnee von sich und stießen gegen andere Vögel, die weniger neugierig waren.
Luci schlug noch einmal gegen die Tür: Bumm.
Ein oder zwei Vögel blickten auf – schlecht gelaunt, weil sie im Schlaf gestört wurden. Aber Luci beachtete sie nicht und haute noch dreimal hintereinander gegen die Tür.
Es geschah immer noch nichts.
Dann – ganz plötzlich – bewegte sich etwas beim Kastell und hinter den Verschwörern trat eine Gestalt hervor.
»Sucht ihr mich?«, fragte sie.
Es war Japeth – von Kopf bis Fuß bewaffnet und gepanzert – und gegen die Witterung trug er zusätzlich einen leuchtend roten Umhang.
Außerdem führte er seine beiden Wölfe an ihren Messingketten mit sich.
Es gab nur eines, wovor Luci panische Angst hatte – vor Hunden und Wölfen – und so blieb sie wie angewurzelt stehen, als Japeth die Ketten von den Handgelenken fallen ließ und bellte: »Greift an!«
Die Wölfe, die selber vor Panik erstarrten, blieben stocksteif stehen, die Augen fest auf Luci gerichtet. Während einiger langer Sekunden bewegte sich niemand. Dann machte Japeth noch einen Schritt vor und hob sein Schwert.
Fünfzehn Minuten später saßen Luci, Ham und Mrs Noyes mit dem Rücken gegen die Wand des Arsenals auf dem Deck; die Säcke mit den Dämonen zischten neben ihnen im Schnee.
Ham war völlig niedergeschlagen.
»Wir haben nicht einmal im Traum daran gedacht, dass er vielleicht nicht drin sein könnte«, sagte er. »Damit haben wir überhaupt nicht gerechnet!«
»Das nächste Mal werden wir daran denken«, sagte Luci.
»Das nächste Mal?« Ham hob seine gefesselten Handgelenke in einer Geste der Verzweiflung. »Welches nächste Mal?«
»Das nächste Mal und das nächste Mal und das nächste«, sagte Luci. »Sooft wir eben brauchen, bis wir gewinnen. Wenn du klug bist, betrachtest du das, was wir heute Nacht gemacht haben, nicht als einen Misserfolg, sondern als eine Probe. Eine Erfahrung, die uns ab jetzt nur nutzen kann…«
»Ach ja«, sagte Ham. »Nutzen. Und wie, schlägst du vor, soll das gehen?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber ich denke darüber nach. Und ich schlage vor, dass du das auch tust, es bringt auch für dich. Schätzchen, viel mehr, als sich wegen unseres Scheiterns zu grämen.«
In diesem Augenblick kam Japeth wieder aus dem Kastell mit Sem und Doktor Noyes im Schlepptau.
»Da sind sie«, sagte er. »Da drüben.«
Noah – er sah sehr alt aus, gerade so, als ob er in einem Leichentuch aus seinem Grab gestiegen wäre statt in seiner Decke aus der Wärme seines Bettes – ging quer über das Deck und versuchte, die Gefangenen durch das Schneegestöber zu erkennen.
Es war das erste Mal seit mehr als einem Monat, dass er seine Frau wieder sah, und er erkannte sie kaum, so dünn war sie geworden und trotz des Schnees so dreckig. Wen er gar nicht erkannte, war Luci mit ihrem jetzt kupferfarbenen Haar und dem knochigen Gesicht, so wenig dem Gesicht ähnlich, an das er sich erinnerte: weiß und rund und schön. Sein Sohn, der nur aus Rupfen und Matsch zu bestehen schien, mit seinen langen, zottigen Haaren und den gefesselten Händen war ihm völlig unbekannt.
»Wer sind diese Leute?«, fragte er Japeth. »Wieder ein Enterkommando?«
»Nein, Vater. Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt: Es sind Ham und Luci und Mutter.«
Noah blinzelte. Und schnupperte.
»Brennen sie?«, fragte er.
»Nein, Vater. Das sind die Dämonen.«
Mit einer Mischung aus Abneigung und Angst betrachtete Noah die Rupfensäcke und die glühenden Augen.
»Sind sie gefährlich?«, fragte er.
Sem sagte: »Nein«, und Japeth sagte: »Ja.«
»Dann schau, dass du sie loswirst!«, sagte Noah.
Japeth ging hin, hob die Säcke auf und warf sie über Bord.
Es geschah so schnell, dass keiner der Verschwörer auch nur Zeit hatte zu protestieren. Und die Dämonen – denen überhaupt nicht bewusst war, was mit ihnen geschah – dachten, man wolle sie nur hochheben und herumschwingen, und so schrien sie vor Freude, als sie über die Reling und in den zischenden Schneesturm hinauswirbelten.
Erst lange, nachdem sie unter der Wasseroberfläche verschwunden waren, hatte sich Mrs Noyes von dem Schock erholt. Sie sah zu Japeth hin, als ginge er noch immer auf die Dämonen zu, als wäre die Tat noch nicht vollzogen – und sie sagte: »Bitte nicht, sie sind doch unsere Freunde!…«
Luci senkte den Kopf, scheinbar aus Trauer, aber in Wirklichkeit vor Wut. Ganz langsam fingen die Seile um ihre Handgelenke zu schwelen an, doch keiner außer Ham schien es zu merken.
Japeth hatte sich von der Reling entfernt und versuchte, die Ketten am Halsband seiner Wölfe zu entwirren. Diese, die Augen unverwandt auf Luci gerichtet, wurden allmählich unruhig.
»Was ist los mit euch?«, fragte er. »Gebt Ruhe!« Japeth ärgerte sich immer noch über sie, weil sie sich geweigert hatten, seinen Befehl zum Angriff auszuführen.
Doch die Wölfe schienen ihn nicht zu hören. Sie witterten und wurden noch nervöser. Besonders das Weibchen zerrte an der Kette, was es für Japeth so gut wie unmöglich machte, sie wieder unter Kontrolle zu bringen. Das Männchen ließ den Schwanz hängen und versuchte sich hinter Japeth zu verstecken – während das Weibchen weiterhin in die entgegengesetzte Richtung zog.
Ham beobachtete mit wachsendem Interesse Lucis Handgelenke – sah, wie die Seile immer mehr Rauch abgaben und, während die Hitze zunahm, allmählich rot wurden – dann orange – dann gelb. Alle Muskeln in Lucis Armen spannten sich an – sie ballte die Fäuste und öffnete sie wieder; den Kopf hielt sie noch immer gesenkt und auf ihren Schultern und auf ihrem Rücken häufte sich der Schnee immer höher.
Mrs Noyes verschwand unter einer Schneewehe, weil sie sich nicht bewegen konnte – oder wollte – und Ham wurde angst und bange. Seine Mutter schien einzuschlafen – und von all den Winternächten, in denen er vom Zedernhain aus die Sterne beobachtet hatte, wusste er, dass Schlaf und Schnee eine tödliche Verbindung sein können. Er hatte einige Tamarins auf diese Weise sterben sehen – Ichneumone, Wombats und andere Tiere, die sich im Wald hätten befinden sollen, sich aber auf den Berg verirrt hatten und dort im Schneesturm stecken blieben. Jetzt hätte er seine Mutter gerne gewarnt – ihr zugerufen –, doch er hatte Angst davor, die Aufmerksamkeit auf Luci zu lenken, deren Handgelenke sich jetzt jeden Augenblick von ihren Fesseln freibrennen konnten – dann wäre sie vielleicht in der Lage, alle loszubinden und seine Mutter wiederzubeleben.
Japeths Wölfe versetzten Ham in Angst und Schrecken. Sie rochen die brennenden Seile und konnten nicht still sitzen – und endlich verhedderten sie sich so sehr, dass sie sich einfach hinsetzten und heulten.
»Hört auf damit!«, sagte Noah.
»Hört auf damit!«, sagte Japeth.
»Hört womit auf?«, fragte Mrs Noyes, die mit einem Schlag wach wurde – und sich so heftig aufrichtete, dass der ganze Schnee, der auf ihr lag, wie ein Kleidungsstück von ihr abfiel.
Die Wölfe heulten weiter und ihr Geheul zog Hannah, in weiße Decken gehüllt, zur Tür des Kastells. Sie war offensichtlich aus dem Schlaf gerissen worden und zunächst noch verwirrt. Als sie jedoch sah, dass es schneite und begriff, was sich hier abspielte, zog sie sich ins Innere zurück, wo eine Laterne brannte.
»War das Emma?«, fragte Mrs Noyes.
»Nein, Mama«, sagte Ham – mit leiser Stimme. »Und versuch nicht, die Aufmerksamkeit hierher zu lenken!«
»Warum nicht?«, fragte Mrs Noyes. »Ich will Aufmerksamkeit. Mich friert hier – dich nicht?«
»Ja, aber…«
Da rief Mrs Noyes Sem zu: »Komm augenblicklich hierher und binde deine Mutter los!«
Aber der Ochs rührte sich nicht von der Stelle. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sein Gewand anders zu richten, damit der Schnee nicht in sein Hemd fiel.
Endlich befreite sich Japeth aus dem Wirrwarr der Wolfsketten – er hob zuerst ein Bein an und dann das andere – und die Ketten waren noch um sein rechtes Handgelenk und den Unterarm gewickelt.
Noah fragte: »Was ist das?«
»Was?«, fragte Japeth.
»Da drüben. Da drüben…« Noah zeigte ungefähr in die Richtung der Gefangenen – und gleichzeitig versuchte er seine Decke festzuhalten. »Rauch…«, sagte er.
Japeth schaute hinüber.
Hinter ihnen erschien Hannah – sie ging arglos weiter und hielt den schwarzen Regenschirm über sich.
Plötzlich hob Luci den Kopf, rief: »Passt auf!«, und streckte blitzschnell ihren Arm nach Japeth und Sem und Noah aus – die sich allesamt in einer Reflexbewegung umdrehten, als befürchteten sie, der Himmel würde gerade hinter ihnen einstürzen.
»Passt auf!«
Sem zog seinen Umhang vors Gesicht, da er Hannah für den Todesengel hielt – sie war ja ganz weiß unter dem schwarzen Etwas –, und da ertönte ein gedämpfter Schrei hinter seinem Arm. Noah musste mehrmals hinschauen um zu erkennen, wer da war – doch Japeth bekam keine Gelegenheit, länger als den Bruchteil einer Sekunde etwas zu sehen.
In dem Moment, als er sich umdrehte und genau dann, als sie zum zweiten Mal »Passt auf« schrie, stürzte sich Luci auf Japeth – ungeachtet der Wölfe – und warf ihn aufs Deck.
Ham dachte – wenn sie nur mich zuerst befreit hätte!
Aber wie sich herausstellte, versuchte Luci gar nicht den Aufstand fortzuführen. Sonst hätte sie tatsächlich nicht nur Ham, sondern auch Mrs Noyes befreit. Im Augenblick wollte sie nur Japeth – und die Gelegenheit, den Tod ihrer Dämonen zu rächen.
Japeth wusste gar nicht, wie ihm geschah. Er wusste nur, dass seine Wölfe sich gegen ihn gewandt hatten und seine Beine und Füße mit ihren Zähnen aufschlitzten – während irgendeine andere Kreatur (wer hätte ahnen können, dass es Luci war?) auf seinen Schultern saß und seine Arme mit den Knien am Boden festnagelte. Und ein großer bronzener Handteller legte sich auf sein Gesicht und erstickte ihn, während die Schwimmhäute und die Finger dieser riesigen Hand sich wie ein Kohlblatt um seinen Kopf wickelten und die Fähigkeit zu hören und zu sehen ganz ausschalteten, und er fühlte, wie ein entsetzlicher brennender Schmerz, den er nicht identifizieren konnte, durch seinen ganzen Körper fuhr.
Eine Rettungsaktion war nicht nötig.
Sobald ihre Aktion beendet war, stand Luci wieder auf und ging ganz bereitwillig – fast sanftmütig – auf ihren Platz neben Mrs Noyes und Ham zurück.
Als Japeth sich schwankend auf die Knie erhob, war er überzeugt, dass er nie wieder würde sehen und hören können. Aber das, was Luci bewirkt hatte, hatte nichts mit Blindheit, nichts mit Taubheit zu tun. Sie hatte einen Fluch besiegelt: dass Japeth sein Lebtag keinen einzigen Augenblick Ruhe vor seinem Fleisch haben sollte. Die Wunde, die seine Wölfe ihm beigebracht hatten, sollte für immer schwären. Und keine Wunde, die er sich in einer künftigen Auseinandersetzung mit einem Feind – ob Mensch oder Tier – zuziehen würde, sollte jemals heilen. Er würde fortan nach jedem Tod riechen, den er zufügte, und als Beweis dafür roch er schon jetzt nach Feuer, da er vier Dämonen ermordet hatte.
Sem, der sich inzwischen vom Schock, den Hannahs Erscheinung ausgelöst hatte, erholt und erkannt hatte, dass er nicht sterben würde, ging zu Japeth hin und befreite ihn von den Ketten um die Handgelenke – die winselnden Wölfe schob er beiseite.
Hannah stand neben Noah und hielt den schwarzen Regenschirm über den alten Mann. Die Enden ihres Tuchs hatte sie um den Hals geschlungen und den Stoff vor Mund und Nase gezogen, so dass nur ihre Augen sichtbar waren. Ihr Blick war zu Boden gerichtet.
Noah spähte durch den Schnee zu Luci hinüber, als wäre sie eine Erscheinung (Jahwe?…), und er fragte: »Wer ist dieser Mann?«
Sem sagte: »Es ist kein Mann, Vater. Es ist Luci. Lud – Hams Frau.«
»Das ist ein Mann«, sagte Noah. »Glaubst du nicht, dass ich einen Mann erkenne, wenn ich einen sehe?«
Sem schaute Hannah an. Es war eindeutig: Entweder sein Vater hatte Halluzinationen, oder er war völlig senil geworden.
»Ich erlaube mir anderer Meinung zu sein, Vater«, sagte er mit einer Förmlichkeit, die von Angst und Erschöpfung rührte. »Vielleicht täuscht das Licht nur… der Schnee… die späte Stunde.«
»Das ist ein Mann«, sagte Noah.
Hannah berührte den alten Mann an der Schulter. »Kommen Sie, Vater Noyes«, sagte sie. »Sie müssen wieder ins Bett. Sie holen sich hier draußen den Tod.«
Noah drehte sich um. »Es ist ein Mann«, sagte er, jetzt ruhiger.
»Ja, ja«, sagte Hannah; sie fasste ihn am Ellbogen um ihn zum Kastell zu führen. »Wahrscheinlich ist es ein Mann. Sie haben Recht.«
»Wieder ein Enterkommando…«
»Ja. Ja.«
»Piraten.«
»Ja.«
»Aber wir haben wieder gewonnen – nicht wahr?«
»Ja. Wir haben gewonnen. Wieder. Jetzt müssen Sie ins Bett.«
»Willst du…? Wirst du…?«
»Ja. Ich bleibe bei Ihnen, bis Sie eingeschlafen sind.«
Am Eingang zum Kastell drehte sich Noah noch einmal halb um und sagte zu den anderen: »Kümmert euch um sie!«
»Ja, Herr Vater«, sagte Sem.
