Im Inneren war die Arche ein Schacht aus Finsternis und Stimmengewirr – und der Gestank der Tiere in dem fensterlosen Raum war Übelkeit erregend: Das ranzig gewordene Pech und die frisch geschnittenen Bohlen aus Tannenholz verströmten ein Aroma von fast widerlicher Süße. Im Vergleich dazu wirkten die Düfte aus den Speichern, mit dem darin lagernden Stroh und Süßgras und der warme, vertraute Geruch von Speiseöl aus der Kombüse, geradezu mild und angenehm.

Der Schacht aus Finsternis befand sich genau in der Mitte der Arche, und er war so tief wie die unteren drei Decks zusammen. Darüber bildete das obere und einzige offene Deck (wo Noah im Kastell sein Quartier und seine Kapelle mit ihrer Pagode hatte) ein Dach, von dem eine Reihe nicht angezündeter Lampen herabhing. Jedes andere Deck war zum Schacht hin geöffnet – und stellte ein Labyrinth dar aus Passagen und Durchgängen, die hinter und zwischen die verschiedenen Käfige, Verschläge und Ställe führten, in denen die Tiere untergebracht waren.

Auf dem zweiten Deck waren Vögel, Reptilien und Insekten in Käfigen aus Gittern und Draht eingesperrt. Einige der Käfige hingen von den Balken. Auch alle kleineren Säugetiere waren auf diesem Deck: Kaninchen, Eichhörnchen und Füchse – Affen, Ratten und Mäuse – Waschbären und Stachelschweine – Frettchen – Tamarins und Einhörner. Ferner befanden sich auch vier Kajüten für menschliche Passagiere darauf und eine davon enthielt eine grob behauene Wiege, die auf die Geburt von Hannahs Kind wartete.

Auf dem dritten Deck hausten in Verschlägen und Boxen die mittelgroßen Tiere. Neben den Durchgängen verliefen Abflussrinnen; sie mündeten in Abflusskanäle, die sich ihrerseits durch Speigatten ins Wasser draußen entleerten. An Tieren waren hier Pferde, Zebras und Hirsche vertreten – Antilopen, Ochsen und Löwen – Emus und Strauße, Dodos und alle anderen flugunfähigen Vögel und Geschöpfe, die Auslauf brauchten – wenn auch nur von einer Seite einer Box bis zur anderen.

Auf dem vierten und untersten Niveau befanden sich jene Tiere, bei denen man gefürchtet hatte, ihre Größe würde die Arche zum Kentern bringen. Hier herrschte vollkommene Finsternis.

 

 

Draußen fiel das Wasser nicht mehr nur von oben; es hatte angefangen aus der Erde selbst zu steigen. In den Felsen taten sich Spalten auf und ließen alle unterirdischen Flüsse hervortreten. Brunnen explodierten und riesig hohe Fontänen schossen in die Luft, bis sogar diese ertranken, da die Berghänge zerbröckelten und der Erdboden nachgab.

Auf ihrem Kielrahmen begann die Arche zu schütteln und zu rütteln; sie bekam Schlagseite. In der Finsternis schrien die Tiere, als sie den Halt verloren und gegen Wände und Gitter geschleudert wurden. Mrs Noyes und Luci hielten sich an den mit Äpfeln gefüllten Schürzen und aneinander fest, während sie unter einem entsetzlichen Knacken und Knarren zu Boden geworfen wurden; es klang, als sollte die Arche noch vor dem Start auseinander gerissen werden.

Vögel hoben in ihren Käfigen ab, und wegen der Finsternis verloren sie die Orientierung und fielen nieder wie Steine.

Noah lag ausgestreckt auf dem Fußboden seiner Kajüte und betete mit lauter und wütender Stimme; er flehte Jahwe an, er möge »die Arche sofort wieder aufrichten!« Und als all sein Flehen nicht erhört wurde, rief Noah noch einmal – aber diesmal nach Schwester Hannah.

Schließlich senkte sich der Himmel ganz – und das Wasser stieg ihm entgegen, und ein riesiger hallender Knall ließ die ganze Schöpfung erzittern und begleitet von einem riesigen Seufzer der Erleichterung richtete sich die Arche auf und trieb frei davon, weg von ihrem Stützrahmen und von ihrem Berghang und – überhaupt – von der ganzen Erde, die mit einem Zischen unter den Wellen verschwand, die aufgestiegen waren, um sie einzufordern.

Langsam erhoben sich Mensch und Tier auf die Knie und – noch langsamer – auf die Füße. Jeder Einzelne von ihnen prüfte, ob der Fußboden noch da war – und ob die Wände noch da waren – und die Stangen und die Drahtgitter der Käfige. Und jeder Einzelne von ihnen murmelte eine Art Dank – eigentlich mehr eine Feststellung, dass man noch am Leben war. Und jeder Einzelne von ihnen stand da und wartete – und fragte sich, was wohl als Nächstes geschehen würde.

Doch das Einzige, was man hören konnte, waren Geräusche des Atmens und das Schlagen des eigenen Herzens unter dem Regen.

 

 

Als Mrs Noyes die Äpfel aufs Deck gehievt hatte – sie war so erschöpft, dass sie fast auf Händen und Knien den Landungssteg hochkrabbeln musste –, konnte man ein gedämpftes Stimmenduo wahrnehmen: zuerst aus dem Innern der einen Schürze – dann aus dem der anderen – sie verschmolzen zu einem gemeinsamen Klageruf.

Aus der ersten Schürze klang Mottyls Stimme: »Schnell! Schnell! Bei mir geht’s los!«

Und aus den Falten der zweiten Schürze Krähes unverwechselbares Krächzen: »Könntest du so nett sein und mich rauslassen? Ich fürchte, ich kriege hier einfach keine Luft.«

Und Mottyl flüsterte wieder: »Schnell! Schnell!«

Und Krähe noch einmal: »Bitte…«

Mrs Noyes inspizierte das regennasse Deck von oben bis unten, und da niemand zu sehen war, der die Befreiung der blinden Passagiere hätte beobachten können, ging sie vor Krähes Schürze auf die Knie und – sie musste dabei gegen die vielen Knoten kämpfen, jeder Fingernagel, der nicht schon vorher eingerissen war, spaltete sich jetzt oder brach ab – ließ Krähe frei.

»Was wirst du tun?«, fragte sie. »Ich bitte dich, pass auf! Ich habe solche Angst vor Japeth.«

Krähe, die immer noch – wenn auch nicht gänzlich – mit Gold überzogen war, beruhigte sie: »Du musst aufhören, meinetwegen Angst zu haben, Mrs Noyes. Kümmere dich vor allem um Mottyl…«

»Ja!«, stöhnte Mottyl, »bitte!«

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, fügte Krähe hinzu. »Ich finde schon eine Möglichkeit, bei der Arche zu bleiben.«

Mrs Noyes wies auf den geschützten Kamin, der vom Dach der Kapelle über Noahs Opferaltar aufragte, und sagte: »Solange es kein Brandopfer gibt, dürftest du da drinnen sicher sein.«

Krähe bedankte sich und versuchte vom Deck aufzufliegen – aber die Vergoldung und der Luftmangel der letzten paar Stunden hielten sie am Boden fest. »Ich werde zu Fuß gehen müssen«, stammelte sie. Gesagt, getan: Von einer Seite zur anderen schwankend watschelte sie weg und schleifte dabei mühsam die goldschwarzen Flügel das Deck entlang.

»Schnell!« Mottyls Stimme drängte. »Schnell! Ich hab schon eins gekriegt…«

Mrs Noyes hatte die Falten von Krähes Schürze wieder geordnet und war gerade dabei, den Knoten neu zu binden, als Ham erschien, mit Luci im Schlepptau.

Luci hatte Krähe sofort entdeckt.

»Du darfst nicht – oh, bitte, tu ihr nichts zuleide!«, sagte Mrs Noyes; sie war sich noch nicht sicher, auf wessen Seite Luci stand. »Bitte.«

Luci schadete Krähe nicht – ganz im Gegenteil: Sie trippelte übers Deck und fragte sie: »Wo willst du denn hin, Krähe?«

Nachdem sie erklärt hatte, was sie von Mrs Noyes über die Sicherheit des mit einem Pagodendach versehenen Kamins über dem Altar wusste, fühlte Krähe, wie sie hochgehoben wurde (»Meine Flügel! Meine Flügel! Drück nicht so fest auf meine Flügel!’«), wie eine kultische Ikone wurde sie zum Dach der Kapelle getragen und darauf abgesetzt; mit einem dankbaren Blick Richtung Luci watschelte sie mühelos aus dem Regen und die Schindeln hinauf.

In der Zwischenzeit hatte sich Ham vor Mottyls Schürze niedergekniet und die Knoten gelöst. Mrs Noyes ermahnte ihn, vorsichtig zu sein. Als die Knoten endlich auf und die Schürze geöffnet war, kam Mottyl zum Vorschein; sie lag auf der Seite, war mitten in den Wehen – und auf der Suche nach Milch kroch schon ein Kätzchen über ihren Bauch – winzig, blind, unbehaart, mit der stumpfen Form einer Nacktschnecke.

