Die Nachricht von der Ankunft der Botin verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

Zuerst war sie weit unten im Tal gesichtet worden, wo sie sich anhand des Flusslaufes ihren Weg bahnte. Schiffer hielten in ihrem Kampf gegen die Strömung inne, starrten und deuteten auf das Wunder ihrer Farben. Da ließ sich die Botin vom Aufwind hochtragen – ihre Kraft versiegte allmählich –, verzweifelt suchte sie unter sich nach Orientierungspunkten, entdeckte endlich Staubfahnen, ein Hinweis auf Karren und Reiter; um den Hügel machte die Straße einen Bogen. Handwerksgesellen, die auf dem Weg nach oben waren, hielten inne, als sie mit ihrem Aufstieg begann. Der erst kurz zuvor erfundene Sonnenschutz in Form breitkrempiger Strohhüte ließ die Menschen auf der Straße wie Pilze aussehen – die Botin musste dabei an Essen denken. Sie war hungrig, konnte sich jedoch beherrschen, und obwohl sie die ganze Nacht und den Vormittag durchgeflogen war, hatte sie nur einmal in der Morgendämmerung eine Pause gemacht, um im Teich eines Bauernhofes ihren Durst zu stillen.

Nun war sie fast am Ende ihrer Reise angekommen. Die Sonne brannte auf ihren schmalen Rücken und warf ihren Schatten, einem laufenden blauen Tier gleich, auf den Pfad unter ihr. Fuhrleute, Reiter und Arbeiter, alle legten sie den Kopf in den Nacken und beschirmten mit den Händen die Augen, um sie oben vorbeiziehen zu sehen. Einige riefen ihr zu, auch wenn sie ihre Stimmen kaum hören konnte: »Woher kommst du? Wohin fliegst du?« Doch andere, die wussten, was ihre Farben bedeuteten, stellten keine Fragen. In Zeiten wie diesen konnten die Antworten nur beunruhigend ausfallen; sie blieben also besser unbekannt.

Oben auf dem Berg zeigten ihr die Pinie, die grobe Steinterrasse und der Altar mit der breiten, fleckigen Oberfläche, dass sie das Ziel ihrer Reise erreicht hatte. Sie ließ sich tiefer Richtung Boden sinken und konnte nun auch den trockenen Lehmpfad sehen, der zum Anwesen führte. Kaputte Mauern und zusammengedrängte Gebäude, Schafhürden und Rinderpferche bildeten Muster unter ihr. Rauchende Kamine zeigten ihr, wo sich Küchen und Nutzgärten befanden. Der dampfende Misthaufen; die konischen geflochtenen Bienenkörbe; der Obstgarten; das Badhaus und die gelb gewordenen, aus Mangel an Regen ausgedörrten Rasenflächen, alles führte sie weiter, bis sie endlich den Walnussbaum mit seinen großen schwarzen Armen und den verdrehten Blättern erspähte – das eine letzte Zeichen, das sie suchte: das Wahrzeichen der Familie, die dort wohnte.

Obwohl bis zum Zusammenbrechen erschöpft, unternahm die Botin eine letzte Anstrengung, um sich bemerkbar zu machen. Sie blieb schwebend über dem Gebäudekomplex hängen und schlug dabei so lange ihre Flügel gegeneinander, bis es klang wie das Zuschlagen von Türen oder zerbrechendes Glas. Und als der Lärm seinen Höhepunkt erreicht hatte, stand ein alter Mann in einer Laube unter dem Walnussbaum auf und ging zu der offenen Stelle, über der sie schwebte. Als die Botin an seinem überraschten Blick merkte, dass er sie wiedererkannte, wusste sie, er war derjenige, um dessentwillen sie so weit geflogen war. Langsam hob der alte Mann seinen Arm zum Gruß und hielt ihr seinen schweren Ärmel hin, damit sie sich niederließ.

 

 

Sobald die Botin Doktor Noyes den Brief ausgehändigt hatte, flog sie über seinem Kopf auf, stieß einen gewaltigen Schrei aus und fiel wie ein Stein zu seinen Füßen nieder.

Alle kamen sie gelaufen: Sem kam mit seiner Sense vom Berg und Mrs Noyes kam aus der Küche; Emma und ihr Hund kamen aus der Spülküche; Japeth – blau und triefnass – kam aus dem Badhaus und Hannah aus dem Obstgarten. Nur Ham fehlte – er war im Zedernhain und wartete auf das Sichtbarwerden von Mars.

»Was ist? Was ist los?«, fragte Mrs Noyes, deren Stimme vom vielen Herumschreien mit Emma wie üblich heiser war.

Doktor Noyes hatte das Siegel noch nicht aufgebrochen. Er starrte auf die rosa- und rubinrote Taube, die vor ihm am Boden lag; ihre Flügel zuckten noch und Staub legte sich auf ihr trübes Auge. Während Doktor Noyes darauf wartete, dass sie starb, murmelte er so etwas wie einen Segen, aber er zitterte dabei – vor Angst – und seine Worte waren nicht vernehmbar.

Einen Augenblick lang – die anderen sahen ihn ungeduldig an – stand er einfach nur da, und als er seine Füße von dem sterbenden Vogel wegziehen wollte, konnte er sie nicht von der Stelle rühren.

Da hielt es Mrs Noyes nicht länger aus und fragte: »Was steht in dem Brief, Noah? Was ist mit dem Brief?«

Endlich brach Doktor Noyes das Siegel auf und schielte auf das offene Blatt.

Sem, Hannah, Japeth, Emma, Mrs Noyes und sogar Emmas Hund beobachteten ihn, während er jedes Wort las und abermals las; langsam bewegten sich seine Kiefer durch die Sätze hindurch, einen nach dem anderen. Alle versuchten von seinen Lippen etwas abzulesen, doch sein Bart war so dicht und verfilzt, dass man seinen Mund kaum sehen konnte.

»Na?«, fragte Mrs Noyes.

»Er kommt«, sagte Doktor Noyes. »Hierher.«

Emmas Finger steckte in ihrer Nase. »Wer?«, fragte sie.

Hannah fuhr sie an: »Ach, frag nicht so blöd!«

Bei dem Gast konnte es sich nur um ein Wesen handeln. Die rosa- und rubinrote Taube zu ihren Füßen war ein ebenso deutlicher Hinweis wie ein in den Staub geschriebenes Autogramm – einer der zehntausend Namen Gottes. Irgendwann binnen der nächsten achtundvierzig Stunden würde Jahwe höchstpersönlich eben hier aus seiner Kutsche steigen.

»Oh du meine Güte«, sagte Mrs Noyes – ganz außer sich blickte sie sich im Hof um, so als wünschte sie sich, noch Zeit zu haben, die Bäume neu zu arrangieren.

»Oh mein…«, sagte Hannah. Sie hob die Hand zur Brust und lächelte.

Emma aber sagte: »Oh nein!«, setzte sich auf den Boden und heulte. Nicht der Gedanke, Gott zu sehen, erschütterte sie. Es war der Gedanke, gesehen zu werden.

 

 

Das alles geschah mitten am Nachmittag, als die Sonne den Zenit gerade überschritten hatte. Die Hitze im Hof war gleißend, fast weiß; ihr greller Glanz wurde von der ausgetrockneten, glatt gestampften Erde wieder nach oben projiziert. Genau im Zentrum dieses grellen Lichtes standen Doktor Noyes und seine Familie, alle waren durch die gerade empfangene Nachricht benommen, wie gelähmt. Am Rande des Hofes jedoch, unter den Bäumen, wo es kühl war, legte sich Emmas Hund mit hängender Zunge hin. Sein Hecheln war der einzige Laut, der zu hören war; sein Hecheln und das Gebrumm von Insekten. Selbst die Tiere, die sich im Schatten der Scheunen aufhielten, waren ganz still – auch die Spatzen, Stare und Laubsänger, die sich unter dem Dachvorsprung aneinander drängten, und die fünfzehn Störche auf dem Dach.

Als hielte er diese Stille vielleicht für eine Art Einsatzzeichen, stapfte plötzlich ein Pfau in den Staub hinaus und schlug ein Rad. Alle blickten auf und schauten zu ihm hin. Beim Betrachten des Pfauengefieders musste Noah ans Auge Gottes denken – das Zeichen war untrüglich.

Der Pfau kratzte im Staub, machte zwei Schritte nach vorn – einen Schritt zurück – zwei Schritte seitwärts in einer eleganten Pavane.

Als hielte er mit dem Vogel ein stilles Zwiegespräch, nickte Noah ihm zu; seine Finger spielten mit dem Brief in seiner Hand. Dann wandte er sich zu den anderen. »Es wird ein Opfer geben«, sagte er. »Heute Abend.«

 

 

Als Erster machte Sem Anstalten zu gehen.

Vor der Ankunft der Botin war er gerade dabei, auf der Wiese weiter unten am Berg Heu zu machen, und trug noch immer seine Sense. Ihr Gewicht auf seiner Schulter erinnerte ihn daran, dass er noch etwas erledigen musste. Nichts – nicht einmal die Ankunft Jahwes – durfte die Ernte aufschieben, sonst könnte der lang ersehnte Regen kommen und sie vernichten, sie am Boden erdrücken. Der Beginn des Regens würde auch die Knechte von den Feldern zurück zu ihren weit entfernten Heimatdörfern treiben; von dort, so wusste er, könnte man sie nie wieder zurückholen. »Für dich haben wir geschuftet, Master Sem«, würden sie sagen. »Jetzt ist der Regen da und wir haben vor, bis ans Ende unserer Tage zu feiern.« Sie lümmelten unter ihrem Hut bestimmt schon in der Sonne herum, nutzten Master Sems Abwesenheit aus und brachten ihn mit dem Erfüllen seiner Pflichten noch weiter in Verzug.

Sem war Noahs ältester Sohn und wurde seit jeher »der Ochs« genannt. Er war das größte und stärkste aller Kinder, die dem Doktor und Mrs Noyes geschenkt worden waren, und das erste Kind, das am Leben geblieben war. Sem mit den sandfarbenen Haaren, dem flachen Gesicht und den blassen Augen tat nichts anderes als essen, arbeiten und schlafen. An nichts anderes dachte er, für nichts anderes brachte er Begeisterung auf. Alles, was er vom Leben verlangte, war ein Pflug, hinter dem er hergehen, und eine Sense so scharf, dass man sich damit rasieren konnte. In Sems Sicht der Welt war alles, was zum Essen auf Tischen stand, für ihn bestimmt, waren alle Betten nur dazu da, damit er sich mit seinen riesigen Gliedern darauf ausstrecken und nach seiner Frau rufen möge, damit sie ihm zu Diensten sei. Für Sem, den Ochsen, war die Welt nur das, was er sah, und die Menschen darin lebten nur dann, wenn sie in seinem Blickfeld erschienen.

Sem wandte sich an seinen Vater. »Was soll ich sagen, Vater? Was soll ich den Knechten sagen?«

»Nichts«, sagte Doktor Noyes. »Sag niemandem etwas!«

»Sie werden erfahren, dass wir geopfert haben«, gab Sem zu bedenken. »Sie werden es hören. Sie werden es sehen… und heute ist kein Festtag.«

Mrs Noyes, die jegliches rituelle Opfer hasste, machte den Mund auf, um Sem zuzustimmen, zu spät, Noah hatte schon zu sprechen begonnen.

»Wir können nichts dagegen tun«, sagte er. »Sie mögen darüber denken, wie sie wollen; ein Opfer wird von uns verlangt, es ist ein Befehl.«

»Ja, Vater.« Sem war schon halb beim Tor, wo Japeths Wölfe im Schatten neben den Wassertrögen lagen. Es drängte ihn zu gehen, aber Doktor Noyes war noch nicht fertig.

»Ich will, dass du den Altar vorbereitest«, sagte er.

Sem nahm diesen Wunsch mit Bestürzung auf. Er war der älteste Sohn; die Vorbereitung des Altars gehörte jedoch zu den am wenigsten ehrenvollen Aufgaben beim Opferritus. Als er ein Kind war, hatte er diese Pflicht zuletzt erfüllt. Jetzt war es Japeths Aufgabe, denn er war der Jüngste.

Als wäre er beim Namen gerufen worden, trat Japeth vor; um die Taille hielt er einen Tuchfetzen fest, er roch nach der Lauge vom Badhaus, seine Haare hingen ihm ins Gesicht. Aber seine Augen strahlten vor freudiger Erwartung.

Doktor Noyes war klar, was Japeth wollte, doch er würde ihm seinen Wunsch abschlagen. Der Anlass war viel zu wichtig, als dass auch nur ein Teil des Ritus danebengehen dürfte. Das letzte Mal, als er Japeth erlaubt hatte, das Messer zu führen, war der Schnitt nicht sauber gewesen und das Opfertier – obwohl das Geringste unter den Tieren (ein Kaninchen bloß) – wäre fast entkommen. Zum Glück war der Anlass damals nicht so wichtig gewesen – ein Namenstag –, nicht dazu angetan, ein Unglück heraufzubeschwören. Aber Doktor Noyes hatte damals genug von der Unfähigkeit seines jüngsten Sohnes gesehen, er war gewarnt, würde ihm nie wieder eine solch wichtige Aufgabe anvertrauen.

Japeth bettelte: »Bitte, Vater.«

»Nein«, sagte Noah. »Du darfst die Schüssel halten.«

Sems riesiger, flacher Körper zuckte vor Ungeduld. Zu reden, frustrierte ihn. Warum nicht einfach etwas tun? Reden, so hieß es, war »billig«. Doch nicht für Sem. Für Sem bedeutete Reden Zeit und Geld, die einem durch die Finger glitten. Er wollte gehen und das sagte er auch.

Noah machte eine zustimmende Bewegung. »Aber denk dran, keiner darf es erfahren!«

»Ja, Vater.«

Als Sem durch das Tor ging, hoben die Wölfe den Kopf und schauten ihm nach. Wegen der Hitze waren ihre Zungen blass vor Erschöpfung und ihre Ketten hingen in den Staub.

Doktor Noyes faltete den Brief zusammen und steckte ihn in den Ärmel seiner Robe; er hatte den Wunsch allein zu sein, sich in seine Laube unter dem Walnussbaum zurückzuziehen. In Gedanken vertieft wandte er sich schon zum Gehen.

»Ich weiß, was du tun wirst«, sagte Mrs Noyes; sie sprach so leise inmitten der Stille, dass Doktor Noyes seine Augen beschirmen und den Hof absuchen musste, um zu sehen, woher ihre Stimme kam.

Seine Frau stand neben der kauernden Emma, die von der Aussicht auf Jahwes Ankunft in ihrer Mitte noch ganz bestürzt war. Hannah war zur Seite getreten; ihr Blick war verträumt, sie schien kaum anwesend zu sein. Jetzt schaute sie zum Obstgarten hinüber.

»Wie bitte?«, fragte Doktor Noyes.

Seine Frau wiederholte: »Ich sagte, ich weiß, was du tun wirst, und ich bitte dich, es nicht zu tun.«

»Oh, wirklich?«

»Ja.«

»Dann sag mir, was ich tun werde. Aber genau.«

»Du wirst verlangen, dass Ham das Opfer durchführt.«

Doktor Noyes schwieg. Sie hatte Recht.

»Es ist nicht fair«, sagte Mrs Noyes. »Es ist nicht gerecht. Er hat noch nie in seinem Leben getötet.«

Doktor Noyes steckte beide Hände in die Ärmel seiner Robe und umfasste seine Ellbogen. Sein Blick blieb ruhig und seine Stimme fest. »Es ist das Recht – und Vorrecht – eines Sohnes«, sagte er, »das Opferritual durchzuführen, wenn man es von ihm verlangt. So lautet das Gesetz«, sagte er. »Und so wird es geschehen.«

»Aber es verstößt gegen seine naturwissenschaftlichen Prinzipien«, hielt Mrs Noyes ihm entgegen. »Und das weißt du genau!« Sie wünschte, ihre Stimme wäre stärker. Sie hätte schreien mögen.

»Die einzigen Prinzipien, die hier zählen, meine Liebe, sind die des Ritus und der Tradition«, sagte Doktor Noyes.

»Die einzigen Prinzipien, die hier zählen, sind deine«, gab Mrs Noyes zurück, »und du wirst Ham das Herz brechen, wenn du darauf bestehst.«

»Nun gut«, sagte Doktor Noyes. »Er wird sein Herz eben für Jahwe brechen. Es ist auch Zeit. Ich habe Ham und seine Wissenschaft satt!«

Der Pfau, der noch immer sein Rad zur Schau stellte, reckte jetzt den Kopf auf dem gestreckten Hals und gab einen durchdringenden Schrei von sich.

»Siehst du?«, sagte Doktor Noyes. »Jedes Zeichen und jedes Signal bestätigen nur meine Entscheidung.« Er lächelte, musste dabei aber seine Lippen fest um das hölzerne Gebiss spannen, das ihm fast aus dem Mund gefallen wäre.

»Mein Gott! Er ruft doch nur sein Weibchen«, sagte Mrs Noyes.

»Wie kannst du es wagen!« Doktor Noyes war wütend. »Wie kannst du es wagen, den Namen Gottes zu missbrauchen! Wie wagst du es!«

Er wusste, solch ein Wutausbruch – mehr gespielt als echt – war zuweilen nötig, um Mrs Noyes in die Schranken zu weisen. Und um die anderen Frauen einzuschüchtern, damit sie ihrem Beispiel nicht folgten und ebenfalls aus der Rolle fielen. In letzter Zeit war zu viel dergleichen geschehen: Emma zum Beispiel weigerte sich ständig mit ihrem Mann Japeth zu schlafen, auch wenn sie jetzt einen guten Grund dazu hatte: Japeth war am ganzen Körper blau geworden. Und Hannah zeigte manchmal diesen verträumten Blick – als gehe ihr etwas Unerhörtes – vielleicht etwas Gefährliches – durch den Sinn. Man musste sie unter Kontrolle halten – alle miteinander; deswegen reagierte Doktor Noyes so schnell mit gespielten Wutausbrüchen und anderen Angst einflößenden Gefühlen. »Wie wagst du es!«

»Es tut mir Leid«, sagte Mrs Noyes und ihre Stimme war wieder leiser geworden, nur noch ein heiseres Flüstern. Und wirklich, es tat ihr Leid; sie bereute sogar, was sie gesagt hatte. Sie hatte Jahwe nicht beleidigen wollen. Es war doch nur so ein Ausdruck – »mein Gott«. Die Leute sagten es tagtäglich einfach so dahin, die meisten Leute. Es war nicht als Beleidigung oder Spott gemeint. Nur… der Pfau hatte sein Weibchen gerufen, nicht mehr war geschehen. Mrs Noyes wusste das. Schließlich war es ihr Pfau… jeden Morgen hielt sie ihn, während er sein Gefieder putzte, und sie fütterte ihn aus der Hand. Sie kannte ihn besser als irgendjemand sonst. Trotzdem wiederholte sie: »Es tut mir Leid. Ich entschuldige mich.«

»Bei Jahwe?«

»Natürlich bei Jahwe.«

»Und…?«

Eine kurze Pause entstand, während Mrs Noyes sich sammelte. Sie hasste das, was als Nächstes von ihr erwartet wurde, und obwohl sie wusste, dass sie nicht umhinkäme, es auszusprechen, kam es ihr nur sehr schwer über die Lippen und gar nicht aus dem Herzen.