Japeth sagte nichts.
Noah ging ins Kastell hinein und Hannah machte den schwarzen Schirm zu, schüttelte ihn, folgte ihm hinein und schloss die Tür.
Während der Schnee weiter fiel, kam zusätzlich Wind auf. Bei Tagesanbruch befand sich die Arche in der Gewalt eines regelrechten Blizzards. Es war vielleicht der heftigste Sturm, mit dem sie seit dem Ablegen zu kämpfen hatten.
Japeth und Sem trieben die Gefangenen unter Deck und Sem stand mit den Wölfen Wache, während Japeth in allen drei unteren Decks die Runde machte, wobei er sämtliche Laternen zertrümmerte und alle Kerzen in einen Sack warf.
»Ab jetzt gibt es für euch kein Licht mehr«, sagte er. »Ihr werdet in fortwährender Finsternis leben, bis wir an Land kommen.«
Als er den Stall erreichte, packte er mehrere Lämmer, schlang ein Seil um ihre Hinterbeine und ließ sie nebeneinander über seinen Rücken herunterhängen; mit gezücktem Schwert stieg er dann mit den Lämmern und dem Sack voller Kerzen die Treppe hinauf.
»Diese Tür wird auf eine Art versperrt werden, die ihr niemals mehr überwinden könnt«, sagte er. »Kann sein, dass ihr verhungert; kann sein, dass wir verhungern«, fügte er hinzu, »aber wir werden zumindest nicht im Finstern verhungern.«
Und weg war er; gefolgt von Sem mit den Wölfen.
Als Sem oben ankam, wirkte er mit seiner makellosen Kleidung, den beiden riesigen Wölfen zu seinen Füßen und dem Schnee, der um ihn herumwirbelte, völlig fehl am Platz. Vielleicht war er sich der Unangemessenheit seines Aufzuges bewusst, denn er schaute nach unten und zupfte so lange an seinem Nachthemd, bis es unordentlich herunterhing, als wolle er absichtlich seine korrekte Erscheinung zerstören – darauf schaute er etwas verlegen seine Mutter und seinen Bruder und Luci an und sagte: »Es tut mir Leid…«
Dann machte er kehrt und ging durch die Tür. Dabei wurde einen Augenblick lang Schnee ins Innere geweht, die Treppe hinunter und am Boden entlang bis zu Mrs Noyes’ Füßen. Sie schaute noch einmal zu dem kleinen Fleck Himmel da oben und plötzlich war die Finsternis da, mit einem lauten Knall – und dem Lärm von Hämmern und Nägeln und Ketten.
In dieser Finsternis kam Mottyl an, stellte sich neben Mrs Noyes’ und jammerte, während Luci die Seile von Hams und Mrs Noyes’ Handgelenken löste.
Mrs Noyes erschrak.
»Du hättest dein Nest niemals verlassen dürfen, solange Japeth unterwegs war«, sagte sie. »Das habe ich dir schon so oft gesagt.«
Aber Japeth war nicht das Problem.
Das Problem war Mottyls und Mrs Noyes’ Lieblingskätzchen, Silber.
Die ganze Zeit, während die Revolutionäre sich oben auf Deck befanden, war die Tür offen gewesen, und in diesen Stunden war Silber verschwunden.
Noah saß am großen langen Tisch im Salon und wartete darauf, dass Hannah ihm eine Schüssel mit heißem Haferflockenbrei brachte. Er hatte sich bei seinem Abenteuer mit dem – wie er immer noch behauptete – Enterkommando »unter der Führung eines rothaarigen Seeräubers« verkühlt. Aber er war auch in Hochstimmung und plapperte, ohne Zähne, vor sich hin, während Schwester Hannah beim Zubereiten seines Breis in der Kombüse herumwerkelte.
Japeth und Sem waren währenddessen damit beschäftigt, die großen Doppeltüren zu den unteren Decks zu versiegeln – sie machten sie mit Stangen und Ketten dicht und bretterten sie mit in X-Form angebrachten und mit riesigen Eisennägeln befestigten Balken zu.
Sarah saß bereits auf Noahs Schoß, aber Abraham war – zumindest im Augenblick – abwesend. Wahrscheinlich verrichtete er seine Notdurft in der Kiste mit Sägemehl, die im Durchgang vor den Latrinen stand.
Noahs hölzerne Zähne lagen auf seinem Taschentuch vor ihm; erst zwei Tage zuvor waren sie frisch geweißt worden, und so sahen sie einerseits fast erschreckend jugendlich, andererseits wie der letzte übrig gebliebene Rest eines menschlichen Schädels aus.
»Was für ein Schiff hatten sie?«, fragte er. »Einen Dreimaster? Zwei? Als Rahsegler getakelt oder mit Klüver?«
Hannah antwortete nicht, obwohl sie ihn hörte. Am besten, man ließ ihn faseln. Man fütterte ihn und steckte ihn ins Bett – schaute nach, dass er schlief, und betete, dass sein Geist beim Träumen klar würde.
»Es gibt kein Piratenschiff auf den sieben Weltmeeren, das wir nicht in der Lage sind zu besiegen«, sagte Noah. »Glaub mir! Mit Jahwe auf unserer Seite – kann nichts und niemand uns schlagen! Nicht einmal dieser Sturm kann uns schlagen, sag ich dir. Jahwe hat versprochen…«
Plötzlich machte die Arche einen Ruck, der die Laternen herumwirbelte und Noahs Zähne zu Boden fliegen ließ, in der Kombüse knallten einige Töpfe herunter. Noah wurde fast vom Stuhl geschleudert – und Sarah, die nach dem Nächstbesten griff, das sie würde retten können, erwischte mit ihren Krallen den Handrücken des alten Mannes, was Noah kaum zu merken schien – vielleicht wegen des wilden Durcheinanders von Möbeln und Lampen um ihn herum.
Sein erster Gedanke war, dass Jahwe vielleicht Seine Gegenwart kundtat. Welch bessere Art könnte Er bedenken, um erneut in ihr Leben zu treten, als die Arche in Seine Hände zu nehmen und sie zum Gruß zu schütteln?
Als Hannah hereinkam, um nach ihm zu schauen, fand sie ihn auf allen vieren, er suchte auf dem Boden nach seinen Zähnen.
»Hat es Sie hingeworfen?«, fragte sie. »Sind Sie verletzt?«
»Ich bete«, sagte Noah. »Bete. Hast du es nicht gemerkt? Jahwe hat gerade zu uns gesprochen…«
Hannah wagte nicht darauf einzugehen – sie wusste genau, dass nur der Sturm die Arche durchgerüttelt hatte, doch ebenso genau wusste sie, dass Noah es nie akzeptieren würde, wenn sie sagte, nicht jede Geste komme von Gott.
Noah hatte seine Zähne gefunden und ließ sie im Ärmel verschwinden.
»Hilf mir aufzustehen!«, sagte er.
Hannah half ihm auf die Füße und setzte ihn wieder auf seinen Stuhl.
»Jetzt hole ich Ihre Haferflocken«, sagte sie und ging zur Kombüse zurück.
»Wo ist das Kind, das wir haben?«, rief Noah ihr zu.
Schweigen.
»Schwester Hannah? Tochter?…«, rief Noah.
Hannah stand wie versteinert da, den Breitopf in der Hand – der Holzlöffel verharrte vor ihren Lippen – und die Kombüse begann sich um sie herumzudrehen. Was hatte er gesagt?
»Wo ist das Kind, das wir haben, frage ich!«, rief der alte Mann nochmals.
Hannah ließ langsam den Löffel sinken, legte den Handrücken gegen die Stirn und schloss die Augen.
»Emma!«, brüllte Noah. »Wo ist sie?«
Hannah schlug die Augen auf.
Emma.
»Ach«, sagte sie – und rief zurück: »Emma ist in ihrer Kajüte. Krank.« (Sie wagte nicht zu sagen, um welche Art Krankheit es sich handelte – dass Emma nämlich stumm geworden war und nicht essen wollte, wie ein trauerndes Tier.)
»Du arbeitest zu viel«, sagte Noah, der sich in Gedanken von dem Sturm und den Piratenschiffen löste und im Geist in die Zukunft wanderte (Hand in Hand mit Jahwe vielleicht), wo es wieder Häuser geben würde und Küchen so groß wie Archen und Kinderzimmer voller Kinder – eine passende Art, seine Tage zu beschließen. – und Schwester-Tochter Hannah, ganz in Weiß, würde alles leiten. Noah würde unter dem frisch gepflanzten, gleich zehn Meter hohen Walnussbaum sitzen und der neu bepflanzte, schon uralte Obstgarten hinter dem heiligen Tor würde die Luft mit dem Duft von Weisheit und Blüten erfüllen – Äpfel, Birnen; und der neu ernannte Engel wäre auch dabei, aber in den Ästen des…
»Tochter?«
»Ja, Vater Noyes?«
»War das meine Frau auf Deck, mit den ganz weißen Haaren und in Sackleinen gekleidet?«
»Ja, Vater Noyes.«
»Keine Piraten also?«
»Nein, Vater Noyes. Keine Piraten.«
»Und wer war der Mann neben ihr…?« (Engel. Engel. War das nicht ein Engelsgesicht neben ihr – Engelshaut und Engelshaar…)
»Ham, Vater Noyes. Das war Ham, Ihr Sohn.«
Die Vision flackerte mal auf, mal war sie wieder verschwunden – sie bewegte sich im Rhythmus der Lampen. Ein anderes Gesicht – nicht das von Ham –, sondern…
»Nein, der andere Mann.«
Hannah stand im Türrahmen, den Breitopf in der Hand, bereit die Haferflocken zu servieren.
»Der andere Mann?«
»Das war ein Engel, Tochter.« Noah drehte sich um und seine Augen blitzten zu Hannah hin und wieder weg, wie die Vision. »Glaubst du nicht, dass ich einen Engel erkenne, wenn ich einen sehe?«
Mann. Pirat. Engel. Was sollte Hannah jetzt sagen? Sollte sie den alten Mann daran erinnern, dass er lediglich Luci gesehen hatte? Das würde ihn wütend machen.
»Ja«, sagte sie. »Vielleicht ein Engel. Ja…« Und sie ging in die Kombüse zurück und füllte zwei Schüsseln mit Brei, dunkelbraunem Zucker und dem allerletzten Rest Sahne.
Nachdem sie zwei Silberlöffel in je eine breite weiße Serviette gewickelt hatte, nahm sie Löffel und Schüsseln und ging in den Salon zurück, wo sie sofort einen Luftzug bemerkte.
Noah stand aufrecht da – er saß nicht – und starrte auf die Tür zum Deck, die der Sturm offensichtlich aufgestoßen hatte. Sie schwang an den Scharnieren hin und her – ging weder ganz zu – noch flog sie weit auf.
Hannah stellte die beiden Schüsseln auf dem Tisch ab und ging um das lange Tischende herum auf die Außentür zu, um sie zu schließen. Davor aber, auf halbem Weg, erblickte sie den Kater Abraham, der aus der Finsternis auftauchte – mit Schnee auf dem Rücken und etwas im Maul.
Sie versuchte – und zumindest äußerlich gelang es ihr, – ihren Ekel vor der Aussicht auf eine weitere Ratte, die der unternehmungslustige Abraham nach Hause schleppte, zu unterdrücken. Er fraß sie nie, köpfte sie nur – und ließ den Rest liegen, den sie dann aufhob und über Bord warf. Manchmal fand sie Köpfe, die von den Sitzflächen der Stühle, aus den Schubladen der Kommoden und von ihren Bettdecken zu ihr aufblickten. Es half nichts, dass sie alle Türen zwischen ihrem Teil und dem Rest der Arche zusperrte – irgendwie fand Abraham immer einen Weg hinein.
Diesmal lief sie zuerst um ihn herum und schloss die Tür, bevor sie zurückging um das Unvermeidliche in Angriff zu nehmen. Sie nahm sich gerade vor, wenn es sich vermeiden ließ, sich erst um die Ratte zu kümmern, wenn sie ihren Brei gegessen hatte.
Aber Noah hatte schon gesehen, dass das Ding in Abrahams Maul keine Ratte war, sondern etwas anderes – etwas Silberfarbenes.
Abraham trat vor Noahs Füße und verbeugte sich – das Ding hing noch immer aus seinem Maul. Dann sprang er – trotz der Erschütterungen durch den Sturm ganz Grazie und Sicherheit – zuerst auf Noahs Stuhl, wo er sich mit dem Ding vor Sarah verbeugte, und dann auf den Tisch – wo er das Ding, mit gebrochenem Genick und tot, ausbreitete, damit Noah es besichtigen konnte.
Abraham setzte sich vor seine Beute hin.
Noah wurde von den Toten weniger eingeschüchtert als Schwester Hannah. Sie wich zurück – aber er machte einen Schritt nach vorn – streckte schon seine Finger aus.
»Es ist ein silbernes Kätzchen«, sagte er – jedes Wort mit höchster Verwunderung dehnend.
Dann sah er – mit wahnsinnigem Blick: der Gedanke an ein Wunder schien in seinem Hirn aufzublühen – Hannah über den Tisch hinweg an.
»Wessen Kätzchen kann das sein«, fragte er, »außer Gottes? War Sarah trächtig? Niemals. Und haben wir andere Katzen mit an Bord?« Er deutete mit seinem Arm durchs Zimmer. »Keine – nirgends! Wessen Kätzchen ist das also? Wessen Kind ist das?«
Er starrte das Tier an – es war vollkommen, wie es so vor ihm aufgebahrt lag.
»Ein Wunder«, flüsterte er. »Ein wahrhaftiges und absolutes Wunder…« Er fiel auf die Knie – hielt den Tisch dabei mit beiden Händen fest und berührte die Tischplatte dreimal und wieder dreimal mit der Stirn. »Oh, alle Namen Gottes…«, betete er, »oh, jeder Name von allen zehntausend – hört mich – seht mich – bezeugt meine Dankbarkeit! Bezeugt auch, wie ich den Eigentlichen Namen übertöne…« Hier trommelte Noah in rasenden Schlägen mit den Fäusten so auf den Tisch, dass Hannah um seine Hände fürchtete. Aber sie hörte den Eigentlichen Namen nicht, konnte ihn nicht hören, den Namen, den zu vernehmen allen außer Jahwe selbst verboten war – als Noah ihn in seiner rasenden Ekstase aussprach – und er drückte und drückte immer wieder seinen Kopf an den Rand des Tisches, dort, wo die Leiche des silbernen Kindes lag.
Hannah konnte nicht anders und fiel ebenfalls auf die Knie, denn der fanatische Glaube, der Doktor Noyes beseelte, überzeugte sie, dass es sich nur um ein Wunder handeln konnte – denn Sarah war gewiss nicht trächtig gewesen – und keine andere Katze befand sich in der Arche – und Männchen gebären nicht oder pflanzen sich durch Teilung fort…
Was konnte es sonst sein?
Was konnte es sonst sein?
Was konnte es sonst sein?
Drei-mal-drei. Ein Wunder.