»Du hast schon eins gekriegt«, sagte er.

»Und das zweite kommt auch gleich… oh… tut mir Leid, ich kann es nicht zurückhalten…«

Während Ham und Mrs Noyes zuschauten, kam das zweite Kätzchen auf die Welt, und Mottyl fing an, sein Gesichtchen von der Fruchthülle zu befreien.

»Wo können wir sie verstecken?«, fragte Mrs Noyes Ham. »Wenn dein Vater das rauskriegt – tötet er sie.«

Ham hatte sofort eine Idee – und er warnte Mrs Noyes, es könne sich nur um ein vorübergehendes Versteck handeln, sagte ihr aber auch, es sei für diesen Fall geradezu ideal.

 

 

Da wurde oben an der Treppe die Tür aufgerissen und ein heftiger kalter Regenguss stürzte die Treppe hinunter, über die Gestalten, die dort unten warteten.

Japeth – er trug seinen ledernen Brustharnisch und Beinschienen – stand auf dem Treppenaufsatz, hielt eine Laterne über dem Kopf und zückte sein blankes Schwert.

»Was ist los? Stimmt etwas nicht?«, fragte Mrs Noyes und schaute zu ihrem Sohn hinauf. »Ist eines der Tiere ausgebrochen?«

Japeth blieb die Antwort schuldig, fuchtelte nur mit der Laterne herum – er trat zur Seite und ließ den Lichtschein tiefer auf die Treppe fallen.

»Er will, dass ihr jetzt hinaufkommt«, sagte er.

»Ich nehme an, du meinst deinen Vater«, sagte Mrs Noyes. »Und – wenn ja – nenne ihn bitte beim Namen!«

Japeth, verlegen und betreten, wischte sich den Mund mit dem Handrücken. Er bemühte sich sehr, das Auftreten der Rüpel nachzuahmen, die ihn auf der Straße gefangen genommen hatten und ihn in einen Eintopf verwandeln wollten. Diese Männer hatten ihm solche Angst eingejagt, dass er wie selbstverständlich glaubte, jeder müsse vor ihm niedergehen und vor Angst zittern, wenn seine Imitation nur einigermaßen überzeugend war.

»Äh…«, sagte er. »Vater möchte euch sprechen.«

»Viel, viel besser«, sagte Mrs Noyes. »Und – wie wäre es noch mit ›bitte‹?«

Japeth lief knalllila an und stammelte etwas, das man vielleicht als »bitte« hätte auslegen können, aber er weigerte sich, es lauter zu sagen oder gar zu wiederholen. Bestimmte Worte, wie zum Beispiel »bitte« und »danke«, waren unter der Würde eines Soldaten. So hatte er zumindest den Hinweisen von Michael Archangelis entnommen.

»Sollen wir alle hinaufgehen?«, fragte Mrs Noyes.

»Ja. Alle.«

Mrs Noyes hatte ihren Fuß schon auf der unteren Stufe, als Japeth hinzufügte: »Und ein bisschen dalli!«

»Wie bitte?«

Mrs Noyes wich bis zum Durchgang zurück.

Luci sagte: »Ich glaube, er hat gesagt« (hier ließ sie ihre Stimme mindestens eine Oktave tiefer werden als Japeths unverbindlicher Tenor) »… ›ein bisschen dalli!‹«

»Mach dich nicht über mich lustig!«, sagte Japeth, und er schwang die Laterne statt seines Schwerts, erkannte aber seinen Irrtum zu spät, um ihn noch berichtigen zu können. »Ich bin nicht in der Stimmung, mit mir spielen zu lassen.«

Sein Blick war böse.

Luci sagte: »Ich hatte eigentlich nicht vor, mit dir zu ›spielen‹, Schätzchen. Willst du, dass ich es mir noch mal überlege?«

»Ich meine es ernst«, sagte Japeth – und diesmal nahm er das Schwert. »Mach keinen Blödsinn!«

Luci zog einen Schmollmund und wollte gerade weiterreden, als Ham auftauchte.

»Warum zum Teufel fuchtelst du mit dem Schwert vor uns herum, Jap?«, fragte er. »Wir sind es nur, um Himmels willen.«

»Ihr und die Tiere«, sagte Japeth. »Ich gehe kein Risiko ein.«

»Aber um Gottes willen, Jap: Sie sind in Käfigen und ich bin dein Bruder. Das ist deine Frau und dies hier ist deine Mutter! Spinnst du oder was?«

Mrs Noyes sagte: »Fang keinen Streit an, Ham! Mir kommt es recht vernünftig vor. Japeth hatte immer schon Angst vor Kühen…«

»Hatte ich nicht!«, sagte Japeth, gekränkt und empört, er war den Tränen nahe. »Ich hatte nie Angst vor Kühen…«

»Müssen wir hier noch länger stehen?«, fragte Emma. »Ich möchte zur Latrine. Und es gibt nur die eine da oben«, sie deutete an Japeth vorbei, »oder die andere ganz weit dahinten im Dunkeln. Also könnten wir nicht hinaufgehen, bitte? Bitte?«

Mrs Noyes nickte und ging nach oben; sie hatte noch Probleme mit dem Gleichgewicht – war noch nicht ganz seefest –, daher wurde sie von einer Seite der Treppe zur anderen geschleudert, schlug mit den Ellbogen – zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen – auf dem Geländer auf.

Als sie an ihrem jüngsten Sohn vorbeikam, sagte sie zu ihm: »Werden die anderen unter Deck nicht das Vergnügen deiner Gesellschaft haben, Japeth? Willst du nicht in der Nähe deiner Frau sein? Es gibt eine niedliche kleine Kajüte, gleich neben der ihren…«

»Vater will mich bei sich haben«, sagte Japeth. »Ich soll hier oben wohnen.«

Mrs Noyes lächelte.

»Also dann«, sagte sie, »du und ich werden dann zumindest etwas voneinander sehen.«

Japeth antwortete nicht. Er war damit beschäftigt, seinen Bruder und dessen Frau Luci an sich vorbei durch die Tür zu treiben – er biss seine Kiefer zusammen und schob sie von einer Seite zur anderen, wobei er noch eine weitere Erinnerung an seine Begegnung auf der Straße nachahmte: Das Bild des raubeinigen Bandenführers, der ihn gefangen genommen hatte, und in Vorfreude auf den Japeth-Eintopf mit den Zähnen knirschte.

Entlang dem Deck war ein Seil gespannt, das vom Eingang zum Schacht bis zum Eingang unter dem Baldachin führte, hinter dem man die Lichter von Noahs Kajüte sehen konnte.

Eins nach dem anderen gingen die Familienmitglieder am Seil entlang, setzten eine Hand nach der anderen auf – wurden vom Regen gepeitscht und geblendet und vom Wind fast weggeweht. Trotzdem: Als sie sich dem Kastell näherten – wo Noahs Quartier und die Kapelle untergebracht waren –, blickte Mrs Noyes zum Dach hinauf, um zu sehen, ob sie irgendeinen Hinweis auf Krähe in ihrem Versteck im Kamin erkennen könne.

Vielleicht – aber möglicherweise war es auch nur der Regen, der aus Wünschen Gestalten machte – war dort oben etwas, unter das schräge Dach der Pagode gedrängt – und Mrs Noyes bildete sich sogar ein, sie hätte eine Flügelbewegung gesehen.

Japeth bückte sich unter den Baldachin und öffnete die Tür.

Auf einmal brachen Wärme und Licht hervor – und das Aroma eines Gerichts, das Käse enthielt.

Hannah wartete auf sie und hatte – ganz gewiss – etwas zu essen gemacht. Sie würden sich auch – ganz gewiss – alle zusammen hinsetzen und vielleicht sogar ein bisschen Met trinken.

Aber es sollte nicht sein.

Das Mahl (was es auch immer gewesen war) war schon verzehrt und der Geruch rührte von den Resten, die auf einer Anrichte standen – die Schüssel war nicht zugedeckt und der Holzlöffel, mit dem aufgetragen worden war, lag auf einem der weißblauen Lieblingsteller von Mrs Noyes. Ein halber Laib Brot und ein Milchkrug standen daneben, der Milchkrug mit einer Leinenserviette zugedeckt.

Noah saß an einem großen, breiten Tisch, den Mrs Noyes nie zuvor gesehen hatte. Sein Bart war gewaschen und gekämmt und die Robe, die mit lilafarbenem und goldenem Regen befleckt war, hatte er gegen eine andere Robe ausgetauscht. Diese war viel prächtiger: aus reiner Wolle, und blau. Er trug sie über einem weißen Baumwollhemd, das Mrs Noyes – sie erinnerte sich genau – erst vor weniger als einem Monat gesäumt hatte. Auf dem Schoß hielt er Jahwes Katzen: Abraham und Sarah.

»Bitte um Entschuldigung«, sagte Emma – von irgendwoher weiter hinten, inmitten der Gestalten an der Tür. »Aber ich…«

Noah schnitt ihr das Wort ab, als hätte sie gar nichts gesagt.