»Und…?«, wiederholte Doktor Noyes. »Du entschuldigst dich bei Jahwe. Und…«

»Bei dir.«

Kaum hörbar brachte sie die Worte heraus. Aber sie hatte sie ausgesprochen.

Hannah schaute zu Boden, der Erniedrigung ihrer Schwiegermutter bewusst. Sie seufzte und wandte ihren Blick zu den bröckelnden Mauern an der Hofseite. Dort war der Obstgarten. Wenn sie nur ganze Tage darin verbringen könnte! Im Geiste sah Hannah fast vor sich, wie sie unbekümmert unter den Bäumen hin- und herging, ihre Gedanken in irgendeiner anderen Welt, bloß nicht in dieser hier. Sie würde ein langes luftiges Gewand tragen, das die Schultern unbedeckt ließ – und ein Paar Schuhe oder Sandalen, die sie vor Brennnesseln und Schlangen schützen würden. Sie würde ihre Haare losbinden, sie bis zur Taille herabhängen lassen – so lang waren sie nämlich. In den Händen würde sie Bücher und Äpfel tragen. Sie würde…

»Hannah?«

»Ja, Schwiegervater.«

»Die Welt funktioniert nicht, wenn du dich daran nicht beteiligst.«

Das war einer von Noahs Lieblingssprüchen.

»Ja, Vater Noyes.«

»Geh deiner Arbeit nach.«

»Ja, Schwiegervater.«

»Und du, meine Liebe…«

Mrs Noyes hob das Kinn in Richtung ihres Mannes, aber sie weigerte sich, ihm mit »Ja, mein Herr und Gebieter« zu antworten; das hatte sie nie getan.

»Du könntest jenem Geschöpf dort vom Boden aufhelfen.« Doktor Noyes deutete auf Emma und fragte dann: »Warum könnt ihr alle nicht einfach eurer Arbeit nachgehen?« Er hob die Hand, wie um sie damit aus seinen Gedanken zu entlassen. »Geht«, sagte er und wandte sich von ihnen ab.

Hannah machte einen Schritt auf ihn zu; aus dem Augenwinkel sah er sie zornig an. Was hatte sie jetzt wieder vor?

»Ich muss als Erstes die Krone machen«, sagte sie.

»Aha«, sagte Doktor Noyes. »Na gut. Dann geh!«

Doktor Noyes betrachtete seine Schwiegertochter jetzt mit Wohlwollen. Als sie an ihm vorbei zum Tor ging, nickte sie ihm heiter zu. Die aus Wiesenblumen und süßen Gräsern gefertigte Krone würde dem Opfertier aufgesetzt. Hannahs Aufgabe bestand darin, Kränze, Hüte und Körbe, Kleidung, alles herzustellen, was aus Stoff, Stroh oder Blumen gefertigt werden konnte. Sie war die Einzige, die »ihrer Arbeit nachging«, wie er, Doktor Noyes, es ihr aufgetragen hatte. Sie war der einzige Schatz unter ihnen allen.

Mrs Noyes’ Rücken versteifte sich. Und ich bleibe allein zurück mit Emma, dachte sie. Wie immer. Sie streckte die Hände aus, um dem Mädchen auf die Füße zu helfen. »Komm!«, sagte sie. »Wir haben Arbeit für acht Tage und nur einen Tag Zeit…«

Emma ging mit ihr zurück zu den Küchen und zur Spülküche, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht hatte – so kam es ihr jetzt vor –, außer dem Teil, in dem sie mit dem Verstecken blutbeschmierter Unterröcke und dem Vermeiden auf und nieder hüpfender Matratzen beschäftigt war.

 

 

Nachdem Doktor Noyes in der Laube verschwunden war, blieben der Pfau, Emmas Hund und Japeth in dem sonnverbrannten Hof allein zurück mit Jahwes im Staub liegender rosa- und rubinroter Taube.

Japeth streifte sich die Haare aus den Augen und knabberte an seiner Lippe. In letzter Zeit schien sein Leben nur noch aus Katastrophen und Schande zu bestehen, seine Fähigkeit zu fühlen, seine Emotionen, waren ihm fast gänzlich genommen. Seine Frau weigerte sich, mit ihm zu schlafen; sein Vater weigerte sich, ihn zu ehren; seine Freunde lachten ihn aus und seine Mutter zwang ihn, den ganzen Tag in einer Wanne voll Lauge zu hocken und schrie ihn dabei an: »Los, schrubb dich! Schrubb! Schrubb!« Sein Handtuchfetzen rutschte ihm von den Hüften und entblößte ihn ganz – von oben bis unten, von vorne bis hinten. Aber es kümmerte ihn nicht. Er stellte sich sogar, die Arme über dem Kopf, vor dem prüfenden Blick des Pfaus in Positur. Doch der, ganz offensichtlich unbeeindruckt, drehte sich um, stolzierte zum Schatten, den die Mauer warf, und faltete seine Schwanzfedern wieder zusammen.

Nun waren noch Japeth, Emmas Hund und die Taube übrig.

»Das ist alles nur, weil ich von oben bis unten blau bin«, sagte Japeth. »Und das ist nicht fair! Ich habe nicht um die blaue Farbe gebeten…« Völlig niedergeschlagen schleifte er sein Tuch zum Badehaus zurück.

Damit blieben noch Emmas Hund und die Taube.

Emmas Hund war klein, schwarz und zottelig. Erst wenn er sich bewegte, konnte man erkennen, wo vorne und wo hinten war. Emma hatte ihm den treffenden Namen »Bello« gegeben, denn er tat nicht viel außer bellen und Alarm schlagen, meist Fehlalarm.

Bello war die Taube nicht geheuer. Er spürte, dass sie irgendwie anders war als die anderen Vögel, die wie Geschenke vom Himmel fielen, nachdem sie von einem Pfeil Japeths getroffen oder von Hagelkörnern betäubt worden waren. Die Flügel dieser Taube strahlten eine Wärme aus, die bei einem toten Wesen unnatürlich war – und sie hatte keinen Geruch außer einer sehr schwachen Spur von Rosenduft, was zu einem Vogel so gar nicht passte.

Gerade als Bello, nachdem er die Taube inspiziert hatte, sich wieder in den Schatten zurückziehen wollte, wurde nach ihm gerufen.

»Komm, Bello! Komm!«

Der Hund rannte in Richtung Obstgarten, weil die Stimme von dort kam, doch plötzlich blieb er stehen. Wessen Stimme war das gewesen? Zu wem lief er eigentlich?

»Komm, Bello!…«

Die Stimme war ihm unbekannt. Trotzdem, wer auch immer es war, der Besitzer der Stimme kannte ihn. Also trottete er hin – ganz langsam.

Zurück blieb die Taube.

Sobald Noah seine Laube unter dem Walnussbaum erreicht hatte, nahm er den Brief heraus und las ihn fünfmal hintereinander. Beim letzten Mal brach er in Schweiß aus. Seine Hände zitterten so stark, dass er den Brief mit Gewalt gegen sein Lesepult drücken musste, um ihn überhaupt erkennen zu können. Mal verschwammen die Worte vor seinen Augen, mal wurden sie wieder klarer. Jahwe hatte ausführlich von seinem »Leid… ÄrgerEntsetzen« und von seinem »Zorn« über den Zustand der Welt und der Menschheit geschrieben. Doch wie erschütternd das alles auch sein mochte, nichts von alledem war unbedingt etwas Neues.

Doch dann hieß es weiter in dem Brief: »WAS HABEN WIR GETAN, DASS DER MENSCH UNS SO BEHANDELT?«

Langsam sank Noah auf die Knie.

Warum sollte Jahwe eine solche Frage stellen? Was haben Wir getan?

War es wichtig, was Er tat? War Er denn nicht Gott?

 

 

Etwa eine Stunde vor der Opferzeremonie zog sich Mrs Noyes aus der Küche zurück und ließ Emma allein, die auf einer Kiste stand und die Arme bis zu den Ellbogen in eine Wanne voll fettiger Töpfe tauchte. Sie lief durch das allmählich dunkel werdende Haus zur Veranda auf der Hofseite. Emma hatte die ganze Zeit über den Verlust ihres Hundes gejammert, es war einfach nicht zum Aushalten. Als die Tür mit dem Fliegengitter hinter Mrs Noyes zuknallte, war der Klang so bestimmt und harsch wie ein Befehl. Er bedeutete: Lass mich allein!

Auf der Veranda war sie sicher. Oder zumindest gab ihr dieser Ort ein Gefühl von Sicherheit. Denn Mrs Noyes war klug genug zu wissen, dass es nirgends wirklich sicher war. Aber hier an diesem ruhigen, kühlen Ort konnte man einen Eindruck davon gewinnen, wie Sicherheit aussehen könnte. Dieser Ort war ihr Eigen, bot eine anheimelnde Sicht auf die Wiesen, die sich hinter dem Hof, so weit das Auge reichte, erstreckten, bis zum Wald, dessen Baumwipfel über dem unsichtbaren Tal zu schweben schienen. Für sie war dies eine Art Klause, mehr noch, eine Zelle. Wenn Noah in seiner Laube Zuflucht fand und Hannah im Obstgarten, dann war diese Veranda Mrs Noyes’ heimliches Versteck. Hier konnte sie ihre Haube abnehmen, die Schuhe abstreifen, die Verschnürung unter ihrem Busen lockern und… atmen. Endlich!

Sommerabende waren für Mrs Noyes die allerbeste Zeit. Wie ein verborgenes Laster hortete sie diese Stunde, in der sie mit der verblassenden Welt allein war, und nur ihre Katze durfte ihr dabei Gesellschaft leisten. (Wo war Emmas Hund?)

Mrs Noyes liebte es dazusitzen und die Pracht der Sonne zu betrachten, die orangefarben, wie in Trance über den Bergen hing, während die Nebelstreifen alle zusammen – jeder aus seinem eigenen Tal – hochstiegen und zu einer duftbeladenen Wolke über der Hitze verschmolzen. Die Geräusche der Vögel, die hochschwirrten, um sich aus den Insekten, die in der Luft über dem Hof schwebten, ein letztes Mahl zu bereiten; das Geschrei der Lemuren, die in den Baumwipfeln saßen und ihren Genossen weit weg in anderen Tälern jenseits des Flusses etwas zuriefen; der Lärm der Bienen und das Brüllen der Rinder – das alles waren Hymnen, die Mrs Noyes in der Abenddämmerung liebte. Und ganz unten an der Straße die Lieder der herumziehenden Arbeitstrupps – um ihr Lagerfeuer versammelte Knechte, die von der fernen Heimat sangen… Ach, herrlich war es am Abend, dachte sie – wahrlich eine Art Himmel auf Erden.

Mrs Noyes wiegte sich in ihrem Schaukelstuhl hin und her, hob ihren Ginkrug und stimmte in den Gesang ein – im Flüsterton, damit man sie ja nicht hören konnte – und grüßend winkte sie der Sonne zu. Was anderes könnte der Himmel sein, sagte sie sich, als eine Welt, so schwebend wie diese?… Nichts Festes, Solides; nichts Hartes oder Wirkliches, wogegen man prallen oder worüber man stolpern könnte; alles in angenehmer Ferne, wohlwollend – genauso wie es sich in dieser schmerzfreien Dämmerung darstellte, nur dass es für immer wäre. Und wenn nicht für immer, dann zumindest für den Rest dieser Stunde vor dem Opferritual – so lange, bis die entsetzliche Altarglocke zu läuten anfing.

Jeden Abend saß Mottyl, die Katze, im Schatten der Trompetenwinde mit Mrs Noyes in der Dämmerung, eine rundliche, stille Gestalt. Am Rande der Veranda kauernd, beobachtete sie durch den Spalt ihres guten Auges, wie die Welt in die Dunkelheit hineinglitt – das andere Auge war durch den grauen Star erblindet. Doktor Noyes machte gnadenlos Wortspiele über »S-tar fürs Tier« – obwohl er selber an der Erblindung schuld war. Oder zumindest seine Experimente. Mit Mrs Noyes fühlte sich Mottyl sicherer als mit jedem anderen Wesen, denn sie hatte ihr Leben wiederholt vor der Bedrohung durch Doktor Noyes gerettet. Aber das war in den alten Tagen, bevor Mottyls junge Kätzchen zum Gegenstand der tödlichen Aufmerksamkeit des Doktors geworden waren. Trotz ihres blattreichen arkadischen Aussehens war seine Laube nämlich nicht nur eine Laube. Sie war auch das Studierzimmer eines Alchemisten, ein Schauplatz der Magie und ein Labor – fast alles, was der Doktor daraus zu machen beliebte.

»Noch ein Experiment: Entschuldigung und danke«, sagte er, griff in Mottyls Nest und packte sich eins ihrer Kätzchen. Sie hatte keinerlei Möglichkeit, ihn daran zu hindern. Sie hatte ihn schon gebissen und gekratzt und ihm auf jede in der Macht einer Katze stehende Art Verletzungen beigebracht, doch am Ende zog sie immer den Kürzeren, ganz gleich, wo sie ihr Nest versteckt hatte oder wie sie sich verteidigte. Es gäbe nur eine Möglichkeit, ihm das Handwerk zu legen: indem sie aufhören würde, Kätzchen zu kriegen – wenn sie nur wüsste wie.

Nein, noch eine weitere Möglichkeit gab es – und auch diese hatte sie schon ernsthaft in Erwägung gezogen. Sie könnte die Kätzchen aussetzen, verlassen, bis sie verhungerten, sie als Beute für die nächstbesten Raubvögel oder andere Tiere zurücklassen. Sie wusste, dass das manchmal passierte, wenn ein Muttertier alt, krank oder verwundet war. Letztendlich allerdings hatte Mottyl auch diesen Plan aufgegeben, zum Teil aus einem ganz egoistischen Grund: Ohne die Möglichkeit Kätzchen zu säugen, hätte ihre Milch sie verrückt gemacht. Aber noch viel wichtiger war eine unverrückbare Tatsache: Die schutzbedürftigen jungen Kätzchen waren etwas Heiliges.

Mottyl stellte sich ein Nest voller Eier vor, wie das ihrer Freundin Krähe. Wenn Krähe keine Lust hatte, brauchte sie die Eier nicht auszubrüten. Auch so konnte man Ungeborene loswerden: Eier legen und sie einfach liegen lassen…

Dass diese Gedanken über Gebären und Nichtgebären Mottyl beschäftigten, hatte einen äußerst triftigen Grund. Sie wurde nämlich gerade läufig. Gestern hatte es angefangen und jetzt – heute Abend, während sie auf der Veranda neben Mrs Noyes vor sich hin grübelte – spürte sie die ersten leisen Warnzeichen entlang den Flanken und an den Schultern. Läufigkeit kommt und vergeht wieder. Dagegen kann man nichts tun. Doch es gab eine sehr geringe Chance, dass sie Unrecht hatte. Vielleicht kündigte sich ja Fieber an – eine Krankheit –, weil sie etwas Verdorbenes gefressen hatte. Wenn sie es mit einem Brechmittel versuchte – eins der Gräser draußen auf der Wiese… Es könnte aber auch am Wetter liegen: ein ganzer Monat voll wolkenloser Tage. Vielleicht würde Ruhe helfen: einfach hier liegen und dem Quietschen von Mrs Noyes’ Schaukelstuhl lauschen.

Mrs Noyes war aufgeregt, das spürte Mottyl. Ihre Gegenwart war voller Schwingungen; ein Zittern durchlief ihre Finger, als sie sich herabbeugte, um Mottyls Rücken zu streicheln. Mottyl fragte sich, ob ihr Frauchen vielleicht auch läufig sei – obwohl es nicht danach roch. Kein Blut; keine blutigen Stoff fetzen…

Emma dagegen… Emma war ganz sicher läufig – vielleicht zum ersten Mal. Das junge Mädchen tat nichts als heulen und jammern, versteckte sich immerzu vor ihrem Mann, klammerte sich an ihren Hund – den entsetzlichen Bello – und schrie nach seiner Mutter. Menschen verhalten sich in dieser Situation äußerst seltsam – sie stampfen durch ihre Häuser, knallen Türen zu und schreien einander an, wenn sie läufig sind. Sie jammerten fortwährend – reagierten auf alles mit »Nein!«. Und hatten damit Erfolg – das war das Erstaunliche daran: Denn bis jetzt hatte Emma die Paarungsprozedur erfolgreich vermieden.

Japeth, der Krieger, Emmas Ehemann, hatte endlich jegliches Interesse an der Sache verloren und verbrachte seine Zeit im Badhaus, wo er in einer Wanne mit heißem Wasser saß. Als ob es Wasser im Überfluss gäbe! Und wie konnte ein Mann das Interesse verlieren? Kein Einziger unter Mottyls Freiern hatte jemals das Interesse verloren. Gewiss nicht, bevor die Sache erledigt war.

Sem und Hannah dagegen schienen recht zufrieden mit dem, was sie trieben. Doch obwohl sie es zu ihrem offensichtlichen Vergnügen taten, vermieden sie doch irgendwie, Kinder in die Welt zu setzen, was für Mottyl ein sehr großes Rätsel war. War es möglich, dass Menschen in dieser Sache die Wahl hatten?

