Das Rumpeln und die Trommelschläge waren jetzt noch viel lauter.

Krähe hob ab und bahnte sich einen Weg durch die oberen Äste, bis sie ungestört durch die Luft fliegen konnte.

»Siehst du etwas? Siehst du, was es ist?«, rief Mottyl. »Die Erde zittert, Krähe…«

Krähe kreiste höher…

»Staub«, rief sie zurück. »Riesige hohe Staubsäulen… und es sieht aus, als ob sie sich die Straße entlang bewegen…«

»Kommen sie hierher? Und wo kommen sie her?«

»Aus dem Norden… von den Städten… und ja, sie kommen hierher.«

»Kannst du erkennen, was sie verursacht? Was kann sie nur verursachen?«

»Etwas, was ich noch nie gesehen habe. Es ist sehr schwer zu sagen… es sind Pferde, glaube ich, mit Flügeln! Aber es gibt so viel Staub…«

Pferde mit Flügeln?

»Wagen und Käfige…«, fuhr Krähe fort. »Eine große schwarze Kutsche… alle Fenster sind gegen den Staub abgeschottet… und so viele Käfige, ich weiß nicht…«

»Was ist in den Käfigen?«

Mottyl fragte sich, ob es eine Drachensafari war – ob jemand auf Drachenjagd gewesen war und die Drachen lebend mit nach Hause nahm. Ihr war der Appetit gänzlich vergangen, und sie schob den Rest der Maus beiseite.

»Sind es Drachen, Krähe? Sag mir, ob es Drachen sind!…«

»Nein, keine Drachen, Katze. Aber ich sehe einen Kopf – von etwas… etwas, das ich noch nie gesehen habe. Einen riesenlangen goldenen Kopf – mit Flecken und kleinen Hörnern und Ohren… es hat den längsten Hals der Welt und jetzt hebt es den Kopf…« Krähes Stimme zögerte, heiser vor Angst.

Plötzlich stieß die große Vogeldame zu ihr herunter – die Augen vor Schreck geweitet. »Ich glaube«, stammelte sie fast atemlos, »ich glaube… dieses Vieh, was es auch immer sein mag… ich glaube wirklich, es könnte den Kopf hoch genug heben, um mich mitten in der Luft zu fangen… und sein Maul war ungeheuerlich…«

»Hast du die Zähne gesehen?«, wollte Mottyl wissen. Zähne waren äußerst wichtig.

»Würdest du dir noch Zeit nehmen, die Zähne anzuschauen, wenn es vom Käfig aus auf dich zukommt? Ich bin nicht blöd, Katze. Nicht blöd…«

Krähe rückte weiter auf ihrem Ast, bis ihr Flügel den Baumstamm berührte. »Ich glaube, ich werde eine Weile einfach hier sitzen bleiben und verschnaufen.«

Mottyl ließ die halb gefressene tote Maus liegen und wandte den Kopf zum Waldrand. Die Trommeln und das Rumpeln der Räder hatten jetzt eine Lautstärke erreicht, die alle Blätter zum Zittern brachte und eine große Schar Spatzen, Stare und Schwalben in die Luft aufsteigen ließ.

»Fliegt nicht!«, schrie Krähe ihnen zu; plötzlich war sie fast hysterisch. »Nicht! Ihr dürft nicht fliegen! Nicht fliegen!«

Aber es war zu spät. Alle Vögel im Wald waren bereits aufgeflogen und befanden sich in der Luft über den erstickenden Staubwolken.

»Langhals wird sie kriegen«, brummte Krähe in ihrem Winkel. »Langhals wird sie kriegen… wart nur ab!…«

Mottyl ließ sie brummen und schimpfen und ging auf den Lichtstreifen jenseits der Bäume zu. Andere Laute hatten sich den Trommeln und Rädern beigesellt… Stimmen jetzt und Zurufe… Lieder. Jahwe war angekommen.

Unten auf dem Waldboden hatte ein großer grüner Käfer die Maus an den Eingeweiden gepackt und schleppte sie jetzt unter das Moos, und als beide im Loch verschwanden, starrten die toten schwarzen Augen und die steifen ausdrucksvollen Zehen zeigten zum Himmel.

Neben der Straße im hohen Gras der Wiese hatten sich die Widder und die Mutterschafe an den Zaun gedrängt und begannen jetzt zu singen:

 

Gloria in excelsis Deo!

Et in terra pax hominibus bonae voluntatis!

 

Ehre sei Gott in der Höhe!

Und auf Erden Friede den Menschen,

die guten Willens sind

 

Langsam tauchte aus dem vom Kreisen der Pferdeflügel verursachten Wirbelwind eine große schwarze Kutsche auf. Die Jalousien waren heruntergezogen und eine hatte einen Riss, den man versucht hatte zu reparieren. Die Lederhaut, mit der das Kutschengestell vor vielen Jahren überzogen worden war – die glänzende Haut, die Noah vom allerersten Mal noch kannte, als Jahwe als unerwarteter Gast auf der Suche nach Verfechtern der heiligen Sache gekommen war –, war von Steinen aufgeschlitzt und vom Schlamm der Flüsse beschmiert worden, die Jahwe und sein Gefolge überquert hatten. Auch mit Resten von Kot, Eiern und verfaultem Gemüse war sie befleckt, was Noah sich nicht erklären konnte. Die Räder der Kutsche waren alt und beschädigt; die Hartgummireifen waren bis auf die Stahlfelgen abgefahren und viele Speichen fehlten. Der Rock des Kutschers war mehlweiß vom Staub und Sand des Wirbelwindes, und sein Gesicht trug Spuren vom Dreck der Straßen. Seine Schutzbrille war beschlagen und hatte Sprünge; es war ein Wunder, dass er während des letzten Teils der Fahrt überhaupt noch etwas hatte sehen können. Er war ein Mann in mittleren Jahren und wurde täglich mit einem Ochsen gemästet, den er mit einem Fass Bier hinunterspülte – der stärkste Mann auf Erden, wie Jahwe gerne behauptete. Als er jetzt aufstand, um die Pferde zu zügeln, war sein Rock zu Zement geworden und von der Krempe seines Huts regnete es Kieselsteine.

Ein Augenblick war nichts zu hören außer dem Zischen und Prasseln des Kieselregens, dem Knarren uralten Zaumzeugs und dem Schnauben der Pferde. Dann endlich Stille.

Emma wagte es, ihren Blick nach oben zu richten und sah, wie die Lakaien wie zwei auseinander stiebende Puderquasten von ihrem Bock am hinteren Teil der Kutsche auf die Straße hinunterglitten. Ihre Gesichter waren weiß bemalte Clownsfratzen, die Augen wie Daumenabdrücke, die Lippen wie ein Bleistiftstrich. Hinter ihnen konnte sie die langsam sichtbar werdenden Formen der Käfige erkennen, die Krähe Mottyl beschrieben hatte; jeder Käfig wurde von vier Maultieren gezogen – oder von sechs, je nach Größe –, und jeder hatte einen Rahmen mit vergoldeten Rokokomotiven aus angeschlagenem weißem Gips. In den Käfigen befanden sich Gestalten – lebendige und riesige Gestalten – mit Zähnen und Schwanz und einige, so hatte es den Anschein, mit mehr als einem Kopf. Es gab auch Spruchbänder, kaum erkennbar, die im Staub nachschleiften, und deren Aufschriften nur teil weise lesbar waren: DIE SIEBEN       WUNDER! und GROSSE MYSTERIEN DES LEBENS!

In diesem Augenblick jagte Mottyl über die Straße und setzte sich auf die untere Zaunstange.

Alle Blicke hefteten sich, ob offen oder insgeheim, auf die Stelle, wo Jahwe erscheinen würde. Die Lakaien näherten sich der Tür der Kutsche und einer breitete hastig einen zerrissenen und abgetretenen Teppich auf der Straße aus, damit Gottes Füße die Erde nicht zu berühren brauchten. Emma warf einen verstohlenen Blick auf Doktor Noyes. Er fummelte an seiner Robe herum und schien nur mit erheblicher Mühe das Gleichgewicht halten zu können; dabei kniete und beugte er sich erwartungsvoll nach vorne, der Kutsche zu. Emma hatte entsetzliche Angst vor Doktor Noyes. Trotzdem spürte sie jetzt ihm gegenüber ein Quäntchen freundlicher Nachsicht – ein bisschen Zärtlichkeit angesichts seines hohen Alters und seiner Gebrechlichkeit. Es war auch rührend, dachte sie, dass Doktor Noyes so tief im Staub kniete, wie sie es selber jeden Tag zur Gebetsstunde vor Doktor Noyes tat. Jahwe macht uns alle gleich, dachte sie, einfach nur dadurch, dass er persönlich in Erscheinung tritt…

Endlich öffnete sich die Tür und enthüllte im dunklen Inneren zunächst eine seltsame glühende Blume aus Licht – fast eine Art Phosphoreszenz. Dazu gesellte sich der säuerliche, modrige Geruch von alten gelöschten Feuern – ein Geruch, wie man ihn in verlassenen Häusern vorfindet. Es dauerte volle dreißig Sekunden, bis Jahwe selbst zum Vorschein kam, und weitere dreißig Sekunden, bis Er sich an Seine Umgebung gewöhnt hatte. Die Kutsche war offensichtlich seit vielen Stunden verschlossen gewesen und Jahwe hatte vielleicht geschlafen – vielleicht sogar geträumt. Auf jeden Fall wirkte Er verwirrt.

Geduldig warteten die Lakaien, bis sie Ihm herunterhelfen konnten.

Jahwe holte eine kleine Blechdose aus einem Versteck in Seiner Robe und machte sie auf. Seine Finger waren nicht so lang, wie Emma es erwartet hätte, was zum Teil eindeutig an der Arthritis lag. Die Gelenke waren angeschwollen, und die Finger krümmten sich zu unnatürlichen Formen. Etwas wurde aus der Dose herausgeholt – an Seine Lippen gesetzt und in Seinen Mund gesogen. Gott lutscht Pastillen!, dachte Emma erstaunt. Genau wie Doktor Noyes!

Die Dose wurde wieder in die Tasche gesteckt und Jahwe streckte den Lakaien zuerst die eine und dann die andere lädierte, knorrige Hand entgegen. Jetzt konnte man Seine Robe bei Tageslicht sehen; sie war schwarz mit einem dunkelblauen Besatz und tief im Innern, wo man das Futter der Ärmel erkennen konnte, war sie rot. Sein Bart wallte bis zur Taille, und obwohl er weiß war, waren da auch Spuren von Gelb und Speisereste und verfilzte Knoten. Seine Augen waren wegen des Lichts zusammengekniffen und ihre Ränder waren rot und wässerig – sie sahen entzündet und empfindlich aus. Seine Lippen waren nicht zu sehen, obwohl die Stelle, an der sie sich befinden mussten, durch einen geschwungenen Schnurrbart an der Oberlippe angedeutet wurde. Jahwes ausgeprägte Hakennase war wie ein einziger Knochen und hielt Seine Augen sehr weit auseinander unter einer breiten, hohen Stirn, die Ihn zusammen mit Seiner Nase und der allgemeinen Form Seines Kopfes trotz Seines Alters fast unerträglich schön machte.

Jahwe, der gerade dabei war, ins Freie zu treten, war über siebenhundert Jahre älter als Sein Freund Doktor Noyes, der jetzt auf der Straße vor Ihm kniete. Wie alt das eigentlich war, konnte Emma sich kaum vorstellen. Für Mottyl war es bedeutungslos. Ihr Schöpfer war ein wandelnder Sack Knochen und Haare. Nach seinem Geruch zu urteilen, vermutete sie ferner, dass Er ein Mensch war.

Als Jahwe ausstieg, wobei die Lakaien Ihn herunterhoben, und Er in der Luft hing, bis Seine Zehen den Teppich berührten, hoben die Mutterschafe und Widder wieder zu singen an.

 

Domine Deus, Rex coelestis, Deus Pater,

Pater omnipotens, Gloria!

 

Herr und Gott, König des Himmels, Gott, Vater,

Allmächtiger Vater, Ehre sei Dir!

 

Und bei der letzten Silbe, als habe Er genau auf dieses Stichwort gewartet, fiel Jahwe hin.

Jedenfalls sah es so aus, da Sein Kinn den Boden berührte.

Alle standen auf, um Ihm ihre Hilfe anzubieten, doch plötzlich knieten alle doch wieder nieder, denn Jahwe war nicht gefallen, sondern hatte sich von Seinen Engeln hinlegen lassen, damit Er die Erde küssen konnte.

Noah dachte, es Ihm nachmachen zu müssen, beugte sich ganz nach unten und küsste nun auch den Boden. Er schmeckte nach sauren Steinen.

Jahwe erhob sich – oder vielmehr wurde erhoben; die Erde hatte Ihn gezeichnet – auf Seinem Kinn und Schnurrbart. Mrs Noyes ließ ihre Schafe im Stich und eilte hin, den Zipfel ihrer Schürze in der Hand – spuckte darauf und war drauf und dran, Gottes Gesicht damit zu reinigen, wie sie das Gesicht eines Kindes säubern würde.

Jahwe trat erschrocken einen Schritt zurück und die Lakaien eilten hin und verhinderten, dass Mrs Noyes Ihn berührte. In der Zwischenzeit hatte sich der Kutscher genau in den Weg zwischen Jahwe und alle anderen gestellt. »Dass keiner Ihm ein einziges Haar krümme!«, schrie er.

Noah zog Mrs Noyes auf ihren rechtmäßigen Platz, ein wenig links hinter sich.

»Ich bitte meinen Herrn um Verzeihung«, sagte er. »Diese Schwachsinnige – meine Frau – ist in Umgangsformen so unerfahren, dass sie gar nicht wusste, was sie tat. Welche Strafe mein Herr auch immer verordnet, ich werde nur allzu froh sein sie zweimal zu vollstrecken. Wenn Ihr möchtet, dass ihr die Hand entfernt wird, weil sie es wagte, sie dem Herrn entgegenzustrecken, werde ich ihr nicht nur eine, sondern beide eigenhändig entfernen. Wenn Ihr möchtet, dass sie geblendet werde, mein Herr, weil sie es wagte, Euer Angesicht zu schauen…«

Aber Jahwe winkte ab. »Sie wurde beschämt«, sagte er. »Das genügt.«

Mrs Noyes machte bedächtig einen Knicks und biss sich in die Wange, um ein Lächeln zu unterdrücken. Sie wusste ganz genau, dass Doktor Noyes ihr niemals die Hände abhacken würde – ohne ihre Hände wäre sie völlig nutzlos für ihn. Dennoch taten ihr die Handgelenke einen Augenblick weh. Verstohlen rieb sie sie unter ihren Ärmeln.

Noah trat beiseite und zeigte auf seine Söhne und deren Frauen. (Ham war – unerklärlicherweise und zu Noahs Verdruss – nicht anwesend.) Die Vorstellung seiner Familie war förmlich und geschah fast wortlos. Sem war schon immer ein Mann weniger Worte gewesen und jetzt nickte er nur mit dem Kopf und murmelte: »Herr…« Im Versuch, seine Hände und sein Gesicht zu verbergen, beugte sich Japeth sehr tief herunter – und die arme erregbare Emma setzte sich fast auf den Boden, als sie sich an einem Hofknicks versuchte.

Das waren die üblichen Begrüßungen, wie sie Jahwe überall, wo Er hinkam, geboten wurden. Er schien daran gewöhnt zu sein – vielleicht war Er sogar auf viel Schlimmeres gefasst. Auf Babys, die Ihm ins Gesicht gestreckt wurden, auf Frauen, die vor Seinen Füßen in Ohnmacht fielen, auf erwachsene Männer, die in Tränen ausbrachen. Auf das, was nun folgte, war Er allerdings nicht gefasst.

Als Hannah hervortrat, machte sie nicht gerade einen Knicks – sondern nickte nur. Was Jahwe jedoch weniger ärgerte als neugierig machte. Was Hannah getan hatte, geschah so offensichtlich bewusst, nicht aus mangelnder Aufmerksamkeit oder aus Dummheit, dass Er sich fragte, was als Nächstes kommen würde. Sekunden später holte Hannah hinter ihrem Rücken einen schön geflochtenen breitkrempigen Hut mit purpurnen Kordeln und dunkelblauen Bändern hervor und bot ihn Jahwe an.