Was Abraham bestätigte, indem er sich vor das silberne Kätzchen legte und es nicht anrührte. Nicht einmal den Kopf.
Das Verschwinden des kleinen silbernen Männchens hatte in den unteren Decks eine große Suchaktion ins Leben gerufen. Krähe und Mottyl fragten jedes einzelne Tier in jedem einzelnen Käfig und Verschlag, ob das Kätzchen gesichtet worden war, und Mottyl rief in jede Rinne und in jeden Abfluss nach ihm. Auch an den meistgefürchteten Stellen rief sie nach ihm – den Zisternen, den Latrinen und den Regentonnen.
Währenddessen nahm der Sturm an Stärke zu und es herrschte unter den Tieren, die den Halt verloren, große Aufregung. Der Sturm wäre schon unter normalen Umständen schwer zu ertragen gewesen – doch in der Finsternis und wegen der geschwächten Kondition aller Tiere an Bord war er entsetzlich. Gerade den Neugeborenen und den ganz Alten machte die ewige Feuchtigkeit, die durch den Temperatursturz verursachte Abkühlung und der eisige Wind, der durch jede Ritze und Spalte durchblies und in allen Abflüssen stöhnte, besonders schwer zu schaffen. Der größte Feind war jedoch die Finsternis.
Krähe, deren Sehkraft normalerweise mit der jedes anderen Lebewesens mithalten konnte – verlor diese Kraft im Finstern, daher waren ihre Flüge in den Gängen und Korridoren gelinde ausgedrückt riskant. Andauernd flog sie in offene Türen und Maschendraht und litt dann unter schrecklichen Kopfschmerzen.
Mottyl ging allmählich das Adrenalin aus. Sie war von oben bis unten durch die unteren Decks gestreift – sogar in den gefürchteten Schacht – und hatte dabei einmal das Füttern ihrer Kätzchen vergessen. Das Säugen fand sie, wenn sie ehrlich war, zunehmend schwerer. Normalerweise wären die Kätzchen schon lange entwöhnt worden, vielleicht schon drei Wochen früher, doch wegen der Knappheit an Mäusen, Ratten und größeren Insekten musste sie ihre Nahrung mit Milch ergänzen, die sie kaum noch erzeugen konnte. Die Zitzen am äußersten Ende ihrer Milchleiter waren völlig versiegt und die Kätzchen mussten sich möglichst nah an den noch verbliebenen Quellen zusammendrängen, so dass die übrigen Zitzen durch übermäßiges Saugen jetzt fast aussahen wie rohes Fleisch. Noch dazu hatten die Kätzchen jetzt ganz ansehnliche Zähne, und gegen diese Zähne führte Mottyl andauernd Krieg – sie biss die Kätzchen ins Ohr und drückte mit den Krallen fest auf die Unterseite ihrer Kiefer – manchmal musste sie sogar ihre Lippen durchstechen. Auch ihre eigene Ernährung litt unter dem Mangel an Mäusen und ihr war bewusst, dass sie immer schwächer und für Erkältungen und eiternde Wunden anfälliger wurde.
Als sie vier oder fünf Stunden ununterbrochen nach ihrem Kätzchen gesucht hatte, raste es in ihrem Kopf, doch ihr Körper war vor Erschöpfung fast erstarrt. Immer öfter musste sie sich ausruhen – bis sie schließlich kaum noch aufstehen konnte, um die Rückkehr in ihren eigenen Gang anzutreten.
Bip bemerkte: »Wenn du uns hier herausholen könntest, würden wir dir helfen.«
Aber Mottyl konnte sich nicht einmal aufraffen, dieses Angebot anzunehmen. Bip und Ringer waren ganz weit drüben auf der anderen Seite des Schachts und der bloße Gedanke an den langen Weg hinüber, um sie zu befreien, ließ Mottyl erschauern.
Warum kann ich mich nicht bewegen?
Du bist zwanzig Jahre alt. Du bist am Verhungern. Du hast Würmer, Flöhe, Milben und einen Abszess hinter dem Ohr und einen weiteren an der Hüfte. Du hast eine angebrochene Rippe, die nicht heilen will. Du hast einen Bänderriss, einen verdrehten Darm und leidest unter völligem Vitaminmangel. Du bist blind. Du wirst taub. Du bist in einen Nagel getreten. Hörst du nicht, wie du atmest? Womöglich stellt sich eine Lungenentzündung ein. Du bist teilweise ausgetrocknet und wir schlagen vor, dass du als Erstes – falls und wenn du wieder aufstehen kannst – Wasser trinkst. Du bist besorgt und deprimiert und hast zu wenig rote Blutkörperchen. Du leidest darüber hinaus unter Sauerstoffmangel und hast ein schwaches Herz. Noch dazu Rheuma im linken Hinterbein und etwas in der Leber, was wir nicht beschreiben können, denn es hat sich noch nicht zur Gänze bemerkbar gemacht. Und du fragst, warum du dich nicht bewegen kannst? Wir nehmen an, dass du auch nicht mehr bei Sinnen bist.
Danke für den Vortrag. Jetzt sagt mir, wie ich aufstehen soll!
Wir können dir nicht sagen, wie du aufstehen sollst. Tatsache ist einfach, dass du nicht kannst. Was du tun kannst, ist, nach Krähe rufen.
Warum?
Stell keine unnützen Fragen! Rufe nach Krähe!
»Krähe!«
Mottyls Stimme war viel zu schwach, um weiter als nur wenige Meter in einer Richtung vernehmbar zu sein – aber sie trug über den Schacht. Bip hörte sie.
»Krähe!«, rief er – und aufgrund seiner angeborenen Fähigkeit, sich über große Entfernungen Gehör zu verschaffen, war es Bip in kürzester Zeit gelungen, das ganze Deck mit dem Echo seiner Stimme zu füllen. Als Mrs Noyes ihn hörte, hatte sie das Gefühl, auf ihre Veranda mit Ausblick aufs Tal zurückversetzt zu sein.
»Krähe! Krähe! Krähe!«
Es dauerte nicht lange und Krähe kam angeflogen; ihre Flügel knacksten und ihre Kopfschmerzen waren so schlimm wie noch nie.
»Hol uns hier raus!«, rief Bip. »Nur Ringer und mich. Wir können helfen – genau wie die, die im Finstern sehen können.«
Krähe machte sich gleich auf zum Lemurenkäfig. Unterwegs ließ sie schnell ein paar Schlangen, die Wombats und die Nachtschwalben frei und bald schon trippelten Füße und flatterten eifrige Flügel durch die Gänge. Die Eulen allerdings, deren Fähigkeit, bei Nacht hervorragend zu sehen, sie unter diesen Bedingungen zu großartigen Detektiven gemacht hätte, wurden wegen ihres riesigen Hungers abgewiesen. Vielleicht hätte ein Uhu oder die Schnee-Eule das silberne Kätzchen gefunden – aber Mottyl und Krähe waren nicht darauf aus, eine Leiche zu entdecken.
In der Zwischenzeit hatten sich Luci, Ham und Mrs Noyes in der Kombüse versammelt, wo die Glut im Herd zumindest ein bisschen Licht und viel Wärme spendete. Ihre Oberbekleidung – Rupfen und Handgewebtes – hatten sie über die Stuhllehnen gebreitet und die Stühle wegen der Hitze zum Feuer gedreht. Die Kombüse roch wie eine Küche im Winter – mit Tee, der in einer Kanne zog, einem großen Topf Polenta und dem nassen Geruch von Hanf, Wolle und angesengter Baumwolle.
In den letzten Wochen hatte Luci ihre Faszination für Bienenvölker entdeckt. Die Bienenkörbe, die Hannah geflochten hatte, waren aus seildicken Strohzöpfen und in der Form konisch; jeder Korb war eineinviertel Meter hoch. Am unteren Teil befand sich jeweils ein kleines halb rundes Loch, durch das die Bienen ein- und ausfliegen konnten. Im Innern hatten die Bienen selbst mehrere Schichten Honigwaben angefertigt, und gesonderte Schichten für Eier, Puppen und Kinderstuben für die Jungen, die von anderen gefüttert werden mussten, bis sie aus den Zellen kamen, um ihre eigene Rolle in der Weltordnung zu übernehmen. Jeder Stock hatte eine eigene Königin und verfügte über seinen eigenen Essensvorrat. Was Luci an den Bienen interessierte, war jedoch vor allem die Wärme, die sie erzeugten, und das tiefe durchdringende Geräusch bei ihrem Aufwachen.
Ham hatte vorgeschlagen, die Bienenkörbe in die warme Kombüse zu bringen, da die Kälte Bienen gefährlich werden konnte. Ihre eigene Wärme reichte nicht, um sie am Leben zu erhalten. Luci hatte die Stöcke auf den Tisch gestellt und drückte immer wieder ihr Ohr dagegen – und summte. »So anregend«, sagte sie. »Ganz außergewöhnlich…« Und ihr Gesicht nahm einen ganz intensiven Ausdruck an.
Allmählich – und voll Bedauern – wurde die Suche nach dem Kätzchen aufgegeben, und nachdem die Suchmannschaft sich ihren Misserfolg eingestand, gesellten sich ihre Mitglieder einzeln und paarweise zu den Menschen, die sich um den Herd drängten.
Bip hatte Mottyl einfach aufgehoben – wie er es bei einem anderen Lemuren tun würde – und sie in die Kombüse getragen, wo sie jetzt unterm Herd lag, halb schlief und arg keuchte, während Ringer zu dem geheimen Nest zurückkehrte und die übrigen Kätzchen holte, damit sie aus einer Schüssel mit dünner, verwässerter Ziegenmilch gefüttert werden konnten.
Die Wombats und Nachtschwalben saßen oben und versuchten den Rauch vom Herd zu vermeiden, und die Schlangen krochen in die Ecke, möglichst weit weg von der Hitze. Krähe hockte auf der Wäscheleine, die Mrs Noyes in glücklicheren Zeiten gespannt hatte – und auf der in Erwartung von Emmas Rückkehr ihre bunten Geschirrtücher und Spülbürsten hingen.
Lange Zeit herrschte Stille – nur verschiedene Essgeräusche waren zu hören: Breischüsseln und Löffel – Teebecher – und das Schlecken von Milch. In Krähes Fall wurde das Geräusch vom Picken in rohem Maisgrieß verursacht, den Ham und Mrs Noyes ihr handvollweise hinhielten. Die Nachtschwalben und die Wombats fraßen Fliegen, während die Schlangen sich damit zufrieden gaben, vor sich hin zu dösen und – wie Mottyl – nur vom Essen zu träumen.
Luci war in Trance gefallen – ihr Ohr war gegen die Bienenkörbe gedrückt, ihr Breilöffel hing herab und drohte aus ihren Fingern zu gleiten, und ihre Schüssel kippte bedrohlich. Ham, der sich gerade von Krähe abgewandt hatte und sich wieder setzen wollte, um den eigenen Brei zu essen, sah zu seiner Frau und nahm ihr die Schüssel sanft aus der Hand. Den Löffel wollte sie jedoch nicht hergeben – sie hielt ihn fest, als er danach griff, sagte aber nichts, sah ihn auch nicht an. Ham setzte sich wieder auf seinen Stuhl, und während er aß, ließ er den Blick nicht von ihr ab.
Luci schwitzte, und je mehr Schweiß auf ihre Stirn trat und ihr Gesicht herunterströmte – er tropfte schon von Kinn und Nase –, desto heftiger weigerte sie sich, ihren Stuhl vom Herd wegzurücken, auch als ihre Kleidung schon zu rauchen und zu dampfen begann. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund lauschte sie den Bienenstöcken – und von Zeit zu Zeit bewegten sich Wörter wie Wellen und Zuckungen über ihre Lippen und ihren Kiefer.
Mrs Noyes fragte: »Hörst du den Bienen zu?«
Luci antwortete nicht, aber Ham sagte: »Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Es fing an, als sie die anderen Insekten fütterte. Eines Tages ging ich hin, um zu sehen, was los war, weil sie noch nicht zu den Futtertonnen zurückgekommen war; sie war schon über eine Stunde weg. Da war sie – genau so; sie hockte neben den Bienenstöcken und ich dachte, sie wäre eingeschlafen. Ich habe sie angesprochen – genau wie du jetzt –, und es kam keine Antwort. Ich habe sie noch einmal angesprochen, wieder keine Reaktion. Da habe ich mich vor sie hingestellt und sie gerufen – und ich habe gesehen, dass ihre Augen offen waren und sie ganz wach war. Nur, sie befand sich in einer Art Trance…«
»Das erinnert mich an Mottyl«, sagte Mrs Noyes. »An eine Katzentrance. Du weißt, wie sie manchmal starrt? Genauso, die Augen weit aufgerissen – als ob sie etwas fixiert, das ich nicht sehen kann, oder etwas hört, was ich nicht hören kann. Aber ich habe so etwas noch nie bei einem Menschen erlebt. Jedenfalls nicht bis jetzt, bis Luci…«
Sowohl Mrs Noyes als auch Ham hatten geflüstert, ihre Stimmen summten in der geheizten Kombüse, zischten wie brodelnde Töpfe.
»Sie ist so reglos«, sagte Ham. »Gerade das hat mich das erste Mal so beunruhigt. Selbst als ich ihren Namen rief, war es, als wäre sie nicht da. Und als ich ihn dann nochmals gerufen habe – hat sie einfach durch mich hindurchgeschaut, aber nichts gesagt, außer ›Warte‹. ›Es ist noch nicht vorbei…‹ Und später – als es offensichtlich vorbei war – habe ich sie gefragt, was sie mit ›es‹ gemeint hatte, und sie hat nur gesagt: ›Die Stimmen.‹«
»Die Stimmen?«, fragte Mrs Noyes. »Meinst du die Bienenstimmen?«
»Ich glaube nicht«, sagte Ham. Er sah zu Luci, die jetzt vor Anspannung klatschnass war. Und der Dampf, der von ihrer Kleidung hochstieg, war mehr Rauch als Dampf – die Art von Rauch, den brennender Weihrauch ergibt – ganze Schwaden stiegen zur Decke empor…
Und als Luci sprach – was sie jetzt tat –, war es nicht ihre eigene Stimme, sondern eine andere – tiefer als die eigene.
»Krähe«, sagte sie. »Krähe wird uns retten.«
Und dann – wieder mit der eigenen Stimme, aber noch immer in Trance – sagte sie: »Wie?«
»Krähe hat die Lemuren befreit«, sagte die andere Stimme aus Lucis Mund. »Krähe hat all die anderen aus ihren Käfigen befreit, um uns bei der Suche nach Silber zu helfen.«
»Ja«, sagte die Luci-Stimme. »Weiter!«
»Was wir brauchen, ist noch eine Krähe auf den oberen Decks. Eine Krähe, die uns befreit. Eine Krähe, die die Schlösser aufmacht, die uns hier in unseren Käfigen festhalten…«
»Ja?«
Aber die Stimme hatte aufgehört. Luci, noch immer in Trance, war verstummt – doch jetzt kehrte sie sich von den Bienenstöcken ab und begann, mit ihrem Löffel gegen den Stuhl zu klopfen. Sie tat es nicht bewusst – es war nur ein Reflex – als könne sie ihr erschöpftes Hirn durch Klopfen schärfen – es durch Trommeln zur Tat bewegen, wie Armeen durch Trommeln bewegt werden. Und durch Trompeten.