Was würde Doktor Noyes tun, wenn Mottyl sagen könnte: »Es wird keine Jungen mehr geben«?

Keine Kätzchen mehr zum Töten.

 

 

In diesem Moment hörte Mrs Noyes ein schrilles Blöken – das Zeichen, dass das Opferlamm ausgewählt worden war. Jeden Augenblick würde jetzt die Glocke läuten und sie würde gehen müssen.

Sie schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu – aber es half nichts. Alles, was sie nicht wirklich hören und sehen wollte, konnte sie im Geiste sehen und vernehmen. Und wo war der Unterschied? Ihr Vorstellungsvermögen war ein Fluch und sie hätte sich sehnlichst gewünscht, damit nicht »gesegnet« zu sein. Gesegnet. Von wem kam eigentlich der Segen, fragte sie sich.

Sie nahm die Hände wieder von den Ohren und trank in großen, tiefen Zügen ihren Gin. Ach, Gott! Alles war so schön da draußen vor der Veranda. Es war zum Weinen.

»Auf, Mottyl. Komm, wein mit mir…«

Da begann die Glocke zu läuten.

Sie hob die Katze auf ihren Schoß und stieß sich mit den Füßen vom Geländer ab, bis sich der Schaukelstuhl in sanftem, gleichmäßigem Rhythmus – wie eine Wiege für sie beide – im Takt mit der Opferglocke bewegte.

Mrs Noyes fürchtete ihre eigene Wut und tat in der Dämmerung ihr Möglichstes, um sie zu unterdrücken. Sie fürchtete all das, was sie sagen wollte und vielleicht aussprechen würde; was sie tun wollte und unterlassen musste. Sie fürchtete ihre Unwissenheit: ihre Angst vor alldem, was sie nicht wusste, aber erahnte. Sie fürchtete für das Lamm und für sich – und für Ham und für Mottyl –, sogar für Emma und Emmas Hund. In Wirklichkeit fürchtete sie für jedermann… sogar für Noah. In gleichem Maße wie sie selbst unwissend war, wusste er zu viel. Oder zumindest erweckte er den Anschein. Es gab nichts, was, wie er selbst sagte, er nicht wusste, und das, so schien es Mrs Noyes, war gefährlich. Besonders jetzt, wo die Ordnung ihres Lebens – ihrer aller Leben – so durcheinander geraten war, wo Jahwes Ankunft unmittelbar bevorstand und die ganze Welt im Chaos versunken war.

Mrs Noyes hasste es, die Geborgenheit ihrer Veranda verlassen zu müssen, aber sie wusste, in wenigen Augenblicken würde ihr nichts anderes übrig bleiben als aufzustehen und der Glocke zu gehorchen, Zeugin der Opferung zu sein – und so ließ sie die Wunder und Katastrophen der letzten Zeit noch einmal Revue passieren.

Der Sommer war fast zu Ende, und obwohl es noch nicht geregnet hatte, war schon Schnee gefallen. Zumindest hatte es so ausgesehen. Kleine weiße Flocken aus etwas waren vom Himmel gefallen und alle hatten sich auf die Veranda gedrängt, um das Schauspiel zu beobachten. Doktor Noyes hatte sofort von einem Wunder gesprochen und Hannah gerade aufgefordert, das aufzuschreiben, als Ham auf den Rasen hinausging, die Zunge ausstreckte, einige Flocken auffing und den Geschmack prüfte.

»Kein Schnee«, hatte er gesagt. »Es ist Asche.«

Da Ham sich in den Naturwissenschaften sehr gut auskannte, neigte auch Mrs Noyes zu der Ansicht, es sei Asche gewesen – aber Doktor Noyes bestand darauf, dass es Schnee sei – »ein Wunder!« Und schließlich hatte er sich durchgesetzt und Hannah aufgetragen zu notieren: HEUTE – EIN BLIZZARD.

Danach war ein starker heißer Wind aufgekommen, der das ganze Zeug – gleichviel ob Schnee oder Asche – weggefegt hatte und nichts als Beweis zurückließ. Wie auch immer – es war ein unvergesslicher, beunruhigender Anblick gewesen – August und alles weiß.

Das ganze Jahr schon war eindeutig anders verlaufen als alle anderen. Erst ein paar Wochen zuvor hatten es die Drachen, die aus dem Norden heruntergekommen waren, vorgezogen, ihren Zug mit einer Wanderung auf offener Straße zu beschließen, statt wie sonst durch den Wald zu schleichen. Einer hatte sogar die Frechheit besessen, bis in den Garten zu kommen, die Mauer zu durchbrechen und im Teich herumzutrampeln. Nicht einmal Doktor Noyes konnte erklären, warum die Drachen plötzlich Lust hatten, über die Straßen zu spazieren. In normalen Zeiten hatte jeder, den es in den Süden zog, den Weg durch die Luft genommen – oder war den Flussläufen gefolgt. Keinem war es jemals eingefallen, durch den Garten zu gehen.

Etwas stimmte nicht, das war ganz sicher. Es lag etwas in der Luft.

»Denk an all das weiße Zeug, Mottyl!«, sagte Mrs Noyes laut.

Die Hitze war diesmal heißer gewesen, die Kälte kälter. Ein ganzer Trupp Fische war aus dem Teich gestiegen, den Berg hinuntergewandelt und in den Wald marschiert – und der Strauß hatte aufgehört zu fliegen. Kurz vorher, zur Zeit der Sonnenwende, hatte die Sonne zwei ganze Tage stillgestanden und ein Meteoritensturm hatte den Misthaufen bombardiert und all die Kleinlebewesen darin getötet. Und ausgerechnet heute war laut Ham, dem Himmelsbeobachter, der Morgenstern bis auf die Erde gefallen. Und als ob das alles nicht schon genug wäre, hatte Hannah, die Obstgartenwandlerin, Mrs Noyes erzählt, ein Kormoran habe sich mitten unter den Äpfeln niedergelassen.

»Was bedeutet das, Mottyl? Was kann es bedeuten?«

Konnte es sich wirklich um »Wunder« handeln, wie Doktor Noyes andauernd behauptete? Was war es? Diese Ereignisse, die sie in der Dämmerung aufzählte, machten gar nicht den Eindruck, als wären sie Wunder. Es waren düstere Ereignisse, ja: unangenehm, aufwühlend. Furcht, aber nicht Ehrfurcht einflößend. Beim bloßen Gedanken daran überlief sie – sicher in ihrem Schaukelstuhl sitzend – ein Schauder – er durchlief ihre Finger und reichte bis zu Mottyl, die sofort von ihrem Schoß kletterte und sich in einiger Entfernung hinsetzte. Sie hatte nun endgültig genug von den Schaudern ihrer Herrin.

Nicht alle diese Geschehnisse waren natürlicher – oder übernatürlicher Art. Ein Teil von ihnen war bewusst erzeugt worden, und das machte sie nur noch beunruhigender. Die Feuer zum Beispiel, die in den Städten brannten, waren größer als normal. Geschürt wurden sie von Übereifrigen, bewacht von Besoffenen; manchmal verdunkelte ihr Rauch den Mond. Nach Aussage der Saisonarbeiter, die es angeblich mit eigenen Augen gesehen hatten, arteten die Feste Baals und Mammons allmählich in wüste Orgien aus. Sie berichteten, man habe dabei ein Menschenopfer gutgeheißen und aus dem Fleisch eine Suppe gekocht.

Die Bauernknechte, die auf der Suche nach Arbeit von Tal zu Tal zogen, galten zwar als unzuverlässige Informationsquellen, doch für jeden, der stromabwärts lebte, gab es auch Beweise anderer Natur. Lametta, Konfetti und chinesisches Schießpulver aus den Städten verunreinigten die Flüsse. Unter Noyes’ Anwesen wurden Lendenschurze und Kitzelfedern am Ufer angeschwemmt. Am Sonntag zuvor hatte der Himmel mittags knallrot geleuchtet, und man hatte die Hymne an Baal volle zehn Meilen weit hören können.

Und dann Japeth.

Japeth Noyes war der jüngste ihrer Söhne und in der Familie der ewig Unzufriedene. Das war aber nicht immer so gewesen. Als er ein Kind war, hatte es keinen gegeben, der mehr Vertrauen zeigte, der begieriger war, alle Vergnügungen des Lebens kennen zu lernen. Doch Zeit und Erfahrung hatten langsam an seinem Vertrauen und an seiner Suche nach dem Glück genagt. Er war dabei, aufzugeben – wenn auch noch nicht ganz – und wurde immer gewalttätiger und gereizter. Auch wenn man ihm in letzter Zeit nicht verübeln konnte, mit der Welt uneins zu sein.

Etwa zwei Wochen zuvor – Emmas Weigerung, mit ihm zu schlafen und seine eigene Unfähigkeit, die Sache zu erzwingen, hatten ihn zum Wahnsinn getrieben – hatte Japeth sich davongemacht und war der Straße in Richtung Städte gefolgt. Sein Auszug hatte Ähnlichkeit mit den Märchen, die von Burschen erzählten, die zu Hause unglücklich waren und fortgingen, um als Drachentöter und Riesenbezwinger die große Welt zu erobern. Japeths Ziel war es, endgültig seine Männlichkeit beweisen zu dürfen und bei seiner Rückkehr den Drachen, Emmas Jungfräulichkeit nämlich, zu besiegen und den Riesen, der seine Schande war, zu töten.

Aber so war es nicht gekommen. Japeth war nackt und blau und fast sprachlos nach Hause gekrochen.

Als er zurückkam – niemand wusste, wohin ihn sein Weg geführt hatte –, stand er offensichtlich unter Schock und weigerte sich, über die Ereignisse während seiner Reise zu sprechen. Er murmelte nur wiederholt »Suppe« und »Eintopf« und »nein – danke – lieber nicht«. Sein Körper war von einer Art Farbe überzogen, deren Geruch Mrs Noyes an eine Desinfektionslösung für Schafe erinnerte. Sie ließ sich nicht abwaschen, ganz gleich, wie oft sie ihn sich schrubben hieß und wie viel Lauge in seiner Seife enthalten war. »Es sieht so aus, als würde unser Sohn für den Rest seines Lebens blau bleiben«, hatte sie zu Doktor Noyes gesagt. »Und seine Haare erst! Hast du seine Haare gesehen?« Sie waren so flockig wie Lammwolle.

»Vielleicht ließ er sich beim Fest Locken machen«, sagte Doktor Noyes, der das Aussehen seines Sohnes eher lustig als beunruhigend fand.

»Japeth?«, rief Mrs Noyes. »Japeth würde so etwas nie tun. Seine Freunde würden ihn mit ihrem Lachen aus ihrer Gemeinschaft verstoßen.«

Das stimmte. Japeth versteckte sich, wenn seine Freunde vorbeikamen. Er wollte nicht mit ihnen mitgehen, sie nicht einmal über den Fluss auf Wildschweinjagd begleiten – dabei war das sein Lieblingssport gewesen. Er kettete seine Wölfe ans Tor und zog sich in seine Hängematte zurück. Ja, irgendwie war die Ordnung der Dinge aus den Fugen geraten.

 

 

Im Takt der Glocken stiegen sie den Berg hinauf: Ham und Hannah, Emma und Mrs Noyes.

Vorbei an den Latrinen, dem Badhaus, dem Eislager, der Terrasse mit den Sonnenblumen und in den Zedernhain – wo Ham ohne Warnung stehen blieb, dann den Pfad verließ.

Mrs Noyes hielt den Atem an – aus Angst, er würde nicht weitergehen; denn obwohl ihre ganze Sympathie ihrem Sohn gehörte, fürchtete sie sich vor dem, was passieren würde, falls er sich weigerte das Opferzeremoniell durchzuführen. Noah könnte alles Mögliche bedenken, um Ham zu bestrafen: ihm das Essen vorenthalten – ihn im Eislager einsperren – ihm sogar Gewalt antun. Sie wusste nicht, wie weit ihr Mann gehen würde. Er war so sehr außer sich – wegen der bevorstehenden Ankunft Jahwes und des mysteriösen Inhalts des Briefes, der offensichtlich schockierend war, obwohl Noah ihn nicht preisgab. Trotzdem – sie sagte nichts, sah nur, wie sich Ham weiter unter die Bäume duckte.

Hier im Zedernhain beobachtete er die Sterne – im Winter wie im Sommer; er berechnete ihre Bahnen und die Bewegungen der Sternbilder. Dies war Hams Zufluchtsort und hier hatte er gut die Hälfte seines Lebens verbracht, allein mit seinen Gedanken und Notizblöcken.

Hannah seufzte; sie spürte Ungeduld und war sich der drängenden Zeit nur zu sehr bewusst. »Die Sonne ist fast untergegangen«, sagte sie; »und das Opfer…«

»Schweig!«, sagte Mrs Noyes. »Sei still!«

Hannah trug den Kranz vor sich her, den sie angefertigt hatte – den Kragen für das auserwählte Lamm. Die Blumen, die sie zwischen die langen trockenen Gräser und süß duftenden Eselsohren geflochten hatte, waren allesamt blau und gelb. Sie hob den Kranz an ihre Nase, drehte sich um und sah auf den Pfad, der ohne sie den Berg hinaufging.

Mrs Noyes beobachtete ihren Sohn, der sich – wortlos – auf einen Baumstamm setzte. Er war ebenso blass wie sein Hemd und seine rötlichen Haare wirkten leblos. Er drückte die Hände gegen die hölzerne Fläche, auf der er saß, bis die Knöchel weiß wurden – dann senkte er den Kopf und starrte zu Boden.

Emma sagte: »Hier ist es schon dunkel.« Und wieder entgegnete Mrs Noyes: »Sei still! Warte!«

»Ich will Bello«, sagte Emma.

»Ich sagte, sei still!«, zischte Mrs Noyes. Aber ihre Augen waren weiter bei ihrem Sohn.

Von all ihren Kindern war Ham der zweite, der am Leben geblieben war. Es war nicht leicht gewesen, ihn so weit zu bringen – bis zum Mannesalter –, und die Mühe, die es gekostet hatte, war an seinen seltsam starrenden Augen und der Blässe seiner Haut ablesbar. Jetzt allerdings war er so stark wie die meisten, die Seuchen und Fieber überlebt hatten: stark im Sinne von Durchhaltevermögen und Widerstandskraft. Als Kind hatte Ham so oft krank und vor Fieber glühend dagelegen – seine Decken von Schweiß durchtränkt –, dass Mrs Noyes glaubte, er würde von Feuer verzehrt werden. Doch er hatte alles glücklich überstanden – und ging daraus hervor mit einer Liebe zum Leben, die so groß war, dass er es nicht fertig brachte, zu töten. Für diese Liebe musste er jetzt den Preis entrichten, denn für seinen Vater bedeutete Liebe und Verehrung zuallererst Gott und weit danach erst alles andere.

Endlich wurde das Läuten der Glocke schneller. Die Sonne ging schon unter und das Licht auf dem Berg verblasste. Mrs Noyes ging ein paar Schritte auf ihren Sohn zu – sagte nichts, machte ihm aber deutlich, dass die Zeit gekommen war.

Ham stand auf und schüttelte seine Hände aus. Sie waren taub. Er war weder so groß wie Sem noch so geschmeidig wie Japeth, vielmehr knochig und kantig und gelenkig: widerstandsfähig – aber mager, mit großen Händen und Füßen. Als er vor Mrs Noyes seinen Weg den Berg hinauf fortsetzte, fiel ihr auf, dass sein Hals der längste, der dünnste Hals war, den sie jemals gesehen hatte, und dass sein Rücken – trotz seiner Jugend – alt wirkte.

Sobald sie die Bäume hinter sich ließen, konnten sie den Altar und die Pinie über sich erkennen – und wie einen Schattenriss Noah, Sem und Japeth. Japeth hielt das Lamm an einer Leine, die er fest gegen sein Bein zog. Sem läutete die Glocke, während Noah – weiß gekleidet – dastand wie eine Ikone; die rituellen Messer und Schüsseln lagen und standen ausgebreitet vor ihm.

»Ihr kommt spät«, sagte er.

»Wir wissen es«, sagte Mrs Noyes.

Die Glocke hatte Erbarmen und verstummte. Sem ging zur Seite; sein Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck, wahrscheinlich schlief er schon halb.

Japeth lieferte das Lamm am Altar ab, wo ihm Hannahs Kranz um den Hals gelegt wurde. Es war nervös – aber ohne Furcht. Es hatte noch keine Ahnung, warum es da war, und keins der Utensilien des Todes bedeutete ihm etwas. Als es Mrs Noyes erblickte, die seiner Mutter das Singen beigebracht hatte, begrüßte es sie mit einem Erkennungsschrei, und Mrs Noyes ging hin, küsste es auf die Stirn, hob es auf, hielt es fest, trug es im Geiste den ganzen Berg hinunter und setzte es wieder auf die Weide, von der man es geholt hatte…

In Wirklichkeit aber schaute Mrs Noyes weg; wie immer ließ sie es nicht zu, dass das Tier ihr in die Augen schaute, aus Angst, es würde denken, sie hätte es verraten. Was auch stimmte – denn sie konnte die Hand nicht ausstrecken, um den Schlag zu verhindern. Sie konnte nicht einmal nein sagen. Also sagte sie gar nichts und sah weg, zum Himmel.

Noah ließ Ham näher treten und reichte ihm die Messer. Es waren zwei: eins für den Hals – ein zweites für den Bauch. Das Halsmesser war gebogen. Das Bauchmesser war lang, gerade und gezackt.

Noah fragte: »Du weißt, warum wir das tun?«

Ham starrte seinen Vater nur an – und hasste ihn. »Ja«, sagte er. »Für Jahwe.«

»Halte das Lamm so!«, sagte Noah – und zeigte ihm, wie er den Kopf zurückziehen sollte, und dann: »Man führt das Messer so – nicht gerade –, man nutzt den Bogen aus. Der Schnitt muss von Ohr zu Ohr gehen.«

Ham nahm den Platz seines Vaters ein und hielt das Lamm. Er drückte es sehr fest gegen seinen Brustkorb – den eigenen Körper presste er gegen den Altarstein und gegen das Lamm. Er sprach mit dem Lamm – hielt die Augen dabei geschlossen.