»Herr, ich war so frei und habe diesen Hut geflochten, den Ihr als Schutz gegen die Unbill dieser Welt, während Ihr unter uns weilt, annehmen möget…«

Hannah sprach so klar und ohne Angst, dass Jahwe wirklich beeindruckt war. Er nahm den Hut an und setzte ihn sogar Selber auf. Er ließ allerdings zu, dass einer der Lakaien die Kordeln unter Seinem Kinn zuband, was einige Augenblicke in Anspruch nahm, da Jahwes Kinn unter dem jahrhundertealten Bart nicht so leicht zu finden war. Erst als der Hut fest und ordentlich saß, versank Hannah in einem Knicks, der so schön und anmutig war, dass sogar Noah voller Anerkennung laut die Luft einsog.

Es sollte noch mehr kommen.

Als Hannah aufstand, bot Jahwe ihr Seine Hand an und half ihr auf die Füße. Das war unerhört und Hannah errötete.

Jetzt war es Zeit, sich in den Garten und zum Pavillon zu begeben. Jahwe trat ohne Hilfe vom Teppich auf die Straße und ging auf das Tor zu. Während Er den Zaun passierte, der verhinderte, dass die Wiese sich zur Straße hin ausdehnte, fingen alle Schafe spontan zu singen an.

 

Domine Deus, Kyrie eleison.

Rex coelestis, Kyrie eleison.

Deus Pater, Kyrie eleison…

 

Jahwe winkte ohne hinzuschauen. Erbarmen ließ Ihn in diesem Augenblick kalt.

Bei den Toren hielt Er an und wartete, bis Noah neben Ihm war. Das dachte man wenigstens. Aber als Noah und seine Familie sich neben Jahwe stellten, entdeckten sie zu ihrem Entsetzen, dass Er weinte.

Noah sagte: »Herr, geht es Euch nicht gut?«

Jahwe suchte vergebens nach Seinem Taschentuch. Sofort zauberte Hannah ein sauberes Stück weißes Linnen hervor und reichte es Ihm und Jahwe putzte Sich die Nase und betupfte sich die Wangen. Aber die Tränen flossen noch immer.

»Wir sind nicht krank, das ist es nicht«, sagte Er. »Wir sind nicht krank. Es ist die Anstrengung vom schier endlosen Herumziehen durch die schrecklichen Städte, wochenlang, und dann… diesen Garten zu entdecken.« Er drehte sich um und betrachtete ihn, was zu noch mehr Tränen führte, bis Sein Bart schließlich nass war und Hannahs Linnen nicht mehr ausreichte.

Noah sah zu Mrs Noyes, die mit den Schultern zuckte.

Offensichtlich stand Jahwe kurz vor einem Nervenzusammenbruch – dort neben Noahs Tor, während die Schafe seinen Lobpreis sangen und die Wölfe aus Mitgefühl heulten.

»Euer Garten ist so schön«, wiederholte Jahwe. Er streckte einen Arm aus, suchte eine Hand und fand die von Hannah, die bereit war, Ihn zu stützen. »So schön… ach, meine Liebe«, sagte Er zu Hannah. »Ach, meine Liebe, Wir haben eine solche Reise gehabt – haben solche Schrecken gesehen und solche Unannehmlichkeiten ausgestanden…« Er wandte sich an Noah. »Siebenmal sind Wir einem Attentat zum Opfer gefallen. Siebenmal getötet… und du, Mein alter Freund, du weißt so gut wie Wir, welche verzweifelten Methoden Man anwenden muss, um sich wiederzubeleben…«

Noah nickte. »Obwohl ich nicht das Geschick meines Herrn habe«, sagte er, »erkenne ich die unendliche Sorgfalt, mit der mein Herr sich auf solche Ereignisse vorbereiten muss. Die Wiederbelebung der Toten – besonders wenn wir selber die Toten sind – gehört zu den anstrengendsten Prozeduren im ganzen Kanon. Und siebenmal, sagt Ihr?…«

»In der Tat«, seufzte Jahwe. »Siebenmal tot – dazu zahllose Wunden. Wir können die Wunden nicht zählen, so viele waren es. Hier und hier und da und da…« Mit Seinem knochigen Finger stocherte Jahwe auf Seiner Brust, Seinen Armen, Seinem Oberschenkel, Seinem Hals herum. »Und hast du Unsere Kutsche gesehen? Schwerter und Äxte – Steine und Feuerbrände – Gemüse, Obst und Eier und…« Jahwe suchte nach einem angemessenen Wort und stammelte:
»… Fäkalien…«

Noah schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Auf »Fäkalien«.

»Wir sind jetzt die Zielscheibe des Spotts der Welt, mein lieber alter Freund. Mitten auf den Straßen verachtet und verhöhnt. Angegriffen. Wir können nicht sagen… Wir können nicht sagen…«

Jahwe sah nochmals zum Garten hin. »Aber dieser – dieser Zufluchtsort. Welche Freude, von dir an diesem Ort willkommen geheißen zu werden. Lass uns jetzt hineingehen.«

Noah führte Gott zum blauen Pavillon, wo es wegen der Zeltwände und der Schüsseln voll Eis kühl war. Sem und Japeth blieben im Hof zurück, um das Tränken und Füttern der vielen Tiere in ihren Käfigen, auch der Maultiere und der Pferde und der Hunde zu organisieren, während Mrs Noyes und Emma sich in die Küche zurückzogen.

Hannahs Hand lag noch immer auf Gottes Arm, wo Er sie offensichtlich haben wollte.

 

 

Als Jahwe und Seine Gesellschaft sich wegen ihrer Müdigkeit, Niedergeschlagenheit und Erschöpfung in den Pavillon zurückgezogen hatten, stieg der Tag um sie herum auf wie ein Flammenmeer und alles und jeder verfiel in Trägheit. Noah blieb im Pavillon neben der deprimierten und erschöpften Gestalt seines alten Freundes sitzen, der in einen unruhigen Nachmittagsschlaf fiel. Es roch weiterhin nach Staub und Pastillen und Spinnweben, obwohl Hannahs Bemühungen – sie hatte Seine Hände und Füße in Rosenwasser gewaschen und sie danach mit ihrem eigenen besonderen Mandelöl eingesalbt – eine gewisse Besserung herbeiführten. (Wenn Jahwe dann wach wurde, würde Hannah Sein Lager mit einem pulverisierten Potpourri aus Rosenblättern, Lorbeer, Nelkenstaub und Minze bestreuen. Bis Anbruch der Nacht würden die Gerüche des Verfalls vertrieben sein.)

Michael Archangelis saß in einer Ecke mit zwei seiner Günstlinge; er polierte seinen Brustharnisch und seine Beinschienen. Sie sprachen leise, aus Angst, Jahwes Ruhe zu stören. Das Einzige, was an den Kriegerengeln beunruhigend war, waren ihre Aufmerksamkeit und ihr Misstrauen. So viel Wachsamkeit war hier in der Sicherheit von Noahs Pavillon jedoch eindeutig fehl am Platz. Trotzdem: Wenn man sie gefragt hätte, hätten sie wahrscheinlich gesagt: »Das ist eben unsere Arbeit. Sobald man der Meinung ist, dass es nirgendwo Sicherheit gibt, befindet man sich auf einer Einbahnstraße.«

Immer ernst, unter den goldenen Haaren ihre blassen Gesichter von wilder Schönheit, waren diese Krieger die Einzigen unter den Engeln, deren Augen an Aufmerksamkeit nie nachließen und deren Hände stets beschäftigt waren – die langen, mit Schwimmhäuten versehenen Finger polierten, wischten, ölten ihre Rüstung und Waffen, während sie im Flüsterton von »der Bevölkerung« und »Dekadenz« und »Respektlosigkeit« und »Verletzung« sprachen.

Bevor Mrs Noyes sich mit Emma in die Küche zurückzog, hatte sie vor allem zur Kenntnis genommen, dass es in Jahwes ganzem Gefolge, sowohl hier im durchsichtigen Blau des Pavillons als auch draußen jenseits der Zeltwände, keinen einzigen weiblichen Engel gab – überhaupt kein einziges weibliches Wesen außer ihr selbst und Emma. Und Hannah. Natürlich hatte Jahwe – wie jeder wusste – niemals im formalen Sinne eine Frau gehabt – und genauso wenig hatte es je Gerüchte über auch nur eine einzige Geliebte gegeben. In der Gesellschaft Seiner ausschließlich männlichen Ministranten und Engel fühlte Er sich offensichtlich sehr wohl. Und warum auch nicht? Sie waren so gründlich trainiert worden, sich um jedes Seiner Bedürfnisse zu kümmern – und »ihre Stärke war wie ein Schild« (so lautete der Spruch) und ihre Sanftmut war die Sanftmut von Ponys und Fohlen. Ihre langen blonden Haare waren nach hinten gebürstet und mit violetten Bändern zusammengebunden, und ihre fahlen staubigen Roben und Tuniken hingen ganz einfach an ihnen herunter, ohne jeglichen Schmuck; Mrs Noyes war hin- und hergerissen – waren es die sanftesten oder die strengsten Geschöpfe, die sie je gesehen hatte? Aber dennoch – keine Frauen und keine weiblichen Engel. Was Mrs Noyes beunruhigte – sie konnte nicht umhin, es zuzugeben –, wenn auch nur deswegen, weil es bedeutete, dass Hannah in dieser Hofgesellschaft keine Rivalinnen hatte. Und siehe da, schon hatte ihre älteste Schwiegertochter diese Tatsache offensichtlich zu nutzen verstanden.

Als Jahwe Hannahs Hand auf Seinen Arm gelegt hatte, war das für Mrs Noyes wie ein Schlag ins Gesicht gewesen: eine herzzerreißende Degradierung. Zurück zu den alles beherrschenden Küchen – zurück zu den allgegenwärtigen Öfen – zurück zu der über alles jammernden Emma.

 

 

Endlich, mitten aus den Hitzewellen, erschien Ham mit Luci – leicht wie im Nebel schwebende Figuren schlenderten sie näher.

In den letzten drei Tagen hatten sie sich zwischen dem Wald und dem Haus hin- und herbewegt – zwischen den erntereifen Feldern am Berg und dem Nutzgarten – zwischen dem Zedernhain oberhalb der Latrinen und dem unterhalb des Bambuswalds am Berghang gelegenen, ausgehöhlten Eiskeller. »Einen Augenblick da – im nächsten schon wieder verschwunden…«, klagte Mrs Noyes unaufhörlich. »Gerade dann, wenn ich dich am dringendsten brauche, fällt es dir ein, dich zu verlieben!«, hatte sie zu Ham gesagt. »Und noch in eine Fremde!«

In der Vergangenheit war immer Japeth mit Fremden nach Hause gekommen. Jetzt war es Ham.

Und trotzdem: Mit der furchtbaren und herrlichen Inkonsequenz, die Mütter immer und überall an den Tag legen, freute sich Mrs Noyes auch, dass ihr Sohn »sich nach langer Zurückgezogenheit wieder der Menschheit zuwandte«. Dieser ernsthafte, sanfte Junge, dessen Liebe für die Naturwissenschaften ihn in jede Grube und auf jeden Baumwipfel geführt hatte – dessen Begeisterung für die Sterne ihn sogar mitten im Winter mit seinen Notizblöcken hoch oben im Zedernhain festgehalten hatte und dessen Liebe zu Tieren ihn sich selber verstümmeln ließ –, dieser Junge hatte endlich einen anderen Menschen gefunden: eine echte – wenn auch etwas seltsame – voll lebendige und voll atmende Frau. Älter, natürlich – aber was machen schon ein paar Jahre aus, wenn man verliebt ist? Sems Saisonarbeiter würden sich die Zunge heiß reden und ihr Klatsch könnte sogar bis über den Fluss gelangen, dorthin, wo Emmas Familie lebte – na und? Und wenn schon! Machte das was? Das machte doch nichts.

Nun – doch. Emmas Familie war sanft, lieb und tugendhaft.

Nein, doch nicht. Es ging sie jedenfalls gar nichts an, wem Ham den Hof machte.

Mrs Noyes schwankte weiter zwischen »Nein« und »Doch«, zuweilen dreimal in der Stunde. Das Problem war:

Die Luci, die sie sich insgeheim vorgestellt hatte, war eine bessere Partie als die Luci, die sie – wenn auch sehr selten – in Fleisch und Blut zu sehen bekam. In den romantischen Vorstellungen ihrer Tagträume war Lucis Gestalt – so malte Mrs Noyes sie sich in ihrer Phantasie aus – betörend, weich und weiblich. Biegsam. Betete ihren Sohn an. Respektierte seine Eltern, wie es sich gehört. Doch sobald sie in der vollen Pracht ihrer zweieinviertel Meter vor ihr auftauchte, den Rasen überquerte oder mit gespreizten Knien auf dem Zaun saß und Japeths Wölfe misstrauisch beäugte, änderte sich das Bild radikal – wie sollte eine Mutter sich da keine Sorgen machen?

»Ich habe sie im Wald kennen gelernt, Mama.«

Nun – wirklich – war das gut genug?

»Ich glaube, dass ich sie liebe.«

Aber er kannte sie doch gar nicht.

»Ich glaube, dass sie mich liebt.«

Mmm – hmm.

»Wir wollen heiraten.«

Das Drei-Tage-Wunder! (Ob sie schon schwanger war?)

»Vielleicht könntest du mit Papa reden.«

Vielleicht könnte sie mit Papa reden! Mama sollte also wieder mal die Wogen glätten! Immer wenn deine Kinder in Schwierigkeiten geraten – kommt diese Frage: »Mama, könntest du mit Papa reden?«

Der Einzige, der das nie getan hatte, war Sem. (Andererseits – in wie viele Schwierigkeiten kann ein Ochs geraten?)

Also – hatte sie es getan. Sie hatte »mit Papa geredet«.

Die Antwort war nein. Natürlich. Dazu noch der Vorwurf, dass sie an allem schuld sei.

»Wenn du den Jungen nicht verhätschelt hättest, wäre er jetzt alt genug, um eine Hure zu erkennen, wenn er eine sieht«, hatte Noah gesagt.

Wie konnte er so was Entsetzliches sagen! Luci eine Nutte? Eine Hure? Eine Kurtisane? Nein.

Und doch…

Diese Schminke. Ihre Klamotten. Ihr plötzliches Auftauchen. Und diese Augen.

Mottyl war allein auf der Veranda, als sie Ham und Luci erblickte. Jahwe und Doktor Noyes schliefen noch. Mrs Noyes, die sich nicht traute, ihre Salate allein zu lassen, aus Angst, sie könnten ohne sie verwelken, machte in der Küche ein Nickerchen – der Ginkrug war diskret in ihrer Schürze versteckt. Auch Emma war eingeschlummert; ihre Arme hingen noch in einen Bottich mit Seifenlauge.

Zuerst kam Ham – mit dem Gang eines glücklichen
Träumers –, er plapperte und warf mit Auskünften um sich, wie ein Wasserrad, das Wassertropfen versprüht.

Hinter ihm kam Luci, laut lachend – mit ihren ganzen zweieinviertel Metern über dem Hitzeflimmern nicht zu übersehen. Es schien Ham nicht bewusst zu sein, dass sie hinter ihm durch die Luft schwebte, und als er sich umdrehte, stand sie schon auf dem Rasen, gerade so nah, dass Mottyl sie mit ihrem einen guten Auge erkennen konnte; der Sonnenschirm balancierte in der Luft über ihrem Kopf und das lange rosa Gewand mit den Schmetterlingsärmeln glitzerte in der Sonne, als Luci herumwirbelte und sich ins Gras plumpsen ließ. Sie lachte noch immer.

»In Jahwes Karawane sind fünfzehn Tierarten, die ich noch nie gesehen habe. Fünfzehn Tierarten zu klassifizieren…«, hörte Mottyl Ham sagen.

»Ich habe sie erkannt – jede Einzelne«, sagte Luci. »Hast du noch nie einen gefleckten Leoparden gesehen?«

Sie deutete auf das Gras neben sich – und Ham geriet aus Mottyls Blickfeld.