»Hat man die Tiere gefüttert?«, fragte er.

»Wir haben sie heute Früh gefüttert, Vater«, sagte Ham.

»Und heute Abend?«

»Nun – alles ist ziemlich kaputt, fürchte ich«, sagte Ham. »Wo doch die Arche gekentert ist…«

»Sind wir gekentert?«, fragte Noah.

»Nun… wie man es nennen will«, sagte Ham. »Es war eben, als wären wir gekentert…«

Noah wandte sich an Hannah und lächelte sie an. »Wusstest du das, Tochter? Dass wir gekentert sind?«

Hannah richtete den Blick nach unten auf ihre gefalteten Hände und Mrs Noyes fiel auf, wie sauber sie waren. Solch schöne heile Nägel, und die Nagelhaut war durchweg so weiß wie Taubeneier.

»Es gab einiges… Durcheinander«, sagte Hannah, die verlegen schien – und Mrs Noyes fragte sich warum. »Aber – eigentlich kaum Schwierigkeiten…«, schloss sie.

»Also dann.« Noah wandte sich wieder an Ham. »Schluss mit Geschichten vom ›Kentern‹. Als Nächstes wirst du diese Bö einen Sturm nennen und das als Ausrede benutzen.« Er winkte mit der Hand, ließ das Thema fallen. »Na, du hast immer zu Übertreibungen geneigt, Junge. Kann alles bis morgen Früh wieder in Ordnung gebracht werden?«

»Das glaube ich gerne, Vater – wenn Sem und Japeth auch mithelfen würden.«

Noah lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nahm seine Serviette, um damit seinen Schnurrbart zu glätten, der, wie Mrs Noyes jetzt bemerkte, gestutzt worden war, so dass er jetzt schön in den Backenbart überging.

»Sem und Japeth dürfen euch dieses eine Mal helfen«, sagte er. »Sem kann die Aufsicht führen. Das gibt ihm die Gelegenheit, die Vorräte zu überprüfen. Wir werden natürlich rationieren müssen. Vielleicht sollten wir uns irgendein System mit Schlössern und Schlüsseln ausdenken…« Er winkte Hannah zu, die einen vierbeinigen Hocker an den Tisch zog, sich darauf setzte und in ein selbst gemachtes Heft mit Bleistift zu schreiben begann: Aufteilung der Schlösser und Schlüssel

»Seien Sie nicht lächerlich, Vater!«, sagte Ham. »Niemand wird mit dem Heu abhauen…« Er lachte.

Noah lachte nicht.

»Ich dachte an deine Mutter«, sagte er. »Und an ihre angeborene Schwäche für Taten der Nächstenliebe.« Er bewegte seine Finger über die Tischplatte, klaubte Krümel und Kümmelsamen auf und steckte sie in den Mund. »Nächstenliebe…« (er verdrehte das Wort, die Lippen nach vorn geschoben – als würde er in eine Fremdsprache gleiten), »Nächstenliebe ist in den besten Zeiten verschwenderisch, aber in Zeiten wie diesen – ist sie kriminell.«

»Entschuldigung«, sagte Emma, »aber ich muss wirklich…«

»Wurdest du angesprochen?«, fragte Noah.

»Nein, Herr«, sagte Emma. »Nicht, dass ich es mitbekommen habe. Aber…«

»Wurdest du angesprochen?«

Emma wickelte ein Bein um das andere und ließ den Kopf hängen – der Mund hing auch offen…

»Sie braucht die Latrine«, sagte Mrs Noyes.

»Sie braucht einmal Kielholen«, sagte Noah. »Das braucht sie. Schau sie an! Von Kopf bis Fuß dreckig. Und sie stinkt…«

Mrs Noyes seufzte laut, um das zu unterbrechen, was sich wie der Anfang der allzu vertrauten Litanei mit den Fehlern der armen Emma anhörte.

»Was ist ›Kielholen‹, Liebling?«, fragte sie, ganz heiter. Seit über sechzig Jahren hatte sie Noah nicht mehr »Liebling« genannt.

Noah ignorierte das Epitheton (er hätte es als Epitheton betrachtet) – und machte sich bereit, die Frage zu beantworten. Er hatte verschiedene Bücher und Broschüren zum Thema Seefahrt, Seekrieg und seemännische Fachausdrücke studiert – und war ziemlich stolz darauf, wie gut er das alles beherrschte. »Kielholen,« begann er, »ist…«

In diesem Augenblick ließ Emma einen ihrer spektakuläreren Heulanfälle los und alle wichen erschrocken Richtung Wände zurück.

»Ich will kein Kielholen!«, kreischte sie. »Mir ist gleich, was das ist! Ich kann nichts dafür, wenn ich einmal muss! ICH KANN NICHTS DAFÜR!!!«

Sonst sprach niemand. Es war nicht genug Platz in der Luft für noch eine Stimme.

Und dann kam es, wie es kommen musste: Da das Geheul so mächtig war, hatte es ihre ganze Anspannung gelöst – und Emmas Darm überflutete langsam ihren Schlüpfer.

Immer noch sprach niemand. Was konnte man dazu schließlich sagen? Sie alle standen einfach da und schauten zu – die einen entsetzt, die anderen angeekelt –, wie Emma die Kontrolle über ihren Schließmuskel völlig verlor, ihren Schlüpfer mit beiden Händen fasste und aus dem Zimmer rannte.

In die darauf folgende Stille trat Sem herein.

»Was ist denn hier los?«, fragte er.

Niemand antwortete.

Und dann muss Sem etwas gerochen haben – denn er zuckte mit den Schultern und sagte: »Oh.« Und dann sagte er: »Emma?«

»Ja«, sagte Noah. »Aber was kann man von einer erwarten, deren Schwester ein Affe war?«

Mottyl hatte alle sechs Kätzchen geboren – zwei in der Schürze und die anderen in Hannahs Wiege. Sie waren alle gesund – zumindest kam es ihr so vor, nach dem zu urteilen, was sie fühlen und riechen konnte. Es waren keine Missbildungen zu erkennen, keine zusätzlichen Gliedmaßen, keine zweiköpfigen Ungeheuer, keine Klumpfüße und keins der Kätzchen schien Untergewicht oder Untergröße zu haben. Zwei Männchen – vier Weibchen: Das war leicht zu unterscheiden. Aber Mottyl wollte nur zu gerne wissen, welche Farbe sie hatten und ob eins der Weibchen dreifarbig war wie sie. »Das Allerseltenste«, hatte ihr Mrs Noyes erklärt, vor langer Zeit, als Mottyl jung war und sich fragte, warum es zum Paaren nie Männchen gab, die so aussahen wie sie. »Es kann keine dreifarbigen Männchen geben«, hatte Mrs Noyes gesagt. »Frag mich nicht warum; es ist einfach nicht möglich. Doktor Noyes sagt, seine Experimente haben es bewiesen – und außerdem sagt er, wenn es ein dreifarbiges Männchen geben sollte, wäre das ein Wunder. Und wir wissen alle, wie viele ›Wunder‹ es gibt. Echte Wunder zumindest.«

Das bereitete Mottyl Kummer und sie fühlte sich deswegen sehr einsam. Lieber wäre ihr gewesen, nicht so einzigartig zu sein, dann hätte sie die Folgen nicht tragen müssen. Doktor Noyes war zu sehr von der Einzigartigkeit fasziniert – und jedes Mal, wenn Mottyl Kätzchen gebar, verschwanden die dreifarbigen Babys als Erste.

Der Gedanke an Doktor Noyes und seine Experimente versetzte sie ziemlich in Panik. Irgendwo oben konnte sie seine Stimme hören, die mit dem Rhythmus des Sturmes lauter und leiser wurde. Wenn die Arche hochgehoben wurde, hob sich auch Doktor Noyes’ Stimme und wurde laut und klar – und wenn die Arche fiel, fiel auch seine Stimme – und sie ging in entsetzlichem Krachen unter, wenn die Arche auf dem Wasser aufschlug und alles schüttelte und zitterte und all die anderen Tiere »Helft uns!« schrien.

Was für eine Zeit und was für ein Ort, um auf die Welt zu kommen, dachte Mottyl, während sie ihre Babys fütterte und säuberte. Sie lag auf der Seite – zum ersten Mal seit Tagen trocken und warm – und fragte sich, welche Versteckmöglichkeiten die Arche wohl bieten könnte. Sie wusste nichts von ihrer Geographie – nichts vom großen Schacht – nichts von den vielen Durchgängen und Passagen – nichts von den Heuböden und Futtertrögen – nichts von den verschiedenen Ebenen. Sie kannte nur ihre gewaltige Größe und ihre Gerüche: ihr erdrückendes Gewicht, wenn sie auf dem Wasser aufschlug, und das Geräusch ihrer quietschenden Balken und jammernden Tiere.