Noah streckte die Arme aus, wie es der Ritus verlangte, und Hannah hängte das reinweiße Leintuch über seine Handgelenke – die langen bestickten Enden reichten fast bis zum Boden.

Dann trat Mrs Noyes vor und legte die silberne Schüssel – sie war älter als Noah selbst – in die Hände ihres Gatten.

Noah hob die Schüssel gen Himmel und begann die lange Rezitation, die mit dem zehnten Namen Gottes endete.

Jetzt kam auch Japeth mit dem zweiten Gefäß näher, in welches das Herz des Lammes neben Leber, Nieren und Hoden gelegt werden sollte.

Emma stand gleich hinter ihm mit dem Leichentuch – schon in Nelkenöl getaucht –, worin der geschlachtete Tierkörper eingewickelt und verbrannt werden sollte.

Sem hob den silbernen Hammer, damit er ihn genau beim Nennen des zehnten Namens Gottes – des Namens, den außer Noah niemand hören durfte – gegen den Stein fallen lassen konnte. Und wenn der Hammer aufschlug – genau dann musste auch Ham zuschlagen.

Jeder stand und wartete gespannt auf diesen Augenblick: betete und betete nicht – schaute und schaute nicht.

Der Himmel wurde orange; gelb; weiß.

Der zehnte Name Gottes berührte die Luft – und der silberne Hammer schlug auf den Stein und übertönte den Namen.

Im selben Augenblick hob Ham den Arm und stieß einen Schrei aus.

Mit einer einzigen Bewegung führte er das Messer und hob das Lamm, schon tot, über seinen Kopf.

Blut strömte auf ihn herab, durch seine Haare und über sein Gesicht und seine Brust. Hannah stockte der Atem, und sogar Noah blieb vor Staunen der Mund offen. Mrs Noyes aber sah erst, als ihr Sohn den baumelnden Kopf des Lammes über das Silbergefäß in den Händen seines Vaters senkte, was er getan hatte.

Eine leuchtende mondsichelförmige Wunde war seinem Arm entsprungen, dort, wo dieser gegen das Lamm gedrückt hatte – und das Blut, das in Noahs Schüssel floss, stammte ebenso von seinem Sohn wie von dem geschlachteten Tier.

Mrs Noyes sank auf die Knie.

Die Tat, die sie selber nicht zu tun gewagt hatte, war getan.

Am nächsten Morgen litt Mottyl unter läufigkeitsbedingter Ruhelosigkeit. Die Erregung nervte sie, weil sie überhaupt keine Kontrolle darüber hatte – auch nicht über die Folgen. Ihr Kot verbreitete einen satten und alles durchdringenden Geruch, den sie nicht verheimlichen konnte. Ganz gleich, wie tief sie ihn verscharrte, seine Gase erfüllten die Luft. Auch ihre Spuren waren beunruhigend. Immer wieder kam ein bisschen Blut zum Vorschein und dessen Geruch zusammen mit dem intensiven Duft ihres Kots störte sie.

Ihr fortgeschrittenes Alter machte die Situation nicht besser – auch nicht ihre Blindheit und ihre Angst vor Doktor Noyes. Es war sehr schwer für sie, so alt zu sein und um ihre noch gar nicht gezeugten Kinder bangen zu müssen. Aber es war nichts zu machen. Hier war die Natur am Werk und das musste sie akzeptieren. Dennoch probierte sie gegen ihre Beschwerden mehrere Kräuter aus Mrs Noyes’ Nutzgarten und wanderte bis zur fünfzehnten Lichtung auf der Suche nach Gräsern, die Erbrechen auslösen – doch nichts half.

Selbst ihre Flüsterstimmen waren in Aufruhr. Meistens sprachen sie in einem ruhigen, gleichmäßigen Ton. Eintönig und beschwichtigend. Schon als kleine Katze hatte Mottyl gelernt, diese instinktiven, auf rätselhafte Weise wahrgenommenen Befehle anzunehmen – und darauf genauso wie auf alle anderen Sinneswahrnehmungen zu reagieren. Doch heute versagte ihr Instinkt. In einem Moment rieten ihr die Stimmen, sich nicht aufzuregen, und im nächsten Augenblick befahlen sie ihr, den höchstmöglichen Baum zu suchen und sich darin zu verstecken.

Sie empfahlen ihr außerdem, um den Juckreiz zu lindern, der sich langsam über ihre Seiten ausdehnte, eine Ziege ausfindig zu machen und sich fest an ihren Beinen zu wetzen. Auch diesen Rat befolgte sie – und erhielt als Dank dafür einen heftigen Fußtritt, der sie durch die Tür und in den Staub des Hofes wirbelte. Die Ziege war offensichtlich nicht die Lösung.

Wetz dich an den Zaunpfosten!, flüsterten ihr die Stimmen zu, als Mottyl wieder aufstand und den Staub von ihrem Rücken schüttelte. Aber auch dieser Rat schlug fehl. Das Reiben an den Zaunpfählen brachte Mottyl nur heiße, trockene Aufwallungen ein und blaue Stromschläge und am Ende Fieber und Kopfschmerzen.

Warum musste es jedes Mal anders sein, wenn man läufig war? Warum gab es keine harten und festen Regeln wie die fürs Gebären und für das Töten von Mäusen?

Mottyl schlich ins Haus zu Mrs Noyes und bettelte um ein bisschen Aufmerksamkeit, um sich vom Fieber abzulenken, das noch schlimmer wurde, während sie mit den in Pantoffeln steckenden Füßen unter dem Küchentisch spielte. Sie war schon zwanzig Jahre alt und dennoch wollte sie – laut Doktor Noyes – viel zu oft auf den Schoß ihres Frauchens gehoben werden, geradeso, als ob sie noch ein Kätzchen wäre. »Bitte heb mich hoch!«, rief sie Mrs Noyes zu, deren Kopf und Arme hinter den Fransen des Wachstuchs versteckt waren. »Bitte, ich fühle mich nicht wohl…« Aber Mrs Noyes achtete nicht darauf, was auf dem Fußboden vor sich ging. Selbst eine Schar plündernder Ameisen war ihrem Blick entgangen, obwohl sie den Zuckersack schon erreicht hatten und allmählich weiß wurden wie die stibitzten Zuckerkörnchen. »Bitte…«, sagte Mottyl ein letztes Mal. Doch es kam keine Reaktion, weder in Worten noch in Form einer mitleidig ausgestreckten Hand.

Tatsache war: Mrs Noyes versuchte ihr Möglichstes, ein passendes Mahl für den erwarteten Gast zuzubereiten. Sie enthülste gerade Erbsen und schnitt die Augen aus den Kartoffeln. Jetzt hieß es, der Gast würde morgen erst ankommen. Vielleicht auch erst übermorgen. Den ganzen Vormittag hindurch waren rosa- und rubinrote Tauben angeflogen gekommen mit Bulletins und Kommuniques im Schnabel, die über den Verlauf der Anreise und die Größe des Gefolges informierten. »Es werden zwanzig kommen…«, berichtete die erste Taube. »Wir sind jetzt zehn Meilen nördlich von euch und drehen nach Osten…«

»Es kommen fünfzig«, verkündete die zweite Taube. »Pferde, Maultiere und eine Karawane!« (»Und eine Karawane?«, fragte Mrs Noyes. »Ich kann doch keine Karawane durchfüttern!«) »… Jetzt sind wir noch sechzehn Meilen entfernt, Westnordwest…« Und schließlich: »Es kommen vierzig… südlich.«

Es war ein Alptraum.

Am schlimmsten waren die endlosen Auflagen, was die Zusammenstellung der Speisen betraf. So viel Getue über das, was alles nicht aufgetischt werden durfte. Keine Leber, Nieren, Bries oder Kutteln. Kein Bauchfleisch oder Brustfleisch oder Lende. Kein Fett und kein Knorpel. Brühe, Suppe und Eintopf waren strengstens verboten. Die Aufzählung war endlos, und Mrs Noyes fürchtete allmählich, die nächste Taube würde eine Anordnung bringen, dass sie ein Bankett ganz ohne Speisen vorbereiten solle. Schließlich entschied sie sich für russische Eier, Krautsalat, Erbsen und Karotten in Rahmsoße, eingelegte Champignons, Kartoffelsalat, Tomatenscheiben, Frühlingszwiebeln, Gurkenstäbchen, mit Cheddar gefüllten Stangensellerie, das Ganze mit Basilikum, Dill und Petersilie garniert. Als Nachspeise würde es Pfirsiche und viele Krüge mit gekühltem Kamillentee geben. »Und wenn das seiner E, heißt Eminenz, nicht passt, soll sie Heu essen!«, schrie sie Doktor Noyes an. Doktor Noyes, der hinsichtlich des bevorstehenden Besuchs etwas andere Sorgen als seine Frau hatte, drehte sich um, ging hinaus und setzte sich in die Laube. Wo er mehrere Stunden blieb.

Mrs Noyes stand auf und ging zur Tür von Japeths Zimmer. »Willst du mir nicht helfen?«, fragte sie. »Kannst du nicht ausnahmsweise mal deinen Hintern heben und jemandem behilflich sein?«

»Murmel – murmel – murmel…« Das war alles, was Mottyl von ihrem Platz unterm Tisch als Antwort hören konnte.

»Und wo ist Emma nur?«, fragte Mrs Noyes. Emmas Pflichten bestanden sowohl in Gemüseputzen als auch in Abspülen. »Vielleicht wird wenigstens sie helfen…«

»Murmel – murmel – murmel…«

»Ach, ihr! Das ganze Pack!«, rief Mrs Noyes. »Niemand hilft mir – und dann ist es meine Schuld, wenn nicht alles rechtzeitig fertig ist!«

Japeth sagte nichts.

Türenschlagen.

Mrs Noyes kam zurück und ging quer durch die Küche zur Speisekammer.

»Emma!«, rief sie, in keine gezielte Richtung. »Emma! Emma!«, rief sie ins Ungefähre.

Mottyl betrachtete die Füße in den Pantoffeln, als sie das innerste Heiligtum der erdgekühlten düsteren Speisekammer erreichten.

»Emma! Kindchen!« Das war Mrs Noyes’ Kosename für das erst elf Jahre alte Mädchen. »Kindchen?…«

Kein Wort, kein Murmeln als Antwort. Wahrscheinlich suchte das Kind seinen Hund, der verschwunden war.

»Na also – sollen sie doch alle Heu essen«, sagte Mrs Noyes. Und Mottyl beobachtete, wie die Füße in den Pantoffeln sich auf die Zehenspitzen stellten, hörte, wie im Regal Steinkrüge gerückt wurden, und sah endlich, wie die Füße sich entspannten. Deckel wurden aufgemacht – etwas wurde eingeschenkt und dann hörte man einen tiefen, langen Seufzer. Bald kehrten die Füße zurück und nahmen ihren Platz unter dem Tisch wieder ein. Mit ihnen kam ein bekannter Geruch, der in der Luft auf den Flügeln des Liedes wehte, das Mrs Noyes zu summen begann. Es war ein schwerer, säuerlicher Geruch – abweisend, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Mrs Noyes ließ sich wieder gehen; das endete am Abend immer mit Tränen.

Mottyl stand auf und ging, mit hängendem Schwanz. Sie lief zum Hof und überquerte den Rasen dahinter auf der Suche nach süßen Gräsern, die hoch genug wären, um sie vor der Sonne zu schützen. Das alltägliche Leben, das – mit Ausnahme von Doktor Noyes und der Ziegen – so einfach, vertraut, ja eine Freude gewesen war, hatte sich jetzt in etwas Kompliziertes, Geheimnisvolles und Schmerzhaftes verkehrt.

Eine Zeit lang lag Mottyl nur da, die Augen weit geöffnet und das Kinn zwischen den Pfoten, und horchte auf die Vögel. Durch die Wolken im blinden Auge konnte sie nur Licht erkennen. Das gute Auge – obwohl auch das schwächer wurde – ließ die ganze Welt herein. Am Himmel stiegen Lerchen und Reisstärlinge auf und ließen sich wieder nach unten fallen – ein Lied kletterte empor, während das andere im Flug abstürzte. Alles war sehr friedlich – sehr idyllisch – sehr ruhig; fast wie ein altmodischer, ganz gewöhnlicher Nachmittag.

Mottyl schlief, auch wenn sie nicht wusste, dass sie schlief. Ihre Augen waren nicht ganz geschlossen und die Eidechsen, die durch das Gras streiften, nahmen in ihren Träumen, die sie anschaute ohne zu wissen, dass es Träume waren, die Größe von Riesen an. Sporadisch zuckten ihre Schultermuskeln, verjagten Fliegen und Vögel, die, so stellte sie sich vor, gekommen waren, um sie fortzutragen. Ihr Schwanz schlug hin und her und ihre Krallen verhakten sich eigenmächtig in der Erde und hielten sie fest, als liefe sie Gefahr abzustürzen. Endlich fiel sie in tiefen Schlaf, und während sie so dalag und lautlos im Schatten träumte, entging ihr, wie das wirkliche Gras sich teilte und wie wirkliche Füße an ihr vorbei in die Dunkelheit des Waldes liefen. Und wie ein langes dünnes Gewand aus Federn an ihr vorbeischleifte.

 

 

Jener Nachmittag und jene Nacht gehörten zu den seltsamsten Erfahrungen, die Doktor Noyes und seine Familie – Mottyl, die Katze, mit eingeschlossen – bis dahin in ihrem Leben gemacht hatten.

Zum einen fingen beim Tor Japeths Wölfe im Staub zu heulen an. Das war gegen drei Uhr nachmittags, als die Hitze am schlimmsten war. Die Frauen, auch Emma, liefen aus dem Haus, blieben im Hof stehen und schauten. Die Wölfe, die mit langen Hanfseilen festgebunden waren, konnten nicht in den Schatten ausweichen. Japeth – der, blau und nackt, von seiner Hängematte aufgestanden war – warf einen Blick auf sie und begann zu fluchen. Doktor Noyes verließ seinen Platz im Schutz der Laube und stand jetzt da, den letzten von Jahwes Briefen nass in seinen schwitzenden Händen. Er wurde ganz blass, als er hörte, welche Wörter Japeth beim Fluchen benutzte – einige davon waren auf dem Anwesen der Familie noch nie vernommen worden. Vielleicht hatte Japeth sie wie die blaue Farbe während seiner Abenteuer auf der Straße aufgesammelt.

Japeths Wut entzündete sich daran, dass niemand Wasser für seine Tiere hingestellt hatte. Seine heißgeliebten Wölfe mit ihren Halsbändern aus Messing und Kupfer, mit ihren von der ausgesuchten Nahrung – allein Reh und lebende Hasen – geschmeidigen Muskeln, waren vernachlässigt worden, hätten verdursten können. Nur die Frauen waren daran schuld.

Hannah und Mrs Noyes blieben von Japeths Schimpftirade mehr oder weniger unbeeindruckt, doch Emma, die nicht mehr als einen Meter fünfzig maß und deren Haare bis unter die Taille reichten, rannte und stolperte, durch ihre wehenden Haare geblendet, zur Pumpe neben dem Haus, die sie sofort so heftig zu betätigen anfing, als wolle sie alles Feuer der Hölle löschen. Jedoch fruchteten all ihre Anstrengungen nichts – obwohl sie dabei so eifrig voranging, dass ihre Füße den Kontakt zum Boden verloren. »Ich kann nicht, ich kann nicht!«, schrie sie. »Da ist nichts. Der Brunnen ist leer!«

»Unsinn«, sagte Hannah. »Wirklich, Kind, du bist so dumm. Man muss nur Wasser einfüllen.« Und schon schritt sie ganz gelassen zur nächsten Regentonne, schöpfte das letzte Wasser heraus und schüttete es in das Rohr, bis die Lederdichtungen zugedeckt waren. »Da«, sagte sie. »Pump!«

In weniger als einer Minute füllte Emma vier Eimer mit Wasser und eilte, ohne einen Blick in Japeths Richtung zu wagen, zum Trog, der zwischen den Bäumen auf der Gartenseite des Tores aufgestellt war.

»Er ist schon voll«, sagte sie, als sie gerade den ersten Eimer hineinschütten wollte.

Hannah lief über den Hof, um nachzusehen. Sie drehte sich zu Japeth um, kreuzte die Arme und starrte ihn zornig an. »Nicht nur voll Wasser, mein Lieber – sondern auch voll Frösche und Kröten. Haben deine Wölfe so viel Angst vor Fröschen und Kröten, dass sie ihretwegen nicht trinken wollen?«

Japeth errötete, was eine neue Violettschattierung – nicht ohne Reiz – an seinen blau gefärbten Armen und am Hals hervorrief.

»Meine Wölfe haben vor nichts Angst«, sagte er. »Schon gar nicht vor so einem alten Frosch oder einer Kröte. Vielleicht ist das Wasser schlecht. Vielleicht…«

Hannah beugte sich herab, hob die Hand und gebot Ruhe. Etwas Seltsames, Helles, das auf dem Wasser schwamm, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Es war eine lange bronzene Feder, wie sie noch keine gesehen hatte; wie eine Mondsichel lag sie in der Mitte des Trogs. Bevor sie die Feder mit ihren Fingerspitzen auffing, nahm Hannah sie in Augenschein – ruhig trieb sie auf der Wasserfläche, umgeben von der Schar ertrinkender Kröten und um sich schlagender Frösche. All diese Geschöpfe versuchten die Feder zu fassen und sich darauf zu hieven, um sich zu retten; als sie aus ihrem Blickfeld verschwand, weil Hannah sie herausholte, war es, als würden sie dem Weltuntergang zusehen.

Hannah richtete sich auf – die Feder in der Hand.

»Vielleicht haben deine Wölfe ja Angst vor Federn«, sagte sie und hielt sie hoch, damit jeder sie sehen konnte.

Emma rief: »Oh, wie schön!«

Hannah brachte die Feder weg. Sie gefiel ihr. Sie steckte sie in ihre Tasche.