Mottyl, neugierig geworden, kletterte auf das Verandageländer, damit sie Ham wieder sehen konnte. Er lag im Gras – Luci saß –, über beiden schwebte der Sonnenschirm. (Schwebte – schwebte – wie Hannahs Feder… hielt Luci den Sonnenschirm überhaupt? Wenn ich nur sehen könnte!)

Dort saß Ham, den Mottyl liebte – und dort saß auch die Engelfrau, die so viel Angst vor Hunden hatte, dass sie sie tötete. Mottyl hätte damit zufrieden sein sollen, dass Ham und die Engelin glücklich waren. Sie hatte viel Mitgefühl mit Luci – mit jedem, der so viel Angst vor Hunden hatte, musste man einfach Mitleid haben. Und sie war ziemlich sympathisch – sogar wirklich liebenswürdig –, eine große Verbesserung, verglichen mit Hannah zum Beispiel. Aber irgendetwas stimmte nicht – irgendetwas an ihr war beunruhigend. Die Tatsache, dass sie ein Engel war – und es leugnete, es vor Ham verbarg. Und wenn sie in dieser Hinsicht log – könnte es dann nicht noch andere Lügen geben? Entsetzliche Lügen, die vielleicht mit dem Grund zu tun hatten, warum sie da war –, und warum sie jetzt da war, zur Zeit von Jahwes Anwesenheit.

 

 

Nachdem Japeth seine Gastgeberpflichten, das heißt das Füttern und Tränken der Tiere in der Karawane, erfüllt hatte – und nachdem er Jahwes Gefolgsleuten den Weg zum Fluss und den Kutschern die Wiesen gezeigt hatte, damit alle geflügelten Pferde zum Grasen auf die Weide gebracht werden konnten –, schlenderte er den Berg hinauf, dem Pavillon zu.

Aber es war kein zielloses Schlendern.

Was Japeth beschäftigte, war Michael Archangelis – eine Gestalt von solcher Herrlichkeit, dass sie alle Vorstellungen seiner Träume weit übertraf. Die Größe des mächtigen Engels, seine Stärke, seine goldenen Haare und seine Rüstung boten die strahlendsten Bilder von Männlichkeit, denen Japeth je begegnet war.

Nur einmal war ihnen jemand annähernd gleichgekommen – aber damals war es eine finstere Männlichkeit gewesen, keine goldene; eine schreckliche, nicht glorreiche.

Es war auf der Straße zu den Städten gewesen – an dem Tag, an dem er angegriffen und fast zu Suppe gekocht worden war. Die ihn angegriffen hatten – Rüpel und Terroristen –, wurden von einem Riesen angeführt, dessen Statur zwar nicht gigantisch, dessen Macht über seine Günstlinge allerdings höchst bewundernswert war. Gerade wegen seiner mangelnden Statur umso bewundernswerter.

Er hatte dort gestanden – dieser Mann –, die Arme in die Hüften gestemmt, beide Hände zu Fäusten geballt, die Daumen in einen breiten, mit Nieten beschlagenen Gürtel eingehakt. Seine Beine, die nackt waren, hatten einen riesigen Umfang, und seine Brust strotzte durch seine offene Tunika, als führe sie ein Eigenleben. Seine Augen waren winzig und schwarz und seine Haare wild und lockig, die Ohren standen wie gekräuselte Speckstreifen daraus hervor, verbrannt und an den Rändern schwarz, als wären sie am Verfaulen. Seine Zähne – erschreckend weiß – waren dennoch fast bis aufs Zahnfleisch abgewetzt: die winzigsten Zähne, die Japeth je gesehen hatte.

Seine Günstlinge trugen gestohlene Kleidung – kein Stück passte, und jedes war dreckig –, und etliche der Kleidungsstücke bestanden aus einzelnen Uniformteilen – rote Röcke und blaue Jacken und Hosen mit Goldborte. An Seilen zogen sie einen zweirädrigen Karren, der mit großen eisernen Töpfen und Dreifüßen beladen war – und darüber hinaus mit einer gewaltigen Sammlung zusammengewürfelter Reichtümer, die aus den Städten stammen mussten: silberne Kerzenleuchter – Suppenterrinen aus Porzellan, Kristallvasen und goldene Kelche – das Ganze zwischen große Fetzen eines Wandteppichs gestopft, der die Ermordung Abels durch Kain darstellte –, darunter auch Bündel und Ballen von Samt und mit zwanzig Farben eingeschossenem Satin. Die Günstlinge selbst aber hatten lange struppige Haare und schwarze Fingernägel und dreckige Knie. Einige unter ihnen waren – zu Japeths Entsetzen – Frauen.

Trotz all der Streifzüge mit seinen Wölfen und all der Wildschweinjagden mit seinen Freunden im Drachenverein war Japeth noch nie einem anderen Menschen begegnet, dessen ganze Existenz der Gewalt gewidmet war. Er hatte noch nie Männer und Frauen wie diese gesehen, die ihn von dem Karren aus anglotzten, den sie ihm so plötzlich in den Weg gestellt hatten. Noch nie hatte er weder Atem wie diesen gerochen, den ihm die lüstern schielenden Frauen ins Gesicht bliesen – noch Schweißgeruch erlebt, wie ihn die höhnisch grinsenden Männer verströmten. Auch hatte er noch niemals so viel Angst vor einem anderen Menschen gehabt wie vor ihrem Anführer. Fremde waren Japeths Spezialität. Doch noch nie hatte ihn jemand mit einer solch anstößigen Absicht berührt wie dieser Rüpelkönig, dessen Finger große stumpfe Sonden waren – sie wanderten mit der gleichen eigenständigen Gewalttätigkeit über Japeths Gesicht und Hals, mit der die Brust des Rüpels sich unter seinem Hemd gewölbt hatte.

Der Tag auf der Straße war so herrlich gewesen – und Japeth hatte nur sehen wollen, ob es möglich wäre, bis zur Dämmerung die Städte zu erreichen. Er war neugierig – mit der gefährlichen unschuldigen Neugierde der Jugend; er wollte wissen, was sich hinter den Riten des Baal verbarg – und ob eine Kitzelfeder bei seinen vergeblichen Attacken auf Emmas Tugend von Nutzen sein könnte. Was zum Beispiel war der »doppelzüngige Kuss«, von dem seine Freunde so sachkundig sprachen? Vielleicht würde er ja einen sympathischen Fremden treffen, der ihm eine Anleitung für diesen Kuss und für eine »affenfingerige Liebkosung« geben könnte, die er zur Überwindung der offensichtlichen Entschlossenheit seiner Braut, ihn ewig abzuwehren, anwenden könnte. Das waren natürlich keine Fragen, die man einem Vater wie Noah oder einem Bruder wie Sem stellen konnte. Und Ham, der war so unschuldig wie das sprichwörtliche Lamm. Was Japeths Jagdgesellen betraf, die hätten ihn gnadenlos mit Spott und Hohn überhäuft, wenn sie herausgefunden hätten, dass er von Sex keine Ahnung hatte und obendrein noch unschuldig war. Von dort war keine Hilfe zu erwarten. Alles, was er von Noah über diese Sache erfahren hatte, war: »Gehorche den Trieben der Natur und tue nichts Perverses!« Doch Japeth wusste nicht einmal, was »pervers« bedeutete. Von Sem erfuhr er auch nicht mehr. »Du liegst oben und sie liegt unten.« Von seinen Freunden nur: »Dring nie zu schnell ein, sonst verpasst du das Beste.«

Zu schnell eindringen?

Wo hinein?

Keiner half. Er würde sich an Fremde wenden müssen.

 

 

Als der Karren sich in der Straße quer stellte, drehte sich Japeth der Magen um. Er kannte diese Taktik von der Jagd. Es war genauso, als würden Wölfe einem Hirschen den Weg abschneiden.

»Hallo«, sagte er. »Schönes Wetter heute…«

Das sagte er immer – ganz gleich, wer oder was ihm gegenüberstand. Sogar Dämonen gegenüber würde er so reagieren. Doch beim Anblick der schrecklichen Augen, die ihn umgaben, wusste er, dass es dieses Mal fehl am Platz war.

»Schön?«, sagte der Rüpelkönig. »Was zum Teufel ist daran schön?«

»Na ja…«, sagte Japeth kleinlaut.

»Ich sage dir, was schön ist«, sagte der Rüpelkönig. »Dass wir dich getroffen haben – das ist schön.«

Bei diesen Worten hatte er gelächelt und dabei all seine abgewetzten Zähne gezeigt – dann hatte der Rüpelkönig ganz hemmungslos die Hand ausgestreckt und seine Finger über Japeths Wangen gleiten lassen.

Der Rüpelkönig und seine struppigen Günstlinge hatten schon lange die Hoffnung aufgegeben, auch nur das allereinfachste Essen zu finden, um sich bei Kräften halten zu können. Sie waren aus jedem nur erdenklichen Grund Ausgestoßene – Lepra, Kriminalität und Verderbtheit waren die häufigsten Ursachen –, und die Bande hatte sich zu keinem anderen Zweck als dem des gemeinsamen Überlebens zusammengefunden. Zuerst hatten sie Reisende überfallen, nur um ihnen ihr Geld zu stehlen. Doch dann merkten sie, dass es ihnen unmöglich war, das Geld auszugeben. Keiner duldete sie in seinem Geschäft und die Marktpolizei vertrieb sie jedes Mal, kaum dass sie die Städte betreten hatten. Später fingen sie an, Bauernhöfe zu plündern, wo sie sich mit Hühnern, Getreide und Lämmern versorgten. Doch dem setzte der Winter ein Ende. Im Schnee konnten sie nicht ungesehen in die Nähe der Höfe gelangen – und nachts waren die Scheunen und Schafpferche von Hunden und Wölfen, gelegentlich sogar von Bären umstellt. Wegen ihrer Gewalttätigkeit waren sie berüchtigt – und diese traurige Berühmtheit wurde ihnen zum Verhängnis. Man hatte Selbstschutzgruppen gebildet, um sie von Städtchen und Dörfern fern zu halten. Reiterscharen verfolgten sie, sobald sie irgendwo auftauchten. Bald konnten sie nicht einmal mehr ungeernteten Weizen stehlen, da die Bauern ihretwegen immer mehr Wachen aufstellten.

Es war unvermeidlich.

Einer der ihren hatte rebelliert.

Und war getötet worden.

Und aufgegessen.

Dies war der Beginn eines Brauches – und bald gab es eine neue Verwendung für Fremde, denen sie auf der Straße begegneten.

 

 

Japeth war jetzt in der Nähe des Pavillons, doch die Bilder in seinem Kopf störten ihn so sehr, dass er nicht weitergehen konnte. Also blieb er auf dem Berg stehen und wartete, während er die abscheulichen Ereignisse in seinem Geiste nacherlebte. Er hatte den Teil der Geschichte erreicht, der am meisten einem Alptraum und am allerwenigsten der Wirklichkeit ähnelte. Nie hatte er jemandem davon erzählt – nur einmal war er in den Wald gegangen und hatte sich den Felsen und Bäumen laut anvertraut. Das Ganze in Worte zu fassen und diese Worte auszusprechen hatte ihm zumindest das Gefühl gegeben, als gäbe es Worte für das, was ihm angetan worden war: dass »mariniert werden« etwas war, was einem Menschen passieren konnte – dass »Kotelett« und »Steaks« und »Lende« Stücke eines menschlichen Körpers sein konnten und dass »Leber« und »Herz« und »Niere« – sogar »Nierenpastete« – den Gedanken an Menschen hervorrufen konnten. Auch Abfall, wie zum Beispiel »Innereien« und »Aas« und Ausdrücke wie »Knochen abnagen« hatten alle mit dem Menschen und von daher mit Japeth Noyes zu tun.

Zuerst hatte er die Worte nur geflüstert, dann gebrüllt. Dann hatte er, des Artikulierens nicht mehr fähig, geschrieen, bis alle Vögel hochgeflogen waren und alle Tiere sich versteckt hatten und sogar die Drachen in ihren Suhlen unter die Oberfläche getaucht waren. Und dann – vielleicht weil er das Ende aller Worte erreicht hatte, mit denen er seine Geschichte hätte wiedergeben können – hatte sich Japeth beruhigt und geschwiegen.

Und dennoch – obwohl er die für ihn notwendige Versöhnung des Horrors, den er sich nicht vorstellen konnte, mit dem Horror, den er erlebt hatte, vollzogen hatte – war es ihm noch immer unmöglich, sich mit dem Hauptereignis auseinander zu setzen, ohne sich krank zu fühlen. Bis jetzt hatte er jedes Mal, wenn er es nochmals durchlebte, sich schnell an einen privaten Ort zurückziehen müssen, wo er sein Mittagessen erbrach und weinte und seine Augen zuhielt in der Hoffnung, dass, wenn er sie wieder öffnete, seine Haut nicht mehr blau und die Welt wieder die alte sein würde – die Welt voll ursprünglicher Wunder und gütiger Fremder: die Welt, die er als Knabe geliebt hatte und von der er dachte, sie würde ihm immer erhalten bleiben.

Aber das Versprechen »für immer« war auf der Straße nach Baal und Mammon gebrochen worden.

Jetzt, hier auf dem Berg, wo er nach Michael Archangelis suchte, war Japeth beim lähmenden Teil der Geschichte angekommen, der ihn, immer wenn er daran dachte, krank machte – also setzte er sich hin, den Kopf zwischen den Knien – ein blauer Mann, der im blauen Schatten des Pavillons seines Vaters weinte, in dem Michael Archangelis seine Messer polierte und in dem Jahwe schlief.

 

 

Ein Feuer wurde geschürt – drüben auf einem steinigen Feld neben der Straße. Japeth wurde zum Feld geschleppt und ausgezogen. Inzwischen stellten die Frauen Dreifüße über den Flammen auf und hängten Töpfe daran. Einer dieser Töpfe war, wie Japeth sehen konnte, zum Teil schon mit einer dicken milchigen Flüssigkeit gefüllt, die an die Maiscremesuppe seiner Mutter erinnerte.

Der Geruch war ganz anders als alles, was Japeth jemals gerochen hatte.

Er war köstlich. Erinnerte angenehm an einen Hühnerbrusteintopf, den er so gern mochte. Oder an ein Gericht mit Kalbfleisch…

Während er nackt dort im Schein des Feuers stand (es wurde allmählich dunkel), kam Japeth der verrückte Gedanke, dass nun alles gut werden würde. Solange sie mit dem Kochen beschäftigt waren, beachteten ihn die Rüpel nicht – außer einem, der ausgestreckt neben ihm lag, falsch vor sich hin summte und Japeths Knöchel mit eisernem Griff festhielt.

Dieser tröstliche Gedanke verschwand, sobald Japeth den Rüpelkönig auf sich zukommen sah. Es würde also doch keine freundliche Einladung zum Abendessen werden.

Hinter dem Kerl liefen zwei Frauen her, die zusammen eine lange flache Wanne, ähnlich einem Wassertrog trugen – nur dass sie einen Deckel hatte. Diesen beiden folgten andere Frauen mit großen bauchigen Krügen, in denen sich billiger Wein und Öl befanden.

Der Rüpelkönig blieb vor Japeth stehen und schnippte mit den Fingern – worauf der Knöchelhalter aufstand. Die Frauen stellten die trogähnliche Wanne auf den Boden und weitere drei oder vier Rüpel tauchten aus der zunehmenden Dunkelheit auf. Einer hob den Deckel. Andere fassten Japeth an den Armen.

»Was habt ihr vor?«, fragte Japeth. »Sagt mir bitte, was ihr vorhabt!«

»Siehst du diese Wanne?«, fragte der Rüpelkönig.

»Natürlich.«

»Nun, du wirst ein kleines Bad nehmen. Ein schönes warmes Bad in Öl und Wein…«

Japeth wurde an den Armen hochgehoben und zur Wanne hinübergetragen. Er konnte sich nicht wehren. Eher erstaunt als entsetzt stellte er fest, dass er es zuließ, dass die Rüpel ihn wie eine Leiche in einer Kiste aufbahrten: Sie fesselten ihn an Knöcheln und Handgelenken und legten unter seinen Kopf einen großen unbequemen Stein.