All ihre Aufstände waren fehlgeschlagen. Das Paradies lag für immer hinter ihr. Ihre Zuflucht im Morgenstern und später im Kormoran hatte nur bewiesen, dass sie sich allein in der ihr gegebenen Form erfüllen konnte. Ihr Aufenthalt im Obstgarten hatte nur bewiesen, dass dieser – wie sie schon lange vermutet hatte – bis auf eine unbegründete Angst vor Schönheit und die Tyrannei der Äpfel völlig leer war. Ihr einziger Erfolg war ihre Ehe mit Ham gewesen, die ihr Überleben an Bord der Arche gesichert hatte, doch am Ende war auch dies gescheitert. Sie wurde in diesem Kerker gefangen gehalten – wieder einmal den Tiefen übergeben – und es war ihr nicht gelungen, das Einhorn wiederzubeleben – es war ihr nicht gelungen, das elektrische Licht zu erfinden – es war ihr nicht gelungen, die Dämonen zu retten – es war ihr nicht gelungen, die Oberhand über die Mächte des Bösen zu gewinnen, die am oberen Deck unter dem Schutz von Japeth Noyes herrschten, genauso, wie es ihr nicht gelungen war, die Oberhand im Himmel zu gewinnen, wo die Mächte des Bösen unter dem Schutz von Michael Archangelis eine absolute Herrschaft ausübten. Es war hoffnungslos. Und all ihre Fähigkeiten versiegten, eine nach der anderen. Sie war nicht fähig gewesen das Kastell abzubrennen. Sie hatte es nur geschafft, ihre Seile durchzubrennen und Japeth mit einem unbedeutenden Fluch zu zeichnen.
Sie fühlte sich erbärmlich.
Ihr Löffel klopfte weiter – und sie hatte immer noch nicht aufgehört, als Mrs Noyes aufstand und die Breiteller und den Breitopf und die Teebecher und die Milchschüssel für die Kätzchen einsammelte und eines nach dem andern ins Spülbecken fallen ließ…
Das Spülbecken.
Klopf, klopf.
Das Spülbecken.
Emma.
Plötzlich stand Luci auf, warf dabei ihren Stuhl um und sprach mit der anderen Stimme: »Emma«, sagte sie. »Emma wird unsere Krähe sein!«
Ein Abflussrohr wurde abmontiert, und das schaffte genug Platz, damit Krähe durchkriechen und nach außen gelangen konnte. Sie hatte sehr genaue Anweisungen erhalten: Emma ausfindig machen und sie sofort zu den Türen bringen, die zum oberen Deck führten, um sie zu entriegeln.
Diesmal würden sie nicht – konnten sie einfach nicht – scheitern.
Ohne Licht – ohne Waffen – ihre Kräfte aufgezehrt und ihre Siegeschancen lächerlich gering, hatten sie jetzt nichts, womit sie siegen konnten, außer dem Willen zu siegen. Und der Notwendigkeit.
In der Kapelle hatte Noah das silberne Kätzchen auf den Altar gelegt.
Schwester Hannah kniete nieder und zog ihre Tücher fester um sich.
Abraham und Sarah lauerten an der Tür.
Noah dankte Jahwe für das Geschenk dieses Wunders – und er zog das Messer durch das leblose Fleisch. Er drückte die kläglichen Blutstropfen auf seine Finger, hielt sie Schwester Hannah hin und befahl ihr zu trinken.
Als sie getrunken hatte und seine Finger von ihren Lippen löste, benetzte er sie noch einmal mit Blut – und trank selber davon.
Dann warf er sich hin – ausgestreckt –, drückte sein Gesicht auf den Boden und begann, vom Heulen des Windes begleitet, alle Opfer- und Erlösungsgebete aufzusagen.
Hannah ihrerseits fing auch an zu beten – gab es aber bald auf, weil sie plötzlich von Schmerzen geradezu überwältigt wurde.
»Mir ist nicht gut«, flüsterte sie. »Mir ist nicht gut. Helfen Sie mir!«
Aber Noah betete zu seinem Gott und schenkte ihr kein Gehör.
Emma zu finden war ziemlich einfach.
Krähe, die so lange in der Pagode gelebt hatte, kannte sich recht gut mit der Anordnung aller Kajüten im Kastell aus und auch mit allen Eingängen, sowohl den geheimen als auch den allgemein bekannten. Den heiklen Riegel an der Salontür kannte sie so gut wie Abraham.
Japeth, der sich was Barrikaden anging, zu sicher fühlte und nicht nur an Nesselsucht – eine Folge von Lucis Fluch –, sondern auch an all seinen unverheilten Wunden furchtbar litt, versuchte verzweifelt im Arsenal Schlaf zu finden. Sem war nirgends zu sehen. Als sie in den Gang jenseits des Salons schlüpfte, entdeckte Krähe Doktor Noyes und Hannah beim Gebet und – ach! – auf dem Altar erkannte sie auch den Gegenstand ihrer Anbetung: Mottyls silbernen Sohn – ihren Schatz. Doch sie hatte keine Zeit zum Trauern – nicht einmal Zeit, um ihren Zorn zu empfinden –, sie flog weiter zum hinteren Teil des Kastells, wo sich neben den Latrinen Emmas Kajüte befand.
Krähe schlug mit ihren Flügeln gegen die Tür.
»Geh weg!«, sagte Emma.
Krähe schlug weiter; sie wollte nicht sprechen, aus Angst, Sem könnte in der Nähe sein und sie hören.
»Geh doch endlich weg!«, sagte Emma.
Krähe hörte auf. Was konnte sie machen?
Wenn sie nicht sprechen konnte, musste sie etwas anderes versuchen.
Sie flog auf den Boden und betrachtete die Tür. Unten war ein Spalt, der gut zwei Zentimeter breit sein mochte. Krähe dachte nach und dachte nach und kam zu keiner Lösung – außer der nun allzu deutlichen Gewissheit, dass gut zwei Zentimeter nicht genug waren, um ihr den Durchgang zu ermöglichen.
In der Kapelle leierte Noahs Stimme endlose Gebete herunter – und Krähe versuchte, den Gedanken an das, was auf dem Altar lag, zu verscheuchen. Der Geruch des Weihrauchs rief andere bittere Gedanken wach – zum Beispiel, wie sie aus ihrem Versteck über dem Kamin vertrieben wurde und…
Aus ihrem Versteck über dem Kamin vertrieben.
Weihrauch.
Rauch.
Krähe flog durch den Gang zurück – suchte eine brennende Kerze oder eine sonstige Feuerquelle und wurde in der Kombüse fündig.
Als Emma den Rauch unter ihrer Tür hochkringeln sah, versuchte sie sofort durch das Bullauge zu entkommen.
»Oh, oh, oh!«, sagte sie – ganz leise –, ihr Grauen vor Feuer versetzte sie in eine gnädigerweise fast stimmlose Panik. »Oh, oh, oh…« Und sie machte sich an der Türklinke zu schaffen.
Als die Tür endlich nachgab, hatte sie schon eine Decke über den Kopf geworfen, um gegen das Inferno, das sie vorzufinden erwartete, gewappnet zu sein. Doch als sie keine Flammen sah – kein Geräusch hörte und keine Hitze spürte –, zog Emma die Decke langsam wieder zurück und spähte in den Gang hinaus.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie. Krähe hatte keine Zeit für Erklärungen. Sie hatte nur Zeit zu winken: »Folge mir!«
Der Schnee war in die Ecken geweht, wo sich eine Eisschicht bildete, die eine Landschaft von heimtückischen Rutschen und Kurven schuf. Vögel froren an der Reling fest. Das Deck war eine Achterbahn aus Eis und der Himmel darüber bildete eine düstere Masse formloser pechschwarzer Wolken. Was jetzt herunterkam, war weniger Schnee als Eisregen und der Wind, der ihn trieb, war erbarmungslos.
Krähe musste Stellen weit draußen über dem Wasser anpeilen, um ihre Flugbahn über der Arche beizubehalten – und Emma, die schreckliche Angst vor jeder Art von plötzlichem Tod hatte, klammerte sich mit beiden Händen an den Seilen fest, schloss die Augen und ging einfach los.
Wie ein Skifahrer an einem Berghang fegte sie über die Länge des Decks, ohne jemals das Seil loszulassen, ohne überhaupt die Stellung ihrer Füße zu verändern. Auf halbem Weg zu ihrem Ziel machte sie die Augen auf, und während sie sich dem Schutz des Portikus über den verbarrikadierten Türen näherte, brüllte sie an gegen die tobende Stimme des Sturmes: »Achtung! Achtung! Ich komme!« Als würde die Barrikade sich erheben und zur Seite weichen.
Aber die Fahrt über das Eis hatte auch etwas Berauschendes – und als sie sich aufrichtete, hoffte Emma, dass es irgendwann Gelegenheit gäbe, das noch einmal zu erleben.
Angesichts dessen, was sie nun zu tun hatte, war ihre Hoffnung darauf allerdings gering.
Krähe hatte einen Platz im entferntesten Winkel des Portikus ergattert, wo es mehr oder weniger windgeschützt war. Zitternd saß sie da und drängte Emma: »Schnell! Schnell!«
Emma betrachtete das Durcheinander von Brettern und Stangen und Ketten und hatte keinerlei Ahnung, wie sie das alles beseitigen sollte. Als sie sich Rat suchend an Krähe wandte, erhielt sie als Antwort nur: Schnell, schnell – und das half ihr nicht weiter.
Auch der Wind war ihr keine große Hilfe, denn er peitschte ihr die Decke über den Kopf, wodurch sie nichts sehen konnte, und hob ihre Röcke hoch, so dass sie an den Beinen fror. Schließlich wurde die kostbare Decke, die sie doch warm halten sollte, so unangenehm für ihre Augen, dass sie sie von den Schultern riss. Gerade als sie die Decke beiseite legen wollte, bemerkte sie, dass ihre vom Wind gepeitschten Enden zerfetzt waren. Ihr fiel ein, dass sie diese Fetzen abreißen und sich um die Hände wickeln könnte, damit wenigstens ein Teil ihrer Extremitäten warm bliebe.
Der Stoff der Decke – vor langer Zeit hatte Schwester Hannah sie in den sonnengetränkten Höfen auf dem Berg gewebt – war fest und für einen einfachen Sterblichen nur mit Mühe zu zerreißen – der Wind hatte allerdings keine Probleme damit. Die Stärke der Fetzen brachte Emma auf eine andere Idee – oder vielmehr erinnerte sie an eine alte Vorrichtung, auf die ihre Mutter zurückgriff, wenn sie schwere Gegenstände tragen musste, die entweder zu unhandlich waren, um von menschlichen Händen getragen zu werden – oder zu scharf. Man fertigte zu diesem Zweck Tragriemen und Emma hatte gelernt, wie man Steine und Eimer voll kochend heißem Wasser, deren Tragbügel in ihre Kinderfinger geschnitten hätten, mit den Tragriemen befördert.
Emma sah sich die Bretter an, welche die äußere Fassade der Barrikade bildeten. Sie wählte eine Stelle aus, ganz in der Nähe des Punktes, wo sie angenagelt waren, zog die Reste der Decke durch und um das oberste Brett und begann zu ziehen, wobei sie die Füße gegen die Tür stemmte.
Zuerst gaben die Bretter nicht nach. Aber Emma war stark. Sie hatte sich all die Jahre hindurch als Holzfäller versucht und den großen blonden Brüdern nachgeeifert. Immer wieder stemmte sie sich gegen die Tür – jedes Mal setzte sie ihr ganzes Körpergewicht und jedes Quäntchen Kraft in Armen, Schultern und Beinen ein, bis – endlich – ein Nagel nachgab und dann noch einer und noch einer. Das erste Brett war an einem Ende frei – und bald hatte sie es auch am anderen Ende geschafft.
Als sie das erste Brett abgenommen hatte, ging es mit dem zweiten leichter, weil sie nicht nur die Decke zum Ziehen hatte, sondern ihr das Brett auch als Hebel diente.
Zwei Bretter waren geschafft und nun galt es, noch der Ketten und Stangen Herr zu werden.
Im Laderaum kauerten Mrs Noyes, Luci und Ham auf der obersten Treppenstufe, bereit zu schieben, sobald sie den Befehl dazu von der anderen Seite vernahmen. Die ganze Zeit über riefen sie Emma ermutigende Worte zu und Emma rief zurück, sie würde es »versuchen«.
Mottyl, Bip, Ringer und die anderen saßen auf einer Stufe weiter unten und warteten auf ihre Befreiung. Es war ihnen im Moment noch gleichgültig, ob sie – falls dieser Aufstand so enden sollte wie der erste, nämlich als Niederlage – über Bord geworfen würden, so wie die Dämonen. Und auch Mottyl war es mittlerweile ziemlich egal, ob sie versteckt wurde – oder ob ihre Kätzchen versteckt wurden. Du kannst dich nicht ewig verstecken, beschloss sie. Doktor Noyes und Japeth würden dort hinter diesen Türen auftauchen, ganz gleich, wer sie öffnete – und dieser Tatsache konnte man ebenso gut jetzt wie später ins Gesicht sehen.
Bip und Ringer waren schon seit Beginn der Fahrt nicht mehr frei gewesen und sie empfanden es zuerst als etwas einschüchternd. Die enorme Größe der Arche überwältigte sie. »Hier drinnen könnten wir fast Bäume pflanzen«, bemerkte Bip. »Wir könnten fast einen neuen Wald gründen – hier an Bord.«
»Ich hätte lieber einen echten Wald, danke«, antwortete Ringer. »Ich würde lieber die Sonne sehen.«
Jetzt hatte Emma nur noch Ketten zu bewältigen. Sie benutzte eine der Eisenstangen als eine Art Winde, steckte sie durch die Ketten, drehte sie Hand über Hand, bis die Ketten so stark angezogen waren, dass sie einen Ruck in den riesigen Nägeln fühlen konnte, mit denen sie an beiden Enden befestigt waren.
»Ich hab’s! Ich hab’s!«, rief sie durch die Türen. »Sie lösen sich! Sie lösen sich!«
Doch genau in diesem Augenblick – als sie dem Sieg so nahe war, dass sie im Geist sehen konnte, wie die Ketten weit hinaus über das Wasser geschleudert wurden – schlug das Schicksal grausam zu.
Japeth, der das dringende Bedürfnis zu urinieren verspürte und sich von seinem blutbefleckten, juckenden Bett erhoben hatte, war in den Sturm hinausgetrampelt, nur mit seiner dreckigen Tunika bekleidet. Er hob schon den Rock und begann den Wind zu besprengen, als er Emma erblickte und mit einem großen Wuuummm über das Deck schlitterte – barfuss auf dem Eis Schlittschuh lief.