Noah wandte sich seinem blauen Sohn zu und tat seine endgültige Meinung zur Situation kund. »Vielleicht haben die Frösche und Kröten dem Wasser einen Beigeschmack verliehen, Japeth«, sagte er. »Man kann nie wissen. Ich würde auch keinen Krötengeschmack in meinem Trinkwasser wollen. Warum nimmst du sie nicht heraus?«

Damit schien die Sache erledigt. Emma wurde aufgetragen, die amphibischen Eindringlinge zu entfernen und das alte Wasser durch neues zu ersetzen. Danach wurde jeder Wolf der Reihe nach von Japeth selbst zur Tränke geführt.

Mottyl, die aus ihrem Versteck im Gras alles verfolgt hatte, sah jetzt, wie die große blaue Gestalt Japeths auf ihren Jägerbeinen zwischen Trog und Tor hin- und herging und wie sich jeder Wolf auf der ganzen Strecke hin und zurück in der unterwürfigen Haltung duckte, die nur dem Rudelführer und Japeth vorbehalten war. Alle Wölfe liefen neben ihm her, zuerst einzeln und dann wieder paarweise.

Doch keiner der Wölfe trank. Nicht einmal, als Japeth auf die Knie fiel, Wasser in seine Hände schöpfte und es, um ihnen Mut zu machen, vortrank. Nicht einmal, als er sich niederbeugte, bis er wie ein Wolf über das Wasser gelehnt war, sein Kinn senkte und wie ein Tier seinen Durst löschte: den Mund weit öffnete und das Wasser mit der Zunge in den Mund schlabberte. Nicht einmal, als er sein Gesicht im Trog mit Wasser benetzte und es den Wölfen darbot, damit sie es abschleckten – nicht einmal dann wollten sie trinken. »Wir können nicht!« und »Wir werden nicht!«, riefen sie stattdessen und kehrten auf ihren Platz beim Tor zurück.

Als sie »Wir können nicht« und »Wir werden nicht« schrien, lief es Mottyl kalt den Buckel hinunter. Noch nie hatten die Wölfe so etwas von sich gegeben – zumindest hatte sie es noch nie erlebt. Noch nie hatten sie eine solche Todesangst erkennen lassen. Mottyl fragte sich, was das überhaupt bedeuten sollte.

Doktor Noyes, der schon wieder mit dem Zusammenfalten eines persönlichen und vertraulichen Briefs beschäftigt war, den er dann tief in der Tasche seines Ärmels verstaute, äußerte eine Vermutung, die ebenso gut die Wahrheit sein konnte. Er sagte zu Japeth, der noch immer neben dem schimmernden Trog kniete: »Ich kann nur vermuten, dass deine Wölfe plötzlich und unerklärlicherweise Angst vor Wasser haben.«

»Aber würden sie es mir nicht sagen, wenn sie Angst hätten?«, fragte Japeth.

»Haben sie es dir nicht gesagt?«, fragte Noah zurück. Woraufhin er sich abwandte und sich wieder in seine Laube verzog.

Mrs Noyes ging ins Haus zurück. Emma, die sich versteckt hatte, aus Angst, die hundert Kartoffeln schälen zu müssen, die Mrs Noyes mit ihrem Messer »geblendet« hatte, versuchte in den Schatten der Trompetenwinde zu entkommen, wurde aber von Hannah aufgegriffen, die sie in Richtung Küche in Marsch setzte. »Aber ich muss doch all die Böden kehren! Wie kann ich das schaffen, wenn ich auch noch hundert Kartoffeln schälen muss?«, fragte das Kind. »Mit Hilfe der Laterne, um Mitternacht, wenn es sein muss«, sagte Hannah und schubste sie durch die Tür.

Mottyl schaute aufmerksam zu, wie Hannah wegging und sich auf eine Bank setzte, seltsamerweise in der prallen Sonne. Hannah richtete sogar ihren Blick zum Himmel – und änderte ihre Haltung so, dass das Sonnenlicht noch intensiver auf ihr Gesicht und ihre Schultern fallen konnte. Seltsam, dass die Menschen die Sonne anbeteten, indem sie ihr das Gesicht hinhielten. Aber kein Mensch war seltsamer als Hannah Noyes, Sems Frau.

Magerer als jedes weibliche Wesen, das Mottyl je gesehen hatte, mit einem herberen Gesicht, intelligenter gewiss als ihr Mann – fähig, mit Doktor Noyes über fast jedes Thema eine Unterhaltung zu führen: Hannah Noyes war schlichtweg ein vollkommenes Rätsel. Kein Zeichen von Liebe, Freundlichkeit oder Freude war ihr jemals über die Lippen gekommen, hatte jemals den Ausdruck ihres Gesichts geprägt. Wenn sie sich an ihre Röcke drückte, hatte Mottyl niemals etwas von Vergnügen oder Wärme gespürt. Niemals streckte sie die Hand hinunter oder bückte sich und lockte sie mit einer Schüssel voll Sahne oder einem Teller mit Innereien. Nie. Sie war ebenso trocken wie das Gras, woraus Hannah ihre Hüte und Körbe flocht; so gespannt wie ein Weidenast, der sich unter schwerem Schnee beugt. Auch jetzt, während sie in der Sonne saß, hatte Hannah etwas im Sinn – sie wartete auf etwas, und vielleicht konnte Mottyl, weil sie einen Jagdinstinkt besaß, erahnen, was das sein konnte. Durch das Gras beobachtete sie Hannah und sie verstand genau, was diese Frau fühlte. Es war nichts anderes als das, was Mottyl fühlte, wenn sie starr und atemlos über einer Beute verharrte.

Hannah griff in ihre Tasche und zog die Feder heraus. Erst konnte Mottyl nicht genau sehen, was sie da hielt, bis Hannah den Arm ausstreckte, die Feder ins Sonnenlicht emporhob und zusah, wie die blasse bronzene Patina sich drehte und alle Farben des Himmels und der Erde spiegelte: blau, rot, gelb, lila, orange und grün. Ganz offensichtlich war Hannah von der Feder entzückt und erstaunt darüber, was sie alles offenbarte. Mottyl war nicht weniger überrascht – und nicht wenig besorgt. Von welchem Vogel mochte die Feder stammen? Es musste ein riesiger Vogel sein, da die Feder allein fast so lang war wie Mottyl.

Nun tat Hannah etwas, was man mit einer Feder in der Hand zu tun pflegt: Sie stieg auf die Bank und warf die Feder in die Luft.

Diese fiel aber nicht zu Boden.

Sie stieg auch nicht empor, sie blieb einfach genau in Armeslänge über Hannahs Hand schweben, bewegungslos wie ein Stein.

Hannah stieg von der Bank herunter und wandte sich ungläubig einen Augenblick zur Seite – in der Annahme, dass, wenn sie sich wieder umdrehen würde, die Feder sicher heruntergefallen wäre.

Aber so war es nicht – auch nicht, als sie noch einen Augenblick wartete.

Die Feder rührte sich erst von der Stelle, als Hannah wieder auf die Bank stieg, sie in die Finger nahm und mit ihr auf den Obstgarten zuging. Und als sie mit der Feder an den Wölfen vorbeikam, die immer noch beim Tor kauerten, fingen diese zu heulen an.

 

 

Sie kommen und sie gehen, dachte Mrs Noyes. Gute Zeiten und schlechte Zeiten – zuerst die einen, dann die anderen. Manchmal ist es das Wetter, manchmal sind es die Leute. Gestern Abend Ham und das Opfer. Heute Abend Japeth und die Wölfe. Ein solcher Abend, gerade wie im Paradies – und einer wie Japeth knallt mit sämtlichen Türen der Hölle, bloß weil seine Wölfe nicht saufen wollen. Gute Nachrichten und schlechte.

Der gute arme Japeth! Spaziert die Straße hinunter und kommt blau und sprachlos zurück. Entsetzt. Nur wegen der Fremden. Ausgerechnet der Junge, der anderen gegenüber immer so viel Vertrauen hatte… der nie auch nur eine einzige Bitte abschlagen konnte. Jedem traute: Hatte einmal einen Dämon bei der Hand genommen – und ihn schnurstracks in die Küche geführt. Ich musste ihm zur Abkühlung Limonade geben. Er hat das Glas fast zum Schmelzen gebracht und einen Brandfleck auf dem Stuhl hinterlassen. Landstreicher und Vagabunden – Hausierer und Straßenhändler – Priester, die fremde Religionen verkauften… »Mama – da ist noch einer, der Hunger hat!« Japeth mit seinen Kobolden und Verrückten. Nicht wie Sem und Ham. Sem hatte nur Kröten und Kieselsteine mit nach Hause gebracht: »Mama – schau!« Ham machte all diese wissenschaftlichen Entdeckungen… Aber Japeth brachte Missionare heim – und jetzt ist er von Kopf bis Fuß blau.

Was soll aus der Welt noch werden?

»Na, Motty?«

Mottyl saß auf dem Geländer – sie schaute zu den Bäumen jenseits des Hofes. Ihr Fell juckte jetzt, als hätte sie sich in Brennnesseln gewälzt.

Mrs Noyes trank aus ihrem Krug und korkte ihn wieder zu.

»Soll ich dir den Rücken kraulen?«

Mottyl sprang hinunter und sofort Mrs Noyes auf den Schoß.

»Schau dir nur all die Sterne an!«, sagte Mrs Noyes. »Dabei ist die Sonne kaum hinter dem Berg… Als Nächstes scheint mittags schon der Mond!«

Der Himmel hatte eine blasse, durchsichtige Farbe – eher grün als blau – und der Dunst über den Tälern war lichtdurchtränkt. Durch diesen Dunst sah Mrs Noyes zu den Sternen auf. Nur…

Das waren doch keine Sterne. Unmöglich.

Oder aber sie waren tiefer gesunken als die Berge.

Mrs Noyes beugte sich nach vorn, die Hand auf Mottyls Schulter.

»Motty?«

Mottyl hatte die Augen geschlossen und war sehr zufrieden; unter den kraulenden Fingern schnurrte sie. Ihr einziger Gedanke war – hör jetzt nicht auf!

»Ich glaube tatsächlich«, sagte Mrs Noyes, »es kommen Feen auf unser Haus zu…«

Mottyl schlug die Augen auf.

Mrs Noyes sagte: »Runter jetzt! Ich stehe auf.«

Mottyl fiel fast auf die Veranda, als Mrs Noyes sich auf die Füße hievte und zum Geländer taumelte; sie war betrunkener, als sie dachte.

»Schau sie an! Mottyl! Schau!«

Mottyl sprang wieder auf das Geländer und schielte durch die doppelte Dämmerung ihrer trüben Augen und des Abendlichts. Gewiss, da war etwas, das aussah wie Sterne – aber kleiner – und es bewegte sich. Möglich, dass es Feen waren. Natürlich hatte Mottyl schon welche gesehen, aber das war unten im Wald, wo sie hingehörten.

»Sind sie es?«, fragte Mrs Noyes. »Kannst du es erkennen?«

Mottyl konnte es nicht erkennen.

»Ach – wenn du doch nur sehen könntest«, sagte Mrs Noyes. »Wenn nur sonst jemand hier wäre. Noah glaubt mir nie, wenn ich ihm von den Feen erzähle – und da sind sie – gleich da!«

Mrs Noyes war so aufgeregt, dass sie spontan in den Hof hinauslief.

Nun war es ganz sicher: Die Lichter, die sie beobachteten, waren tatsächlich Feen, Mottyl konnte sie hören. Das Geräusch, das sie machten, war nicht zu verkennen.

Jetzt flitzten sie über den Rasen auf den Hof zu.

Mrs Noyes winkte mit ihrer Schürze – schwenkte ihren Krug und rief ihnen zu: »Geht, zeigt euch Noah! Bitte zeigt euch Noah!«

Doch vergebens.

Mottyl lehnte sich weit über das Geländer hinaus und schielte zum Himmel.

Ein regelrechter Schrei aus Lichtern glitt über ihren Kopf hinweg und über das Dach, mit einer Geschwindigkeit, die beide die Luft anhalten ließen.

»Oh mein…«, sagte Mrs Noyes – und dann mit kaum noch hörbarer Stimme: »Kommt zurück…«

Mottyl sprang auf die Erde und stellte sich mitten in den Hof neben Mrs Noyes; beide schauten zum Haus zurück, hinauf zu den Kaminen.

Die Störche klapperten – sie wurden offensichtlich gestört, als sie sich in ihren Nestern zur Nachtruhe begeben wollten. Jetzt stand jeder von ihnen auf seinem Kamin und drohte den Eindringlingen – die inzwischen verschwunden waren – mit dem Schnabel.

Gerade noch hatte Mrs Noyes gefragt: »Wo sind sie hin?«, als die Feen zurückstürmten – so schnell über das Dach und um die Kamine sausten, dass die Störche in die Luft schnappten. Noch nie hatte Mottyl erlebt, dass sie sich mit einer solchen Geschwindigkeit bewegten. Meistens waren sie ruhig und gelassen – außer es jagte sie jemand –, und instinktiv schaute sie um sich, um zu sehen, ob drüben auf dem Rasen sie vielleicht irgendetwas verfolgte.

Nichts.

»Vielleicht wollen sie uns etwas mitteilen«, sagte Mrs Noyes. »WOLLT IHR UNS ETWAS MITTEILEN?«, rief sie.

Doch die Feen rasten weiter um die Kamine, zuerst um den einen, dann um den andern.

»Was wollt ihr?«, fragte Mrs Noyes. »WAS WOLLT IHR?«

Die Feen schwebten – schimmernd – über dem Dach, Mrs Noyes, die Störche und Mottyl schauten nur zu. Und dann fingen sie an, ein Geräusch wie Bienen von sich zu geben – sie schimmerten immer heller, während das Summen immer lauter wurde. Wieder begannen die Störche zu klappern.

»Vielleicht hätte ich sie nicht anschreien sollen«, sagte Mrs Noyes. »Sie scheinen verärgert zu sein.«

Aber die Feen brummten nicht aus Ärger. Sie bereiteten sich lediglich auf ihr nächstes Manöver vor.

Höher und höher flogen sie hinauf und jetzt, da der Himmel etwas dunkler war, konnte man ihre Lichter besser erkennen. Einen Augenblick blieben sie wie eine Masse hängen – sehr hell – und man konnte ihre Stimmen ganz deutlich hören.

Schau!

Sogar Mottyl konnte sie mit ihrem guten Auge sehen.

Ganz langsam teilte sich die Lichtmasse – schien sich fast aufzulösen. Und dann bildete sie sich von neuem – in einer seltsamen Form, wie ein Knoten.

Wie unbewusst setzte Mrs Noyes – den Mund weit offen und den Blick immer noch fest auf die Form des Knotens in der Luft gerichtet – ihren Krug ab und führte die Hände zusammen, nahm Daumen und Zeigefinger und ahmte die Form nach – steckte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand wie ein Kettenglied durch den vom Daumen und Zeigefinger der linken Hand gebildeten Kreis. »Ja«, sagte sie. »Gut…« Sie merkte nicht einmal, dass sie sprach.

Jetzt löste sich die Figur erneut auf, nur um gleich wieder eine Masse zu bilden; das Lärmen der Feen ließ nach, bis Mottyl es nicht mehr hörte.

Noch einen Augenblick, dann bewegte sich die Lichtmasse vom Haus über den Hof auf den Rasen zu und danach, jenseits des Rasens, wieder durch den Dunst hindurch und zum Wald zurück.

Mrs Noyes blieb zurück, Zeigefinger und Daumen in Nachahmung der Knotenfigur noch zusammengesteckt, und plötzlich kam ihr die Luft kühl vor.

Sie zitterte.

»Mottyl? Hast du das gesehen?«

Aber Mottyl war weg.

Mrs Noyes sagte: »Verdammt! Das ist nicht fair. Jetzt wird mir keiner glauben.« Sie bückte sich und hob ihren Krug hoch, trank daraus und ging langsam zu der Veranda und ihrem Stuhl zurück – dabei sah sie zerstreut zum Himmel und stolperte fast über die Stufe.

Als sie wieder in ihrem Schaukelstuhl saß und ihren Krug im Arm wiegte, steckte sie Daumen und Zeigefinger erneut in Nachahmung des seltsamen Musters zusammen.

Welche Bedeutung mochte es haben? Sie würde Ham fragen müssen. Ihren Mann zu fragen, das wagte sie nicht einmal zu denken. Wenn Noah dann wissen wollte, warum sie das interessiere, würde sie ihm die Wahrheit sagen müssen. Sie könnte ihm kaum vormachen, das Muster im Staub vor ihren Füßen gesehen zu haben. Und wie immer, wenn es um Feen ging, würde die Wahrheit vom Tisch gewischt werden – mitsamt Hams sieben Sternen und den Mondphasen. Und wie immer würde man sie für eine Närrin halten.

Mottyl war durch den Hof gelaufen, über die niedrige Steinmauer und über die Rasenflächen gesprungen und befand sich jetzt auf ihrem Weg durch die Felder; sie lief den Berg hinunter, immer den Feen nach.

Auf der Wiese hatte jemand entbunden und ein paar Vögel waren da und fraßen den Mutterkuchen. Mottyl konnte die Nachgeburt riechen, konnte aber weder die Gestalt des Neugeborenen noch die seiner Mutter erkennen. Was da stand, konnte eine Kuh oder eine Hirschkuh sein, aber das Gras war so hoch und das Licht so schwach, dass nur die große Gestalt des Tieres und ein Paar flatternde Ohren da, wo das Neugeborene lag, sichtbar waren. Mottyl blieb stehen und wartete, bis sie die Tiere genau erkennen konnte. Nicht weil eine Kuh oder ein Hirsch Gefahr für sie bedeutete, sondern weil es sie einfach interessierte. Jedes Neugeborene interessierte sie. Vielleicht war sogar ein Stückchen Nachgeburt da, das ihr auch munden würde… Andererseits, bei all diesen Vögeln – die zum Teil, das erkannte sie, wenn sie sich gelegentlich über dem Festgelage in die Luft hochschwangen, sehr groß waren – wäre es vielleicht klüger, um das Ganze einen Bogen zu machen und auf einen möglichen Leckerbissen zu verzichten. Dennoch: Allein die Nachricht von dem Ereignis war eine »Handelsware«. Krähe zum Beispiel würde den Mutterkuchen genießen und könnte als Gegenleistung bestimmt mitteilen, wo aus dem Nest gefallene Jungvögel zu finden wären.