»Das ist nur, damit du nicht ersäufst«, sagte einer der Männer – er war sehr sachlich und erledigte seine Aufgabe so gewissenhaft wie eine Mutter, die dabei war, ihr Kind zu baden.

Als er dann richtig in der Wanne lag – ausgestreckt und hilflos –, fingen die Frauen an, zuerst die Öl- und dann die Weinkrüge über Japeths Körper auszugießen, bis er regelrecht in dem Zeug schwamm. Das Öl war ranzig und der bläuliche Wein so sauer, dass er fast schon Essig war. Er ätzte seine Augen und seine Geschlechtsteile und seine Achselhöhlen und seine Lippen, und als er zu atmen versuchte, merkte er, dass die Dämpfe auch seine Nasenhöhlen ätzten. Und bevor ihm ganz klar wurde, was sie taten – hoben die beiden finsteren Männer, die ihn in die Wanne gelegt hatten, den Deckel und ließen ihn direkt auf ihm nieder: bamm! Japeth schrie – wusste aber, dass niemand ihn hören konnte.

 

 

Als seine Augen etwas weniger brannten und sich allmählich an die Dunkelheit in der Wanne gewöhnten, wurde Japeth bewusst, dass der Deckel über ihm mit aberhundert winzigen nagelkopfgroßen Löchern versehen war – durch diese Löcher konnte er nicht nur atmen, sondern zum Teil auch das Flackern der nahen Feuerstellen erkennen.

Undeutlich konnte er die Stimmen seiner Peiniger hören, die je lauter sangen, je trunkener sie wurden, während sie warteten, bis er gut durchmariniert war. Ab und zu kam einer zur Wanne gelaufen und rief: »Diesmal haben wir wohl einen zähen Reifen erwischt«, oder »Je länger wir ihn drin lassen, umso zarter wird er!«

In der Zwischenzeit kam ab und zu eine der Frauen vorbei, offensichtlich die Hauptköchin, hob den Deckel unmittelbar neben Japeths Kopf an und warf eine Hand voll Kräuter, eine Knoblauchknolle oder ein Dutzend dicke Zwiebeln hinein. Einmal hob sie den Deckel so hoch, dass er ihr Gesicht sehen konnte – sie schaute ihm direkt in die Augen und grinste. Dann leerte sie eine Flasche mit etwas unerträglich Scharfem und Klebrigem über seinem Kopf aus und sagte: »Hier, damit deine feinen Haare lockiger werden!«

Und bumm!

Wieder fiel der Deckel.

Langsam und gegen seinen Willen sank Japeth in eine Art Schlaf, der sowohl der von der Angst verursachten Erschöpfung als auch dem Luftmangel zu verdanken war. Und während er schlief oder vielmehr döste, träumte er vom Sichtreiben-Lassen im Fluss, von Wasserfällen und stillen Untiefen.

Als er aufwachte, hörte er Donnergrollen und das schwere Trommeln des Regens, der in Strömen auf seinen Deckel fiel.

Zuerst kam er nicht auf den Gedanken, dass der Regen ihn gefährden könnte – er dachte nur: Der Regen wird ihre Feuer löschen.

Zum ersten Mal, seit man ihn gefangen genommen hatte, sah Japeth einen Hoffnungsschimmer. Sie werden mich nicht roh essen, dachte er. Wenn sie mich roh essen wollten, hätten sie es schon getan

Aber dann, ganz langsam nur, wurde ihm bewusst, dass er näher am Deckel schwamm und seine Nase diesen schon berührte. Der Regen sickerte durch die nagelkopfgroßen Löcher und füllte allmählich seinen Sarg: Er würde ertrinken.

Warum kam ihm niemand zu Hilfe?

Natürlich würden sie ihn, nach all der Mühe, die sie sich gemacht hatten – stundenlanges Marinieren – die Kräuter – der Wein – der Knoblauch –, hier nicht »verderben« lassen.

»Hilfe!«, rief er – und da füllte sich auf einen Schlag sein Mund mit der furchtbaren Marinade und er merkte, wie nahe er dem Ertrinken war. Nur seine Nase ragte noch aus der Flüssigkeit heraus.

Der Donner war jetzt so nah, dass er unmittelbar auf jeden Blitz folgte – und Japeth bekam wieder Angst, er könnte auch ohne die Feuer der Banditen bei lebendigem Leib gesotten werden, falls der Blitz seine Wanne traf.

Er hatte einmal gesehen, was passierte, als man einen eisernen Kessel im Sturm draußen gelassen hatte; als ein Kugelblitz den Kessel traf, wurden alle Fische darin gekocht.

Seine Panik belebte jetzt seinen Geist – und plötzlich konnte er klar denken. Jeder Adrenalinstoß brachte einen neuen Gedanken – und alle fügten sich so aneinander, dass er sich ein Bild von dem machen konnte, was jetzt zu tun war.

Er würde von Seite zu Seite schaukeln – damit könnte er den Deckel vielleicht verrücken. Womöglich könnte er die Wanne sogar umkippen, so dass sie ihn mitsamt der Marinade auf den Boden schwemmte.

Er konnte es zumindest versuchen.

Das Schaukeln brachte ihn fast um – denn mit jeder Bewegung schwappte ihm die scharfe Flüssigkeit über das Gesicht und in die Nase.

Schnell lernte er vor der Schaukelbewegung Luft zu holen und den Atem anzuhalten – und dann warf er sein ganzes Gewicht mit großer Heftigkeit zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite.

Zuerst geschah gar nichts. Doch allmählich hatte er heraus, wie er sowohl das Gewicht der Marinade als auch das eigene nutzen konnte – er wippte langsamer, so dass die Flüssigkeit Zeit hatte, sich auf derselben Seite wie sein Körper zu sammeln.

Endlich gelang es ihm – obwohl dieser Erfolg ihn fast getötet hätte. Japeth zwang sich so weit auf die Seite, dass sein Gesicht unter die Flut der Marinade geriet, und gerade als er kurz vorm Ertrinken war, machte die Wanne einen Ruck – und kippte ihn beinahe unter sich auf den regennassen Boden.

Er brauchte ganze drei oder vier Minuten, um sich zu sammeln – und sogar dann musste er sich sehr anstrengen, um sich von der umgefallenen Wanne zu befreien. Der Deckel, der scharfe Kanten hatte, lag unter ihm und schnitt ihm in Schienbeine, Rippen und Schultern. Das Befreiungsmanöver war eine Tortur.

Endlich kam Japeth auf die Knie. Seine Knöchel waren hinter ihm, seine Handgelenke vor ihm festgebunden – aber er konnte atmen und er konnte sehen.

Das Feld lag brach – und alle Feuer waren, so wie er vermutet hatte, vom Regen gelöscht worden. Der Karren der Rüpel stand verlassen da und zuerst dachte er, er sei alleine. Doch als er mit Blicken die Finsternis absuchte, sah er sie; in einiger Entfernung hockten sie in einem Kreis unter den Bäumen.

Dort suchten sie offensichtlich Schutz vor dem Sturm – doch eindeutig gingen sie auch einer Tätigkeit nach, waren ganz darin versunken und hatten Japeth offensichtlich nicht nur verlassen, sondern auch vergessen.

Mit Hilfe der scharfen Kanten des Deckels, der ihn eingesperrt hatte, konnte er die Stricke durchschneiden, die seine Handgelenke fesselten, und dann die Knoten an seinen Knöcheln lösen.

Nackt und blau vom Wein, in dem er gelegen hatte (er wusste damals noch nicht, dass die Verfärbung seiner Haut dauerhaft sein würde), kroch Japeth zum Karren und versteckte sich dahinter.

Die, die unter den Bäumen zusammenhockten, ließ er keine Sekunde aus den Augen. Sie waren immer stärker in ihre Tätigkeit vertieft und er fragte sich, womit in aller Welt sie beschäftigt sein mochten.

Als ihm endlich dämmerte, dass sie ihn schlicht vergessen hatten und er frei war, warf Japeth einen letzten Blick auf die Männer, die da nach vorne gebeugt im Kreis hockten – alle hockten – alle mampften.

Mampften.

Japeth machte einen weiten Bogen um das Feld und betrat den Wald, der die Szenerie der feiernden Männer überragte. Sie tranken auch, aus den Weinkrügen, deren Inhalt Japeths Marinade gewesen war – und lachten mit vollem Mund und schnatterten wie Gänse.

Er wagte nicht, sich näher als zehn oder zwölf Meter heranzuschleichen, im Schutz der Dunkelheit unter den Bäumen fühlte er sich sicher. Aber es reichte, um sie klar zu erkennen und um die wenigen Worte zu belauschen, die in dem Grunzen und Sabbern zu verstehen waren. Ihre Finger rumorten dabei in dem Haufen Essen vor ihnen herum – grapschten nach Stücken und stopften sie zwischen die Lippen.

Ihr Kinn, ihre Lippen, Hände und nackten Knie waren ganz schrecklich mit Fett beschmiert und als Japeth erkannte, was sie aßen, ergriff er panikartig die Flucht.

Vorher hatte er noch die Worte »Blitz«, »gebraten« und »arme Alte« verstehen können.

Hatte sie auch erkannt.

Es war die Köchin, die ihm direkt in die Augen geschaut und gegrinst hatte, als sie zum letzten Mal den Deckel anhob, um Locken in seine feinen Haare zu machen.

Und während Japeth die Flucht ergriff, lehnte sich der Rüpelkönig wie ein Zwerg nach vorne, hob die Hände der Frau an und schlürfte das Fleisch von ihren Fingern.

 

 

Dieses letzte Bild flößte Japeth jetzt den Mut ein, sich von seinem Platz neben dem Pavillon seines Vaters zu erheben und die eine Person zu suchen, die, wie er wusste, in der Lage wäre, ihn für immer vor allen Fremden und vor allen Gefahren zu retten.

Michael Archangelis grüßte Japeth, legte seine herrliche goldene Hand auf die blaue Schulter des Jungen und fragte: »Was kann ich für dich tun, mein Junge?«

Und Japeth sagte: »Ich will Krieger werden. Wie du.«

 

 

Ausgeruht und satt saß Jahwe in einem großen Sessel an einem Ende des Pavillons und streichelte Seine Katzen.

Der Sessel, der erhöht auf einem eigenen Podium stand, war mit Ihm in der Karawane mitgekommen. Noah hatte niemals so etwas Grandioses besessen. Die Rückenlehne war mit geschnitzten Darstellungen von Widdern und Stieren, die Armlehnen mit Kälbern und Lämmern verziert. Auf der Sitzfläche lagen Schaffelle – worüber Jahwes reinweiße Robe, von Tomatenaspik befleckt und voller Katzenhaare, bis zum Fußboden wallte. Weitere Schaffelle waren unter Seinen Füßen ausgebreitet und etliche Kopf- und Sofakissen stützten Seinen Rücken und hielten Seine Ellbogen von Seinen zarten, gebrechlichen Rippen fern. Jahwe atmete so schwer, dass Er manchmal mit den Ellbogen wie mit einem Blasebalg pumpen musste, um die Luft in Seine Lungen hineinzuzwingen.

Jahwes Katzen waren beide uralt und hießen Abraham und Sarah. Abraham war silbergrau und Sarah weiß mit blauen Augen. Sie lebten schon so lange bei Jahwe, dass niemand ihr Alter genau kannte. Sarah war träge und schien immer zu dösen – obwohl sich ihre Augen hin und wieder öffneten und jeden anstarrten, der sich zufällig in ihrem Blickfeld befand – auf eisige und oft vernichtende Art. Manch ein Bittsteller war mitten in seiner Rede ins Stocken geraten, wenn er Sarahs Blick begegnete – und war unverrichteter Dinge auf und davon gegangen, weil er im blauen Licht von Sarahs Augen seine Bitte nicht vorbringen konnte.

Abraham dagegen war weniger träge als verwöhnt. Er pflegte von Jahwes Fingern gefüttert zu werden und besaß sogar die Frechheit – obwohl Jahwe es nicht zu merken schien –, gelegentlich von Jahwes eigenem Teller zu fressen. Eine silbergraue Pfote erschien dann an der Tischkante und zog einen Hähnchenflügel oder ein Stück Butterbrot auf den Schoß hinunter. Manchmal entdeckte Jahwe den Rest einer Kruste auf seiner Robe und führte ihn gedankenlos an Seine Lippen.

Abraham war darüber hinaus auch extrem geil und Jahwe musste aufpassen, dass Er ihn nicht zu stark am Schwanzansatz streichelte. Wenn Er es tat, wurde Er gebissen – was eine Art Liebesbiss war, der, wenn man keine Katze ist, schmerzhaft sein kann.

Die Tische waren schon abgedeckt und alle, die mit Jahwe zugegen waren, hatten nur noch einen Kelch voll Eiswürfel und Kamillentee vor sich – den alle außer Jahwe verabscheuten.

Auf der einen Seite – die Engel – und auf der anderen – die Sterblichen, saßen sie an zwei verschiedenen Tischen: die Engel zu Jahwes Rechter und die Sterblichen zu Seiner Linken.

Jahwe ließ Hannah noch immer nicht aus den Augen und das war niemandem entgangen – vor allem nicht Mrs Noyes, deren Platz bei Tisch am weitesten von Jahwe entfernt war. Sie hatte vorgesorgt und ihren Kamillentee mit Gin versetzt und ihre Gedanken kreisten, ja rotierten geradezu um den unerträglichen Anblick von Hannah, die am Kopfende des Tisches saß, die Haare glänzend und frisch aufgesteckt, ihr Mieder mit Blumen geschmückt.

Wie gut es manche haben – und es geht doch nichts über die Jugend –, dachte Mrs Noyes; sie kniff die Augen zusammen und ihr Blick loderte so gefährlich auf wie der Sarahs. Wahrscheinlich denkt Seine Majestät jetzt, ich könnte auch so aussehen, wenn ich die Zeit dazu hätte; wenn ich die letzten drei Tage nicht in der Küche verbracht hätte, während die Obstgartenkönigin draußen in der Sonne Girlanden geflochten hat!…

Noah saß Jahwe am nächsten – beim bloßen Gedanken, dass sein alter Freund sich jetzt hier vor ihm befand, wurden seine Augen ein bisschen feucht – und dass sie nach so vielen Jahren der Trennung zusammen das Brot gebrochen und einander zugeprostet hatten, mit… (nun ja, es war Jahwes Lieblingsgetränk)… Kamillentee. Und an Noahs Tisch. In Noahs Pavillon auf Noahs Hügel. Wunderbar und erstaunlich. Ein Wunder.

Noah ließ sich von solchen Gedanken wegtragen; er ging sogar so weit, sich Hannah zuzuwenden und wollte sie gerade bitten »das im Buch zu notieren«, als er plötzlich wieder zu sich kam.

Jahwe hatte das Wort ergriffen.

»Die Gesellschaft wahrer Freunde ist wie die Gesellschaft von Heiligen…«

Michael Archangelis murmelte: »Hört, hört!«, und klopfte mit seinem goldenen Taschenmesser gegen seinen Kelch.

Japeth blickte zum Oberbefehlshaber der gesamten Engelschar hinüber und murmelte: »Hört, hört!«, doch er hatte nichts außer seinem Jagdmesser, womit er an seinen Kelch klopfen konnte. Als er es dann tat, kippte der Kelch unter dem Gewicht des bleiernen Messergriffs um und schüttete Japeths Tee mitsamt dem Eis auf seinen Schoß. Japeth spreizte seine Knie und ließ Boden gleiten, wo es neben seinen Füßen das Eis zu schmolz.

Jahwe sagte: »Wir haben auf Erden keinen treueren Freund als Noah Noyes – und Wir danken ihm für seine Gastfreundschaft…«

Noah nickte und winkte mit der Hand ab, als missbillige er dieses Kompliment.

»… und Wir danken ihm für seine Freundschaft…«

Wieder nickte und winkte Noah.

»… Wir danken ihm für seine Treue…«

Und noch einmal.

»… Wir danken ihm für seine Liebe.«

Da erhob sich Noah und berührte zu Ehren des Gastes seine Stirn und seine Lippen.

»Hört, hört«, sagte Michael Archangelis.