Er hatte keine Waffen zur Verfügung außer seinen Händen – aber diese hätten normalerweise für Emma genügt. Angesichts der Umstände – Sturm, Eisregen, Eis am Boden und seine fast völlige Nacktheit – befand er sich allerdings stark im Nachteil.
Trotzdem versuchte er sich auf sie zu stürzen und sie wegzuziehen – mit ihr von den Türen wegzurutschen. Aber er verfehlte sie – und rutschte bis zur Reling gegenüber, wo er fast über Bord ging. Seine von Wunden übersäten Beine und von der Nesselsucht bedeckten Arme und sein Rücken ließen ihn vor Schmerz aufschreien, als er gegen die Reling und die Seile prallte.
Es kostete ihn furchtbare Überwindung, sich zum nächsten Angriff auf Emma bereitzumachen – aber er fand eins der weggeworfenen Bretter und schaffte es damit, wieder auf die Füße zu kommen und zu einer Stelle hinter ihr zu gelangen, von wo aus er mit dem Brett auf ihre Schultern einschlagen konnte.
In diesem Augenblick flog Krähe nieder, direkt auf Japeths Augen zu; sie schlug mit den Flügeln, legte sich in der Luft etwas auf die Seite und hob die Füße an, damit sie ihn sowohl mit den Krallen als auch mit dem Schnabel angreifen konnte. Doch der Wind arbeitete gegen sie und so wurde sie zu Emma zurückgetrieben.
Japeth griff an – hob das Brett noch einmal – nicht über den Kopf, sondern seitlich, so wie Emmas Brüder eine Axt geführt hätten – und das gab Krähe wieder Gelegenheit, auf sein Gesicht zuzusteuern, das sich ihr jetzt ganz darbot. Japeth brüllte noch immer – vor Schmerz und Wut – wie wahnsinnig.
Dieses Mal flog Krähe direkt über ihn und ließ sich dann wie ein großer schwarzer Stein fallen, wobei sie die Flügel anlegte und ihre gelben Krallen ausstreckte.
Bamm!
Das Brett traf sie mit voller Wucht.
Krähe.
Emma schrie – und schwang die gerade frei gewordene Kette mit den Händen über ihrem Kopf, schleuderte sie mit einem breiten Schwung nach unten, der Japeth auf der linken Seite traf und ihn mit einem lauten Knall zu Boden warf, wo er wiederum auf die offene Reling zuschlitterte. »HILFE!«, brüllte er.
Emma rutschte zu den Türen zurück und riss sie auf; sie wusste nicht einmal, dass sie heulte; sie wusste nicht einmal, dass sie aus Wunden blutete, an deren Entstehung beim Kampf gegen die Barrikade sie sich nicht erinnern konnte. Ihr war nur bewusst, dass sie wieder in Sicherheit war, mit den einzigen Leuten auf der Welt, die sie liebte.
Ham und Luci gelang es, Japeth vor dem Ertrinken zu retten; sie sperrten ihn mitsamt seinen Schmerzen und Waffen in das Arsenal. Dann gingen sie zu Mrs Noyes, die Krähe im Arm hielt, die Flügel der großen Vogeldame faltete, ihre gelben Füße an den Körper zog und ihre Augen schloss.
»Lasst mich sie zu Mottyl hinuntertragen«, sagte sie. »Bitte.«
Luci warf einen Blick aufs Kastell und sah, dass es dort keine Anzeichen irgendeiner Reaktion gab. Sie nickte Mrs Noyes zu, sagte aber: »Mach schnell. Wir dürfen unseren Vorteil nicht aufs Spiel setzen.«
Während Luci und Ham sich an den Seilen zum Kastell vorarbeiteten, gingen Mrs Noyes und Emma in den Laderaum hinunter und setzten sich auf die unterste Stufe; Mrs Noyes hielt Krähe immer noch im Arm.
»Ist sie tot?« Mottyls Stimme war so trostlos wie die Worte, die sie sprach.
»Ja«, sagte Mrs Noyes. »Sie ist tot.«
»Dürfen wir sie dann haben?«
»Ja.«
Mrs Noyes stand auf und ging mit Krähe in den Stall, wo es einigermaßen ruhig und warm war.
»Es tut mir Leid«, sagte sie. »Ich kann nicht bei euch bleiben und trauern, aber – was auch geschieht – irgendwie komme ich wieder, Motty. Wir kommen alle wieder.«
Sie kniete sich hin und legte Krähe auf das spärliche Stroh bei den Kühen, in der Annahme, sie würden sie warm halten – auf die seltsame, irrationelle Art der Menschen: Sie stellten sich die Toten nicht tot, sondern irgendwie wärme- und zärtlichkeitsbedürftig vor.
Mottyl kam an, von Bip geführt, Ringer und die Wombats im Schlepptau, und sie setzte sich vor Krähe hin, die – mit aufgerichtetem Schwanz zum Zeichen, dass sie da war – aussah, als liege sie in ihrem Nest. Mrs Noyes strich Mottyl zärtlich über den Kopf und wollte gehen.
»Welche Nachricht gibt es von meinem Sohn?«, fragte Mottyl mit monotoner Stimme.
Mrs Noyes sagte: »Keine.«
»Bring ihn bitte zurück!« Mottyl schloss die Augen.
»Ja«, sagte Mrs Noyes. »Ich werde ihn zurückbringen.« Und eilte davon, um sich den anderen anzuschließen.
»Kommst du mit mir?«, fragte sie Emma. »Oder willst du hier warten?«
»Ich will hier warten«, sagte Emma. »Aber ich werde mit dir mitgehen.«
Mottyl wünschte inbrünstig, dass sie ihre Freundin wenigstens einen Augenblick sehen könnte. Aber vor ihren Augen – ganz gleich, ob offen oder geschlossen – war nichts: nur das Schwarz ihrer Blindheit.
»Ist sie da, Bip?«
»Ja.«
»Ist sie wirklich tot?«
»Ja.«
»Hat man ihr sehr wehgetan?«
»Da ist eine Schramme, die sich über ihren ganzen Kopf zieht.«
Mottyl dachte darüber nach.
»Sind ihre Flügel noch in Ordnung?«
»Oh, ja.«
»Ist ihr Schwanz noch da? Ist er nach oben gerichtet?«
»Ja. Ja.«
»Sind ihre Augen noch im Kopf?«
»Ja, das auch.«
»Und ihr Schnabel? Ist er beschädigt?«
»Nein.«
Mottyl kauerte jetzt in Trancehaltung, das Gesicht ihrer toten Freundin zugewandt.
»Es ist viel gestorben worden«, intonierte sie. »Nicht wahr?«
»Ja«, sagte Bip leise.
»Glaubst du, dass mein Kind tot ist?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß es nicht.«
»Ich glaube, dass es tot ist.«
»Es tut mir Leid.«
»Lass es dir nicht Leid tun«, sagte Mottyl zu ihrem Freund. »Das ist hier unser Los. Schließlich – sind wir nur Tiere.«
Dann verfiel sie in Trance und trauerte, ihr Körper und ihr Geist waren nicht mehr erreichbar.
Im Kastell wurde die Große Revolution der Unteren Schichten in einem einzigen Handstreich gewonnen.
Luci – die zuerst hineinging – entdeckte, dass Noah und Hannah noch in der Kapelle waren, zusammen mit Jahwes Katzen.
Sie brauchte nur die Tür zuzumachen und sie zu verriegeln.
Sem dagegen war – soweit man sehen konnte – verschwunden.
Wachen wurden aufgestellt.
Ham übernahm die erste, er bezog im Salon Position, im Lichtschein wohltuender Kerzen, und mit einem doppelt gestrickten wollenen Umhang aus der Sammlung seines Vaters.
»Wirst du auch nicht einschlafen?«, fragte Luci. »Das kommt mir alles viel zu bequem vor.«
»Ich schwöre es«, sagte Ham. »Ich will nur all dieses Licht genießen. Ich würde nicht im Traum daran denken, die Augen zu schließen.«
Luci sagte es Mrs Noyes und Mrs Noyes gab es an Mottyl weiter. Der kleine silberne Kater war tot.
Mottyl hatte nur einen Gedanken: Noch ein Experiment, danke… und sah Doktor Noyes’ Hand vor sich, die sich in ihr Nest vortastete – in all ihre Nester, für immer und ewig –, dieses herausnahm und jenes – dieses Auge und jenes Auge – diese Ohren und jenen Schwanz – das Hirn von diesem und die Hoden von jenem – den Kopf von diesem, den Darm von jenem – diese Farbe, jene Farbe, weiß und rot, silbern und dreifarbig… niemals, niemals, niemals, niemals…
Niemals würde es aufhören.
Mottyl stand auf – langsam – schmerzerfüllt – wie jemand, der zu lange geschlafen hatte.
»Wo gehst du hin?«, fragte Mrs Noyes – ganz leise und ängstlich, nicht forschend.
Mottyl zögerte – ziemlich verwirrt –, die Fremdheit des sie umgebenden Raums überwältigte sie plötzlich.
Wo war die Veranda? Wo war der Hof? Das Feld? Der Wald?
Wir haben soeben Krähe in ihrem Nest zurückgelassen. Wo sind wir?
Nichts.
Sagt mir – wo sind wir, Flüsterstimmen? Sind wir nicht im Wald?
Nichts.
»FLÜSTERSTIMMEN?«, schrie Mottyl. »FLÜSTERSTIMMEN!« Nichts. Keine einzige Reaktion. Sie waren weg.
»Mottyl?«, sagte Mrs Noyes. »Motty?« Sie war mehr als nur beunruhigt. Sie war in Panik.
Bip ging an der Frau vorbei und setzte sich auf den Hinterbeinen neben die Katze.
»Bist du es, Bip?«
»Ja.«
»Ich versuche aus dem Wald heraus- und den Berg wieder hinaufzukommen. Dort habe ich meine Kätzchen.«
»Ja. Das merke ich. Du fütterst sie.«
»Welchen Weg muss ich nehmen? Ich hab’s eilig. Schnell!«
»Ich kann dich führen«, sagte Bip zu ihr. »Komm! Ich zeig dir den Weg.«
Er trat vor sie hin und hob den Schwanz ganz hoch – ganz gerade nach oben –, damit Mottyl seinem Geruch folgen konnte.
Als sie ging, hielt Mrs Noyes die Laterne, die sie aus dem Salon gestohlen hatte, höher und sah, dass der Stall ringsum mit schweigenden Tieren gefüllt war; alle schauten zu ihr hin.
Mottyl war in ihrem Nest. Ihre Kätzchen schliefen. Bip und Ringer saßen da und warteten. Ringer flüsterte: »Meinst du, sie wird sterben?«
»Möglich.«
Ringer überlegte: »Sollten wir sie nicht allein lassen, wenn sie sterben wird?«
»Nein. Wir müssen bei ihr wachen – weil sie blind ist. Und ich glaube, sie weiß nicht, wo sie sich befindet.«
Mottyl konnte das Gespräch hören, aber es kümmerte sie kaum noch, was da geredet wurde. Sie ließ sich treiben – wie alle Tiere, die dem Tode nahe sind – wenn der Tod nicht durch Gewalt herbeigeführt wird – wenn Raum, durch den man sich treiben lassen kann, da ist – und Zeit.
Mottyl lag in der Sphinxhaltung da: die Pfoten nach vorne gestreckt – den Kopf leicht angehoben – die blinden Augen offen und starr. Den Schwanz hatte sie fest an ihre Seite gelegt und ihr Körper war so angespannt, dass jeder Nerv und jede Bahn, durch die sich ihre Flüsterstimmen bewegt hatten, zu spüren waren. Sie wartete auf die Flüsterstimmen. Vergeblich.
Stattdessen ereignete sich, während Mottyl sich so treiben ließ, ein Zusammenspiel von weißem Rauschen und Zittern. Bip konnte sehen, wie es unter Mottyls Haut zu zucken anfing – einige Zuckungen waren regelrechte Spasmen – andere lang gezogene, sanfte Botschaften, die durch das ganze Netz der Nervenbahnen, von einem Ende von Mottyls Körper zum anderen gesendet wurden. Und dann – ganz plötzlich, nach einem letzten Zucken ihrer Rückenmuskeln, das aussah, als wolle sie ein lästiges Insekt loswerden – wurde sie ganz ruhig und begann zu singen.
Der Gesang war kehlig und voll und das Lied hatte eine Melodie und viele Noten. Nie zuvor hatten Bip und Ringer einen solchen Gesang vernommen, dennoch erkannten sie, was er bedeutete, denn fast jedes Tier hat ein Lied, das es in der Stunde des Todes singt – oder vielmehr Lieder, die an den Tod gerichtet sind.
Der Inhalt von Mottyls Lied war nur ihr selbst bekannt. Ihre Kinder, ihre Krähe und ihre Flüsterstimmen waren alle vor ihr gestorben. Und jetzt würde die Welt sterben. Ihr Lied war eine Beschreibung dieser Welt – die Welt, in die Mottyl geboren wurde und in der sie gelebt hatte. Es beschrieb auch all ihre Kätzchen und die verschiedenen Geburten im Laufe der Zeit und die Farben und Markierungen ihrer Jungen. Es beschrieb Mottyls Mutter und Mottyls eigene Geburt und Mrs Noyes und die Veranda, wo sie an Sommerabenden gesessen hatten. Es beschrieb den Schaukelstuhl, seine Größe, seinen Geruch, sein Alter und das Geräusch, das er von sich gab. Es beschrieb die Stelle, an der Mottyl die meisten Abende im Schatten der Trompetenwinde gelegen hatte, und es beschrieb die Gerüche, die sie dort umgaben – den Geruch des Staubs – den Geruch des Gins und den Geruch der Blumen und Kräuter. Es erzählte von allen Mäusen, die sie getötet und gefressen hatte. Es erzählte von der Milch, die sie getrunken hatte – und von Brühe und von Wasser. Es erzählte vom Wald und von der Stelle, wo die Katzenminze hoch über die Kamillen wuchs, und es erzählte von kaputten und von heilen Zaunbrettern – von Stellen, die man vermeiden sollte, und von Pfaden, von denen aus man den Wald betreten und verlassen konnte. Es erzählte von Krähe. Es erzählte von Pfeifer. Es erzählte von der Füchsin und vom Stachelschwein. Es erzählte von Japeths Wölfen an ihrem Tor. Es erzählte von Dämonen, Drachen und anderen Gefahren und es erzählte von der allergrößten Gefahr überhaupt: Von Doktor Noyes.
Die Welt, deren Lobes- und Leidenslitanei der Gegenstand ihres Liedes war, war auch die Welt, die sie jenseits ihrer Blindheit im Geiste wahrnahm. Es war die voll hellem Licht und dichten Schatten gezeichnete Welt voll grünen und gelben Lebens, die sie vom Tag ihrer Geburt an gesehen hatte. Sie war voll von staubigen Höfen und hohen grünen Feldern und anderen Feldern, die gemäht und gelb waren. Sie war weiß, droben am Himmel, und all die Stellen im Wald waren silberfarben und blau und braun. Sie wimmelte von Leben – war voller Energie – immer in Bewegung – und alles rief ihr zu:
War es nicht herrlich hier!
Ade. Ade.