Der Sturm wurde offensichtlich stärker – wenn das überhaupt noch möglich war – und er hörte sich jetzt an wie der Lärm von zehntausend Mrs Noyes, die alle zusammen Brot buken und auf dem darüber liegenden Deck den Teig schlugen und kneteten. Einst, vor langer Zeit, war das ein tröstliches Geräusch gewesen – das Brotbacken –, ein Geräusch, das Mottyl zum Einschlafen brachte – bei dem sie sich sicher fühlte unter dem Tisch zu Hause in der warmen Küche. Mrs Noyes hatte immer vor sich hin gesungen, während sie den Teig klopfte und schlug – aber jetzt sang niemand und diese Sturmdamen – zehntausend an der Zahl – waren etwas ganz anderes.

Was für eine Zeit und was für ein Ort, um auf die Welt zu kommen

Mottyl fühlte, wie die Kätzchen gegen ihren Bauch drückten – ihre Milchdrüsen kneteten und an ihren Zitzen zogen – und eine Welle der Müdigkeit überflutete sie. Sie begann zu schnurren. Wenn sie nur schlafen dürfte. Wenn sie es nur wagen würde. Die Gerüche von Milch und Geburt und Stroh wirkten wie Opiate und der Klang ihres eigenen Singens tief im Innern versetzte sie allmählich fast in Trance – in einen Zustand, in dem der Regen nicht existierte und ihr Nest in der Wiege ein enger, sicherer Ort war – so eng und sicher wie die Arme von Mrs Noyes. Langsam versank Mottyl in einem gefährlichen Traum von Sicherheit; außer ihrer totalen Erschöpfung merkte sie nichts mehr.

Sie saßen am Tisch, zu beiden Seiten aufgereiht wie Verhandlungsparteien: Noah, Sem und Hannah auf der einen Seite – Japeth hinter ihnen stehend – und Mrs Noyes, Luci und Ham auf der anderen – Emma kauerte an der Tür, noch in Ungnade und von den Schatten fast verschluckt. Über den Köpfen schaukelte eine Lampe im Rhythmus der Arche, die sich nicht von einer Seite auf die andere, sondern von einem Ende zum anderen bewegte – der Bug hob sich hoch über die Wellen und stürzte dann abrupt hinunter, ohne irgendeine Bewegung nach vorne zu machen. Genau besehen, stand die Arche still – sie verfing sich nur im Sog der enormen Tiefen, die einst allesamt Täler gebildet hatten, Täler im Schutz von Noahs Berg. Allein der Sturm bewegte sich.

»Also«, sagte Noah – er kniff die Augen zusammen und betrachtete die, die ihm gegenübersaßen. »Vier und vier sind acht.«

Luci machte gerade Anstalten zu lachen – und Mrs Noyes wollte gerade sagen: Ja – und zwei und zwei sind vier, als beide stutzten; plötzlich wurde ihnen klar, dass Noah mehr als eine rein mathematische Tatsache gemeint hatte. Er zog einen Strich zwischen ihnen – mitten durch den Tisch: Wir und ihr, sagte er, uns und sievier und vier sind acht.

Sem hatte ein Diagramm mitgebracht, das Noah jetzt von ihm verlangte und dann auf dem Tisch ausbreitete.

»Jetzt«, sagte er. »Kommt näher heran!«

Seltsamerweise – so schien es zumindest Mrs Noyes – waren es nur diejenigen auf ihrer Tischseite, die »näher herankamen«. Die anderen – Sem, Hannah und Japeth – blieben, wie sie waren, gelassen und still – und mächtig (das war das Wort, das ihr dazu einfiel) – beachteten kaum den Plan, während Noah sich darüber beugte und seine Finger mitten darauf legte.

Das Diagramm war offensichtlich eine Darstellung der Arche; es zeigte sie im Schnitt von der Seite, ließ alle vier Decks erkennen und die Verschläge und Unterbringungsmöglichkeiten für die Tiere, die Heuböden, die Lagerräume, Kajüten, Latrinen und Kombüsen – und obenauf eine Schnittzeichnung von Noahs Kastell, wo sie im Augenblick saßen, und von der Kapelle mit ihrem Opferaltar und ihrem Kamin. Unter dem Höcker des Afterdecks war ein Lagerraum, der als »Arsenal« bezeichnet war.

»Arsenal, Noah?«, fragte Mrs Noyes.

»Ja. Im Falle von Piraten.«

»Piraten? Was sind Piraten?«

»Barbaren, meine Liebe. Vandalen der sieben Weltmeere.«

»Willst du damit sagen, du rechnest damit, dass wir angegriffen werden?«

Noah zuckte mit den Schultern. »Die Möglichkeit besteht immer«, sagte er.

»Aber – nach Jahwes Edikt«, sagte Mrs Noyes, »sollten nur wir überleben.«

Noah winkte bei dem Hinweis ab. »Ganz klar, auf lange Sicht stimmt es, dass wir alleine durchkommen werden. Aber nicht ohne Prüfungen durchlaufen zu müssen, meine Liebe. Nicht ohne zu leiden…«

»Und nicht ohne Piraten?«

»Eben.«

Schlagartig wechselte er das Thema, obwohl Mrs Noyes den unbefriedigenden Eindruck hatte, das ganze Piratenproblem noch gar nicht begriffen zu haben. Von wo aus würden sie auftauchen? Wann könnte man mit ihnen rechnen? Wer hatte ihren Mann von ihrer Existenz unterrichtet? Es ging über ihren Verstand – war sehr, sehr mysteriös und beunruhigend.

Noah war offensichtlich etwas nervös wegen des nächsten Punktes, den er jetzt vorbrachte und auf die Tagesordnung setzte. Er war in der Tat so nervös – oder genierte er sich? –, dass er sich weit in seinem Stuhl zurücklehnte und mit einem Fingerschnalzen Hannah dazu aufforderte, das nächste Thema zur Sprache zu bringen. Abraham schnurrte laut. Sarahs blauer Blick heftete sich auf Mrs Noyes.

Hannahs gerade Sitzhaltung war trotz ihrer Schwangerschaft und trotz der Bewegungen der Arche erstaunlich. Und auch der Ausdruck ihres Gesichts war erstaunlich – vollkommen leer und unbewegt. Sie nahm ihr selbst gemachtes Heft von seinem Platz auf ihrem Schoß – schlug es auf – blätterte ein bisschen in den Seiten und las vor; alle Augen im gegenübersitzenden Lager waren auf sie gerichtet.

»Die Aufteilung der Unterkünfte geschieht wie folgt…«, und hier unterbrach sie, doch nichts veränderte sich an ihrem Ausdruck – und sagte: »Es wird jetzt nützlich sein, das Diagramm zu konsultieren, bitte.« Dann las sie weiter aus ihrem Heft vor: »Der Hochwürdigste Doktor Noyes…«

Jetzt war es an Mrs Noyes, ihre Sitzhaltung zu begradigen – vor Staunen und Entrüstung. »Der was}«, fragte sie.

»›Hochwürdigste‹«, sagte Hannah – sie schaute dabei nicht auf.

Mrs Noyes sah ihren Mann ungläubig und staunend an. Sie brachte es nicht einmal fertig, ihren Einwand stammelnd oder stotternd zu äußern, sondern gab nur einen kehligen Laut von sich…

Noah betrachtete die Spitzen seines Bartes und presste seine hölzernen Zähne gegen die fest zusammengebissenen Lippen.

Luci – von der man vielleicht eine heitere und respektlose Bemerkung oder Tat erwartet hätte – schwieg ebenfalls. Unter ihrem Puder und ihrem Rouge war ihre Miene so wenig sprechend wie unbehauener Stein.

Nur Ham war offensichtlich nicht überrascht, dass sein Vater seinem Namen einen neuen Titel hinzugefügt hatte. »Hochwürdigster Doktor« schien ihm nur passend für jemanden, der dabei war, zu einem Gott zu werden.

Hannah fuhr fort: »Der Hochwürdigste Doktor Noyes wird im Kastell auf dem Hauptdeck einquartiert. Zu seiner Verfügung wird er auch haben: die Büroräume nebenan – den Ruheraum zum Meditieren – die Kapelle und ihre Sakristei – die Latrine und das Bad steuerbords im besagten Kastell und den Salon, in dem wir jetzt sitzen…«

Während dieser ganzen Aufzählung hatte Noah als Reaktion auf jeden Punkt genickt – und jetzt winkte er mit der Hand, zum Zeichen, dass Hannah weitermachen sollte.

»Des Hochwürdigsten Herrn Doktors ältester Sohn, Sem, soll für die Instandhaltung der Arche und für ihre Vorräte verantwortlich sein; er wird auch die Arbeiten und Pflichten, die für den Unterhalt besagter Arche und für den Komfort und das Wohlergehen ihrer Bewohner und für die Sicherheit ihrer Fracht notwendig sind, aufteilen und zuteilen.«

»Fracht? Welche Fracht?«, fragte Mrs Noyes. Das war das erste Mal, dass sie von irgendwelcher »Fracht« hörte.

»Na – die Tiere«, sagte Hannah und presste – gegen ihre Gewohnheit – ein herablassendes Lächeln heraus.