Sarah starrte Noah fest an und Noah nahm wieder Platz.

»Die Liebe«, sagte Jahwe – und schob dabei seine Pastille von einer Seite des Mundes zur andern, wobei er sie beinahe verlor, »ist das höchste Gut, das man jemandem schenken kann.«

»Hört, hört.«

»Ihre Seltenheit macht sie nicht nur großartig, sondern versetzt sie ins Reich des Erhabenen. Sie ist – Wir dürfen es euch sagen – das Glorreichste an der ganzen Schöpfung.«

»Hört! Hört!«

»Hört! Hört!«

Es gab anhaltende Zustimmung für diese Worte; alle stimmten in die Zurufe und das An-den-Kelch-Klopfen mit ein, wozu einige die Ringe auf ihren Fingern, andere die Waffen in ihren Händen benutzten.

»Die Liebe«, Jahwes Augen loderten jetzt leidenschaftlich auf. »Die Liebe ist das eine wahre Band…«

»Hört, hört…«

»Zwischen Gott und Seinen Engeln…«

»Hört, hört…«

»Gott und Mensch…«

»Hört, hört…«

»König und Untertan…«

»Hört, hört…«

»Lehnsherrn und Vasallen…«

»Hört, hört…«

»Herrn und Sklaven…«

»Hört, hört…«

Jahwe legte eine kleine Pause ein, als würde Er anhand Seiner Finger nachprüfen wollen, ob Er auch keine Form der Liebe vergessen hatte – und während dieser Pause ertönte ein ganz lautes Husten – es kam von Mrs Noyes am Ende ihres Tisches.

Sarahs Blick ging in diese Richtung.

»Aber leider«, sagte Jahwe, und Seine Stimme senkte sich zu einem dramatischen Flüstern, »müssen Wir euch sagen, dass Wir in letzter Zeit auf dieser Erde einen solchen Mangel an Liebe erlebt haben, dass Uns nur der Schluss bleibt: Es gibt keine Liebe auf dieser Erde außer der, die Wir hier und heute Abend in diesem Pavillon genießen dürfen.«

Jeder lehnte sich nach vorn.

Jahwes Hand ruhte auf Abrahams Nacken.

»Wir haben auf Unseren jüngsten Reisen die Erde von einem Ende zum anderen durchquert – und Wir sagen euch: Seht, die große weite Welt ist vom Wahnsinn erfasst…« Jahwes Blick richtete sich auf die Gesichter vor Ihm. »Steine und Pfeile – Eier und Fäkalien. Wie Wir euch berichtet haben, sind Wir nicht nur geschmäht und angespuckt und verhöhnt – Wir sind auch mit Feuer und Schwert angegriffen worden. Unsere Kutsche und Unsere Pferde wurden auf der Straße angefallen, Wir sind dabei umgestürzt. Unsere Engel haben aus den Wunden geblutet, die sie sich bei Unserer Verteidigung zugezogen haben – und dennoch sind Wir selbst vom Schwert des Meuchlers getroffen worden – nicht einmal – sondern siebenmal…«

Hier hielt Jahwe inne, um Seine Gedanken zu sammeln und Seine Gefühle möglichst unter Kontrolle zu bringen. Bei diesem Versuch rückte Hannah in Sein Blickfeld – und an sie richtete Er die folgenden Worte.

»Wir sehen in das leuchtende Angesicht dieser Frau und Wir erröten bei dem Gedanken, was aus der Menschheit geworden ist. In ihren Augen und in ihrer Haltung erkennen Wir all das, was Uns beim Akt der Schöpfung beseelt hatte. Reinheit des Herzens und der Absichten. Ergebenheit und Unterwürfigkeit dem größeren Ruhm gegenüber…« Seine Stimme wurde leiser. »Et cetera. Sie ist, auch wenn diese Wahrheit Uns das Herz bricht, nur eine Einzige von Tausenden; Zehntausenden, wenn nicht sogar eine Einzige innerhalb der ganzen Menschheit…«

Sogar Noah brachte dieses »eine Einzige innerhalb der ganzen Menschheit«-Gerede etwas auf, doch er unterdrückte seine Reaktion mit einem Schluck des entsetzlichen Tees und lehnte sich zurück, um den restlichen Worten seines Freundes zu lauschen.

»Wir sagen euch«, fuhr Jahwe fort, und Sein Blick wanderte von einem Zuhörer zum nächsten, »das Einzige, was man auf dem Antlitz dieser Erde erblickt – die ja ganz den Stempel des Menschen trägt – ist der Stolz!« Jahwe war jetzt so sehr in Seine Rede vertieft, dass sie Ihm förmlich aus dem Mund quoll und Er notgedrungen eine Serviette nehmen musste, um sie aufzufangen und Seinen Bart und Sein Kinn abzuwischen. »Stolz und Lüsternheit; Neid und Zorn; Begierde; Völlerei und Faulheit sind das Einzige, was man überall zu sehen bekommt! Der ganze tödliche Kanon von Laster, Verderbtheit und Entsetzen ist das Einzige, was man erblickt. Wir werden allerorten von einer Welle des Bösen, des Lasters und der Schande heimgesucht, die jeder Beschreibung spottet!«

Alle, die sich in der Zwischenzeit ein bisschen entspannt zurückgelehnt hatten, beugten sich jetzt ganz nach vorne, verdrehten ihre Finger und ballten in der Anspannung des Augenblicks die Fäuste. Alle Münder standen offen – jede Lippe war von den Säften der Entrüstung und des Staunens befeuchtet.

»Männer – Frauen – Kinder; alle sind der Korruption unterworfen. Niemand ist verschont geblieben – und niemand hat die anderen verschont. Die Abgründe des Grauens haben sich vertieft und unsere Straßen in den Städten erfasst. Man muss den Rock raffen, will Man nicht in Unrat versinken. Die Hände der Sünder strecken sich aus, um Einen zu berühren und in den Dreck zu ziehen. Ihre Stimmen rufen Einem von allen Seiten zu. Niemals in Unseren kühnsten Vorstellungen hätten Wir Uns solch ungeheuerliche Perversionen ausdenken können, wie sie Uns an jeder Straßenecke geboten wurden…«

Unter der scheinbaren Ruhe seines Gewandes wurde Jahwes Leidenschaft offensichtlich so erregt, dass Abraham sich von seinem Platz auf Jahwes Schoß vertrieben fühlte, und der silberfarbene Kater auf einmal hinuntersprang und sich auf den Fußboden legte; sein Schwanz zuckte vor Erregung, während seine Augen den Pavillon auf der Suche nach einem Ausgang durchforschten.

»Bedeutet das denn, das große Experiment nähert sich seinem Ende?«, fragte Jahwe. »Bedeutet es, dass Unser Plan abgelehnt worden ist?«

Die Frage wurde mit vielen »Nein! Nein!«- und »Niemals! «-Rufen beantwortet.

Doch Jahwe sagte: »Eure Beteuerungen kommen zu spät, meine Freunde. Ihr – und nur ihr – habt Unsere Worte mit so etwas wie Sympathie angehört. Anderswo – und überall sonst! – ging Unsere Stimme in Hohn unter und Wir wurden mit unverschämten und brutalen Gesten, wie Ihr sie Euch gar nicht vorstellen könnt, abgewiesen. Rufe wie ›Raus hier!‹, ›Hau ab!‹ und ›Lass uns in Frieden!‹, waren an der Tagesordnung.«

Jahwe weinte.

»So sind Wir zu euch gekommen. So sind Wir in Eurer Mitte angelangt. So geben Wir uns Eurer…«

Gnade

Das Wort wirbelte geradezu durch den Pavillon; diejenigen, die sich einbildeten, es gehört zu haben, gerieten bei der bloßen Vorstellung dessen, was es bedeutet, ins Taumeln.

Sie müssten sich nämlich Seiner Gnade hingeben.

»Halt!«, rief Noah. »Sagt das nicht, Herr! Wir wollen es nicht hören. Sagt nur, was Ihr wollt, dass wir tun sollen! Aber sprecht nicht von unserer Gnade! Offenbart uns vielmehr die Eure!«

Jahwe lächelte.

Er – und nur Er – war sich in diesem Augenblick bewusst, dass das Wort gar nicht ausgesprochen worden war. Er – und nur Er – wusste, was Er wirklich gerade hatte sagen wollen, nämlich: »So geben Wir Uns ganz eurer Gastfreundschaft hin.« Was Er wollte – das Einzige, was Er wollte –, war ein Zufluchtsort, an dem Er sich so lange aufhalten konnte, bis Er sich erholt hatte. Jetzt war ihm, so vermutete Er, mehr als nur eine Zuflucht geboten worden.

Abraham schlüpfte unter den Windschutz des Pavillons und sog tief die Mitternachtsluft ein. Über ihm glitt der Mond rücklings durch ein Meer von Sternen – so vielen Sternen, dass vom Himmel kaum noch etwas zu sehen war. Rings um ihn schwebte der schwere Duft von irdischen Bäumen und Gras, von Kräutern und Wiesenblumen und Staub. Aus der einen Richtung der warme und fast verführerische Geruch der Scheunen, der von Mäusen, Küken und jungen Gänsen kündete. Aus der anderen der Duft von Engeln, Sterblichen, von Jahwe und den Resten des eben verzehrten Mahls. Irgendwo da draußen – nicht weit, aber auch nicht so nah, dass er es gleich orten konnte – war ein Gewässer und dahinter befanden sich weidende Schafe. Ihre Glocken waren zu hören, und auch ihr Geruch beim Grasen war hier diesseits des Teiches wahrnehmbar.

Abraham setzte sich und schleckte sich die Pfoten – eine Tätigkeit, die zu präzisem Denken anregte, wenn das Hirn mit einem Übermaß an Informationen gefüttert worden war. Jahwes schrecklicher Zorn hatte solche Schwingungen ausgelöst, dass Abraham von Kribbelgefühlen und äußerst unangenehmen Schocks heimgesucht wurde: Der Himmel zeigte plötzlich zu viele Sterne; die Speisehappen, die er von dem ergattert hatte, was aus der Hand seines Herrn und Meisters gefallen war, waren fast durchweg vegetarisch und stellten ihn überhaupt nicht zufrieden; die Bäume waren ihm fremd und ihr Duft aufdringlich; die Schafglocken gingen ihm auf die Nerven und war das dort nicht ein läufiges Weibchen?

Schlagartig hörte das Pfotenschlecken auf.

Abraham suchte die Luft mit seiner Nase ab.

Nichts Fremdes am Geruch eines läufigen Weibchens. Er war überall anzutreffen.

Wo aber war das Weibchen?

Ah, ja…

Gleich da drüben.

Mottyl lag am Rand ihrer Veranda und hoffte, Mrs Noyes würde bald wiederkommen. Ihre Läufigkeit hatte die letzte, abklingende Phase erreicht und ihre damit verbundenen Beschwerden waren jetzt nur mehr eine kontinuierliche Abfolge aus Zuckungen und Krämpfen, die langsam und ungleichmäßig dem Ende zugingen. Es hatte sogar in den letzten paar Stunden Augenblicke gegeben, in denen ihr Körper sich fast normal fühlte, und sie hatte sich über die Tatsache wundern können, eine ganze Läufigkeit ohne Männchen überlebt zu haben. Das Summen ihrer Flüsterstimmen war jetzt ganz angenehm, und sie lag da, den Kopf wie zum Dösen entspannt, und erwog ein langes erholsames Nickerchen auf dem Brokatsessel mit den ungeölten Federn, dessen Sitz auf so wohltuende Art durchhing.

Eine Katze, deren Geruch nur wenig vertraut, aber ganz und gar harmlos war, streunte durch den Hof. Eine alte Katze… vielleicht ein Kater… vielleicht auch nicht… eine schlanke, vornehme Katze, deren Bauch in der Mitte einen lustigen Durchhänger hatte, was dem sonst adretten Profil ein lächerliches Aussehen verlieh.

Irgendwelche Kommentare?

Nein. Eigentlich nicht… ist allerdings eindeutig ein Kater.

Ja, aber sehr, sehr alt. Sieht aus wie ein heruntergekommener Casanova.

Ein Kater ist ein Kater, pass auf!

Er sieht zu alt aus, um noch interessiert zu sein. Übrigens, ich habe es jetzt fast hinter mir. Kein Grund, warum er nicht hierher kommen und im Hof sitzen sollte…

Du spinnst komplett, weißt du.

»Hallo.«

»Hallo.«

»Hier ist eine Veranda, wo du dich ausruhen kannst, wenn du willst.«

»Sehr lieb von dir, meine Gnädige. Vielen Dank…«

»Aber ich bitte dich. Ich freue mich auf deine Gesellschaft.«

Du Närrin.

 

Als Erstem fiel Michael Archangelis auf, dass Abraham fehlte. Um die Veranstaltung nicht zu stören, erhob er sich unauffällig und ging hinaus, um ihn zu suchen. Wenn Jahwe Seine Katzen verlieren würde, wäre Er untröstlich.

Nach einiger Zeit fand der Kriegerengel Abraham auch und konnte ihn vom Dach der Veranda herunterholen, wohin ihn irgendeine sterbliche Katze vertrieben hatte. Das Fell des alten Katers war etwas zerzaust, seine Miene aber war selbstgefällig und zufrieden. Allerdings, bevor das geschah und alles ein glückliches Ende nahm, sollte Michael noch eine Entdeckung machen, und zwar keine erfreuliche.

Als er durch den Staub des Noyes’schen Hofes ging, blieb etwas zwischen seinen Zehen stecken. Zuerst schenkte er ihm keine Beachtung, denn es war offensichtlich nichts von Bedeutung und würde höchstwahrscheinlich bald von selbst wieder verschwinden. Als das aber nicht geschah und das Zeug immer näher an seine Schwimmhäute rückte, wo es ziemlich lästig werden konnte, sah sich Michael gezwungen, das Ding zu entfernen.

Es war eine Feder von beachtlicher Größe.

Gedankenlos hob Michael den Gegenstand an seine Nase, wie ein Mensch, der an einer frisch gepflückten Blume riechen will.

Einen Augenblick lang war Abraham völlig vergessen und Michael eilte zum Lichtschein des nahe gelegenen Hauses. Er hielt die Feder hoch, damit die Laternen drinnen sie beleuchten konnten, und drehte sie mit zunehmender Besorgnis und Wut hin und her.

»Na, so was!«, sagte er laut, sobald sich sein Verdacht bezüglich der Herkunft der Feder bestätigte. »Hier versteckt er sich also.«

Es war Zeit für den vergnüglichen Teil des Abends, und die Tische wurden beiseite gerückt. Aus dem Kühlhaus brachte Emma Honigwein; unter dem Gewicht der riesigen Steinkrüge, in denen man den Wein angesetzt hatte, geriet sie ins Taumeln. Ein frischer Satz Kelche wurde herbeigeschafft und die rangniedrigeren Engel sowie die Ministranten nahmen jeden Krug, den Emma brachte, gingen von Gruppe zu Gruppe und schenkten die dicke goldfarbene Flüssigkeit ein, welche die Luft mit ihrem schweren Honigduft erfüllte. Die Engel schleckten ihre mit Schwimmhaut versehenen Finger ab und lächelten verführerisch zuerst den einen, dann den anderen an – Engel und Sterbliche zugleich.

Die in den strahlenden Glaslaternen steckenden Kerzen wurden anders verteilt und warfen Licht dorthin, wo während des Mahles Dunkelheit geherrscht hatte – und Schatten, wo vorher Licht war.

Mrs Noyes wurde hinausgeschickt, um ihre Schafe zu holen, und mit einem Wink lud Jahwe Hannah ein, sich aufs Podium Ihm zu Füßen zu setzen.

Während die Schafe eingesammelt und die Lämmer dazu angehalten wurden, weniger lebhaft zu sein, fing Noah – der mit dieser Unterhaltung seinen alten Freund aus seiner großen Depression erlösen wollte – wie die meisten Magier es tun, mit einem oder zwei seiner einfacheren Kunststücke an – mit den spektakulären, mit Tauben und Enten –, Kunststücken, die anerkennendes Gemurmel und Freude hervorrufen, die aber eigentlich zu den allereinfachsten Darbietungen gehörten.