Das hohe Gras teilte sich – und was da vor ihr lag, war der gemeinsame Nenner von allem: Lebendiges. Niemand würde jemals erfahren, was sie gesehen hatte – dass sie die letzten Dinge der vergangenen Welt gesehen hatte: der Welt, wie man sie nie wieder würde sehen können. Im Geist der blinden Mottyl erstand die letzte vollständige Vision der Welt, bevor sie ertrank.
Verschwand, jetzt.
Unterging.
Für immer.
»Mottyl?«
Es war Luci.
»Mottyl?«
Bip und Ringer kauerten im Schatten und warteten.
Luci streckte ihre Hand ins Nest und berührte Mottyl an der Seite.
»Wach auf!«
Da rührte sich etwas.
»Hühnerbrühe, Mottyl. Da.«
Mottyl murmelte: »Hallo.«
Bip setzte sich wieder auf.
»Gut«, meinte er. »Es gibt sie noch.«
Ringer rollte sich zusammen – und schlief.
Mottyl senkte ihr Kinn, ganz langsam, zur Schüssel hin und trank.
Es war gut.
Als der Sturm abflaute, hinterließ er einen Rest treibender Winde und dicker gelber Wolken, die sich in der Richtung davonschlichen, wo zu anderen Zeiten die Berge Aleph, Beth und Gimel einen erkennbaren Horizont gebildet hatten. Jetzt gab es – auf allen Seiten – nur noch eine dünne schmutzige Linie, die sich wellenförmig zwischen Wasser und Himmel bewegte, als würde der Horizont selbst eine Definition suchen.
Unter Deck waren die Laternen, die seit so vielen Tagen nicht angezündet worden waren, wieder an den Decken aufgehängt, und Luci ging mit einer Kerze von Lampe zu Lampe und schuf Staubaureolen inmitten der Finsternis.
Mrs Noyes, die gewartet hatte, bis Emma ihre Geschichte erzählt hatte und eingeschlafen war, schloss die Tür zur winzigen Zelle hinter sich und stand jetzt im schmalen Gang, eine Hand an jede Wand gestützt, im Versuch, ihr Gleichgewicht zu wahren. Die Euphorie des Sieges wich schnell der altbekannten Erschöpfung und Mrs Noyes sehnte sich danach, sich an Ort und Stelle fallen zu lassen – auf dem Boden zusammenzusacken und mit dem Rücken gegen die Wand eine Woche zu schlafen. Aber das konnte nicht sein. Sie wusste, dass sie auf den Füßen und wachsam bleiben musste. Sem hatte man noch nicht ausfindig gemacht, und solange er auf freiem Fuß blieb, war die Gefahr für sie noch nicht vorüber, obwohl sie sich fragen musste, was sie vom Ochsen zu fürchten haben sollten: Er war so fügsam geworden.
Trotzdem: Sicherheit geht vor.
Was auch immer »Sicherheit« bedeutete.
Nun – wir können zumindest die Lampen anzünden, dachte sie, während sie Luci zuschaute. Und wir können zumindest wieder frisches Wasser trinken und wieder frei atmen – herumgehen, in aufrechter Haltung, auf den oberen Decks spazieren und in normaler Lautstärke miteinander sprechen.
Und Mottyl… Sie brauchen wir jetzt nicht mehr zu verstecken. Obwohl sie selber inzwischen angefangen hatte, sich in ein Versteck zurückzuziehen. Wir müssen ein Auge auf sie haben, beschloss Mrs Noyes. Sie darf nicht aus Trauer denselben Weg gehen wie die Dame.
Mrs Noyes tappte den Gang entlang, ging unter den Lampen hindurch und streckte die Hand aus, um aus reinem Vergnügen jede Einzelne zu berühren. »Hallo! Hallo! Hallo!«, sagte sie.
Zu den Lampen. Zu dem Licht.
Die Dunkelheit des unteren Decks war schrecklich, wie immer, und als Mrs Noyes an den verschiedenen Verschlägen und Boxen vorbeiging, legte sie die Hand an das Gitter der Käfige, damit die Tiere sie riechen konnten, damit sie wüssten, wer vorbeiging. »Ich bin’s nur«, sagte sie mit möglichst heller Stimme. »Ich bin’s nur…«
Selbst mit ihrer Laterne konnte sie kaum etwas erkennen, aber das war eigentlich unwichtig. Sie kannte sie alle auch so, hatte so viel Zeit bei ihnen verbracht und sie so oft besucht – so viele Stunden, die mit Füttern und Beruhigen und Geschichtenerzählen und mit dem Anhören von Kummer und Sorgen ausgefüllt waren.
»Luci kommt – sie bringt Licht für alle mit«, sagte sie, als sie die Gesichter, die sich um die Gitter drängten, berührte und den Atem von Affen am Handgelenk spürte. »Dann wird es eine besondere Fütterung geben; jeder von euch wird frische Erdnüsse und Heu bekommen. Und wir werden die Vorratslager öffnen und Vollkornhafer und Mais und Sonnenblumenkerne haben…«
Als sie die letzte Ecke umrundete, verlangsamte sie ihre Schritte, bevor sie Mottyls Nest erreichte.
»Bist du da oben?«, fragte sie und sie kletterte auf die Kisten und versuchte in das Nest hineinzuschauen.
»Jaaaaaa…«
»Bist du sehr müde?«
»Jaaaaaa…«
»Ich dachte, du hättest es vielleicht gern, wenn ich dich mit aufs Deck hinaufnehme. Wirkliche Luft atmen; eine richtige Brise fühlen. Es beruhigt sich jetzt ganz schön.«
Mottyl kauerte – setzte sich dann in Sphinxhaltung hin – ihre blinden Augen starrten und ihre Lippen waren zurückgezogen.
»Tut mir Leid«, sagte Mrs Noyes. »Ich weiß, du willst wahrscheinlich allein sein – aber es ist nicht gut für dich, hier unten im Finstern zu bleiben. Verstehst du?«
»Jaaaaaa…«
Doch Mottyl regte sich nicht.
Mrs Noyes streckte die Hand aus und glättete mit ihrer Handfläche die Flanken des Tieres.
Mottyl quälte sich hoch – machte einen Katzenbuckel und strapazierte all ihre schmerzenden Knochen und Muskeln.
»Da«, sagte Mrs Noyes. »Ich mache dir eine Schlinge und binde dich mir um den Hals, so dass du dich nicht einmal festhalten musst.«
Mottyl schwieg. Sie ließ zu, dass Mrs Noyes sie herunterhob und in die Schlinge ihres Tuches legte – und dann ruhte sie an der Brust, an der sie ihr ganzes Leben schon geruht hatte. Sie atmete so mühsam, dass Mrs Noyes sich sehr beherrschen musste, um den Gedanken an den Tod fern zu halten.
Als sie das obere Deck erreichten, war das Meer so ruhig wie ein Gartenteich. Überdies klärte sich der Himmel auf und ließ einen Stern erkennen: der erste Stern, den sie sahen, seit sie die Erde verlassen hatten.
»Stern, Mottyl…«
Mrs Noyes konnte es kaum glauben.
Mehr Wolken zogen vorbei – und dort oben, fast genau über ihren Köpfen, war der Mond.
Ganz langsam, kaum fähig, sich zu bewegen, hob Mottyl den Kopf über die wollenen Ränder der Schlinge und beschnupperte die Luft.
»Mond, Mottyl. Der Mond…«
Mrs Noyes hielt sie hoch.
»Jaaaaaa…« Mottyl konnte ihn fühlen.
Sie standen da, solange die Dunkelheit anhielt. Bis zum Tagesanbruch.
Der Mond und die Sterne waren in keiner Nacht auf See zu erkennen gewesen. Und während der Mond sich neigte und die Sterne im Westen erloschen, stieg der Wolfsstern an der Stelle empor, wo sich die Sonne zeigen würde.
Der Wolfsstern war rot.
Mrs Noyes erinnerte sich, wie aufgeregt Ham war, vor unzähligen Jahren, als er die Nacht in den Zedern über der Sonnenblumenterrasse verbracht hatte und im frühen Morgenlicht angelaufen kam – seine ganzen Papierstückchen auf den Küchentisch warf –, herumsprang und sich kaum beherrschen konnte.
»Ich habe ihn jetzt eine Woche lang jeden Tag beobachtet, Mama; und seit einer Woche ist es jeden Tag das Gleiche! Rot! Rot! Rot! Schöner als alles, was du je gesehen hast. Und jeden Tag – jeden Morgen –, just wenn er im Osten aufleuchtet – fangen Japeths Wölfe an zu singen! Also nenne ich ihn den Wolfsstern.«
»Ach, singen sie deswegen?«, hatte Mrs Noyes ihn geneckt, amüsiert über diese gewaltige neue Begeisterung, die die gewaltige neue Begeisterung der Vorwoche abgelöst hatte. Damals hatte Ham endlich entschieden, dass der Mond Phasen habe – und dass diese Phasen berechnet werden können. Die Woche darauf… würde die Sonne zweifellos im Süden aufgehen. Oder etwas ähnlich Hanebüchenes. Trotzdem konnte man die Begeisterung des Jungen nicht einfach ignorieren, konnte man nicht umhin, sich anstecken zu lassen: vom Wunder des Universums – vom Wunder eines jeden Dings – und vom Wunder seiner Verwunderung. Von jedem Blatt, das herunterfiel, und von jedem Ei, das er von irgendwoher anschleppte und zärtlich auf den Küchentisch legte (»Bitte – nicht anfassen! Es muss wieder dorthin zurück, wo ich es gefunden habe!«) – musste die ganze Geschichte erzählt, berichtet werden, wie er es gefunden hatte. Alles wurde erzählt. Die ganze Welt – erzählt – und aufgeschrieben.
Und dort – eben jetzt –, genauso wie er es erzählt hatte – genauso wie er es niedergeschrieben hatte – neigte sich der Mond – und der Wolfsstern ging auf.
»Wolfsstern, Mottyl. Rot…«
Aber Mottyl schlief.
Und dann – die Sonne.
Die Sonne – so schien es – musste gar nicht aufgehen.
Stattdessen wich das Wasser zurück – und aus seinen Tiefen stieg die Sonne empor – wie die Toten, die aus dem Grab zu neuem Leben erweckt werden.
Mottyl wachte auf.
Und Mrs Noyes sagte: »Ja. Sie ist zurückgekommen.«
Als Luci die Lampen alle angezündet hatte, ging sie wieder die Treppe hinauf und schaute über das Deck. Dort sah sie Mrs Noyes, die kleinste Frau, der Luci je begegnet war. Sie stand an der Reling und hatte Mottyl in einer Wiege um den Hals geschlungen, und immer wieder bewegten sich ihre Lippen und deutete sie auf den Himmel.
Sonne, Mond und Sterne, dachte Luci. Schau mal an! Es beginnt alles wieder von vorn.
Dann kehrte sie um und ging durch den Gang zu ihrer Kajüte. Sie sperrte die Tür hinter sich zu und setzte sich auf die Koje. Von der anderen Seite drang Emmas Schnarchen zu ihr.
Luci sah sich im Raum um – lustlos zuerst, dann mit zärtlich schimmerndem Blick. Hier hatte sie mit Ham geschlafen. Einem Mann. Einem menschlichen Wesen. Dort an der Wand hingen seine Tuniken – zerrissen und abgetragen, richtig einsam sahen sie aus. Kleidungsstücke hatten immer etwas Einsames, wenn der Mensch, dem sie gehörten, sie nicht trug, dachte Luci. Nur im Himmel nicht, erinnerte sie sich. Im Himmel waren sämtliche Kleidungsstücke immer in der Reinigung. Beim Ausbessern. Sie lächelte. Oder aber die Person, der sie gehörten, war in der Reinigung, um sich zu bessern…
Ham war ein ganz netter Junge. Unreif – begeisterungsfähig – brillant. Mozart hätte ihn gemocht, dachte sie; wegen der Spiele, die sie hätten spielen können. Shelley hätte ihn wegen seiner Taschen voller Bücher gemocht. Whitman hätte ihn wegen der Spaziergänge gemocht, die sie zusammen hätten unternehmen können. Einstein hätte ihn heiß und innig geliebt – was für ein Schüler! Seine Antworten hießen immer nur ja und nein – und bei seinen Fragen fasste er sich nicht weniger kurz: Warum?, lauteten sie – und wozu?
Das war alles.
Hier ist er mein »Ehemann« gewesen. Die Spiele; die Taschen voller Bücher; die Spaziergänge; die Antworten und die Fragen gehörten eine Zeit lang… mir.
Und jetzt?
Wozu – die Menschheit?
Und warum?
Ich habe ein Gerücht gehört – du auch? – eine andere Welt…
Wo?, fragte sie sich. Wann? Wann? Wann?
Ham hörte Geräusche in der Kapelle.
Sein Vater und Schwester Hannah waren schon seit vielen Stunden da drin – und es fiel ihm ein, dass Leute essen müssen. Sie müssen Wasser trinken – die Latrine aufsuchen – andere Luft atmen als die, die sie schon seit sechs Stunden und länger geatmet haben.
Aber er musste vorsichtig sein. Durfte keine Fehler machen – keine voreilig geöffneten Türen, die den Gefangenen die Chance gaben zu entkommen. Wenn sie die Latrine benutzen wollten, würden sie es unter seiner Aufsicht tun müssen. Wenn sie Nahrung wollten, würde er ihnen in Maßen zu essen geben. Wenn sie frische Luft wollten, würde er sich etwas überlegen müssen…
»Oh!«, sagte Hannah – ihre Stimme war lauter geworden. Vielleicht wegen der Schmerzen.
Und wenn sie gerade ihr Kind bekommt?, dachte Ham. Man durfte nicht riskieren, dass es tot zur Welt kam, nur weil man Hannah ohne weibliche Hilfe allein ließ.
Er hatte den Sessel seines Vaters mit den Schaffellkissen und den Wolldecken bereits verlassen und lief durch den Gang, vorbei an der Kombüse, an der Kabine und am Arbeitszimmer seines Vaters.
Als er vor der Tür zur Kapelle stand, hörte er Hannah ganz deutlich stöhnen.
Er klopfte an.
Sofort wurde es still.
»Geht es euch gut?«, fragte er.
»Ja«, sagte sein Vater. »Ja.«
Dann wurde geflüstert – geflüstert und wieder geflüstert, bis er endlich Hannahs Stimme hörte und auch sie sagte: »Ja.«
»Müsst ihr zu den Latrinen?«
»Noch nicht«, sagte Noah. »Nein.«
»Wollt ihr etwas essen?«
»Nein.«
»Wasser?«
»Nein.«
»Also nichts?«
»Nein. Nein. Nichts.«
Alle Antworten kamen von Noah. Schwester Hannah sagte kein Wort.
Ham ging weiter und suchte selbst die Latrine auf. Als er wieder durch den Gang kam, drückte er sein Ohr – vergeblich – an die Kapellentür und lief zur Kombüse, wo er sich ein Roggenbrot mit Käse belegte.
Hannah lag auf dem Boden. Die Fruchtblase war geplatzt und unter ihr und zwischen ihren Beinen war alles nass.