»Ach, verstehe«, sagte Mrs Noyes. »Die ›Fracht‹. Natürlich.«

Mit einem Blick zu Noah bat Hannah um Erlaubnis, fortfahren zu dürfen. Er nickte.

Das Vorlesen der Listen setzte sich fort; dabei wurde die Neuigkeit bekannt, dass »Bruder Sem« und »Schwester Hannah« das Quartier über dem Gang Noah gegenüber haben sollten; Japeth bekäme eine Kajüte neben dem Arsenal.

Waren nur noch die an der anderen Tischseite übrig, wo Mrs Noyes, die sich öffentlich bloßgestellt fühlte, schon unter partiellem Schock stand, weil nicht ihr das Quartier, das ihr gebührte, nämlich über dem Gang gegenüber Noah, zugesprochen wurde; er war – schließlich – ihr Ehemann, Herr und (offensichtlich) Hochwürdigster Meister. Warum die Ehre, dort unterzukommen, Hannah zugefallen war, wurde nicht erklärt – und was noch schlimmer war, viel schlimmer, war der eindeutige Eindruck, dass man eine Erklärung nicht für nötig hielt. Hannah war erhöht worden und Mrs Noyes degradiert. Punktum. Und kein Wort des Trostes oder der Erklärung. Obwohl die Vermutung nahe lag, dass Rebellion sich nicht auszahlte – ganz gleich, wer man war oder von welchem Rang –, genügte das nicht, um Hannahs Erhöhung zu erklären. Sie blieb ein Geheimnis.

Noahs Hand machte sich schon auf dem Diagramm zu schaffen –, seine Finger klopften auf die genannten Stellen, während Hannah zu Ende las.

»Mutter Noyes soll auf dem zweiten Deck wohnen, ihr Quartier ist in der Steuerbordkajüte neben demjenigen von Schwester Emma. Schwester Luci und Bruder Ham werden auch auf dem zweiten Deck untergebracht, backbords. Die Latrinen für diese Quartiere befinden sich auf dem dritten Deck…«

Klopf-klopf-klopf – der Finger bewegte sich Treppen und Leitern hinunter und folgte den dunklen Gängen auf dem dritten Deck bis ganz achtern, um die Latrinen ausfindig zu machen. Und dann bewegte er sich, während Hannah zu Ende las, auf diesem Deck bis zum Bug, wo sich die Kombüse und der Salon für diese Quartiere befanden.

Hannah hustete diskret und machte ihr Heft zu, immer noch unbewegt und immer noch mit ihrem unerträglichen, unparteiischen »Ich-habe-nur-meine-Pflicht-getan«-Ausdruck.

Mrs Noyes sprach als Erste.

»Heißt das, dass wir nicht zusammen essen werden?«

»Ja – aber nur aus den allerpraktischsten Gründen«, sagte Noah. »Eure Pflichten, meine Liebe, werden einen Tagesablauf vorschreiben, der sich mit dem Tagesablauf hier auf dem oberen Deck nicht vereinbaren lässt. Es wäre lächerlich zu verlangen, dass ihr um acht Uhr speist, wenn ihr es vorziehen werdet, um sechs – oder sogar um fünf – zu speisen.«

»Aber wir haben noch nie um acht Uhr gespeist«, sagte Mrs Noyes. »In unserem ganzen gemeinsamen Leben – in fünfhundert Jahren! – haben wir niemals um acht gegessen.«

»Bis jetzt«, sagte Noah – und zuckte mit den Schultern.

Mrs Noyes starrte ihn ungläubig an. »Wir werden also die Arbeitszeit der Bauern einhalten – und ihr diejenige des Hochwürdigsten Herrn Doktor, stimmt’s?«

»Wenn du es so ausdrücken willst, ja. Und warum nicht?«

»Und wann sollen wir uns dann sehen? Wann sollen wir uns zusammensetzen? Wann sollen wir… miteinander reden?«

»In der Kapelle«, sagte Noah.

»In der Kapelle? Aber wer kann in der Kapelle reden?«, sagte Mrs Noyes. »Dort tun wir nichts als zuhören, wie du betest, und zuschauen, wie du das Messer führst.«

Wieder lässiges Schulterzucken, unverbindliches Winken mit der Hand. »Ich habe meine Verpflichtungen, meine Beste. Ich muss mit Gott kommunizieren und ihr müsst horchen und gehorchen. Da Jahwe mich mit der Sicherheit dieser Arche und aller, die darauf fahren, beauftragt hat, scheint es nur logisch zu sein, dass ich das Gespräch mit Ihm führen sollte.«

»Ich verstehe. Und das bedeutet, dass du nicht mehr mit uns kommunizieren wirst?«

»Dein Sarkasmus langweilt mich, meine Beste. Ich werde keinen Widerstand dulden. Du hast deinen Platz, und du wirst ihn entweder mit Anstand einnehmen – oder dich weiterhin lächerlich machen: eine Fähigkeit, darf ich hinzufügen, wofür du offensichtlich eine in alarmierendem Maße aktive Begabung hast.« Noah stand auf, und die Katzen, die keine Lust hatten, fallen gelassen zu werden, stapften auf den Tisch und setzten sich hin. »Ich muss auch hinzufügen, dass ich deine andauernden Versuche, mich zum Narren zu halten, nicht mehr hinnehmen werde. Muss ich das wiederholen? Ich habe hier die Führung. Du, meine Beste, hast sie nicht. Du bist jetzt nichts anderes als eine Mitreisende, ohne Stand und ohne Rang. Und ich würde vorschlagen, dass wir die Sitzung jetzt damit beschließen.«

Mrs Noyes war schon auf den Füßen – sie war wütend.

»Sitzung!«, schrie sie. »Sitzung? Was soll diese Sitzung} Sind wir in meiner Abwesenheit zu einer Institution geworden?«

Noah blinzelte.

»Und wenn schon, meine Liebe – welchen Einwand erhebst du dagegen?«

»WIR SIND EINE FAMILIE!«, brüllte Mrs Noyes. »KEIN STADTRAT!«

Emma heulte.

Selbst Hannah wurde so bleich im Gesicht wie Luci.

Japeth legte die Hand auf sein Schwert.

Noah sagte: »Es ist wahr. Wir sind eine Familie. Und ich bin das Oberhaupt dieser Familie.«

Mrs Noyes grinste höhnisch. »Und ich bin der Fuß. Soll ich es so verstehen?«

»Du kannst der Teil sein, den du dir aussuchst, meine Beste. Ich nenne lediglich die Tatsachen beim Namen. Gott hat euch in meine Obhut gegeben – und ich muss mich dementsprechend verhalten. Gute Nacht.«

Noah verließ sofort den Salon und ging in die Kapelle, wo er auf die Knie fiel und um Geduld betete.

Mrs Noyes blickte von Sem zu Japeth und wieder zu Sem.

»Wie konntet ihr das nur zulassen?«

Sem zuckte nur mit den Schultern.

Mrs Noyes biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. Sie machte kehrt und ging – stolperte über Emma, die noch immer an der Tür kauerte.

»Verdammt!«

Ham und Luci gingen ebenfalls – ohne etwas zu sagen –, sie hoben nur Emma auf die Füße und nahmen sie mit in die Dunkelheit und in den Regen zurück.

Als sie weg waren, fragte Japeth: »Soll ich sie verfolgen?«

Sem sagte: »Nein. Sie brauchen nicht verfolgt zu werden. Sie sind geschlagen.«

Aber Hannah dachte: wirklich?

 

 

Als Mottyl aufwachte, musste sie ihre Notdurft verrichten. Der Schlaf hatte sie erfrischt und sie war angenehm hellwach für alle Geräusche und Gerüche um sie herum. Einen Augenblick kam sie sich sogar richtig geborgen vor.

Die Kätzchen, alle an ihren Bauch gedrängt, schliefen noch – das Geräusch ihres Herzschlags beruhigte sie. Das Nest aus Heu in der Wiege war vom Duft ihres milchigen Atems imprägniert und die zutiefst behagliche Wärme ihrer Körper an ihrem eigenen verbreitete einen Geruch, den Mottyl nur mit dem Begriff Sicherheit beschreiben konnte. Auch die Dunkelheit um sie herum war ein Trost, da sie ein Versteck bereitstellte, wo nur wenige Geschöpfe, wenn überhaupt, sie finden könnten. Zumindest vorläufig.

Die Kätzchen hätten wahrscheinlich weitergeschlafen, bis der Hunger sie weckte, aber Mottyl konnte es sich nicht leisten, ihnen das zu gönnen. Das Bedürfnis, den Darm zu entleeren, ließ sich nicht aufschieben – obwohl es Probleme mit sich brachte. Sie konnte ihren Kot nicht einfach unbegraben in einer Ecke der Kajüte liegen lassen, auch nicht im Gang dahinter. Der Geruch würde jeden, der sich an Bord der Arche herumtrieb, herlocken, um ihre Anwesenheit zu entdecken – und damit ihr Nest und ihre Kätzchen. Ratten könnten daherkommen oder, noch schlimmer, Doktor Noyes. Die Erinnerung an seine Stimme veranlasste sie, die Decke mit den Ohren abzusuchen – aber die Stimme dort oben hatte aufgehört und alles, was sie hörte, war der Sturm und die knarrende Arche.