Nachdem er sein tiefblaues Magiergewand angezogen und seine Magiertische so nahe an Jahwe gerückt hatte, wie er es wagte, und dann vielversprechend seinen hohen spitzen Hut aufgesetzt hatte, fing er an.

Als Erstes führte er Drei-Taubendrei vor, dann Sechs-Taubensechs und darauf, in schneller Folge, die entzückende Reihe, die man Sechs-Tauben-fünf-und-die-Gans nennt, ein Kunststück, bei dem ein aufdringlicher Gänserich zuerst auf dem einen, dann auf dem anderen Arm und zuletzt unter dem hohen spitzen Hut erscheint, und zwar gerade in dem Moment, in dem Sechs-Taubensechs wiederhergestellt scheint.

Diese Darbietung bringt die Zuschauer immer zum Lachen und weckt Hoffnung auf noch mehr Freuden – und in der Tat war Sechs-Tauben-fünf-und-die-Gans in dieser Nacht im blauen Pavillon ein ganz wunderbarer Erfolg. Die Engel klatschten begeistert Beifall. Die Ministranten – typisch für Kinder – quietschten vor Freude – und sogar Japeth lächelte. Jahwe jedoch war nicht aufzumuntern. Seine Lippen versuchten tapfer Anerkennung zu vermitteln – aber kein Laut kam über sie.

Also versuchte es Noah noch einmal.

Diesmal spielte er buchstäblich mit Feuer – er zog Feuer aus der Luft und verbannte es in einen großen durchsichtigen (auch hervorgezauberten) Luftballon, woraus er es dann wieder in Gestalt einer erneuten Stichflamme herausholte.

Nichts.

Jahwe war so völlig niedergeschlagen, dass ihm nicht einmal Das Seil von Endor ein Lächeln entlocken konnte, was bei allen anderen gelang.

Noah verzweifelte allmählich, dennoch wusste er ganz genau, dass er noch über einen Zaubertrick verfügte, den er nicht nur aus den Ärmeln schütteln, sondern auch außerhalb des Pavillons darbieten konnte, und dass dieses Kunststück garantiert begeistern würde. Aber der erhoffte Erfolg würde ausbleiben, wenn man Jahwe nicht dazu bringen konnte, gleich am Anfang des Programms in die allgemeine Begeisterung einzustimmen.

Genau in diesem Augenblick, als Jahwes Gemütsverfassung den Tiefpunkt erreicht hatte, erschien Mrs Noyes wieder auf der Bildfläche – mit kaum merklichem Taumeln –, sie hatte ihre Schafe im Schlepptau und diese begannen wie auf Kommando zu singen:

 

Sammeln wollen wir uns am Flusse

wie dereinst die Engelschar,

wo er fließt vor Gottes Throne,

sein Wasser ewig kristallklar

 

Noch immer keine Reaktion.

Es gab sogar ein ganz leises Anzeichen dafür, dass die singenden Schafe Jahwe missfielen. Er rümpfte die Nase und machte Anstalten zu niesen.

Hannah hielt ihm eine Serviette hin.

Der Niesreiz legte sich.

Obwohl er merkte, wie sehr sein Freund litt, konnte Noah das Lied nicht mittendrin unterbrechen; er wusste, wenn Schafe einmal angefangen hatten, konnte man sie nicht mehr stoppen, bis sie das Ende eines Stückes erkannten. Sie waren ja so blöd! Fast in Panik näherte sich Noah dem Podium, während das Lied weiterging.

Es war eindeutig nötig, Jahwes Depression frontal anzugreifen, und so schritt Noah ganz nach vorne und stellte einen seiner kleineren Magiertische direkt neben Jahwes Knie.

Hannah rückte auf ihrer Stufe zur Seite.

Das Lied ging weiter.

 

Dort, am Ufer von dem Flusse

krieg’n wir unsrer Mühe Lohn,

legen bin die schwere Bürd

 und erhalten Rob’ und Kron.

 

Noah zog eine hohe Flasche aus allerfeinstem Glas hervor. Danach noch einen großen geprägten Kupferpfennig. Er stellte die Flasche und legte den Pfennig auf den kleinen Tisch.

 

Ja, wir sammeln uns am Flusse,

am herrlichen, herrlichen Flusse

 

Noah lenkte Jahwes Aufmerksamkeit zuerst auf den Pfennig so – und dann auf die Flasche – so, indem er den Pfennig auf den Tisch legte und die Flasche dar auf stellte.

»Herr, mein Gott, seht Ihr den Pfennig immer noch ganz deutlich durch das Glas der Flasche…?«

Jahwe nickte; ja.

»Dann – schaut, Herr, welch äußerst erstaunliche und magische Wirkung, während ich diese Flüssigkeit langsam in die Flaschenöffnung hineingieße. Darf ich Eure Aufmerksamkeit auf den Pfennig lenken? Majestät, behaltet den Pfennig im Auge, und nur den…!«

Dann streckte Noah den Arm aus und brachte einen silbernen Krug mit reinstem Wasser zum Vorschein, das er, wie angekündigt, in die Flasche goss.

 

Bald sind wir am Silberflusse, unsre Pilgerschaft vorbei

 

Jahwe stockte der Atem.

 

unsere Herzen werden singen eine Friedensmelodei.

 

Jahwe lehnte sich nach vorn, um besser zu sehen, was er noch nicht erkennen konnte.

Der Pfennig war verschwunden.

»Noch mal!«, krähte Jahwe. »Mach es noch mal!«

Erfolg, endlich.

 

Ja, wir sammeln uns am Flusse,

am herrlichen, herrlichen Flusse,

mit allen Heiligen am Flusse,

der fließt an Gottes Thron vorbei.

 

Noah wiederholte den Trick – nicht einmal, sondern noch dreimal – und jedes Mal faszinierte er Jahwe mehr.

»Nur durch das Hinzufügen von Wasser…«, sagte er.

»Ja, Herr. Ja…«

Und Noah führte den Trick ein letztes Mal vor.

»Wie ein Wunder…« Jahwe flüsterte jetzt fast, als sich der letzte Rest der Flüssigkeit aus der Tülle des Silberkrugs in die Öffnung der hohen Glasflasche ergoss… im Innern hinunterlief… die Flasche füllte und das Bild des Pfennigs ganz und gar auslöschte, der immer noch auf derselben Stelle unter der Flasche lag. »Nur durch das Hinzufügen – von Wasser…«, sagte Jahwe, »… verschwindet er…«

 

Mit allen Heiligen am Flusse,

der fließt an Gottes Thron vorbei

 

 

Später, als die Schafe sich zurückgezogen hatten und Mrs Noyes – beschwipster denn je – ihren Platz im Pavillon wieder eingenommen hatte, ließ Noah die großen blauen Zeltwände aufrollen. Dann zog er als Höhepunkt des magischen Abends eine solche Schau ab, dass sogar seine Frau mächtig beeindruckt war, welche Menge an Wunder und Schönheit ihr Gatte zustande bringen konnte, wenn er nur wollte.

Und draußen hinter dem Pavillon, unter freiem Himmel, zeigte er nichts Geringeres als Das Maskenspiel der Schöpfung; er fing mit einem Windstoß an, der sämtliche Kerzen ausblies – so dass alle wie mit einer Stimme »Ah!« riefen.

Als Nächstes kam eine schwebende Gestalt mit undeutlichen phosphoreszierenden Konturen, die sich wie beim Schwimmen seitlich fortbewegte: Sie stellte den Geist Gottes dar, der auf dem Wasser schwebte.

Und als Gott das Licht erschuf, gab es eine so herrliche chinesische Explosion – sie war weniger ein plötzliches helles Leuchten, als eine sich allmählich steigernde, glanzvoll aufberstende Erscheinung – dass diese Darbietung sowohl laute Zurufe als auch Applaus von schwimmhäutigen Händen und sogar das Stampfen begeisterter Füße erntete.

Himmel und Erde waren Banner aus Samt und Seide – Bäume und Gras und Reben aus bemaltem Tuch stiegen empor, ja blühten sogar, und nach der Blüte erschienen Früchte: gläserne Pflaumen und Kirschen, Messingbirnen und Kupferpfirsiche, kandierte Weintrauben und glasierte Beeren…

Dann die Planeten, Mond und Sonne, einige im Wettstreit mit ihrem himmlischen Gegenstück – aber das machte nichts. Jede neue Erscheinung entlockte den Zuschauern einen Seufzer des Vergnügens, jedes neue Aufsteigen war von einem Zuruf der Begeisterung begleitet.

Vögel aus Segeltuch flogen in die Luft und umkreisten die bemalten Bäume, verschwanden dann in einem strahlenden Band aus vielen Farben, das am Himmel einen Bogen beschrieb. Hölzerne Hirsche wurden von mechanischen Bären und tapsigen Drachen über die samtene Erde gejagt. (Die Drachen zogen, wie alle Bösewichter, Gelächter und Buhrufe auf sich.) Endlich stieg ein riesiger blauer Papierwal aus dem Meer und diese Erscheinung fand so viel Beifall, dass sie das Spektakel ganz zum Stillstand brachte.

Vor allem die Ministranten wollten den Wal noch mal sehen – und während er zum dritten oder vierten Male gezeigt wurde, tauchten plötzlich die Feen auf, die vielleicht durch die Lichter aus dem Wald angezogen worden waren – und außer Mrs Noyes nahm jeder an, ihr Erscheinen sei inszeniert und mit Hilfe der laterna magica zustande gebracht – ihr allein war klar, dass es echte Feen waren.

Endlich war es Zeit, den Menschen zu erschaffen, und diesmal traute Mrs Noyes kaum ihren Augen: Denn aus den Tiefen des Schaukastens, den Noah im Dunkeln versteckt hatte, stieg Ham – er war von Kopf bis Fuß mit einem entsetzlichen Rosa bemalt und trug ein riesiges Feigenblatt aus Pappe, das ihm fast bis zu den Knien reichte.

Bis hierher ging die Darbietung nach Plan – und Noah wollte gerade die passenden Schnüre oder Fäden ziehen – oder den Hebel betätigen, der seine Eva zum Vorschein bringen würde ~, doch als die Papierpuppe, die aus Ham-Adams Seite erstehen sollte, ihr Stichwort erhielt – geschah nichts.

Stattdessen trat Luci in Erscheinung – in einem langen durchsichtigen Gewand und mit einer Krone aus goldenem Haar, die sie völlig umgab und bis zum Boden fiel und dabei geschickt jeglichen Hinweis auf ihr Geschlecht verbarg.

Das Schlusstableau mit Adam, Eva und der gesamten Schöpfung – mitsamt dem riesigen blauen Papierwal, der sich hinter ihnen in voller Länge ausstreckte – löste bei allen und jedem tosenden Beifall aus, und sogar Jahwe hob die Hände und klatschte mit den Handflächen auf die Knie – Er wagte es nicht, Seine Hände gegeneinander zu schlagen, aus Angst, sich die Finger zu brechen.

Nur Michael Archangelis, der inzwischen mit Abraham zurückgekommen war, blickte argwöhnisch zur Gestalt von Eva hin. Seine Bedenken behielt er jedoch für sich. Dass Jahwe endlich gelächelt hatte, war eine zu wichtige Begebenheit, als dass er sich hätte entschließen können, den Indizienbeweis in Form der langen bronzenen Feder in seiner Tasche herzuzeigen oder die Identität des Engels, der Eva spielte, preiszugeben.

 

 

Jahwe war jetzt so entspannt, dass Er länger als eine Stunde redete, und ein Kreis begeisterter Zuhörer saß unter dem von Kerzen beleuchteten Pavillon und hörte Ihm gebannt zu – sowohl Engel als auch Sterbliche waren von der Weisheit und Herrlichkeit Seiner Worte gefesselt.

Lange nach Mitternacht wandte sich Jahwe mit folgender Geschichte direkt an Noah, dabei ruhte Seine Hand weiter auf Hannahs Schulter.

»Es ist allen Ältesten und Rabbinern und Priestern bekannt, dass Fähigkeiten, wie du sie hier heute Abend vorgeführt hast, seit Anbeginn der Zeit nur von einigen Wenigen beherrscht werden. Welche Gefahren diese Fähigkeiten in sich bergen, kann man erahnen, indem man allein nur daran denkt, wie viel Böses Uns jetzt umgibt, während Wir einander hier oben auf diesem Berg Gesellschaft leisten und Uns so sicher wähnen. Die Städte stinken nach dieser bösen Gefahr. Und trotzdem kann auch Herrliches darin enthalten sein: in diesen Fähigkeiten.

Denk jetzt nach, und beschwöre einen Obstgarten herauf! Jenen Ort, der seit Anbeginn der Zeit, deren Anfänge du Uns heute Abend hier gezeigt hast, die heiligste Zuflucht alles Heiligen ist. Jenen Obstgarten, in dem nur diejenigen, die wahrlich vorbereitet und wahrlich weise sind, in Sicherheit wandeln können. Denk an diesen Obstgarten – mit all seinen Wundern und all seinen Geheimnissen!…«

Jahwes spröde Finger spielten, während Er sprach, mit Hannahs Haaren – und Seine andere Hand streichelte die Köpfe Seiner schnurrenden Katzen, die man ihm zurückgebracht hatte.

»Stellt euch im Geiste vier Männer vor – Weise alle vier, die Weisesten unter den Weisen. Lasst Uns ihnen sogar Namen geben: Denn beim Erschaffen einer Legende sind Namen alles. Lasst sie Uns zusammen am Tor zum Obstgarten aufstellen – zum Heiligen Obstgarten der Weisheit – und seht, da sind Rabbi Akiva, Simeon Ben Zoma, Simeon Ben Azai und Elischa Ben Abuya – vier große Weise, die Mir zufälligerweise einmal bekannt waren…«

(Er hatte »Mir« gesagt; Mrs Noyes sprach es fast laut aus. Er hatte »Mir« gesagt…)

»Der allerweiseste unter ihnen, Rabbi Akiva, wird sie in diesen Obstgarten geleiten – ein sanfter und gewissenhafter Mann, dessen Liebe Wir fast so sehr geschätzt haben wie die von Noah Noyes. Und Rabbi Akiva – als Weisester unter den Weisen, breitete alle überlieferten Warnungen vor seinen Brüdern aus – so wie man Teppiche ausrollen würde, um die Füße der Geliebten vor Brennnesseln zu schützen. Er berichtete von allen Gefahren – und von allen Fallstricken. Vor allem aber warnte er seine Freunde, die anderen Weisen, vor den Gefahren, die in Wörtern lauern… im unüberlegten und unbedachten Gebrauch von Wörtern… im stolzen Gebrauch von Wörtern; vor den Wörtern, die selbst Wir nicht verwenden, um die Schöpfung nicht zum Stillstand zu bringen – oder um zu verhindern, dass sie womöglich in einem finsteren Tunnel verschwindet, aus dem sie vielleicht nie mehr zurückgeholt werden kann. Da riefen alle: ›Wir hören dich.‹ Alle riefen: ›Wir werden ganz bestimmt tun, was du sagst.‹ Und so – traten sie in den Obstgarten…«

Jetzt lehnte sich Mrs Noyes nach vorne und schloss in der Aufregung des Augenblicks ihre Finger zu jenem Zeichen zusammen, für das sie noch keine Erklärung hatte: das Zeichen, welches ihr die Feen über den Dächern und Kaminen ihres Hauses erst ein paar Abende zuvor bedeutet hatten.

Und Sarah, die dieses Zeichen erblickte und wusste, dass es Teil des Allerheiligsten war, hüpfte verstohlen von Jahwes Schoß und bewegte sich auf Mrs Noyes zu. Das alles wurde Jahwe nicht bewusst; Er war so in Seine Geschichte vertieft, dass, selbst wenn ein Tiger von Seinem Schoß gesprungen wäre, Er es nicht bemerkt hätte.