Mottyl wartete, die Nase nach vorn gestreckt, mit dem Kopf von einer Seite zur anderen wackelnd, um aus dem Lüftchen so viel lesen zu können, wie es preisgeben würde. Aber die Hitze über dem Boden war noch immer drückend und ein sehr schwacher Zug, der dort entstand, wo sie sich vom Gras emporhob, war die einzige Luftbewegung. Mottyl stellte sich wie ein Hase auf den Hinterbeinen auf, so dass sich ihr Kopf über dem Luftzug befand – doch jedes Aroma, das sie wahrnehmen konnte, kündete nur von der Wiese und vom Mutterkuchen, nicht vom Tier selbst. Nicht, dass es etwas ausmachte, wenn es eine einfache Kuh war, aber ein Wasserbüffel…

Sie stellte sich wieder auf alle viere und wandte sich nach links, wo, wie sie wusste, der Pfad eines Murmeltiers zum Waldrand hinunter führte. Sie war diesem Waldmurmeltier – Pfeifer hieß es – schon verschiedene Male begegnet und wusste, es war sehr alt und immer schlecht gelaunt; doch seine Geschichten – vorausgesetzt, man konnte es dazu überreden, sie zu erzählen – waren faszinierend.

Einmal – mitten im Sommer – hatte Pfeifer sie in seinen Bau eingeladen, als sie sich im Vorbeigehen über die Hitze beklagte. Aber noch bevor ihr Schwanz im Tunnel verschwunden war, musste Mottyl rückwärts wieder hinauskriechen. Unter der Erde war es einfach zu beängstigend. Ihren Gastgeber hatte sie damit beleidigt, er warf ihr vor, sie sei unhöflich und es fehle ihr an Mut. Schließlich sei es unter der Erde doch kühler als darüber, und Pfeifer hatte ihr nur Schutz vor der Sonne bieten wollen. Wenn der Geruch seines Baus ihr jedoch nicht behage…

»Aber nein«, hatte Mottyl protestiert. »Glaub mir! Es ist nur die Enge.« Und sie war am Eingang seines Baus sitzen geblieben, obwohl sie über die Mittagszeit in der Sonne förmlich gebraten wurde, nur um ihm zu zeigen, dass sie nicht gekränkt war, während er, in der feuchten Erde unter ihr liegend, ihr eine Menge Geschichten erzählte.

Damals hatte sie Pfeifer lieb gewonnen, denn die meisten seiner Geschichten erzählten davon, wie jemand Tieren und Dämonen entkommen war, die auch ihr Angst einflößten. Geschichten des Entkommens waren wie Devisen, jeder hortete sie. Auch sie waren tauschbare Ware, wie die Nachricht von einer Geburt, einem Todesfall oder einer Verletzung – der Handel beschränkte sich allerdings auf diejenigen, die gemeinsame Feinde hatten. Ein Entkommen auf vier Beinen war für einen Vogel bedeutungslos – wie ein Entkommen auf Flügeln für Mottyl oder Pfeifer nicht von Belang war. Nachdem sie Freunde geworden waren, hatte Pfeifer Mottyl nicht nur erlaubt, seine täglichen Pfade zu benutzen, sondern hatte ihr auch gezeigt, wo seine geheimen Wege waren – Pfade, die zu Brombeerdickichten und Mauerlöchern führten.

Später konnte Mottyl sich revanchieren, indem sie Pfeifer während der Dürre zum Teich in Noyes’ Hof führte, wo er seinen Durst löschen konnte. Die Aussicht, bis zum Fluss gehen zu müssen, hatte ihm Sorge bereitet, denn durch die Dürre war er krank und schwach geworden. Er hatte zwar erst recht ungehalten reagiert und geklagt, Mottyl würde ihn direkt zu seinem Verhängnis führen, ins Maul der Japeth’schen Wolfsdämonen. Aber schließlich konnte sie ihn doch überreden, mit auf den Berg zu steigen, indem sie sagte: »Der einzige Dämon, den es hier gibt, ist Doktor Noyes.«

 

 

Mottyl stand auf. Es war ein so schöner Abend – ganz still, der Himmel hoch und klar, die Luft duftete nach Äpfeln, aber auch nach Gras und Bäumen und Geburt. Jetzt war sicher, dass es eine Kuh gewesen war. Und nun, wo die Sonne wirklich weg und die Nacht im Anzug war, verströmte auch die Erde selbst dunklere Düfte, den Geruch von Würmern und von den Nachtgeschöpfen, die aus der Tiefe des Bodens nach oben kamen.

Nachdem auch die Kuh vom Mutterkuchen gefressen hatte, zog sie mit ihrem Kalb zum Waldrand, wo es für das Kleine wärmer war. Ein Stachelschwein eilte am Zaun entlang und hoffte, nicht gesehen zu werden, während die Habichte, die sich an der Nachgeburt gütlich getan hatten, von den Raben abgelöst wurden. Die Wiese wechselte langsam die Besitzer, während Mottyl sich durch die Dunkelheit zum Wald aufmachte.

Am Waldrand, da, wo der Zaun durch abgebrochene Äste beschädigt worden war, befanden sich Katzenminze- und Kamillenhaine. Mottyl konnte nicht widerstehen, sie hielt inne und naschte. Ihre Hinterfüße pflanzte sie in die Kamille und reckte sich hoch, um die jüngeren Blätter und Blüten der Katzenminze zu erreichen – sie drückte das Kinn an die Zaunbretter und presste die Blätter so, dass ihre Säfte flossen. Allmählich füllte sich die Luft mit dem angenehmsten Duft, den sie sich vorstellen konnte. Lange, flackernde Empfindungen prallten gegen ihre Nervenenden und zum ersten Mal seit Tagen war es ihr ganz gleichgültig, dass sie läufig war.

Manchmal verbrachte Mottyl eine halbe Stunde oder gar eine ganze Stunde bei den Katzenminzehainen und war danach fast so berauscht wie Mrs Noyes. Aber jetzt durfte ihr das nicht passieren. Denn sie wollte das Gemurmel des Waldes hören, Nachrichten über ihre Bekannten herausfiltern. Wussten sie von Jahwes bevorstehendem Besuch? Und wenn ja, wie reagierten sie darauf?

 

 

Am Waldboden gingen die Toten um; so glaubten zumindest manche Tiere, ohne aber etwas Morbides damit zu verbinden. Es war vielmehr ein Zeichen von Verehrung, Ehrfurcht. Einige Teile des Waldes waren heilig; andere Teile galten als heimtückisch. Manche heilige Stelle diente als Zuflucht, wo ein krankes oder verletztes Tier sich sicher fühlen konnte, auch wenn völlige Sicherheit nirgends garantiert war. Nur ein Narr könnte so etwas glauben. Doch die Zufluchtsorte boten mehr Sicherheit als andere Plätze und waren bekanntlich Drachen ein Gräuel. Was an den Pilzen lag, die dort wuchsen, deren Geruch – obwohl für alle anderen recht angenehm – bei Drachen so heftigen Brechreiz und so schreckliche Kopfschmerzen verursachte, dass sie sich kaum noch rühren konnten. Möglich war allerdings auch, dass die Pilze bei verletzten Tieren, die sich dort verkrochen, eine heilende Wirkung hatten. Gebrochene Gliedmaßen, gerissenes Fleisch und auf andere Weise nicht zu stillende Blutungen waren bekanntlich alle an einem Zufluchtsort geheilt worden, während andere Tiere – deren Wunden viel weniger gefährlich waren – vor ihrer Türschwelle verendeten. Mit der Zeit also betrachtete man die Pilze aus welchem Grund auch immer als die Geister der Toten, deren Knochen durch die Blätter hindurch- und in die Erde eingedrungen waren.

Die heimtückischen Teile des Waldes waren viel zahlreicher als die Zufluchtsstätten; Sümpfe, Treibsand und Gruben – Stellen mit Brennnesseln und Hornissennestern – plötzlich auftauchende Flächen mit rasiermesserscharfen Steinen und Spalten, die sich unversehens unter den Füßen auftaten und die Ballen mit rot glühenden Kohlen verbrannten. Am allerschlimmsten aber waren die Drachensuhlen. Manchmal vergruben sich die Drachen darin und ließen nur Augen und Schnauze hervorstehen, die beide derart mit roter Erdfarbe beschmiert waren, dass man sie überhaupt nicht wahrnahm. Drachen konnten so ewig auf der Lauer liegen und sogar die allerschnellsten Tiere – Lemuren und Affen – waren ihnen auf diese Weise in die Falle gegangen; sie hatten sich einfach in etwas verirrt, was sie für eine leere und harmlose Suhle hielten.

Mottyl hatte nicht mehr Feinde als andere Tiere, auch wenn es welche gab, die noch weniger aufweisen konnten. Wie jedes Wesen hatte sie eine gesunde Angst vor Drachen und Dämonen. Und jeder, dessen Kot nach Fleisch roch oder dessen Stimme ein Bellen oder Japsen war oder dessen Flügelweite einen größeren Schatten warf als ihr eigener – war ein Feind. Doch Feinde gehörten zur Natur und man musste sich auf ihre Existenz einstellen. Ging man zum Beispiel in den Wald, war man automatisch doppelt aufmerksam – ebenso wie beim Betreten eines offenen Feldes oder eines Zimmers, in dem Doktor Noyes sich aufhielt. Im letztgenannten Fall könnte man – wie bei Drachen und Dämonen – sagen, dass man die Aufmerksamkeit sogar verdreifachte.

In dieser Nacht – in der Mottyl die Feen oben beim Haus schon gesehen hatte – erblickte sie diese ein zweites Mal, als sie den Wald betrat. Sie glitten zwischen den Bäumen hindurch – verspeisten vielleicht Mücken und andere Insekten –, und ihre Lichter leuchteten sehr hell. Zu ihren Feinden gehörten Fledermäuse und Spinnweben. Eine Spinne bedeutete für die Feen den sofortigen Tod, sie erstickten in ihren Netzen.

Mottyl fragte sich, warum die Feen so hektisch waren. Meistens waren sie viel gelassener, geradezu phlegmatisch – oft konnte man ganze Gruppen von ihnen sehen, die sich mit gedämpften Lichtern und verhaltenen Stimmen friedlich ausruhten. Aber nicht heute. Heute waren sie überall.

Man hielt die Lemuren für die Wächter des Waldes – und keiner passierte die Zäune, ganz gleich in welche Richtung, ohne von den Lemuren in ihren Bäumen genau inspiziert zu werden. Wenn man den Wald betrat beziehungsweise verließ, waren sie entweder still oder attackierten einen mit ihren Schreien. Wenn Mottyl kam, verhielten die Lemuren sich ruhig, nur ein oder zwei grüßten sie und manchmal fand – je nachdem, welche Signale Mottyl aussandte – eine scherzhafte Neckerei oder eine Verfolgungsjagd statt. Aber nur bei Tag. Bei Nacht wurde jeder, der den Wald betrat, mit äußerster Vorsicht und Ernsthaftigkeit begrüßt. Niemand machte jemals Witze oder ging Risiken ein, wenn es ringsherum finster war.

Der Lemur, der sie heute vorbeiließ, war ein Ringelschwanzkatta namens Bip. Mottyl kannte Bip schon so lange er lebte und konnte sich noch an seine Mutter erinnern. Bip war jetzt etwa sechs Jahre alt. Er saß auf dem untersten Ast einer Pappel, den Schwanz um den Ast daneben gewickelt. Er sprang herunter, beschnupperte Mottyl vorn und hinten gründlich und zuckte dabei behutsam mit seiner spitzen Schnauze.

»Du bist läufig.«

»Vielen Dank für die Information.«

»Allerdings noch nicht ganz, wenn ich das so sagen darf.«

»Du darfst. Es stimmt. Ich habe es erst seit zwei oder drei Tagen – und finde es sehr lästig.«

»Es ist nicht die allerbeste Zeit dafür. Ich bin froh, dass Ringer nicht läufig ist.« (Ringer war Bips Weibchen.) »Irgendetwas stimmt hier nicht in der Gegend. Hast du es auch schon gespürt?«

»Ja. Man merkt es auch bei den Menschen. Sie sind sehr nervös und angespannt. Hast du von Japeth gehört?«

Ja, Bip hatte es gehört. Die Wölfe hatten davon geheult. »Und er ist blau?«

»Ja. Und die Feen benehmen sich so seltsam.« Mottyl erzählte ihm, wie sie hinaufgekommen und ums Haus geflogen waren.

Bip war nicht überrascht. Die Feen hatten sich im Wald auch so eigenartig verhalten: Sie waren zum Beispiel zu nahe herangeflogen – waren mit Vögeln zusammengestoßen – hätten Bip fast von seinem Ast hinuntergeschubst.

»Wer hält sich denn in den Zufluchtsstätten auf?«, wollte Mottyl wissen.

»In einer ist ein Bär. Keiner von den unseren. Ein Bär aus dem Forst. Er ist mit einem gebrochenen Bein über den Fluss gekommen. In einer anderen sind ein paar Hirsche und einige Mäuse und das war’s. Das Übliche. Aber da ist noch was anderes…«

Mottyl sah Bip an, dass er sich Sorgen machte.

Bip zupfte einen Floh von seinem Bauch und verspeiste ihn. »Es ist ein… Wesen.« Er schaute über Mottyls Kopf hinweg.

»Ein Geist, meinst du?«

»Nein. Kein Geist. Eher ein…«

»Hallo!«

Mottyls Herz blieb vor Schreck beinahe stehen – aber es war nur Ringer, die sich durch die Äste auf sie zuschwang. Als sie bei ihnen war, sprang sie neben Bip.

»Wo bist du gewesen?«, wollte Bip wissen – und fing sofort an, ihre Pfoten zu untersuchen und ihre Flanken zu beschnüffeln.

Ringer erzählte, wie sie auf die andere Seite des Waldes gegangen war. »Ich wollte wissen, ob dort jemand etwas mehr über das neue Wesen weiß…«

»Wir haben gerade angefangen, darüber zu reden«, erklärte Bip.

»Hat Mottyl etwas dazu gehört?«

»Nein.« Mottyl hatte sich entschieden, Jahwes Besuch nicht zu erwähnen. Die Gegenwart dieses anderen Wesens war zu faszinierend.

Bip hakte bei Ringer weiter nach. »Auf der anderen Seite des Waldes. Hat jemand dir etwas gesagt?«

»Nichts, was wir nicht schon selber wüssten. Mehr über Federn. Mehr über Ham.«

»Ham?« Jetzt spitzte Mottyl die Ohren.

Ringer erklärte, dass Ham heute im Wald gewesen war. »Das Übliche. Hat auf der Suche nach Insekten Baumstämme umgedreht, ist in Bäume geklettert, um in Nester reinzugucken. Der steckt die Nase überall hinein. Er scheint auch verletzt zu sein. Riecht nach Blut – linker Arm.«

Mottyl berichtete, wie Ham sich während der Opferzeremonie geschnitten hatte. »Erzählt mir mehr über dieses Wesen!«, bat sie.

Doch weder Bip noch Ringer antwortete. Mottyl wartete. Vielleicht wollten sie sich nicht festlegen. Unbegründete Gerüchte galten – wenn man Lemur und daher Waldwächter war – als unverantwortlich. Als gefährlich.

Schließlich wurde Mottyl ungeduldig. »Na?«

Bip hüpfte wieder auf seinen Ast in der Pappel und kaute an einem Blatt. »Erzähl es bitte niemandem – aber…« Er lehnte sich hinüber, den Kopf nach unten, so dass sein Gesicht dem Mottyls sehr nahe war. Mottyl konnte das Blatt in seinem Mund riechen; kein unangenehmer Geruch, aber ihrem Gaumen fremd. »Hast du schon einmal einen Engel gesehen?«

»Natürlich.« Mottyl war fast empört. »Die Engelin, die sich immer im Obstgarten herumtrieb. Manchmal hockte sie auf dem Tor – manchmal in den Bäumen und aß Äpfel. Hat ein Schwert getragen, aber nie benutzt.«

»Nein. Ich meine nicht diese Art Engel…«

»Gibt es noch andere Arten?«

»Ja, ich glaube, vielleicht.«

Bip hielt die Luft an und schaukelte hin und her – dann sprang er hinunter und nahm zwischen Mottyl und Ringer Platz.

Er war unschlüssig, das war eindeutig. »Vielleicht täusche ich mich ja, aber – ich glaube, es gibt auch böse Engel. So wie es böse Tiere gibt.«

»Der Geruch ist anders«, ergänzte Ringer.

»Anders – und auch wieder gleich«, sagte Bip.

Zitronenstrauch – das war gleich. Und Weihrauch – das war gleich. Doch offensichtlich gab es noch einen weiteren Geruch, und Ringer tat sich schwer ihn zu erklären. Sie nannte ihn »beunruhigend«, »schrecklich«, wie…

Bip krümmte sich: »Faule Eier.«

Ringer sah ihn an. »Ja. Faule Eier. Und…«

»Schlammquellen…«

»Die Schlammquellen unten in den Auen… die immer blubbern und brodeln!«

Mottyl war erschrocken und gleichzeitig fasziniert. »Ihr sagt mir, es gibt hier im Wald etwas, das nach all dem riecht – und ihr haltet es für einen Engel?«

»Ja. Und ich frage mich, ob du nicht oben beim Haus auch etwas gesehen hast.«

»Nur die Feen.«

»Na siehst du. Du hast uns gesagt, dass sie versucht haben, euch etwas mitzuteilen.«

Ja. Aber über einen Engel?

 

 

Am nächsten Morgen ging Noah hinaus und spazierte die Straße entlang. Es war noch ziemlich früh – die Luft war voller Vogelgesang, überall lag noch Tau. Der Staub am Saum seiner Robe war durch die Feuchtigkeit schwer geworden und der alte Mann bewegte sich langsam auf die Straßenkreuzung zu, wo Jahwe zuerst erscheinen würde.