 

Kann ich in Sicherheit weggehen?

Ja – niemand ist in der Nähe. Aber versteck deine Kinder!

 

Bevor Mottyl aus der Wiege sprang, vergrub sie die Kätzchen tief im Heu – sie drückte das Heu mit ihrer Nase gegen sie und zog es mit ihren Pfoten über sie. Kein Einziges wachte auf und sie segnete die Bewegung der Wiege: Sie würde während ihrer Abwesenheit ihren Schlaf noch vertiefen.

Mottyl stand mitten auf dem Boden, kniff die Augen gegen die Dunkelheit zu und versuchte mit ihrem guten Auge wenigstens ein kleines Restchen Licht heraufzubeschwören, das, obwohl noch nicht so völlig blind wie das andere, immer weniger in der Lage war, eine Durchbrechung der Finsternis zu entdecken. Bald würde das Licht nur eine Erinnerung sein, aber noch war es nicht so weit…

Ich kann die Tür nicht finden. Da – genau vor dir.

Eine rechteckige, senkrechte Form schwebte durch die Luft – Mottyl nahm an, es sei der Spalt einer offenen Tür. Sie witterte, um Anzeichen eines Luftzugs zu suchen – aber außer Äpfeln konnte sie nichts riechen. Mrs Noyes hatte die Apfelschürzen unter der Koje gelassen, und ihre Süße strömte über den Fußboden und löschte jeden anderen Geruch aus.

Einen Augenblick lang dachte Mottyl daran, ihren Kot unter den Äpfeln zu begraben, mit dem Gedanken, dass deren Duft stark genug war, um anderes zuzudecken. Aber ihre Flüsterstimmen sprachen dagegen.

 

Gefährlich. Zu nahe bei deinem Nest.

Beeilt euch, dann – helft mir hier herauszukommen!

Tür.

Ist das wirklich eine Tür?

Beweg dich!

 

Mottyl lief durch die Finsternis auf die viereckige Form zu, setzte sich dabei gegen die heftige Bewegung des Bodens unter ihren Füßen durch und entdeckte, dass das tatsächlich eine Tür war. Es war leicht sie zu öffnen, nachdem sie ihren Bart durchgesteckt hatte und mit den Schultern fest drückte.

 

Was ist das hier?

Ein Gang.

Wo führt er hin?

Geh nach links!

 

Mottyl suchte mit der Schulter die Wand und bewegte sich, von den Zuckungen ihres Darmes getrieben, den Gang entlang auf den Schacht zu – ohne natürlich zu wissen, dass sie auf einen Abgrund zuging, der vier Stockwerke tief war. Auch ihre Flüsterstimmen konnten ihr nicht sagen, wie tief er war. Sie erkannten nur den darin entstehenden Luftzug, der die Gerüche von Heu und von anderen Tieren mit sich führte.

Hunderte davon!

Es muss einen Misthaufen geben.

Der Gedanke daran, dass sie bald eine sichere Stelle finden würde, wo sie ihren Kot ablegen und begraben könnte, machte Mottyl unvorsichtig, und sie eilte weiter, von der zunehmenden Stärke des Luftzugs und dem überwältigenden Bedürfnis getrieben, sich zu erleichtern.

Nicht so schnell! Sei vorsichtig!

Aber Mottyl hörte nicht darauf.

Plötzlich war sie am Rand des Schachts, und obwohl er durch ein Geländer abgesichert war, das um alle vier Seiten verlief, bot es keinerlei Schutz für ein Geschöpf von der Größe einer Katze.

Natürlich wusste Mottyl aufgrund des Aufwinds, dass sie am Rande irgendeines Loches, irgendeiner Grube stand. Aber nichts half ihr dabei, die Tiefe einzuschätzen. Da sie im Laufe ihres Lebens auf viele Bäume geklettert war – auch bis in die völlig unmöglichen Höhen von Krähes Sequoia –, wusste sie, dass Höhen nur durch Hochklettern gemessen werden können, Tiefen also wohl nur durch Absteigen.

Ich werde springen.

Such eine Treppe!

Dazu ist keine Zeit. Und vielleicht gibt es gar keine Treppe.

Aber…

Mottyl sprang.

Als ihr auf halber Höhe klar wurde, was sie getan hatte, stieß sie einen entsetzlichen Schrei aus.

»Oh, meine Kinder!«

Dann – Stille.

Mrs Noyes stürmte durch die Tür – vor Wut hielt sie es nicht mehr aus.

»Was soll das bedeuten?«, schrie sie. »Was soll das BEDEUTEN?«, brüllte sie – und beinahe wäre sie in ihrem Zorn die Treppe hinuntergefallen. »Was soll das bedeuten, dass wir alle getrennt werden? Ich VERSTEHE ES EINFACH NICHT!«

Ham zog die Tür hinter ihnen zu, sperrte den Sturm aus.

Mrs Noyes saß auf der untersten Stufe und weigerte sich, sich vom Fleck zu rühren. So waren Luci und Emma auf der Treppe eingeschlossen, und Ham oben.

»Könnte bitte jemand eine Laterne anzünden?«, fragte Emma. »Ich habe im Dunkeln wirklich Angst.«

Ham zündete ein Streichholz an.

»Danke«, sagte Emma.

Das Streichholz erlosch.

»Weiß jemand, wo eine Lampe ist?«, fragte Ham und tastete im Dunkeln herum.

»Ja«, sagte Luci. »Hier ist eine.«

Ham spürte, wie eine metallene Laterne in seine Hände gedrückt wurde.

»Komisch«, sagte er. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass…«

»Ich habe sie mitgebracht«, sagte Luci – und unterband damit weiteres Spekulieren. »Mir hat sie gefallen – also habe ich sie geklaut.«

Die Laterne war aus »modischem Messing«, wie Luci es nannte, statt aus dem gewöhnlichen Schmiedeeisen, wie die anderen Laternen im Laderaum. Sie brannte sehr hell, und wie sich herausstellte, hatte Luci auch ein paar von Noahs erstklassigen Kerzen mitgehen lassen. »Docht aus Wolfram«, erklärte sie. »Brennt ewig. Viel heller als irgendeine alte Schnur…«

»Seltsam«, sagte Ham – er musste die Augen beschirmen, um die Kerze näher anzuschauen. »Ich kann mich an gar kein Wolfram erinnern.«

»Natürlich nicht«, sagte Luci. »Du weißt eben nicht alles, weißt du.«

»Ja«, sagte Ham. »Aber das hätte ich gewusst. Ich meine…«

»Warum hältst du nicht einfach das Maul?«, sagte Luci zuckersüß. »Warum gibst du dich nicht einfach mit dem schönen, hellen Licht zufrieden – und hältst einfach den Mund?«

Ham ging die Treppe hinunter; er warf Luci einen wortlosen Blick zu.

Mrs Noyes ließ sich allerdings nicht so leicht abfertigen.

»Was bedeutet das?«, fragte sie. »Was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass wir hier unten alleine sind«, sagte Luci. »Das bedeutet es. Wir und die Tiere. Und wenn ihr meine Meinung hören wollt: Es ist mir völlig egal. Lieber alleine hier unten als ›zusammen‹ da oben mit der Hochnäsigen Hannah. Übrigens…«, sie stieg um die immer noch auf der Treppe sitzende Mrs Noyes herum und folgte Ham den Durchgang entlang, »ich habe immer die Tiefe vorgezogen.«

»Warum?«, fragte Emma, die ihr folgte.

»Weil es dort wärmer ist«, sagte Luci. »Merkst du es nicht? Gemütlich wie an einem offenen Kamin…«

Emma blieb abrupt stehen und warf ihren Umhang zurück.

»Ja – du hast Recht!«, sagte sie. »Stimmt. Viel wärmer.«

»Das ist nur wegen der Tiere«, sagte Ham. »Sie geben Wärme ab…«

»Wie brennende Kohlen«, sagte Luci.

»Oder Dochte aus Wolfram«, sagte Ham. »Diese Lampe ist heiß!«

Luci, Ham und Emma gingen weiter zu den Kajüten – und Mrs Noyes saß immer noch auf ihrer Stufe.

»Was bedeutet das?«, sagte sie. »Ich verstehe es nicht. Wir waren doch eine Familie…«

 

 

Ham entdeckte als Erster, dass Mottyl nicht in der Wiege lag.

Aber Mrs Noyes – die inzwischen nachgekommen war – sagte, Mottyl habe sich höchstwahrscheinlich nur ein Plätzchen gesucht, um ihre Notdurft zu verrichten.

»Nun gut – «, sagte Ham, »wir sollten jetzt wohl am besten den Tieren ihr Abendfutter geben. Und Mama…« Ham wandte sich an Mrs Noyes. »Vielleicht könntest du uns etwas zu essen geben.«

»Ja«, sagte Mrs Noyes, mit ihren Gedanken ganz woanders. »Ja. Ich fange gleich an.«

Luci gab jedem eine Wolframkerze und einen Augenblick später wurden die unteren Decks von tanzenden Aureolen beleuchtet, da jeder im Dunkeln eine andere Richtung einschlug.