»Die Menschen sind Menschen und allein nur Menschen«, sagte Jahwe. »Und selbst die Weisesten unter ihnen müssen scheitern. Stolz, Torheit und Wagemut sind Fallen, in die sogar Adam – zu Unserem Entsetzen – zu Unserem Leidwesen – hineingetappt ist. Während sie also im Heiligen Obstgarten wandelten, wo alles, was es nur geben kann, verborgen liegt, wurden die Weisesten unter den Weisen – Simeon Ben Zoma – Simeon Ben Azai – Elischa Ben Abuya – in Versuchung geführt, ebenso wie Eva in Versuchung geführt wurde, obwohl sie doch als Männer mehr Kraft hatten, dieser Versuchung zu widerstehen. Jetzt stellt euch mal vor, wie Ben Azai sich im Erschaffen des Menschen versuchte – und dabei starb. Wie Ben Zoma beim bloßen Gedanken an das verbotene Wort – den Verstand verlor. Wie Elischa Ben Abuya zu Boden fiel, sich vergaß, als er all die wunderbaren Pflanzen und Kräuter unter seinen Fingern erblickte und sie von ihrem Platz im heiligen Boden zu reißen begann und sie aß –, dabei brachte er das Gleichgewicht seines Körpers völlig durcheinander und blieb für den Rest seiner Tage verkrüppelt und nutzlos. Nur Rabbi Akiva kam ungeschoren von diesem Wandeln unter den Bäumen davon. Allein er, der wusste, dass man die Hände nicht verlangend ausstreckt; der wusste, dass man nicht übermäßig auf das Wort eingehen soll; der wusste, dass man nicht zu Boden fallen und essen soll – nur er – nur er…«

Jahwes Stimme wurde immer leiser, verstummte schließlich ganz.

Sarah ging, die Krallen ausgefahren, auf das Symbol des Unendlichen zu.

 

 

Als die Ordnung wiederhergestellt war, musste Mrs Noyes weggeführt werden und ihre blutenden Finger mussten in ein Glas Essig getaucht und später verbunden werden.

Sarah wurde von Jahwe – ganz behutsam – zurechtgewiesen, und nachdem sie und Abraham es sich in Jahwes großem Sessel bequem gemacht hatten, wandte Jahwe sich Noah zu und bat ihn: »Zeig mir doch noch einmal deinen Trick mit der Flasche und dem Pfennig!«

Nach dem Spiel von der Erschaffung der Welt, und nachdem Jahwe das Gleichnis von Rabbi Akiva und dem Obstgarten erzählt hatte, schlich sich Michael Archangelis wieder in die Dunkelheit hinaus.

Er war zutiefst beunruhigt – denn obwohl Doktor Noyes und seine Familie es bis zu einem gewissen Grad geschafft hatten, Jahwe aus Seiner Depression zu erlösen, steckte noch immer etwas Unheilverkündendes hinter alledem, was im blauen Pavillon stattgefunden hatte. Michael konnte das Gefühl nicht loswerden. Seine Intuition sagte ihm nach wie vor, dass etwas nicht stimmte, einfach nicht stimmen konnte. Dass Abraham verschwunden und wieder aufgetaucht war, war nur ein Teil davon. Sogar die Feder – von größter Bedeutung – war nicht alles. Und dass Luci die Rolle Evas übernommen hatte, eine erschreckende Unbedachtsamkeit und Frechheit, stellte wiederum bloß einen Beweis dafür dar, wie begründet Michaels Verdacht war.

Nein – es war mehr als nur das. Mehr sogar als die Summe all dessen. Es waren die Fragen, die Jahwe, dem immer mehr vor der Menschheit schauderte, angedeutet hatte und die gefürchteten Antworten darauf, die im Zusammenhang mit Lucis Anwesenheit an diesem Ort standen.

Michaels Stellvertreter waren bei Jahwe geblieben. Man musste immer Wache halten, selbst in den Pavillons von Jahwes engsten und vertrautesten Freunden. Michael Archangelis stand allein in der Finsternis – sein Schwert an seiner Hüfte, seinen Jagdspeer in den Händen.

Die Sterne und der Mond (echte Sterne, echter Mond) spiegelten sich sanft und diffus im goldenen Glanz seines Brustharnischs, der mit geschmiedeten Darstellungen vergangener Schlachten und unvermeidlicher Siege dekoriert war. Michael hatte nie, doch, nur einmal, eine Schlacht verloren. Sein Krieg gegen Lucifer – der im Himmel als Sieg gefeiert wurde – obwohl er in Michaels Augen überhaupt keiner war. In Michaels Augen war sein Bruder nicht bezwungen worden; er war entkommen.

Der Berg war voller Geräusche – einige kamen aus dem blauen Pavillon, andere aus der Dunkelheit. Vögel, die nicht schlafen wollten oder konnten, fingen plötzlich an zu singen. Auch Grillen und Frösche sangen, obwohl ihre Lieder aus allen Richtungen ertönten, ganz unmöglich zu orten waren – mal dort, dann weiter drüben, dann unten am Berg, in der Nähe des Waldes. Links von ihm bellte die Füchsin – und der Fuchs gab hinter ihm Antwort, hoch oben im Zedernhain. Aus dem Wald ertönte ein Todesschrei und die Eule flog in die Bäume hinauf, um zu schmausen. Aus weiter Ferne – vielleicht von jenseits des Flusses, kam ein weiterer Schrei: »Ich bin hier – wo bist du?« – von einem ziemlich großen Tier. Michael stand da und hörte das alles und er sah die Sterne und er sah den Mond – und er konnte den Geruch der Bäume in den großen Hainen riechen, der halb gemähten Felder, selbst der Erde, der Blumen in Mrs Noyes’ Garten, des Staubes und der Asche im Vorhof und des widerlichen Rätsels, das im Teich verborgen war, und er dachte: Von allen Wohnstätten Gottes ist diese die geheimnisvollste. Der Himmel mit seinen vielen Sonnen und dem schattenlosen Weiß war vollkommen und voraussehbar – war bekannt; der Garten Eden war ein überwuchertes Wunder – jedoch leer; und die Straße ins Land Nod, mit ihrem Kokainstaub und das Land Nod selbst mit seinen dunkelgrünen Verstecken und seinen roten mohnübersäten Feldern war ein Zufluchtsort – gewiss, aber im Land des Vergessens gab es keinen Herausforderer; es war ein Ort allein nur für Schlafende. Und Michael war hellwach. Er schlief nie; wollte auch nie schlafen.

Er machte sich auf den Weg bergab; durch seine Tasche hindurch fühlte er die Feder, wie sie an seinem Oberschenkel brannte. Aber das Feuer kümmerte ihn nicht. Es erinnerte an andere Zeiten – an bessere und an schlechtere –, als er gegen die Heere seines Bruders in die Schlacht gezogen war und den Sieg davongetragen hatte – als er gegen seinen Bruder gekämpft und verloren hatte.

Nicht einmal Jahwe konnte er davon überzeugen, dass er die Schlacht verloren hatte. »Er ist doch weg, nicht wahr? Ausgestoßen und gefallen?«

»Ja, Vater.«

(Nein, Vater: gefallen nur, weil er gesprungen ist.)

»Wir haben seinen Stern mit eigenen Augen untergehen sehen.«

»Ja, Vater.«

»Und wo ist er gelandet?«

(Da drüben.)

»In der Hölle.«

Gott, Unser Aller Vater, darf die Wahrheit nie erfahren, beschloss Michael. Der Älteste der Ältesten war jetzt so geschwächt und verzweifelt, wegen der Sünden, welche die Menschheit auf sich geladen hatte, so außer Sich; wenn man Ihm jetzt sagen, Ihn zwingen würde, der Tatsache ins Gesicht zu sehen, dass Lucifer Mensch geworden war – so würde diese Wahrheit Jahwe über den Rand stoßen und wo – wo landen lassen?

Im Wahnsinn?

Abgründe.

Jahwe am Abgrund.

Aus dem Gleichgewicht.

Und ohne die Kraft, springen zu können (falls er wollte), nur mit der Neigung des Alters, zu fallen.

Dennoch, Michael Archangelis konnte ihn retten.

 

 

Am Berghang wimmelte es von Nachtgestalten: Mäuse, Frettchen, Käfer, Eulen. Unten, bei den Zäunen waren die Feen ganz aufgeregt. Aus dem Wald taumelte etwas und die Feen waren offensichtlich die Ursache dafür, dass es ins Freie getrieben wurde. Aber es konnte weder über noch durch den Zaun gelangen; und als es stecken blieb, geriet es ziemlich in Panik.

Michael sah einen riesigen, um sich schlagenden Schwanz, der durch die Lichter der Feen hin- und herdrosch – und plötzlich erkannte er einen uralten Feind: den Drachen.

»Ha!«, rief er laut – und all seine Körpersäfte gerieten in Wallung. Hier stand eine Schlacht zu erwarten: der allerbeste Zeitvertreib.

Michael hob den Speer in seiner Hand, balancierte ihn aus, noch während er bergab zu laufen begann. Mit der anderen Hand löste er sein Schwert aus der Scheide, bereit, den Drachen zu köpfen, beim Laufen sah er das Bild im Geiste schon vor sich.

Wenn die Feen mitmachten, könnten sie den Drachen direkt auf seinen Speer zutreiben – obwohl die Jagd ohne Verfolgung, ohne Umzingeln, ohne den unterwürfigen Schrei des Besiegten nur halb so viel Spaß machen würde. Trotzdem, ein Drache war eben ein Drache – und der Tod eines jeden Drachen bedeutete einen weiteren Schlag gegen Lucifer. Und wer weiß? Vielleicht war genau dieser Drache der Verräter.

Aber die Feen machten nicht mit. Als sie sahen, wie der Engel direkt aus dem Berg auftauchte, mit dem Speer in Kampfstellung und halb gezogenem Schwert, hielten sie inne und staunten.

Wenn ein Mensch den Berg herunterlief, konnte das nur Ham oder Sem sein. Schlimmstenfalls Japeth. Aber ein Engel in dieser Größe – der im Licht von Sternen und Mond glänzte, als er auf sie zugeflogen kam, ein bewaffneter Engel –, das war etwas ganz anderes. Im Wald gab es schon einen bösen Engel – den Hundetöter – und nun kam da noch ein anderer.

Obwohl die Feen genauso wenig wie Michael Archangelis bereit waren, eine Niederlage einzugestehen, waren sie von Natur aus scheu und vorsichtig. Ihre Beflissenheit, ihr Bestehen auf einer ganz bestimmten Art von Ordnung – ihr Pflichtbewusstsein – würden sie viel eher in Schwierigkeiten bringen als etwaiger Wagemut oder Leichtsinn. Sich mit Drachen anzulegen war für sie kein Vergnügen – es war eher eine Verpflichtung. Es brauchte eine gehörige Portion Mut, um einen Drachen anzugreifen – aber es half nichts, einer musste es schließlich tun.

Der Drache, um den es hier ging – dem so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde –, war sehr groß, oder besser gesagt fett. Seit Wochen schon ernährte er sich von Forstbewohnern und nun war er über den Fluss gekommen, um ein paar kleinere, süßere, sich von Früchten und Rinde nährende Tiere zu ergattern – zur Abrundung seines Mahles, bevor er sich schlafen legte. Auf dem Weg zu den Suhlen hatte besagter Drache angehalten, um einen jungen Lemuren zu schnappen, dem die Feen, wie es der Zufall wollte, gerade honigüberzogene Mücken zum Geschenk machen wollten.

Als sie sahen, dass der junge Lemur vom Drachen bedroht wurde, ließen die Feen die Mücken fallen und griffen an. Bei Drachen basierte ihre Strategie auf dem Wissen, dass diese zu Anfällen neigten und sich leicht desorientiert und konfus verhielten, wenn man sie mit bestimmten Lichtmustern konfrontierte. Durch das plötzliche Erscheinen der Feen aufgeschreckt und geblendet, wurde der Drache von seiner beabsichtigten Beute abgelenkt und zum Zaun getrieben. Fast im selben Augenblick verfing er sich völlig in den Zaunstangen, denn er war in Verwirrung geraten angesichts der ersten sicheren Anzeichen einer Attacke.

Als Michael Archangelis auftauchte, musste der Drache erkannt haben, dass es sich womöglich um keine Attacke handelte, er aber auf jeden Fall eine Unheil verkündende Erfahrung machte. In alle Richtungen begann er mit Zaunstangen zu werfen – einige landeten sogar in den Bäumen. Da Feuer und Lärm seine wichtigsten Waffen waren, versuchte er schleunigst beides zu produzieren, aber entweder hatte er zu viel gefressen oder er war völlig aus der Fassung geraten – nichts von beidem wollte ihm gelingen. Ein paar trockene Funken – ein bisschen kümmerliches Gebrüll –, mehr schaffte er nicht.

In der Zwischenzeit zogen sich die Feen in eine nahe gelegene Pappel zurück, wo sie mit Bip und Ringer und noch ein paar anderen beobachteten, wie sich die Situation entwickelte.

Jetzt war Michael Archangelis sicher, dass er einen so großen, so geschmeidigen, so schönen Drachen noch nie gesehen hatte. Seine ganze Phantasie war damit beschäftigt, zu begründen, warum gerade dieser Drache sein Bruder Lucifer sein sollte – sein musste – war.

Erst einmal war es seine Größe – Lucifers Stolz hätte es darunter nicht getan. Seine schöne schuppige Haut, sein wunderbares, Ehrfurcht weckendes Antlitz ermöglichten es ihm, sich zu verstellen. Im Paradies gab es keine Drachen. Aber als sie Kinder waren, hatte Lucifer beim Spiel immer ihre Rolle beansprucht, während Michael den Part des Drachentöters wählte.

Jetzt aber, hier, war es kein Spiel mehr: Lucifer mit seinen Schuppen – Michael in seiner Rüstung. Sämtliche weißen Sonnen des Paradieses hatten nie ein so helles Licht verbreitet wie der Erdenmond in diesem Augenblick in Michaels Augen – als er über seinem Bruder verharrte, der, im Zaun gefangen, um sich schlug. Ein Stoß – genau zwischen die Schulterblätter – die Speerspitze tief durch Rückenmark und Herz getrieben – ganz durch, bis in die weiche, aufgewühlte Erde, wo der Drache in seinem letzten verzweifelten Kampf gescharrt hatte –, und die Bestie war tot. Nur eine letzte schwache Stichflamme kam noch – ein ganz harmloses Aufbäumen –, dann fiel der Drache zu Michaels Füßen auf die Seite.

Er roch nach Pinien und Flussalgen und versengtem Moos und seine großen blauen Augen waren tatsächlich – obwohl das eigentlich nicht sein konnte – mit Tränen gefüllt.

Michael Archangelis zitterte vor Staunen und Entsetzen über das, was er getan hatte. Er zitterte so sehr, dass er den Speer nicht herausziehen konnte – ja er konnte nicht einmal das Bein hochheben, um seinen Fuß in schöner klassischer Tradition auf der Bestie zu platzieren: Der Drachentöter als Sieger – die Hand auf der Scheide, den Fuß auf dem Hals.

Um dem Pochen in seiner Brust Einhalt zu gebieten, atmete er tief ein und aus, bis er sich endlich wieder bewegen konnte.

Hoch ging sein Fuß, auf die Schulter – hoch ging seine Hand, zum Schwert an seiner Taille. Seine Zehen tasteten sich über den triefenden Rücken, bis sie die gesuchte Vertiefung fanden, wo der Speer eingedrungen war und die Knochen nachgegeben hatten; und er stand dort, in perfekter Haltung vollkommen im Licht von Mond und Sternen, im goldenen Licht, über seinem Bruder, dessen Kopf er Jahwe zu Füßen legen würde.

»Vollbracht«, sagte er. »Vollbracht für immer und ewig.«

»Hast du etwas gesagt?«, fragte eine Stimme.

Michael Archangelis erstarrte auf der Stelle.

War es die Stimme des Drachen?

»Ich glaubte, eine Stimme zu hören«, sagte die Stimme. Wo kam sie nur her?

»Bist du das?«, fragte Michael den Drachen schließlich. »Hast du gesprochen?«

»Nein, ich war’s. Hier, über dir.«

Michael schaute hinauf und verlor dabei fast das Gleichgewicht.

In den Ästen direkt über seinem Kopf saß Luci – sie trug etwas Blasses und starrte mit breitem Grinsen aus einem weiß bemalten Gesicht herunter.