Gegen Norden konnte er die Rauchfahnen sehen, die auf die Städte hindeuteten. Jeden Tag änderten die Fahnen ihre Farbe. In der Vergangenheit, als die Menschen Jahwe noch angebetet hatten, war der Rauch wabernd und grau gewesen und die Feuer wurden nur zu bestimmten, den Riten vorbehaltenen Zeiten angezündet – zu den festen Gebetszeiten, zu den Stunden, die dem Opfer geweiht waren. Das alles schien erst einen Augenblick her zu sein – so lange wie Noahs Jugend, obgleich dieser inzwischen mehr als sechshundert Jahre zählte.

Er konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie in früherer Zeit die Andacht begangen wurde: Die Väter und die Ältesten, die Rabbiner und die Gelehrten – so wie er selber –, jeder hatte dabei seinen festen Platz und seine bestimmte Aufgabe. Und die Mutterschafe wurden zum Bittstand vorgeführt, um der Tötung ihres Lammes beizuwohnen; jedem Schaf wurde ein Augenblick des symbolischen Flehens zugunsten seines Kindes eingeräumt. Obwohl natürlich niemals zur Debatte stand, dass ein Lamm verschont würde, war dennoch interessant zu hören, wie die Schafe ihren Fall vortrugen; einige waren sehr wortgewandt. Und ehrlich.

Und die Altäre, die Tücher und Gefäße – alle Altäre waren aus dem edelsten, härtesten Holz geschnitzt und sämtliche Tücher bestickt – jedes mit dem Emblem der Familie, der es gehörte – jedes mit Monogramm – die angesehenen Familien wetteiferten um das feinste Tuch und die feinste Stickerei – die Frauen hatten sie beim Licht der Lampen genäht – und dann der Geruch des Leinenzwirns und des Baumwollgewebes. Heutzutage dagegen! Diese nichtsnutzige Emma konnte nicht einmal eine Nadel führen! Und jetzt – diese jüngste Pilgerreise Jahwes, mit seinem ganzen Gefolge… gewiss würde die Gottesfurcht die Frauen wieder auf ihren Platz verweisen. Und die jungen Leute würden sich wieder dem göttlichen Zorn beugen, so wie er es getan hatte – wie alle jungen Leute es in Noahs Jugend getan hatten.

Er schloss die Augen. Aber ach… die Gefäße! Silberne Schüsseln, kupferne Schüsseln, zu Sonnen und Monden gehämmert – wahre Höhepunkte handwerklichen Könnens. Die Pracht und die Freuden des Gottesdienstes: wechselseitige Zustimmung und Gemeinschaft und der wunderbare Tumult der Erwartung, der erst verstummte, wenn das Lamm erschien, das mit gefesselten Füßen nach vorne getragen und vor den Gesalbten und Auserwählten Jahwes aufrecht und mit unverbundenen Augen hingestellt wurde – was immer in der Hitze des Mittags geschah – und das Blöken und Stöhnen und die Ekstase des Gebetes. Mit weit geöffneten Augen und großer Konzentration lehnte sich jeder der Ministranten und jeder der Väter, jeder der Ältesten, jeder der Rabbiner, jeder der Gelehrten mit seinem Gefäß nach vorne, jeder lehnte sich nach vorne und schwang das heilige Tuch – das erste Blut wurde immer in jenen zehn begnadeten Sekunden, während das Lamm noch stand, im goldenen Kelch aufgefangen – lebendig und tot zugleich –, dann stolperte es, brach zusammen, fiel hin und sein Blut floss auf den Altar und strömte in die nach vorn gehaltenen Schüsseln. Und dann wurde die feierliche Hymne gesungen, die jetzt vergessen war – alle Knaben und Frauen hüben an zu singen:

 

Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis.

Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem.

 

Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt, erbarme dich unser.

Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt,
gib uns den Frieden.

 

Und zum Schluss trank jeder der Väter, jeder der Ältesten, jeder der Rabbiner, jeder der Gelehrten aus dem goldenen Kelch das erste Blut des erstgeborenen Lamms am ersten Tag des Festes…

Doch heutzutage konnten die Söhne des Vaters nicht einmal mehr das Messer führen – und die ganze Opferung war nur noch eine Farce.

Die modernen Feste waren endlos – ohne Konturen – zogen sich ewig hin, so dass keiner wusste, wo das eine aufhörte und das nächste anfing. Und was sich dabei abspielte, war abscheulich: eine Verschandelung der menschlichen Würde… Frauen wurden auf die Altäre geworfen und vor den Augen Baals geschändet (bereitwillig, wie manche behaupteten). Einige sogar mehrmals… Nein, es war unvorstellbar. Wie die Riten des Baal selbst, dessen Verkörperung der Stier war – die auserwählte Frau wurde von ihm bestiegen! Von einem Stier bestiegen! Es war ungeheuerlich! Ungeheuerlich! Und am allerschlimmsten waren die Männer, die den Phalluskult praktizierten und vor den Priestern des Baal auf die Knie fielen… nein, das war einfach unvorstellbar.

Der Gedanke an all dies und die überwältigende Aussicht auf die Ankunft Jahwes machte Noah schwach und er merkte, dass er sich eine Weile auf den grasbewachsenen Straßenrand setzen musste.

Während er da in der Sonne saß, ging er alle Einzelheiten seiner Vorbereitungen auf die Ankunft des Herrn noch einmal durch. Der große Pavillon am Rand des Rasens; das Festmahl, das Mrs Noyes mit so viel unnötigem Getue zubereitet hatte; das auf Hochglanz polierte Silberbecken, worin er Gottes Füße waschen würde; die Anweisungen an seine Söhne und Schwiegertöchter; und zuletzt die Chöre der Widder und der Mutterschafe, die von Mrs Noyes einstudiert wurden, sowie die Opferlämmer, die auf die Schlachtung vorbereitet wurden. Das Problem war, dass – abgesehen von den Anfällen von Wut und Niedergeschlagenheit in Jahwes Brief – Noah nicht sicher wusste, warum Jahwe ihn aufsuchen wollte. Gewiss reichte es – nicht einmal für Gott – nicht einfach nur zu sagen: WIR SIND MASSLOS WÜTEND… WIR SIND VOR ENTSETZEN SPRACHLOS… UNSER HERZ IST GEBROCHEN UND WIR WEINEN VOR KUMMER… ohne irgendeine Erklärung zu geben. Und dann, was bedeutete jener äußerst rätselhafte, äußerst beunruhigende Satz: WAS HABEN WIR GETAN, DASS DER MENSCH UNS SO BEHANDELT?…

»Laudamus te, benedicimus te, adoramus te…«

So sangen die Schafe auf der Wiese.

»Wir loben dich, wir preisen dich, wir beten dich an…«

Worte, die Jahwe mit Sicherheit aufmuntern würden, dachte Noah – und er blickte zum Himmel hinauf, weil er einen Schatten gespürt hatte…

Ach du meine Güte.

Noch eine Taube.

Schon wieder eine Katastrophe.

 

 

Als Mottyl aufwachte, hatte die Hitze ihren Höhepunkt erreicht. Ihre Flüsterstimmen waren schon seit einer Weile wach und sie hatten ziemlich schlechte Laune.

Dein anderes Auge wird auch erblinden, wenn du so in der prallen Sonne herumliegst.

Tut mir Leid. Als ich eingeschlafen bin, war die Sonne da drüben.

Na, steh auf!

Mottyl rappelte sich auf. Eigentlich hatte sie keine Lust dazu, denn ihr war klar, dass sie, sobald sie wieder ganz wach war, der vollen Misslichkeit ihrer Lage ausgeliefert sein würde.

Ich rieche eine Maus.

Achte nicht darauf! Los, rühr dich!

Ich fühle mich nicht wohl.

Klage nicht über deinen Zustand! Über die Wirklichkeit zu klagen ist ein Zeichen für Unreife. Vergiss nicht: Du bist zwanzig Jahre alt und völlig in der Lage, mit dieser Situation fertig zu werden. Ob du uns jetzt wohl in den Schatten bringst?

Mit Hilfe der einen, absolut identifizierbaren Landmarke – des Zaunes – berechnete Mottyl ihre Position; beim Weitergehen machte sie einen Umweg, um einem mürrischen Gürteltier auszuweichen.

Es war jetzt später Nachmittag – eine gefährliche Zeit, da viele Tiere dösten oder schliefen, auf deren Warnrufe man sich sonst verlassen konnte, um die Position der Feinde zu verfolgen. Bip und Ringer lagen flach ausgestreckt auf dem Ast einer Pappel; beide ließen alle viere hängen, nur der Schwanz schützte sie vor dem Hinunterfallen. Mottyl konnte sie da oben auf ihren Bäumen nicht sehen, doch als sie vorbeiging, fing sie einen Hauch von Bips Markierungen am Stamm der Pappel auf.

Dass sie den Wald betrat, ohne aufgehalten zu werden, stimmte Mottyl nervös und bevor sie weiterging, wollte sie kurz anhalten. Deswegen kletterte sie auf einen umgestürzten und ganz verfaulten alten Baum – wo sie sich ausstreckte, um die markanten Gerüche um sich herum aufzunehmen und etwaige Bewegungen zu beobachten. Der Wald war hier noch nicht sehr dicht, und so konnte sie das gesprenkelte Licht zum Teil wahrnehmen – und damit auch einen Teil der Schattenformen und das, was sie darstellten: die größeren Bäume, die Tiefen des Unterholzes, die hockende Gestalt eines schlafenden Kormorans, die sich gegen den Himmel abzeichnete.

Was hatte ein Kormoran im Wald zu suchen, so weit vom Fluss entfernt? Vielleicht war all das ja nur ein weiteres Zeichen, dass alles nicht so war, wie es sein sollte. Ausgehend von dem Gerücht von einem bösen Engel im Wald begann Mottyl sich zu fragen, worauf sie wohl als Nächstes stoßen würde.

Andererseits, wenn sogar ein ganzer Trupp Fische aus dem Teich gestiegen und hierher gezappelt war – warum sollte dann kein Kormoran hier sein?

Der allerdings war verschwunden, bevor Mottyl die Frage hatte zu Ende denken können.

 

 

Die Stille war so entnervend, dass Mottyl keine Lust hatte, sich zu rühren. Ihre Flüsterstimmen waren zufrieden – der verfaulte Baum war kühl und sogar die Ameisen und Molche in ihm verhielten sich ruhig. Es wäre angenehm gewesen, weiter in dem wohltuenden, durchschimmernden Licht liegen zu bleiben – aber es durfte nicht sein. Eine läufige Katze ist eine laufende Katze, hieß die Regel, also stand Mottyl auf und ging weiter – stürzte vom Baum in das dichte grüne Gestrüpp der Farne und Zahnwurz.

 

 

»Wer ist da?«, rief sie zwei Minuten später, als sie in eine Lichtung tappte, die sich unvermutet vor ihr öffnete.

»Mottyl?«

Es war das Einhorn. Seine Stimme – bloß ein heiseres Flüstern – war fast so eigentümlich wie seine Gestalt.

Eine Begegnung mit dem Einhorn war so selten, dass es immer eine angenehme Überraschung darstellte, was Mottyl auch aussprach.

»Eine angenehme Überraschung auch für mich«, gab das Einhorn zurück. »Und du bist also läufig…«

»Ja. Aber ich will nicht darüber reden.«

»Kopf hoch, Mottyl! Je früher es anfängt – desto früher ist’s auch wieder vorbei. Oder?« Und gab dann selbst die Antwort. »Ja.«

Das Einhorn war nicht viel größer als Mottyl. Seine nervöse Angewohnheit, mit sich selber zu reden, war allgemein bekannt – und manchmal konnte man es hören, aber nicht sehen, während es im Gestrüpp äste. Junge und unerfahrene Tiere meinten oft einen Geist oder ein Gespenst zu hören, und erzählten das ihren Eltern – die sie auslachten. »Es ist nur das Einhorn.«

Was die Größe betrifft, maß das Einhorn am höchsten Punkt seines Horns nicht mehr als vierzig Zentimeter – und vom Schwanz bis zur Hornspitze waren es dreiundvierzig, vielleicht auch fünfundvierzig Zentimeter. Wovon das Horn gut fünfzehn Zentimeter ausmachte – und sehr oft war der einzige sichtbare Teil des Tieres seine bernsteinfarbene Zierde, die eine Bahn durch das Gestrüpp schnitt.

Mottyl wollte wissen, warum es im Wald so still war. Beängstigend still…

»Es hat einen Todesfall gegeben«, berichtete das Einhorn. »Leider, leider. Bello, euer Hund. Umgebracht, wir wissen weder wie, noch von wem. Furchtbar…«

»Oh.« Es tat Mottyl sehr Leid, das zu erfahren – nicht, weil sie Bello gemocht hätte, sondern wegen der Unruhe, die das zu Hause verursachen würde. Emma würde tagelang weinen und Türen zuschlagen. »Und kein Hinweis darauf, wie es passiert ist?«

»Nichts.«

»Er war verschwunden«, sagte Mottyl, »wir wussten, dass er fort ist – aber nicht, dass er tot ist. Die arme Emma.«

»Emma?«

»Er gehörte Emma. Japeths Frau.«

»Ach ja.« Das Einhorn schwieg einen Augenblick und dann flüsterte es, mit einem Blick über die Schulter: »Ich habe hier geäst. Mich sehr unsicher gefühlt. Es treibt sich ein Wesen herum, weißt du.«

»Ja. Ich weiß.«

»Es kann ja sein, dass das Wesen ihn umgebracht hat. Es hat das Leben sehr schwer erträglich gemacht. Wir kommen sowieso so wenig rum… Die Dame rührt sich nicht vom Fleck… Ich muss dieses ganze entsetzliche Dickicht durchstöbern – was ich hasse – und versuchen Blumen zu finden, weil man sich natürlich, wenn so ein Wesen sein Unwesen treibt, unmöglich zum Waldrand oder zur Waldmitte hinwagen kann, wo die großen Lichtungen sind. Ich fühle mich ganz furchtbar, was deinen Freund betrifft. Bist du traurig?«

»Nicht traurig – um ehrlich zu sein. Ich fürchte, er hieß nicht umsonst Bello. Er hat viel Lärm gemacht. Aber – den Tod hätte ich ihm nicht gewünscht.«

»Nein. Nein. Nun ja. Ich muss weiter – hier werde ich viel zu nervös. Wenn du willst – komm doch mit mir! Ich könnte deine Gesellschaft gut gebrauchen, weißt du. Ich nehme nur diese Akelei für die Dame mit. Wenn du möchtest, kann ich dir unterwegs die Stelle zeigen, wo der Hund liegt.«

Das Einhorn biss eine Akeleipflanze ganz unten am Stiel ab und ging los; wie eine Fahne hielt es die Blume im Maul und kämpfte sich durch das Gestrüpp. Mottyl folgte ihm.

 

 

Mottyl kannte das Einhorn und die Dame schon ziemlich lange – allerdings nicht so lang, wie diese schon im Wald lebten. Man bekam sie nur sehr selten zu sehen und sie grüßten so gut wie überhaupt nicht, bis sie eine Person näher kannten. Ohne es zu ahnen, war Mottyl, bevor es zu einer wirklichen Begegnung kam, dem Einhorn schon viele Male über den Weg gelaufen. Die Dame war noch scheuer. Nichts, was sich bewegte, entkam dem Blick der beiden. Da fast alles und jeder für sie ein Feind sein könnte, machten sie bei anderen Tieren immer erst nach vielen Wochen erste Annäherungsversuche, manchmal vergingen sogar Monate, bevor sie sich dazu bereit fanden.

Für einige Tiere wie die Gänse, die Hennen und den Pfau, die nie im Wald gewesen waren, stellten das Einhorn und die Dame nur eine Idee dar – Geschöpfe, deren ganze Existenz von anderen nur erzählt und ausgeschmückt wurde. Sogar Tiere wie die Schafe, Rinder und Pferde, deren Alltag sie bis zum Fuß des Berges führte, konnten nicht behaupten, die beiden öfter als einmal im Leben gesehen zu haben.

Folglich hatten sich um den Einhorn-Herrn und die Dame Legenden gebildet – in denen zum Beispiel behauptet wurde, er sei aus Silber und sie aus Gold – oder dass alle beide aus Glas seien und man durch sie hindurchschauen könne wie durch die Fenster in Doktor Noyes’ Haus. Ihre Hufabdrücke auf der Erde zu finden galt als glückbringendes Ereignis – und falls sich darin Wasser gesammelt hatte, so sollte man es trinken, weil es der Gesundheit zuträglich war. Die Einhörner ernährten sich fast ausschließlich von Blumen, so hieß es, und noch weitere Legenden waren, was ihre Futterplätze anging, entstanden. Plätze, wo Akelei und wilde Schwertlilien wuchsen, wurden fast wie heilige Orte verehrt, den Zufluchtsstätten vergleichbar. »Lasst sie stehen fürs Einhorn!«, war zu einem von allen akzeptierten Gesetz geworden, wenn man auf die selteneren Arten der Lilie und der Mimose stieß.

Niemand wusste, wo sie lebten, und niemand hatte jemals ihre Jungen gesehen; bekannt war allerdings, dass sie jedes Mal haargenau zwei bekamen.

Wenn Mottyl den Einhorn-Herrn längere Zeit nicht gesehen hatte und sie sich sehr konzentrieren musste, um sich sein Bild vor Augen zu holen, stellte sie sich einfach eine Zwergziege vor. Gewiss, er war ziegenartig an Gestalt und an Farbe, doch das Einhorn, das Mottyl kannte, war weiß – und die Dame grau.

Als sie zum Stumpf eines weiteren umgestürzten Baums kamen, sagte das Einhorn zu Mottyl: »Ich fürchte, hier muss ich dich verlassen. Dein Freund ist da drüben – du hast es sicher schon bemerkt. Seit mehr als einem Tag jetzt tot…«

Das arme Einhorn war so nervös, dass es die Akelei fallen ließ, und beim Versuch, sie wieder aufzuheben, darauf trat und dabei einen Teil der kostbaren Säfte herausdrückte.

»Manchmal«, seufzte es mit seinem eigenartig freudlosen Lachen, »wünschte ich mir, wir würden Bäume fressen. Es gibt so viel mehr davon als Blumen.«

Mottyl setzte sich hin und wartete, während das Einhorn die Akelei wieder auflas; sie wusste, wenn sie es allein ließ, könnte es vielleicht der Schlag treffen aus lauter Enttäuschung, nicht gleichzeitig die Blume aufheben und nach Feinden in den Bäumen Ausschau halten zu können. Ihre Gegenwart – auch wenn sie auf einem Auge blind war – könnte in den Augen des Einhorns zumindest die in seiner Vorstellung immer anwesenden, immer lauernden Jäger abhalten.