Das silberne Kätzchen lag noch auf dem Altar aufgebahrt – es schrumpfte allmählich zusammen – verschwand immer mehr in der konzentrierten Hitze der Weihrauchtäfelchen, die Noah zu Ehren seines wundersamen Erscheinens rundherum aufgestellt hatte.
Die Altarlichter – zum Teil rot, zum Teil goldfarben – waren heruntergebrannt und würden bald neue Kerzen brauchen.
Noah befand sich genau zwischen dem Altar und der Frau auf dem Boden; er saß auf der samtenen Kopfstütze eines prunkvollen Betstuhls – ritt darauf wie im Damensattel, ein Bein um das Ende der Kopfstütze geschlungen.
Hannah schwitzte – war schweißgebadet – und klammerte sich mit nach hinten über den Kopf ausgebreiteten Armen an den Beinen eines Stuhls fest.
»Ich brauche Hilfe«, sagte sie. »Ich brauche Hilfe. Das kann ich nicht allein.«
»Ich werde um Hilfe rufen, sobald das Kind geboren ist«, sagte Noah.
»Aber das Kind ist tot. Es ist tot. Und ich werde es nicht allein los…«
»Mrs Noyes hat ein Dutzend tote Kinder auf die Welt gebracht, Tochter. Ich weiß, dass es geht. Du musst es nur tun.«
»Aber – ich will jemand bei mir haben.«
»Du hast jemand bei dir.«
»Ich habe Angst…«
»Alle Frauen haben Angst.«
»Aber wenn es tot ist, warum kann ich dann keine Hilfe haben?«
»Weil wir das Kind sehen müssen.«
»Ich verstehe nicht…«
»Es ist ganz einfach. Wir müssen das Kind erst sehen, bevor wir Hilfe zulassen können.«
Hannah fand sich damit ab. Der alte Mann war unnachgiebig. Es würde keine Hilfe für sie geben. Auch wenn sie sterben sollte, würde es keine Hilfe geben. Sie musste das allein tun – ihm die Leiche überreichen – und, falls sie dann noch leben sollte, ihre Freiheit wiedererlangen.
Noah sagte: »Ich werde jetzt für dich beten – und du wirst das Kind gebären.«
Er sprach mit einer solch eisigen Ruhe – und legte in seinem Verhalten eine solch entsetzliche Grausamkeit an den Tag. Dabei wusste Hannah genau, dass er ebenso viel Angst hatte wie sie. Aber sie wusste nicht warum. Es sei denn, auf dem Kind wäre ein Zeichen, das er fürchtete – etwas, das auf seine Abstammung hinweisen würde – etwas, das beweisen würde, dass es sein Kind war.
Sie presste.
Noah betete.
Da er wie sie vom gleichen inbrünstigen Verlangen beseelt war, hatte das Pressen und das Beten schließlich Erfolg.
Und als Hannah endlich ihr Kind erblickte, schrie sie auf – aber nicht, weil es tot war. Dass es tot war, war ihr schon lange bekannt – und ihre Trauer hatte sich im Laufe der Zeit schon abgeschwächt. Doch nichts hatte sie auf den Schock vorbereitet, den sie fühlte, als sie sah, was sie diese ganzen Monate hindurch getragen hatte – nichts hatte sie auf das Entsetzen vorbereitet, das sie empfand, als sie erkannte, in was sie all ihren Ehrgeiz und ihre ganze heimliche Liebe investiert hatte.
Noah war, natürlich, fest entschlossen, ihr allein die Schuld an der Missbildung des Kindes zuzuweisen. Als er mit dem Altarmesser die Nabelschnur durchtrennte, sagte er: »Ich habe es befürchtet. Obwohl ich bei jedem Gebet, das ich sprach, darum flehte, dass es nicht so sein sollte – dass du nicht, wie all die anderen, von diesem Fluch verseucht sein solltest…«
Er packte das Kind mit einem Altartuch und begann seine Gliedmaßen einzuwickeln, sie vor seinen Augen zu verbergen. Eins – und dann noch eins – dann noch ein Altartuch –, aber es gelang ihm offensichtlich nicht, das Ding vollständig zu bedecken – seine grässliche Gestalt zu verstecken.
Hannah war gerade dabei, wieder zu Kräften zu kommen, und sich in Sitzposition zu ziehen, als die Tür aufflog und Ham hereinstürzte, in der Hand ein Messer.
»Ich habe dich schreien hören«, sagte er. »Aber bevor ich kam, musste ich zuerst eine Waffe finden…«
Er hielt mitten im Satz inne, starrte seinen Vater an, sah nur allzu deutlich, was da in den Altartüchern halb versteckt – halb eingewickelt – in den Armen seines Vaters lag.
Noah stand wie angewurzelt.
Hannah zog sich mit Hilfe des Stuhls auf die Knie und dann auf die Füße. Ihre sonst makellosen Roben waren mit Staub und Blut beschmutzt – und das Kind war aus ihrem Bauch verschwunden.
Sie ließ sich auf den Stuhl nieder und sagte zu Noah: »Geben Sie es mir! Ich werde es ins Leichentuch wickeln…«
Ham war sprachlos.
Und plötzlich fiel er hin.
Sem hatte es schließlich doch gewagt, sein Versteck in der Speisekammer seines Vaters zu verlassen. Doch das Kind, das nicht sein Kind war, nahm er nicht wahr. Er war zu sehr damit beschäftigt, auf Ham einzuschlagen – zu sehr damit beschäftigt, Noah mitzuteilen: »Sie sind jetzt frei, Vater.«
Noahs Augen flackerten kurz auf – suchten das, was da auf Hannahs Schoß lag.
Er lächelte.
Es stimmte.
Er war frei.
Der kleine Affe war für immer unter seinem Leichentuch verschwunden.
»Lasst uns beten!«, sagte Noah.
Hannah jedoch betete nicht.
Trotz ihrer Schwäche – und trotz ihrer Wut – schaffte sie es, vom Stuhl aufzustehen, ihr Kind zu nehmen und zu gehen.
Mrs Noyes stand noch immer allein an der Reling und blickte aufs Meer hinaus – »Meer« war das einzige Wort, das ihr als Bezeichnung einfiel. Nicht dass sie das Meer je gesehen hatte, alles, was sie vom Ozean bisher wahrgenommen hatte, war das Rauschen, das man hören konnte, wenn man eine Muschel ans Ohr hielt. Und das hier, was sie als »Meer« bezeichnete, klang anders als ein Ozean. Vielleicht war ja für dieses Wasser unter ihr noch kein Wort erfunden worden – aber vorerst genügte »Meer«.
Endlich war die Arche in eine Flaute geraten – die einzige Bewegung kam von der gewaltigen grünen Dünung, die sie von Zeit zu Zeit wie aus dem Schlund der Erde nach oben schob.
Mrs Noyes schaute hinunter.
Da unter ihr befand sich die ganze Welt: Täler, Berge und Wälder, wie sie sie im Traum nicht für möglich gehalten hätte. Nicht einmal Vögel hätten die Welt so wie sie jetzt schauen können – alles war vollkommen bewegungslos, und alle Konturen traten überdeutlich und ohne Schatten zu werfen hervor: Alle Bäume – jeder einzelne – strebten durch die grünen Tiefen nach oben – und alle Berge, auch die, die am weitesten entfernt waren, waren frei von Wolken und Nebel – alles war gleich – Täler und Berge in derselben grünen Tiefe versunken – in der großen Jadeflasche mit diesem Wasser, auf dessen Boden Noah den Pfennig der Welt hatte sinken lassen und dabei Jahwe den Kopf mit dem Wunder seines »mirakulösen« Verschwindens verdreht hatte.
Da waren die Bauernhöfe – und all die weißen Steingebäude – all die sich windenden Bänder der Kuhpfadgeographie, die den Ort, an dem sie ihr Leben verbrachte, definiert hatten. Da waren die terrassenförmig angelegten Felder und die weißen Steinmauern und die eingestürzten Zäune, über die hinweg all die ertrunkenen Rinder und all die ertrunkenen Ziegen endlich ihren Weg gefunden hatten – und die Weiden an den Berghängen, wo die Schafe das Singen erlernt hatten, und die heiligen Obstgärten, in denen die Ältesten und die Rabbiner und die auserwählten Frauen nie mehr umhergehen und ihre heiligen Träume träumen würden. Da waren die gefährlichen Untiefen, wo immer wieder jemand ertrank, diese und die harmlosen Teiche waren jetzt eins geworden – und die Brücken, die jetzt bedeutungslose Flussbetten überspannten. Da waren Straßen, die zu Städten und Dörfern und zu den Häusern führten, wo all die Leute gelebt hatten und die jetzt still und ohne eine Menschenseele vor ihr lagen – nur Fische schafften es, zum Klatsch, der sich hinter den Mauern verbarg, vorzudringen.
Und da waren die Altäre – für immer nutzlos geworden.
»Keine Feuer mehr«, flüsterte sie. Keine blutbesudelten Lämmer mehr.
Es war die Welt, von der sie immer geträumt hatte.
Und sie war Wirklichkeit.
Als die Stille sich über alle sichtbaren Horizonte hinweg ausdehnte, verschwanden sämtliche Wolken und am Himmel blieb nur noch die Sonne übrig. Zwei Tage zuvor hatte es geschneit – und alle Vögel waren an der Reling festgefroren. Heute zogen sie in Schwindel erregenden Kreisen ihre Bahn um die Arche – sie riefen und schrien und kreischten mit unzähligen jubelnden Stimmen. Einige hatten sich auf dem Wasser niedergelassen – ließen sich in vollkommener Zufriedenheit treiben – ohne Angst, ihren Platz auf der Arche zu verlieren, da sie weder Kielwasser noch Bugwelle aufwies.
Am Eingang zum Laderaum ertönte ein zunächst nicht identifizierbares Geräusch. Etwas – oder jemand – summte, und das Geräusch befand sich im Treppenhaus und wurde nach oben immer lauter.
Langsam kam eine große, hagere Frau in einer Robe aus dicht gefältelter ungebleichter Baumwolle zum Vorschein – über die Schulter blickte sie in den Schacht wie eine Schauspielerin, die durch eine Falltür die Bühne betritt und rückwärts ins Rampenlicht emporsteigt.
Das summende Geräusch, das den Auftritt der Frau begleitete, wurde immer lauter – und als die Frau zwei große, geflochtene Bienenkörbe auf das Deck hob und sie in die Sonne stellte, war jedem klar, um was für ein Geräusch es sich handelte. Die Frau warf einen suchenden Blick um sich, um zu sehen, ob ein anderer Platz für ihre Bienenkörbe vielleicht geeigneter sei, doch schließlich schob sie die Körbe nur etwas von der Tür weg und trat zurück, um sie bewundern zu können.
Dass diese Frau Luci war, konnte zunächst niemand erkennen. Nur ihre riesige Gestalt erinnerte an ihre anderen Verkörperungen. Jetzt waren ihre Haare weder schwarz noch rot – sondern honigfarben – und sie waren weder eingerollt und auf dem Kopf hoch getürmt noch kurz geschoren oder gewellt. Dieses Mal war ihr Haar lang und glatt und reichte hinten bis zu den Schulterblättern. Ihr Gesicht war diesmal weder rund noch kantig, sondern breit und flach, mit seltsamen Augen von einer fast goldenen Farbe: Tieraugen, wild und zärtlich. Die Augen eines Propheten, dessen Worte, genauso wenig befolgt würden wie die Warnschreie eines Tieres.
Als sie die Bienenstöcke endlich gerichtet und auch für sich einen geeigneten Platz gefunden hatte, nahm Luci die geflochtenen Deckel ab. Sie ließ die Bienen entweichen, dann ging sie weg und setzte sich hoch oben auf den Portikus über der Treppe, die zum Laderaum führte. In dieser Position diente sie den Bienen als eine Art Leuchtfeuer; sie bildeten sofort eine Säule um sie und schienen sie völlig zu umzingeln. Doch bald flogen sie höher und formten eine Wolke, um Luci vor der Sonne zu schützen.
Zur etwa gleichen Zeit, als Luci sich auf dem Portikus niederließ, zeigte sich eine weitere Gestalt, ebenfalls weiß – doch blutbefleckt; sie kam aus dem Kastell und stellte sich an die eine Seite der Arche, etwa zehn Schritte von der Stelle entfernt, wo Luci saß.
Keiner sprach ein Wort. Luci bekundete weder Wut noch Überraschung darüber, dass eine ihrer Gefangenen hier frei herumlief, und Hannah gab kein Anzeichen dafür zu erkennen, dass die Anwesenheit so vieler Bienen sie beunruhigte. Keine der beiden Frauen grüßte die andere – beide verhielten sich genauso kühl, wie sie es immer getan hatten. Ob jede von ihnen die Anwesenheit der jeweils anderen überhaupt zur Kenntnis nahm, war nicht deutlich, so diskret waren ihre Reaktionen – eine leichte Neigung des Kopfes – ein Innehalten vor einer Bewegung: mehr nicht.
Hannah, die genug Tränen vergossen hatte, trug ihr Kind in seinem Leichentuch. Ihre Haltung drückte so viel Strenges – so viel Förmlichkeit aus –, dass es sich ebenso gut um ein gewöhnliches Paket hätte handeln können, was sie trug – einen Gegenstand nur –, nichts, das lebendig war oder auf irgendeine Weise Leben in sich geborgen hatte. Doch Hannah musste der Tatsache ins Auge sehen, dass sie das Gefäß dieses Kindes gewesen war. Ob bewusst oder nicht – ob zu Recht oder nicht –, es gehörte ihr. Also erwies sie ihm die Ehre, die ihm zustand: Sie hielt es, ganz kurz, an ihre Brust, küsste es auf den Kopf und streichelte seinen Rücken, als wäre es ein Mensch – dann warf sie es ins Wasser – wo es eine ganze Weile obenauf schwamm und irgendwann ziemlich weit von der Arche weggetrieben wurde, bis es außer Sicht war, vermutlich war es schon unter der Wasseroberfläche verschwunden – obwohl Luci einen Augenblick dachte, es vielleicht später doch noch einmal flüchtig gesehen zu haben. Vielleicht war es auch nur ein Seevogel gewesen, denn draußen auf dem Wasser hatten mehrere Vögel die Richtung des Kindes genommen.
Hannah ging ganz langsam zum Kastell zurück – warf nicht einen Blick über ihre Schulter –, zögerte nicht einmal eine Sekunde, bevor sie unter dem Vordach hineinging; sie lief einfach geradeaus und verschwand aus Lucis Blickfeld.
Wenn Luci die Bienen an Deck bringen konnte, warum dann nicht auch andere Tiere?
Mrs Noyes hatte die Idee, ihre Schafe hinaufzubringen, wo sie den Himmel sehen und frische Luft atmen und vielleicht ein Lied singen konnten.
So stolperten der Widder und all seine Mutterschafe und Lämmer die Treppe hinauf, geblendet vom Glanz der Sonne und überwältigt von der Weite des Himmels – die sie inzwischen vergessen hatten. Einige der Lämmer hatten die Welt noch nie gesehen, denn sie waren an Bord der Arche, im abgedunkelten Stall, geboren.