»Wunderbare Szene«, sagte sie. »Sehr schöner Versuch, Schätzchen. Ich nehme an, du dachtest, der Drachen sei ich. Aber so war’s nicht, ich bin’s nicht.«

Michael trat vom Drachen zurück und ließ dabei den Blick nicht von ihr. »Ja«, sagte er. »Ich dachte wirklich, ich hätte dich erwischt. Aber ich bin nicht ganz blöd. Irgendwie wusste ich, er konnte unmöglich du sein. Für dich war er nicht stolz genug. Er hat überhaupt nicht gekämpft. Du hättest zumindest das Feuer besser eingesetzt…«

»Darauf kannst du Gift nehmen.«

Michael machte Anstalten, den Speer aus dem Leib des Drachens herauszuziehen.

»Willst du das wirklich tun?«, fragte Luci. »Ich meine herauskriegen, wen du eigentlich umgebracht hast?«

Das Herausziehen des Speeres würde die Form, die im Drachen gefangen gehalten wurde, befreien – falls es überhaupt eine gab – und das Opfer würde bei seinem Entkommen ein paar Augenblicke sichtbar werden. Nicht alle Drachen beherbergten gefangene Formen, aber man vermutete sie besonders bei den größeren Exemplaren.

»Na?«, spottete Luci.

»Da ich weiß, dass ich dich wieder verfehlt habe«, sagte Michael, »ist es mir ganz egal, um wen es sich hier handelt.« Sprach’s und zog den Speer heraus.

Luci neigte sich nach vorne und starrte die im Gras liegende Bestie an, deren Schwanz noch immer in den Zaunstangen verfangen war. Bip und Ringer und die Feen neigten sich ebenfalls nach vorne; sie hofften auf die Befreiung eines freundlich gesinnten Gefangenen – oder zumindest auf den Nervenkitzel beim Anblick eines getöteten Teufels. Aber es kam nichts. Überhaupt keine Veränderung.

Der Drache lag einfach da – er dampfte und war einfach nur ein Drache. Ein toter.

»Was für eine Enttäuschung«, sagte Luci. »So etwas wie doppelte Enttäuschung für dich, lieber Michael. Weder ich noch irgendjemand. Schade. Mehr Glück beim nächsten Mal.«

Michael wischte den Speer im Gras ab und schaute dann zu seinem Bruder im Baum.

»Du scheinst dich ja gut zu amüsieren«, sagte er.

»Großartig«, sagte Luci und glitt vom Baum zu Boden.

»Was willst du mit alldem erreichen?«, fragte Michael.

»Mit alldem was?« Luci schüttelte ihre feinen Röcke aus und führte ihre Hand zu ihrem Haar.

»Na – erst einmal, dass du dich als Frau verkleidest. Und als Fremde.«

»Ist doch nichts Verkehrtes dabei, sich als Frau zu verkleiden. Ebenso gut eine Frau wie sonst etwas. Und was, wenn man fragen darf, verstehst du unter ›Fremde‹?«

»Jemand, der nicht aus dieser Gegend stammt«, sagte Michael, als zitiere er aus einem Handbuch für Grenzposten.

»Die schrägen Augen und so weiter? Die pechschwarzen Haare? Das schneeweiße Gesicht? Gefällt es dir nicht? Ich liebe es.« Luci machte ein paar Schritte durchs Gras und stellte das Kleid zur Schau, das einen sehr weiten Rock hatte und um die Taille mit einer breiten, dunklen Schärpe sehr eng gegürtet war. Beim ersten Schritt schon geriet sie fast ins Stolpern, fiel aber nicht hin. »Verzeih!«, sagte sie. »Ich habe den Dreh noch nicht ganz raus. Kommt noch…«

Michael schaute zu, wie sie zwischen dem Mondlicht und dem Schatten der Bäume hin- und herwechselte, und bemerkte: »Es geht das Gerücht, dass du heiraten wirst.«

»Stimmt.«

»Aber – er ist – er ist ein…«

»Ein Mann. Ja. Na und?« Luci zupfte an ihren Handschuhen, um die Finger noch länger zu machen.

»Aber du bist ein… du bist ein…«

»Sag nicht Mann.«

»War auch nicht meine Absicht. Aber du bist männlich.«

Luci zuckte mit den Schultern. »Ich verkleide mich gern«, sagte sie. »Hab ich schon immer gern getan. Das weißt du doch. Ich als Papst – ich als König. Warum nicht? Es ist doch ganz harmlos.«

»Es wird nicht harmlos sein, wenn er mit dir schläft. Menschen tun das, weißt du.«

Luci lächelte. »Ja«, sagte sie. »Ich weiß.«

»Und? Was wirst du dann tun?«

»Ich glaube, das geht dich überhaupt nichts an, aber wenn du es unbedingt wissen willst: Ich werde improvisieren.« Luci schaute den Berg hinauf zum blauen Pavillon, der halb durchsichtig in der Finsternis leuchtete. Ihre Stimmung änderte sich; der scherzhafte Schlagabtausch mit Michael war zu Ende. »Sag, wie geht es Ihm?«, fragte sie. »Er sah so alt aus… so krank…«

»Er stirbt«, sagte Michael.

Luci blickte ihn an und sah dann, ganz langsam, wieder zum Pavillon hinauf.

»Er kann nicht sterben«, sagte sie; sie flüsterte es fast.

»Warum nicht?«

»Er ist nicht fähig zu sterben…«

»Das dachte ich auch. Aber Er ist Gott. Und wenn Gott sterben will…«

»Dann ist Gott fähig dazu.«

»Ja.«

Jetzt war es fast still. Nur Insekten; nur Frösche. In den Bäumen schliefen die Feen und die Lemuren.

»Wäre es nicht wunderbar«, sagte Luci nach einer Weile, »wenn du und ich weinen könnten?«

»Wenn du und ich weinen könnten«, sagte Michael, »bezweifle ich, dass du um Ihn weinen würdest. Um dich vielleicht, mit deinem verdammten und verdammenswerten Stolz – du meinst, du bist ihm ebenbürtig…«

»Das dachte ich nie. Niemals. Ich habe nur gedacht und gesagt…«

»Warum? Du hast immer nur warum? gesagt. Warum dies und warum das und warum alles. Wie wagst du es. Wie wagst du es.«

»Nicht, Michael. Ich mag nicht. Du langweilst mich… das hier ist langweilig.«

Weiter oben auf Noahs Berg krähte ein Hahn – trotz der Finsternis – und zum ersten Mal wurde den Brüdern bewusst, wie spät es war. Und wie früh.

»Das hätte ich wissen müssen«, sagte Luci. »Ich spüre immer noch ein leichtes Zucken gleich vor der Morgendämmerung. Aber seitdem mein Stern gesunken ist, vergesse ich immer, wie spät es ist.«

Sie schauten einander an.

»Geh!«, sagte Luci.

Michael drehte sich um und schritt davon – konnte aber nicht widerstehen und schaute zurück. »Ich habe geschworen, Ihm nicht zu sagen, dass du hier bist«, sagte er. »Es würde Seine letzten Tage verderben, wenn Er wüsste, dass du hier und nicht in der Hölle bist.«

»Schade«, sagte Luci. »Ich wollte Ihm gerade meine liebsten Grüße ausrichten.«

»Diese Botschaft würde ich nie überbringen«, sagte Michael. »Nie.«

»Ja. Dann…«, sagte Luci. »Ich nehme an, wir werden einander wieder begegnen – du und ich. Und ich vermute, du wirst mich wieder verfehlen.«

Michael drehte sich wortlos um und ging den Berg hinauf. Luci sah ihm nach, teils erleichtert, teils bedauernd. Menschliche Gesellschaft war nicht dasselbe wie die Gesellschaft von Engeln. Nur ein Engel konnte das ermessen. Luci würde Michael mehr vermissen als alle ihre anderen Brüder. Wie bei allen Feinden lag in ihrem Hass auch Zuneigung. Sogar Liebe.

»Auf Wiedersehen!«, rief sie.

Michael lief weiter, drehte sich nicht um.

»Auf Wiedersehen!«, rief Luci nochmals. »Vergiss nicht – vergiss nie –, nur Michael Archangelis kann mich töten! Sonst niemand! Niemand! Niemals!«

Wieder krähte der Hahn.

Das erste blasse Licht schien silbern aus östlicher Richtung.

Michael hob seinen Speer – zu einer Art Abschiedsgruß –, drehte sich aber dennoch nicht um. Er lief weiter. Den Berg hinauf.

Das Gras bewegte sich. Ein Vogel sang. Ein erstes Tier betrat das Feld. Luci klammerte sich ganz fest an das Bild, das sie jetzt verkörperte. Hier würde es einsam sein – aber wunderbar. Schließlich hatte sie sich nicht ohne Grund der Menschheit angeschlossen.

Etwas Junges saß auf dem Zaun: ein Vogel. Eins dieser großen, schlaksigen Vogelbabys, die nur aus großen Flecken und Glotzaugen und stummeligen Flügeln bestanden. Noch keinen Schwanz hatten. Ein Rabenkind vielleicht – mit einem nackten gelben Schnabel, der unaufhörlich aufging und schrie: Futter! Futter! Füttere mich! Futter! Währenddessen stöberte seine Mutter in der Drachenleiche nach Leber- und Herzstückchen. Füttere mich! Füttere mich! Futter! Futter! Futter!

Es war der große Schrei des Lebens: der Schrei alles Lebendigen.

Füttere mich!

Deswegen war Luci Mensch geworden. Um zu überleben. Um den Holocaust im Himmel zu überleben. Um den Holocaust auf Erden zu verhindern.

 

 

Keiner hatte die Erlaubnis zu schlafen.

Jahwe saß auf den Stufen Seines Podiums, während Hannah auf dem Boden zu Seinen Füßen ruhte und Noah auf der untersten Stufe saß.

Die hohe Glasflasche, der runde Kupferpfennig und der Krug mit reinem Wasser standen auf einer anderen Stufe auf ihrem Tisch – wie die Figuren in einem Spiel zwischen Menschen und Göttern.

Jahwe hatte einen Großteil der Nacht – zumindest den Rest, der davon übrig war – mit Weinen verbracht; jetzt redete er wie im Fieber.

Hatte Noah die Geschichte vom Obstgarten verstanden? War es nicht monströs, dass sogar die Allerweisesten unter den Weisen danach trachteten, ihren Gott zu verdrängen? Dass sie Gott fragten: warum und wie? Hatte Noah wirklich verstanden?

Ja, das hatte er.

Und wieder berichtete Jahwe von den Gräueln seiner Reise – dem Hohngelächter – den Meuchelmorden – den Gewalttaten – den entsetzlichen Szenen der Verworfenheit und des Bösen. Und die ganze Zeit spielte er mit dem Pfennig – spielte mit der hohen Glasflasche – spielte mit dem Wasserkrug – goss Wasser ein – noch einmal – und noch einmal…

Endlich stand er auf.

Noah tat es ihm nach.

Und Hannah wurde aus einem Zustand, der dem Schlaf sehr nahe kam, aufgefordert auf die Füße zu kommen.

Alle drei standen sie beisammen.

Und Jahwe sagte zu Noah: »In Unserer Geschichte vom Obstgarten haben Wir nicht von der Moral gesprochen. Die Moral – wie sie zwischen Uns beiden steht: dir und Uns – dir und deinem Gott. Und diese Moral ist: Nur der einzige Auserwählte des Herrn darf das Wort hören…«

Noah spürte, wie ihn ein entsetzlich kalter Schauer durchlief- die Kälte der Erkenntnis.

Er war eben auserwählt worden.

 

 

»Lass uns jetzt zusammen spazieren gehen, alleine, in deinem Obstgarten«, sagte Jahwe. Er legte Seinen Arm um Hannahs Schultern, um Sich zu stützen. »Du«, sagte Er zu ihr, »darfst mit Uns kommen und am Tor stehen bleiben – hineingehen darfst du nicht.«

Als sie sich vom Pavillon entfernten, war die Sonne gerade dabei aufzugehen, trotz der Abwesenheit des Morgensterns – und Jahwe sagte gerade zu Noah: »Dein Trick… die Flasche… der Pfennig… nur durch das Hinzufügen von Wasser…« Er verschwindet.

 

 

Sie sammelten sich dort, wo der Weg eine Biegung machte und bergab führte: Jahwe und Doktor Noyes in der Mitte – Hannah und Sem, Japeth und Emma in einer Gruppe auf einer Seite; Ham im Schatten des Pavillons – alle warteten sie.

Michael Archangelis beaufsichtigte die Aufstellung der Vorreiter – jeder war zehn Schritte vom nächsten entfernt, bereit, der Kutsche und dem Gefolge der Engel und Diener vorauszureiten. Ein Teil der Letzteren würde zu Fuß gehen, während andere in von Maultieren gezogenen Wagen fuhren. Alle großen Tiere in ihren großen Käfigen wurden in Noahs Obhut zurückgelassen. Dafür gab es keine Erklärung im Sinne einer öffentlichen Ankündigung, obwohl Doktor Noyes selber den Grund offensichtlich kannte, und soweit man sehen konnte, gefiel es ihm, dass die Unterbringung und Pflege so vieler und so verschiedener Tiere ihm zufielen.

Die Sonne war emporgestiegen, aber nicht weiter als bis zur Mittagsposition, während Jahwe und Noah im Obstgarten hin- und hergingen. Von ihrem Platz am Tor hatte Hannah zwar nichts mitgehört, konnte aber bezeugen, dass das Gespräch sehr intensiv verlaufen war. Wieder weinte Jahwe; wieder war er gezwungen, lange Pausen einzulegen, um die Fassung wiederzuerlangen. Doch das war alles, was Hannah erkennen konnte. Als sie wiederkamen, lächelte Jahwe; Noah war sehr blass und erschöpft und verschwitzt – und beide schwiegen.

Als sich der Augenblick von Jahwes Abschied näherte, kam Mrs Noyes mit Mottyl in den Armen vom Haus herunter. Sie hatte einen Krug voll Kamillentee gemacht und Eisstücke hineingegeben, um ihn kühl zu halten. Diesen überreichte sie Jahwe.

Dann schenkte Jahwe Noah seine beiden Katzen – Abraham und Sarah. Traurig verabschiedete er sich von ihnen mit Küssen und vielen Lebewohls. Dann wandte er sich seiner Kutsche zu.

Endlich wurde Mrs Noyes erlaubt, ihren rechtmäßigen Platz einzunehmen, und so stand sie mit Mottyl einen Schritt hinter und einen Schritt links von Noah.

Jahwe war jetzt fertig mit Reden. Seine Gesten waren groß und ausladend: hatten etwas Endgültiges. Vielleicht war es Seine Absicht, einen bleibenden Eindruck von Seiner Person zu hinterlassen. Er war sehr müde.

Michael Archangelis hielt eigenhändig die Tür der Kutsche auf, und gerade als Jahwe die Arme nach oben streckte, um die Schlaufen zu fassen, mit deren Hilfe Er sich hineinziehen würde, war da ein Geräusch, das zunächst niemand deuten konnte.

Es kam aus dem verdunkelten Innern der Kutsche, wie Stimmen am Ende eines unbeleuchteten Ganges, deren Entfernung nicht abzuschätzen war. Mottyl erkannte als Erste, woher das Geräusch kam.

Es waren Fliegen. Tausende von Fliegen: Sie warteten.

Als Er sie hörte, hielt Jahwe inne, aber dann zog Er sich hinauf, ohne sich umzudrehen, während Michael Ihn emporhievte, und Er verschwand.

Mit einem hohl klingenden Schlag ging die Tür der Kutsche zu.

Eine Menge Staub wirbelte empor. Vorreiter, geflügelte Pferde, die Kutsche selbst und alle Engel zu Fuß und alle Wagen setzten sich den Berg hinunter in Bewegung; Noah und seine ganze Familie folgten und winkten – und alle Schafe riefen: Hosanna!

Mottyl fragte sich: Wusste es sonst niemand? Verstand nur sie – außer Jahwe – die Bedeutung der Fliegenkrone?

So war es. Indem er in die Kutsche stieg, sich trotz der Fliegenkrone darin niederließ und die Tür zumachte, hatte Gott, der Vater der Schöpfung, Seinem eigenen Tod zugestimmt.