»Auf Wiedersehen, Mottyl, Freundin«, brachte es endlich im Flüsterton heraus, die Akelei zwischen den Zähnen. »Ich werde – wir werden – hoffentlich werden wir uns alle wieder treffen… bald. Bald…«

Und weg war es.

Mottyl hörte das Rascheln der Farne, durch die das Einhorn seinen Rückzug antrat, und dachte, wie seltsam und traurig es war, dass ein Geschöpf, das so wenig Grund hatte, ängstlich zu sein, so unendlich viel Angst hatte. Das Einhorn war wie die Spatzen, die sie im winterlichen Hof beobachtet hatte, als ihr Augenlicht noch unversehrt und Doktor Noyes lediglich ein Anhang ihres Frauchens war. Die Spatzen suchten ihr Futter immer mit einem Auge zum Himmel und dem anderen zu Boden gerichtet – sie verrenkten sich dabei, verrenkten sich – waren niemals ruhig – Kopf rauf, Kopf runter –, so dass jede Futtersuche zum Alptraum geriet. Und Mottyl hinter ihrem Fenster – unfähig, sich zu beherrschen – warf sich gegen das Glas: der Feind der Spatzen war sie! Doch das Einhorn hatte gar keine Feinde. Zumindest keine, von denen sie wusste. Das Einhorn und die Dame wurden weit und breit geachtet. Trotzdem, wer konnte es wissen? Hatten die Spatzen nicht gewusst, dass Mottyl hinter jenem Fenster saß? Sicher. Denn sie waren ihr ganzes Leben lang von »Fenstern« umgeben, befanden sich in einem endlosen Traum von splitterndem Glas.

Mottyl wusste, so musste es sein, ganz einfach, weil die Gestalt von Doktor Noyes hinter einem Fenster, das nur sie erkannte, auf sie geharrt hatte. Daher hatte ihr Freund, das Einhorn, wahrscheinlich Recht. Nur das Einhorn wusste – wie Mottyl und die Spatzen –, wo sich die für es selbst bedrohlichen Fenster befanden. Und seine Flüsterstimmen riefen ihm den Feind immer ins Gedächtnis.

 

In der Tat. In der Tat. Fürchte dich mehr!

 

Mit seiner Bemerkung, dass Mottyl spüren könne, wo Bello zu finden war, meinte das Einhorn nicht den Geruch des Todes. Der Klang des Todes sollte sie vielmehr zu dem kleinen Hund führen. In den Wäldern und auf den Feldern war der Geruch des Todes allgegenwärtig, denn es gab immer irgendein totes Geschöpf, das gerade verweste.

Aber der Klang des Todes war einmalig. Er konnte sowohl schrecklich als auch erhaben sein – und er brachte dem Betroffenen eine Art der Anerkennung ein, die er zu Lebzeiten nicht genossen hatte.

Es war der Klang von – Fliegen.

Es war bekannt und Mottyl hatte es miterlebt, dass einige Tiere die Fliegenkrone erlangten, bevor der Tod ganz eingetreten war. Eine Tatsache, die irreführend sein konnte. Auch wenn der Tod auf diese Weise akzeptabel war, konnte man nicht behaupten, dass man ihn willkommen hieß. Der Tod war nie willkommen. Besser wäre zu sagen, er würde ertragen.

Manchmal, wenn die Fliegenkrone sich um seinen Kopf herum sammelte, war das betroffene – vielleicht verwundete – Tier nicht mehr fähig zu fliehen. In anderen Fällen sammelte sich die Krone so früh vor dem Tod, dass das Tier erschrak – wahnsinnig wurde und beim Fluchtversuch sich in die Erde eingrub, wo es erstickte oder sich in einen Teich stürzte, wo es ertrank, weil es nicht die Kraft hatte, sich über Wasser zu halten.

Die Fliegenkrone war für Mottyl etwas besonders Ergreifendes – und daher war ihre Ehrfurcht vor Bellos Krone groß. Zumal sie ein besonders kummervolles Erlebnis in ihr wachrief. Nachdem Doktor Noyes ihr alle anderen Kinder genommen hatte, war auch ihr letztes am Leben gebliebenes Kind gestorben. Krank geworden aufgrund der Experimente des Doktors, war es ihm trotzdem gelungen zu entkommen. In seiner Angst hatte es sich auf die Suche nach Mottyl gemacht, da es an ihrem Geruch noch sehr hing – das Kätzchen war erst zehn Wochen alt.

Aber es konnte seine Mutter nicht finden.

Sie war zu sehr damit beschäftigt, sich selbst vor Doktor Noyes zu verstecken.

Später am Abend fand sie das Kätzchen weit vom Haus entfernt an einer alten Steinmauer.

In der Haltung einer Sphinx lag es dort – in Trance versetzt – und von einer so riesigen Fliegenkrone umgeben, dass ihr Lärm ein ganzes Feld weiter zu hören war.

Dieser Klang sollte Mottyl nie wieder loslassen – und hier begegnete sie ihm wieder.

Bellos Krone umgab seinen Kopf und seine Schultern. Mottyl setzte sich hin – wie es sich gehörte – und schielte den Hund an, dessen Leiche in einer verzweifelten Haltung an einem Baum lehnte. Er lehnte mit dem Rücken zu ihr, ein Zeichen, dass er versucht hatte – was keinem Hund gelingt – auf den Baum zu klettern.

Nur ein Geier vermag einen Schwärm Fliegen zu stören; doch für Bello hatte es keinen Geier gegeben.

Die Federn, die unter seiner Leiche verborgen lagen – Federn, die Mottyl weder sehen noch riechen konnte – stammten nicht von einem Geier. Sie waren aus Bronze.

Nachdem eine angemessene Zeit vorüber war, während der sich der unauslöschliche Klang in Mottyls Ohren verstärkt hatte, stand sie auf und zog sich mit größter Umsicht von der Stelle zurück. Sie überließ die Krone ihrer Aufgabe.

Aber sie betete für den Hund – indem sie ihre von der Läufigkeit imprägnierten Spuren in der Nähe hinterließ. Ich, Mottyl, die Katze, war hier – sagten diese Spuren. Ich kannte dieses Tier. Ich bete darum, dass es den Geiern freigegeben werde.

 

 

Kaum war Mottyl vier oder fünf Körperlängen ins Unterholz vorgedrungen, da hörte sie, wie hinter ihr Flügel sausten und ein riesiger Vogel auf einem Baum landete.

Sie drehte sich um und musste ihr gutes Auge zukneifen, um damit gegen den weiten hellen Himmel einigermaßen klar zu sehen. Zuerst dachte sie, ihr Gebet um einen Geier sei erhört worden – und diese Vermutung schien bestätigt, als sie endlich in den Ästen eine große dunkle Gestalt fast direkt über der Stelle erblickte, wo Bello an den Baum gelehnt war, den er nicht hatte erklimmen können.

Es war der Kormoran.

Ganz instinktiv tauchte Mottyl schnell wieder im Gestrüpp unter – bis ihr bewusst wurde, dass ein Kormoran, ganz gleich wie groß kein Feind war. Da sie jedoch neugierig auf ihn war, kam sie langsam wieder zum Vorschein und versuchte sich diesen rätselhaften Vogel näher anzusehen. War es nicht ein bemerkenswerter Zufall, dass seine Gegenwart dort mit ihrem Streifzug durch den Wald zusammenfiel?

Mottyl erhaschte nur noch einen flüchtigen Blick auf den Kormoran, als sie innehielt, um einen besonders dicken Igel zu umgehen, der mitten auf ihrem Weg eingeschlafen war – sie sah, wie der Kormoran seine Flügel ausbreitete, als wolle er sie nach einer Tauchpartie im Fluss trocknen. Woraufhin er aus ihrem Blickfeld verschwand – für immer, wie sich herausstellte –, hinter den sich schließenden Wedeln der Farne und Beutelsträucher.

Als Mottyl wieder in der Lichtung auftauchte, wo Bello unter seiner Fliegenkrone saß, war der Kormoran verschwunden und auf seinem Platz befand sich jetzt – es gab keinen Zweifel – ein Engel.

»Warum kommst du nicht herunter?«, fragte Mottyl.

»Ich habe Angst«, sagte der Engel. »Da unten ist ein Hund, und obwohl er tot ist, habe ich Angst vor ihm.«

»Das ist lächerlich.«

»Es mag dir lächerlich vorkommen«, sagte der Engel, »aber was mich angeht, ist dieser Baum im Augenblick der sicherste Platz, danke, und ich habe vor, hier zu bleiben.«

»Ich wusste gar nicht, dass Engel Angst vor Hunden haben«, bemerkte Mottyl. »Eigentlich dachte ich, ihr solltet vor nichts Angst haben.«

»Solltet gefällt mir«, sagte der Engel. »Du solltest daran denken, wenn von Angewohnheiten und Schwächen die Rede ist, ganz gleich, auf wen es sich bezieht. Wirklich, ich habe eine Heidenangst vor Hunden, Wölfen und Füchsen – und ich kann nichts dagegen tun. Ist er wirklich tot?«

»Ja.«

»Gut.«

Dennoch rührte sich der Engel nicht vom Fleck.

»Kommst du nicht runter, jetzt, wo du weißt, dass er tot ist?«

»Ich bete gerade.«

»Dann will ich nicht stören.«

»Macht nichts. Ich habe darum gebetet, dass er nicht wieder auferstehen möge…« Der Engel bewegte heftig seine breite, mit Schwimmhäuten versehene Hand und Bellos Leiche wurde mitsamt den Fliegen zu einem Haufen brummenden schwarzen Staubes reduziert. Recht bald hörte auch das Brummen auf, da die Fliegen nichts mehr fanden, woran sie sich hätten laben können.

»Nun?«, sagte der Engel.

Mottyl schlich näher heran und untersuchte die Überreste ihres Freundes. »Ja. Er riecht wie…« Sie schaute zum Engel auf. »Asche.«

 

 

Als der Engel vom Baum herabstieg, glitt er auf eine so anmutige, ungezwungene, ja sogar lässige Art zu Boden, dass er die kurze Strecke – etwa vier Meter – dazu benutzen konnte, sein Gewand zu überprüfen.

Als er unten ankam und Mottyl das Geschöpf zum ersten Mal wirklich von nahem anschauen konnte, sah sie die Gestalt einer Frau, die weit über zwei Meter groß war und ein riesiges mondweißes Gesicht und pechschwarze Haare hatte.

Ohne jeden Zweifel war das der böse Engel, den Bip und Ringer beschrieben hatten. Es konnte niemand anders sein. Und doch unterschied sich dieses Geschöpf, das so unglaublich hoch in die Luft ragte, von den meisten anderen Bösen, die zu Hitzköpfigkeit und Unzufriedenheit neigten und sehr oft gefährlich waren; es lächelte, sprach mit leiser Stimme und war schön. Wenn auch auf eine seltsame Art. Seine Größe war verwirrend, ebenso das so weiße Gesicht.

Genau in dem Augenblick, als Mottyl sich den Engel genauer ansah, tauchte Ham auf.

Er war vom Laufen außer Atem, und wie Mottyl bemerkte, hatte die Anstrengung die Wunde auf seinem Arm wieder aufbrechen lassen; ein feuchter roter Halbmond war auf dem von Mrs Noyes angelegten Leinenverband zu sehen.

»Oh«, sagte Ham. »Verzeihung. Da bist du ja. Hallo, Mottyl.«

Mottyl gab keine Antwort, setzte sich aber entschlossen hin – wie Katzen es zu tun pflegen – um zu sehen, was jetzt passieren würde. Da sie davon ausging, dass Ham dem bösen Engel bisher noch nie begegnet war, war sie sehr überrascht, als die beiden einander beim Namen nannten.

»Du kennst diese Katze, Ham?« Der Engel machte eine kunstvolle Geste und faltete die Hände in den weiten Ärmeln.

»Ja. Sie gehört meiner Mutter.« Ham wandte sich an Mottyl. »Ich habe Luci erst gestern kennen gelernt…«

Luci.

Ham schien äußerst verlegen und Mottyl fragte sich, warum.

Ich glaube, er weiß nicht, dass sie ein Engel ist.

Wieso meinst du das?

Na ja – er behandelt sie wie einen Menschen.

In der Tat versuchte Ham seine Begegnung mit der weit über zwei Meter großen Frau namens Luci auf fast dieselbe aufgeregte Weise zu rechtfertigen, die Mottyl so oft erlebt hatte, wenn Japeth Mrs Noyes seine Fremden unbeholfen vorstellte: Erklärungen, die irgendwie nach Ausreden klangen – und Vorstellungen, die sich wie Entschuldigungen anhörten.

»Ich wusste, dass jemand unten im Wald war…«, sagte Ham. »Ich konnte Spuren sehen, da, wo jemand gegangen war…«

Das war ein Teil der Wahrheit.

»Ich bin hierher gekommen, um Bello zu suchen…«

Das war noch ein Teil.

»Ich bin eingeschlafen, weißt du, und als ich aufgewacht bin… hockte diese Person über mir und kühlte mich mit einem Papierfächer…«

Ja, ja.

Hams Stimme dröhnte weiter. Das Ganze war unverständlich. Eine gut zwei Meter große Frau, die rein zufällig im Wald spazieren ging – mit einem Papierfächer und – wie sich herausstellte – auch einem Sonnenschirm aus Papier. In einem langen rosafarbenen Gewand mit Schmetterlingsärmeln. Eine Frau, deren Aufzug eher zu einem exotischen Hof passen würde – deren Gesicht mit einem seltsamen weißen Puder überzogen war – und deren Name…

Er kann unmöglich wissen, dass sie ein Engel ist. Luci. Eine Frau mit riesigen Händen und Fingern, die… Schwimmhäute haben.

Das hatten sie nämlich. Schwimmhäute. Denn als Luci die Feuerkugel nach Bello warf, hatte Mottyl überdeutlich die Form der langen knochigen Finger sehen können, die jetzt in den Ärmeln ihres Gewandes gefaltet waren. Elegant, ja, aber unnatürlich lang und mit Haut dazwischen, die sich von Finger zu Finger dehnte.

Nur Engel und Wasservögel haben Schwimmhäute an Händen und Füßen.

Mottyl schauderte.

Sie musste an den Kormoran denken. Das war also auch Luci gewesen.

Plötzlich bückte diese sich, als wollte sie Mottyl hinter den Ohren kraulen.

Sotto voce sagte sie Mottyl direkt ins Gesicht und verströmte dabei ihren nach Zitronenstrauch duftenden Engelsatem: »Kein Wort davon, Katze, hast du mich verstanden? Kein einziges Wort!«

Dann richtete sie sich wieder auf und fummelte sofort in ihren Taschen, fummelte mit ihren Händen herum – so dass sie, als sie sich Ham erneut zuwandte, genauso aussah, wie er ihr wohl beim ersten Mal begegnet war – eine Frau von beachtlicher Schönheit, mit einem weißen Gesicht, die ihre weiß behandschuhte Hand ausstreckte, damit er sie festhalte.

»Sollen wir zum Waldrand gehen«, fragte sie, »wir drei zusammen?«

Also gingen sie.

 

 

Am Zaun blieb Luci stehen.

Draußen über dem Gras flatterte ein Schatten.

»Was ist das?«, fragte sie – in ihrer Stimme lag überraschend ein Zittern.

Ham blickte auf.

»Schon wieder eine Taube«, sagte er. »Die arme Mama ist sie allmählich so satt.«

»Deine Mutter mag keine Tauben?«, fragte Luci.

»Nein. Das ist es nicht. Es sind nur diese Tauben in den letzten paar Tagen. Botschaften von Jahwe…«

Luci erstarrte, wich in den Schutz der Bäume zurück.

»Rosarote Tauben?«, fragte sie. »Und rubinrot?«

»Ja. Woher weißt du das?«

»Ich habe einmal eine gesehen.« Sie schien härter – kühler – geworden zu sein. »Meint ihr, ihr könnt allein weitergehen?«, fragte sie. »Ich gebe zu, eine entsetzliche Müdigkeit überkommt mich. Ich glaube, ich mache hier eine Pause. Habt ihr etwas dagegen?«

Ham hatte in der Tat etwas dagegen, sehr sogar. Also ging Mottyl den Berg allein hinauf, während Ham und Luci sich unter den Bäumen ausruhten – von den Blättern und Lucis Sonnenschirm doppelt beschattet.

 

 

Die Taube blickte hinunter und sah eine Katze, die den Berg hinaufging, dasselbe Ziel anstrebte wie sie selbst. Nur dass die Katze sehr langsam ging – anhielt, um zuerst mit einer Krähe, dann mit einem Waldmurmeltier zu sprechen.

Hatten irdische Tiere wirklich so wenige Sorgen, dass sie sich nur auf den Wiesen herumtrieben und mit ihren Freunden klatschten?

Was für eine Art, das Leben zu verbringen! Die Taube hatte gewiss keine Zeit für eine Pause. Ihre Botschaft war die allerwichtigste, die sie in ihrer ganzen Laufbahn als Botin jemals überbracht hatte. Jahwe selbst hatte nicht ganz fünf Meilen entfernt sein Lager, und er würde morgen nach Sonnenaufgang mitsamt seinem Gefolge genau diesen Berg heraufkommen.

Diesmal – galt es als sicher.

Diesmal – würde Jahwe ankommen.

 

 

Unten am Wald hörte Mottyl die Trommel als Erste und mit der Trommel das Rumpeln der großen Räder. Sie war gerade dabei, eine Maus zu zerlegen, als die Erde zu vibrieren anfing. Zuerst dachte sie, es würde sich um ein Erdbeben handeln, aber die Rhythmen waren zu gleichmäßig und das Rollen der Räder zu beharrlich.

Krähe, die in den Zweigen genau über der Stelle saß, wo Mottyl sich an der Maus gütlich tat, rief hinunter: »Der Baum wackelt. Spürst du es?«

»Ja. Flieg doch mal hoch und schau nach, was es ist!«