In der Wiege regten sich die Kätzchen; sie waren fast wach. Auch sie hatten Hunger – und wollten gefüttert werden.

 

 

Japeth kam noch einmal. Er blieb oben an der Treppe stehen, schwenkte seine Laterne und hielt sein Schwert. »Mutter!«, brüllte er, wobei sich seine Stimme überschlug. »Mutter!«

Mrs Noyes – die bei jedem Rufen ihrer Kinder alarmiert war, vor allem, wenn sie Panik oder Schmerz heraushörte – kam den Gang entlanggesaust, einen Holzlöffel in der Hand, und fragte: »Was ist los? Hast du dich verletzt oder was?«

Japeth sagte: »Natürlich nicht. Ich bin nur gekommen, um dich zu holen, mehr nicht. Er will dich wieder…«

»Wer?«, fragte Mrs Noyes – so barsch wie nur möglich.

»Papa. Er will dich was fragen.«

Mrs Noyes sagte: »Sag ihm, dass ich gerade das Abendessen mache. Ich komme, sobald wir gegessen haben.« Und sie wandte sich ihrer Kombüse zu, wo sie eben ein paar Kartoffelpuffer in eine Pfanne gelegt hatte und gerade den Rosenkohl in kochendes Wasser geben wollte.

»Ich glaube, er will dich gleich sehen«, sagte Japeth.

Mrs Noyes ging weiter geschäftig hin und her.

»Ich sagte…«, sagte er.

Mrs Noyes drehte sich um. »Und ich sagte«, sagte sie, »nachdem wir gegessen haben.«

Sie machte sich am Herd zu schaffen.

»ER WILL DICH GLEICH SEHEN, MAMA!«

Mrs Noyes blieb abrupt stehen.

»Na gut«, sagte sie. »Ich werde deinen Vater aufsuchen, wenn du die Kartoffelpuffer wendest.« Sie hielt ihm den Holzlöffel entgegen – und blieb provozierend unten an der Treppe stehen.

Japeth schaute den Löffel an und hob das Kinn.

»Männer gehen nicht in die Küche«, sagte er. »Es ist nicht üblich.«

»Gut«, sagte Mrs Noyes – drehte sich wieder auf der Stelle um und marschierte durch den Gang zurück; »dann kannst du ihm sagen, ich komme, wenn wir gegessen haben.«

Japeth holte so tief Luft, dass er fast daran erstickte.

Das Bild seines Vater stieg vor ihm auf. Wütend.

»Na gut«, sagte er. »Ich werde die Kartoffelpuffer wenden.«

»Das klingt schon besser«, sagte Mrs Noyes. »Und wenn du ohnehin dabei bist, kannst du auch den Rosenkohl aufsetzen…«

Im Vorbeigehen stieß sie den Holzlöffel in seine Hand und trat in den Sturm hinaus, der die Tür hinter ihr zuknallte und ihr dabei fast die Finger abschlug.

Japeth musterte den unter ihm liegenden Gang und sah, dass er leer war. Als er die Treppe hinunterging, fing er zu schniefen an, und bis er unten ankam, musste er sich mit dem Handrücken die Wangen abwischen.

Während er im Zickzack durch die Passagen zur Kombüse im Bug lief, schlug er mit dem Löffel gegen alle Wände. Als er am Herd ankam, war der Löffel kaputt. »Geschieht dir ganz recht«, sagte er zu dem Löffel. Und warf ihn ins Feuer.

 

 

»Na«, sagte Mrs Noyes. »Was gibt’s?«

Noah stand hinter dem Tisch und las in einem Buch mit dem Titel Berühmte Schlachten der sieben Weltmeere.

»Ich warne dich, meine Beste, in diesem Ton lasse ich nicht mit mir reden«, erwiderte er. »Und wo ist unser Sohn?«

»Er wendet die Kartoffelpuffer«, sagte Mrs Noyes. »Und wenn du möchtest, dass er zurückkommt, sag mir, was du mir zu sagen hast, und lass mich gehen!«

Noah betrachtete seine Frau mit einer Mischung aus Verärgerung und Bewunderung. Sie hatte Mut – und das war nützlich. Aber irgendwie musste er einen Weg finden, ihre Verachtung für ihn zu unterbinden. Das hob er sich jedoch für später auf. In der Zwischenzeit musste er in den sauren Apfel beißen und ihr schmeicheln.

»Meine Beste«, sagte er. »Vielleicht ist es dir bei deinem letzten Besuch in diesem Bereich aufgefallen, dass mir zum Abendessen etwas mit Käse gereicht wurde…«

Mrs Noyes biss sich auf die Zunge und sagte, das hätte sie wohl bemerkt.

»Dann hast du vielleicht auch bemerkt, dass es nicht aufgegessen wurde.«

»Gewiss«, sagte sie. »Und ich habe mich gefragt – da es nicht aufgegessen worden war, warum du uns nichts davon angeboten hast.«

»Es hätte euch nicht geschmeckt, meine Beste. Das war der Grund.«

Mrs Noyes schaute ihren Mann an und musste fast weinen. Es kostete sie viel Mühe, sich unter Kontrolle zu halten – sie wollte weder ihre Erleichterung über das Gehörte noch ihre Vorahnung von dem, was als Nächstes gesagt würde, durchscheinen lassen.

»Willst du damit sagen«, fragte sie, »dass der einzige Grund, warum du uns nichts zu essen angeboten hast, darin bestand, dass… das Essen nicht gut genug war, um es uns anzubieten?«

Noah brachte etwas wie ein Ja hervor, das Wort selbst war nicht deutlich hörbar – nur eine Art in seine Faust genuscheltes Geräusch.

Mrs Noyes strahlte. »Heißt das, du willst uns bitten, mit dir zusammenzusitzen, wenn das Essen mehr nach deinem Geschmack ist?«

Dieses Mal klang das Geräusch hinter der Faust ein bisschen wie »vielleicht« und »unter Umständen«, aber auch wie – »nein – eigentlich nicht«. Mrs Noyes konnte es nicht genau verstehen.

Sie wartete – und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.

Noah sagte: »Die Sache mit dem Käsegericht war… ich fürchte, Schwester Hannah hat die Zutaten nicht ganz hingekriegt. «

»Ich verstehe«, sagte Mrs Noyes. »Oh.«

»Ja. Nun… und, siehst du…«

Sie blickte ihn kalt an, während er nach Worten rang, und als er keine fand, sprach sie es für ihn aus.

»Also – du willst, dass ich ihr mein Rezept gebe.«

Er hatte zumindest den Anstand, die Situation peinlich zu finden.

»Nun – verdammt, meine Beste!«, sagte er. »Es ist seit jeher meine Leibspeise – und eine, die du souverän beherrschst.«

Mrs Noyes machte automatisch einen Knicks, als wäre sie ein Kind, das gerade mit einem Kompliment bedacht wurde. Aber sie sagte nichts. Die tropfnassen Haare hingen ihr in die Augen, sie streifte sie beiseite.

Noah drehte sich zur Tür um und rief nach Hannah, und während sie auf Hannah warteten, fragte Mrs Noyes, ob sie sich hinsetzen dürfe.

»Ja«, sagte Noah und deutete auf den Stuhl, auf dem sie bei ihrem vorigen »Besuch« gesessen hatte. Als Hannah hereinkam und sich setzte – den Bleistift über dem selbst gemachten Heft auf der anderen Tischseite schreibbereit –, ließ Mrs Noyes ihre Haare ganz herunter; sie legte sämtliche Haarnadeln auf das polierte Holz, und während sie das Rezept diktierte, flocht sie ihre Haare zu Zöpfen und befestigte sie – ganz stramm – oben auf dem Kopf.

»Du kannst den Teig entweder zuerst blind oder mit der Füllung backen«, sagte sie. »Ich ziehe Letzteres vor, da der Teig dann nicht so knusprig ist, dass er auf dem Teller zu Krümeln zerfällt.«

Der Bleistift schrieb – dann hielt er inne.

»Soll ich dir auch sagen, wie man den Teig macht?« Ein neues Blatt wurde aufgeschlagen – ganz eifrig, so kam es Mrs Noyes vor, und der Bleistift schwebte erwartungsvoll über dem Heft.