Das alles war wie eine Offenbarung für sie – die Luft und das Wasser – das große breite Deck –, und die Schafe und Lämmer taten nichts anderes als schauen.
Mrs Noyes hob das allerkleinste, allerjüngste Lamm auf und sie sprach zu seinen Eltern und zu allen Schafen, deren Anzahl an Bord der Arche von sieben auf zwanzig gestiegen war – obwohl so viele Lämmer als Opfer und Futter für den Löwen aus dem Schacht geholt worden waren.
»Es ist höchste Zeit, dass dieser Kleine das Singen erlernt«, sagte Mrs Noyes. »Und welches Lied würde sich besser für den Anfang eignen als Lamm Gottes}…«
Kaum hatte sie sie ausgesprochen, bereute Mrs Noyes ihre Worte auch schon. Lamm Gottes hatte eine so furchtbare Bedeutung erhalten, seitdem sie es vor Jahwes Ankunft einstudiert hatten. »Nein«, sagte sie. »Wir singen nicht Lamm Gottes, Wir singen ein anderes, fröhlicheres Lied. Ich weiß! Wir singen Lang, lang ists her. Das haben wir früher alle zusammen gesungen…« Und sie stimmte das Lied selber an – und sah dabei das Lamm in ihren Armen an.
Sag mir das Wort, dem so gern ich gelauscht, lang, lang ists her, lang, lang ist’s her. Sing mir das Lied, das…
Sie hielt inne. »Das ist komisch«, sagte sie. »Ich habe den Text vergessen!«
»Määääh…«, machte eins der Schafe zu ihren Füßen.
»Wie?«, fragte Mrs Noyes.
»Määääh…«, sagte das Schaf.
Mrs Noyes lachte. »Was für ein eigenartiger Laut«, sagte sie, »Määääh.«
»Määääh…«, machte das Schaf wieder.
»Ich weiß«, sagte Mrs Noyes. »Viel, viel besser! Wir singen Wiegende Wellen auf wogender See. Einverstanden?« Und sie stimmte an:
Wiegende Wellen auf wogender See,
wallende Fluten der Gezeiten…
»Was ist? Singt mit!«
schaukelnd hernieder und wieder zur Höh,
trägst du mein Boot im frohen Spiel…
»Wollt ihr nicht mit mir singen?«, fragte sie.
»Määääh…«
Mrs Noyes wandte sich dem Widder zu.
»Du kennst doch dieses Lied. Früher haben wir es im Duett gesungen. Los…«
Ein frischer Wind weht uns geschwind
in blaue, unbegrenzte Weiten,
weht immer, immer zu, ihr Winde, mein Kanu…
»Määääh!«
»Määääh!«
»Määääh l«
»Machten alle. Jedes einzelne Schaf – der Widder, die Mutterschafe, die Lämmer…«
»Määääh!«
Und kein Einziges von ihnen sang.
Mrs Noyes nahm das Lamm von ihrem Arm und setzte es aufs Deck. Sie kniete sich hin.
»Bitte singt!«, sagte sie. »Bitte.«
Sie kniete direkt vor dem allerältesten Schaf, es hieß Daisy. Zu Hause auf den Weiden, wo die Lämmer geboren wurden, hatte Daisy ihr immer beim Gesangsunterricht geholfen. In Mrs Noyes’ ganzem Repertoire gab es kein einziges Lied, das Daisy nicht konnte.
»Also, Daisy. Du und ich zusammen. Los geht’s:
Gischtende Brandung am tückischen Riff,
»Määääh.«
strudelnde Wasser mich umlauern…
»Määääh.«
Allen Gefahren trotzet mein Schiff…«
Mrs Noyes hob das Lamm auf und drückte es an ihre Brust. Sie weinte.
»Bitte«, sagte sie. »Hei, wie wir fliegen… durch die… Flut.«
Stille.
Kein Wort.
Mrs Noyes setzte sich aufs Deck. Tränen strömten über ihre Wangen.
»Ach«, sagte sie. »Ach – nein«, sagte sie. »Ach bitte – bitte singt!…«
»Määääh.«
Mrs Noyes schaute sie nur an – und sie schniefte, benutzte ihre Schürze als Taschentuch. Das Lamm wollte von ihrem Schoß – und sie ließ es gehen. Es gesellte sich wieder zu seinesgleichen.
Mrs Noyes saß da und schaute sie an – alle Schafe und Lämmer – wie sie sich aneinander kauerten – und Mrs Noyes ausschlössen. Ihr Mund stand weit offen. Keine Lieder mehr, kein Gesang…
»Määääh.«
Nur määäh.
Nie wieder würden die Schafe singen.
Ham brauchte eine Weile, um sich von dem Schlag, den Sem ihm verpasst hatte, zu erholen – nicht nur, weil Sem so kräftig war, sondern auch wegen des dazu benutzten Geräts, des Tellers, von dem Sem gerade gegessen hatte.
Technisch gesehen hätte man die Situation zwischen den beiden Lagern als ein Patt bezeichnen können. Da Japeth noch im Arsenal eingesperrt war und nur Ham wusste, wie man ihn befreien konnte (eine geniale Serie von Knoten), war niemand da, der zu kämpfen bereit war. Und ohne Kampf keinen Sieg.
Niederlagen gab es jedoch auf beiden Seiten. Ham war überwältigt worden – und hatte die Kontrolle über seine Gefangenen verloren. Sem, Hannah und Doktor Noyes waren frei. Doch auch Ham war frei, und seine Mutter und Luci und Emma ebenfalls.
Noah hegte finsteren (und berechtigten) Verdacht gegen Ham – er war sicher, dass sein Sohn das Affen-Kind nicht nur gesehen hatte, sondern auch die richtige Schlussfolgerung hinsichtlich dessen Erzeugers gezogen hatte. Nichts davon wurde erwähnt, die Tatsache, dass es so war, hing jedoch wie ein Damoklesschwert über den beiden.
Um die Oberhand zu gewinnen, verkündete Noah erneut die unverrückbare Wahrheit des Edikts.
Jahwe hatte verfügt.
Paarweise waren sie an Bord gekommen.
Paarweise hatten sie die Fahrt bis jetzt überlebt, und offensichtlich lag der schlimmste Teil der Fahrt – wenn man den jetzt blauen Himmel und die Wiederkehr der Sonne in Betracht zog – hinter ihnen.
Paarweise mussten sie durchhalten. Wenn nicht, wäre alles verloren: für alle. Ohne Ham und Luci und Mrs Noyes und Emma könnten die Arche und die Tiere nicht überleben – und Mrs Noyes und Emma und Luci und Ham könnten ohne Doktor Noyes und Schwester Hannah nicht überleben, deren Gebete und deren Verstand und Vertrautheit mit den Geboten Jahwes das Überleben aller an Bord garantiert hatten. (Merkwürdigerweise wurden in dieser Litanei weder Sem noch Japeth mit einem Wort erwähnt.)
Nachdem er das alles im Beisein von Sem und Hannah angehört hatte, ging Ham hinaus und setzte sich in den Schatten des Portikus, hinter die Bienenstöcke und unterhalb von seiner Frau. Sie fragte ihn, was geschehen war – und er berichtete. Von dem Affen-Kind erzählte er allerdings nichts – er sagte nur, dass Hannahs Kind geboren und tot war.
»Ja«, sagte Luci. »Und sie hat es über Bord geworfen. Genauso wie sie weiterhin alle Affen und alle Dämonen und alle Einhörner über Bord werfen werden, solange diese Fahrt noch andauert…«
Ham kniff die Augen zusammen und schaute nach oben, doch er konnte von seiner Frau nur die Füße mit den Schwimmhäuten und den Saum ihres Kleides sehen – und den Oberbalken, auf dem es von Bienen wimmelte.
»Was du sagst, klingt, als würde die Fahrt ewig dauern«, sagte er.
»Vielleicht wird es so sein«, sagte Luci.
Ham schwieg einen Moment. Dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten, die Frage drängte aus ihm heraus: »Warum hast du gesagt, sie würden weiterhin alle Affen über Bord werfen, nicht nur die Einhörner und Dämonen?«
»Weil sie es tun werden.«
»Aber – warum Affen?«
»Was Hannah unter meinen Augen ins Wasser geworfen hat, war doch ein Affe.«
»Woher hast du gewusst, dass es ein Affe war?«
»Ich wusste von dem Augenblick an, als es gezeugt wurde, dass es ein Affe sein würde.«
Ham hielt es für das Beste, nichts mehr über den Affen zu fragen, sonst könnte Luci ihn dazu bringen, etwas auszusprechen, was er nicht sagen wollte.
»Liebst du deinen Vater?«
(Sie wusste es!)
»Ich achte ihn. Das ist meine Pflicht.«
In das Summen der Bienen hinein sagte Luci: »Ich wünschte, ich könnte dir beibringen, mehr Angst zu haben.«
»Du hast keine Angst«, sagte Ham.
»Doch«, sagte Luci.
»Wirklich?«
»Ja. Mit ganzem Herzen.«
Da kam Mrs Noyes durch den Portikus und ging suchend um Ham herum.
»Wo ist dein Vater?«, fragte sie.
»Ich glaube, er ist zum Beten gegangen.«
Mrs Noyes schwieg, ging aber weiter und setzte sich auf die Treppe, die zum Afterdeck führte. Dort zog sie ihre Schürze über den Kopf als Schutz vor der Sonne.
Als Nächstes kam Emma, die sich – wortlos – auf die oberste Stufe der Treppe setzte, die in den Laderaum führte. Sie hatte eine große weiße Taube dabei.
Niemand sagte etwas.
Jeder von ihnen beobachtete das Kastell: spekulierte – und wartete.
Was würde Jahwe zu Noah sagen?
Was würde Noah zu ihnen sagen?
In der Kapelle schloss Noah die Tür und war jetzt völlig allein.
Das silberne Kätzchen lag noch immer auf dem Altar.
Ein Wunder – Unsinn!
Es war die ganze Zeit nur Mrs Noyes’ verflixte Katze gewesen!
Er stierte die Ikonen an; stierte den Altar an; stierte die Großen Roten Schatullen der Weisheit an.
»Wo seid Ihr?«, fragte er. »WO SEID IHR?«
Die Ikonen – der Altar – die Schatullen schwiegen. Nur der Weihrauch bemühte sich um eine Antwort, fiel leise in sich zusammen und hörte zu rauchen auf.
»Alle anderen sind tot«, flüsterte Noah. »Warum nicht auch Jahwe?«
Er schaute die Ikonen an.
Da.
Nun gut. Wenn er dorthin gegangen war – würde er dort bleiben. Bärtig; alt und rubinäugig. Mit goldener Haut und schwarzen Roben würde er nach zerkrümeltem Weihrauch riechen. Nach Glocken und Gebeten klingen. Seine Freunde im Stich lassen – sie verderben lassen – allein…
Noah setzte sich und wickelte sich in seine Roben.
Er wartete eine halbe Stunde.
Dann stand er auf.
Er ging zur Ikone, die ihm am nächsten war – einer Ikone, die Jahwe zornig und mit weit geöffneten Augen darstellte. Noah trug ihn zum Altar, schob das silberfarbene Kätzchen beiseite und legte die Ikone an seine Stelle.
Dann zog er noch mehr Weihrauch heraus, zündete ihn an, streute chinesisches Pulver auf die Ikone, zündete es ebenfalls an und begann die Glocke zu läuten.
Dann ging er hinaus, um seinen Leuten mitzuteilen, was Jahwe gesagt hatte.
Alle waren auf Deck in der Sonne versammelt.
Noah stand da, einen Raben auf dem Arm, und er erzählte ihnen vom Bund zwischen Noah und Jahwe: vom Versprechen, dass es nie mehr eine Sintflut geben würde; vom Dekret, dass alle die Arche verlassen und sich auf Erden mehren sollten; und dass alles, was lebte und atmete und sich bewegte, in ihre Hände gegeben wurde – für immer. Und er wies auf das Symbol des Bundes und sagte zum Raben: »Geh, sei frei! Komm zurück, wenn du gefunden hast, was wir suchen!«
Und jeder schaute und jeder lauschte und manche hatten Zweifel und manche glaubten.
Und Japeth hämmerte an seine Tür.
Noah befreite ihn.
Emma sagte: »Ich fand den Regenbogen wunderschön, du nicht?«
Luci sagte: »Ja. Er war schön wie ein Papierwal.«
Der Rabe kam nicht zurück.
Sie warteten.
Eine ganze Woche.
Er kam nicht.
Noah schickte eine Taube hinaus.
Und sie warteten.
Es war Emmas Taube.
Wieder warteten sie eine ganze Woche.
Und sie kam nicht zurück.
Also schickte Noah eine weitere Taube hinaus. Und noch eine. Und noch eine.
Und keine kam zurück.
Eine Woche – zwei Wochen – drei Wochen.
Schließlich schickte er eine eigene Taube hinaus – sie war besser dressiert als die anderen.
Und diese Taube kam zurück. Mit einem Ölzweig im Schnabel.
Und Noah sagte: »Seht ihr?«
»Ja«, sagte Luci. »Wir sehen.«
Mrs Noyes holte Mottyl aufs Deck der Arche und eines Nachts saßen sie zusammen im Mondlicht. Ganz still lag die alte Katze auf dem Schoß der alten Frau. Siebenhunderteinundzwanzig Jahre zusammen.
Mrs Noyes musste an Noahs Regenbogen denken, der aus Papier war – an seinen Bund mit Gott und an den Ölzweig, der früher einmal der Ölzweig war, auf dem die Taube in ihrem Käfig saß, durch den Emma sie fütterte. Und sie dachte: Es wird nie aufhören. Die Fahrt wird nie, nie zu Ende sein. Und wenn doch…
Sie legte die Hand auf Mottyls Kopf. Hier war die Katze, deren Augenlicht Doktor Noyes zerstört hatte, und dort unter ihnen war die Welt, die von Noah (mit Hilfe seines erlauchten Freundes) zerstört worden war, und alles, was von dieser Welt übrig blieb, war nicht mehr als das, was diese alte blinde Katze und sie selber gesehen hatten – als sie vor langer Zeit im Schaukelstuhl auf ihrer Veranda über dem Tal saßen. Und jetzt wollte Noah wieder eine Welt und wieder Katzen, die er blenden konnte. Nein – verdammt, nein, dachte sie.
»Nein!«, sagte sie.
Mottyl hörte es – und regte sich.
Mrs Noyes sagte: »Ich wollte dich nicht wecken. Tut mir Leid. Leid – aber auch nicht Leid. Halte mit mir Wache, Motty – du blind und ich sehend, hier im Mondlicht. Wir sind hier, Liebes. Trotz allem – wir sind hier. Und – verdammt noch mal – ich nehme an, hier werden wir bleiben.«
Mrs Noyes suchte den Himmel ab.
Keine einzige Wolke.
Sie betete. Doch nicht zum abwesenden Gott. Nie, nie wieder würde sie zu einem Gott beten, der abwesend war. Zu den abwesenden Wolken betete sie. Und zum leeren Himmel.
Sie betete um Regen.