Noah ließ sich im Schein der Laterne nieder und beobachtete seine Frau, während sie sprach. Ihr Tonfall war jetzt so sanft – nachdenklich – und das Lichtspiel auf ihrem Gesicht… Die Zeit drehte sich vierhundert Jahre zurück, so kam es ihm vor, während er lauschte… und die Gerüche der Küche, wie sie früher einmal waren, wurden wieder in ihm wach. Er konnte sogar sehen, wie ihre Hände den Teig bearbeiteten… vierhundert, fünfhundert Jahre… Erstaunlich. Und traurig. Man hatte in Häusern gewohnt, damals, und die Bäume spendeten Schatten und die Welt war für einen da. Jetzt…

»… es ist unbedingt wichtig, die gleiche Menge an Fett und Mehl zu nehmen…«

Wir sind alt. Aber damals…

»… nimm immer ungesalzene Butter…«

… waren wir Kinder. Fast noch Kinder. Kinder in einem Garten – neben einem Obstgarten – und wir aßen Quiche. Und ich liebte sie, damals. Wirklich, glaub mir. Ich…

»… eine Vierteltasse kaltes Wasser und eine Prise Salz. Das Salz nach Geschmack…« Mrs Noyes schaute zu Noah. »Er mag eine größere Prise«, sagte sie. »So…«, und sie zeigte es mit Daumen und Zeigefinger – eben so.

Der Bleistift erhob sich vom Papier. Er wusste nicht, wie man das hinschreibt.

»Sieh her – und merk es dir!«, sagte Mrs Noyes. »So…«

Einen Augenblick später kehrte der Bleistift zum Papier zurück.

Noah stand auf und ging weg, und als er zurückkam, hatte er sich die Nase geputzt und faltete eben sein Taschentuch, um es in die Tasche zu stecken. Er nahm es wieder heraus, faltete es wieder, betupfte seinen Lippenbart – faltete das Taschentuch immer wieder, bis Mrs Noyes endlich einen solchen Seufzer losließ und ihm einen solchen Blick zuwarf, dass er es plötzlich hinter seinem Rücken verschwinden ließ, wo es aus seiner Hand wie ein Schwanz herunterhing.

»Jetzt – die Füllung«, sagte Mrs Noyes.

Fünfhundert Jahre.

»… ein Hartkäse, Vollfettstufe, ist am besten. Und er muss fein… fein gerieben werden. Es geht nicht, dass man ihn mit dem Messer aufschneidet und dann hofft, dass es gelingt…«

Es machte Mrs Noyes ziemlich viel Spaß. Seit dem Tod ihrer Töchter hatte sie keiner Menschenseele mehr das Kochen beigebracht.

»… ein schaumig geschlagenes Ei… ein Viertelliter Kondensmilch und eine halbe Tasse Vollmilch… den Käse und eine Messerspitze Paprika.«

»Ahhh!«, machte Noah.

»Ja«, sagte Mrs Noyes. »›Ahhh!‹ In der Tat. Du hast höchstwahrscheinlich den Paprika und noch eine unentbehrliche Zutat ausgelassen…«

Sie schaute Noah an – sie konnte sich nicht zurückhalten. »Weißt du noch«, sagte sie, »was das ist?«

Noah schüttelte den Kopf.

»Dann werde ich es dir sagen«, sagte Mrs Noyes. »Bist du sicher, dass du dich nicht daran erinnerst?«

»Nein, ich erinnere mich nicht«, sagte Noah – und neigte sich nach vorn. »Bitte…«

Mrs Noyes wandte sich dem Bleistift zu und flüsterte: »Muskat.«

»Ahhhhhh…«, machte Noah.

»Ja«, sagte Mrs Noyes, »und zwar nur so viel.« Sie gab ein kehliges Geräusch von sich – einen krächzenden Husten – und lächelte. »Verstehst du? So viel – und kein bisschen mehr.«

Hannah imitierte das kehlige Geräusch – während Noah zuschaute und Mrs Noyes sie kritisch beobachtete.

»Gut – genauso.«

Es war vorbei.

»Darf ich jetzt gehen?«, fragte sie.

Noah starrte sie an und blinzelte.

»Ich muss gehen, wirklich«, sagte Mrs Noyes. »Meine Kartoffelpuffer sind bestimmt schon hin.«

Sie stand auf und wischte ein paar übrig gebliebene Haarnadeln in die Tasche ihrer Schürze. Dann ging sie zur Tür.

»Auf Wiedersehen«, sagte sie. Und war draußen.

Noah wusste nicht, wie er sie aufhalten sollte.

»Auf Wiedersehen«, sagte er. »Und…«

Hannah machte das Heft zu.

»Es ist spät«, sagte sie. »Darf ich jetzt ins Bett gehen?«

»Ja«, sagte Noah. »Bitte.«

Hannah ging zur anderen Tür; das handgemachte Heft hielt sie an die Brust gedrückt. »Ich werde das alles auswendig lernen«, sagte sie. »Auch den Muskat…«, und sie gab das kehlige Geräusch von sich. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte Noah.

Als sie gegangen war, nahm er das Taschentuch, faltete es wieder und steckte es tief in seine Tasche.

»Na«, sagte er – laut –, »das war’s, nehme ich an.«

Und – eine Sekunde später – »Ja«, sagte er – drehte sich um und suchte sein Buch.

Berühmte Schlachten der sieben Weltmeere.

 

 

Als Mottyl in der Dunkelheit unten im Schacht aufschlug, fiel sie – wie jede Katze – auf die Pfoten. Aber der Schock, der bei einem leichteren Sturz vielleicht aufgefangen worden wäre, verrenkte ihre Schulter und brach eine Rippe an. Sie erlitt auch Prellungen fast über den ganzen Rücken und unten am Kinn eine Schnittwunde. Ein Zahn hatte ihre Wange durchbohrt und in ihrem Innern lag alles verquer.

Ihre Flüsterstimmen schwiegen.

Mottyls erste Eindrücke galten jedoch nicht sich selbst, sondern ihrer Umgebung: der Vollkommenheit der Finsternis; einem seltsamen Tiergeruch, den sie nicht identifizieren konnte; einer übel riechenden Feuchtigkeit, deren Gestank von dem Tiergeruch gesondert war und ihr zugleich wie ein Geschmack und wie ein Geruch vorkam. Vor allem aber vernahm sie ein Geräusch, das sie nie zuvor gehört hatte: es war zugleich Angst einflößend und nicht deutbar.

Diesem – dem Geräusch – galt Mottyls erste Sorge, denn sie war hilflos und fühlte sich bedroht.

Sie lag auf der Seite, auf der sie nach dem Aufschlag zusammengesunken war, und sie merkte sehr schnell, dass sie sich nicht bewegen konnte – aus welchem Grund auch immer. Von allen Sinnen (außer ihren Flüsterstimmen) kehrte ihr Gefühlssinn als letzter zurück –, und während sie langsam ihren ganzen Körper wieder fühlen konnte, spürte sie, woher die Schmerzen rührten – auch wenn sie damit noch nicht wusste, warum sie gelähmt war.

Und mit der Lähmung nicht genug: Dazu kam noch der Hall dieses Geräusches, das sie in Angst und Schrecken versetzte, weil es so furchtbar nahe war. Der Boden unter ihr wurde allein dadurch bewegt, dass etwas darauf stand – zuerst auf einem Fuß, dann auf dem anderen. Sie spürte, wie das Gewicht sich von einer Seite zur anderen verlagerte, und seine Kraft war so groß, dass Mottyl sie mit keinem Tier oder Wesen in Verbindung bringen konnte, das sie je gesehen hatte. Es war, als würde ein Gebäude von der Größe des Badhauses von einer Seite auf die andere schaukeln… Und das dadurch verursachte Geräusch klang wie brechendes, zersplitterndes Holz.

Mottyl konnte sich noch immer nicht bewegen, ganz gleich, wie viel Mühe sie für den Versuch aufbrachte, und der Gedanke, dass dieses Gewicht jeden Moment auf sie herabbrausen könnte, versetzte sie in Panik.

Sie gab den Versuch auf aufzustehen und probierte jetzt eine andere Methode aus, um zu entkommen. Sie hatte vor, eine Schwimmbewegung auszuführen: die Beine bis zur Mitte des Körpers anzuziehen. Das würde sie so klein wie möglich machen und so könnte sie auch all ihre Kräfte sammeln, um von dem, was sie bedrohte, wegzurücken.

Wenigstens ihre Beine schienen ihr zu gehorchen – obwohl sie es noch nicht schaffte, aus der Seitenlage hochzukommen. Und als sich ihre Hüften und ihr Rücken endlich bewegen ließen, wurde ihr bewusst, wie entsetzlich hart die Fläche war, auf der sie lag – und wie nass.

Und wenn die Nässe ihr eigenes Blut war?

Dieser Gedanke weckte alle Energie, die ihr noch geblieben war und sie fing an zu zappeln – wie ein sterbender Fisch am Ufer –, um sich durch die bloße Kraft ihrer Verrenkungen von der Stelle zu bewegen, was sich für ihre Seite und die angebrochene Rippe als so schmerzhaft erwies, dass sie fast aufgeschrien hätte.

Dann fiel ihr ein, dass das, was sie da bedrohte, ein Tier sein musste (sie konnte seinen Atem spüren – sie konnte seinen gigantischen Magen rumoren hören) – und sie versuchen könnte, mit ihm zu sprechen. Noch etwas bewegte sie dazu, es mit Worten zu probieren – sein Geruch. Was es auch war, es war kein Fleischfresser.

Weder sein Atem noch die Haut, noch die Duftmarke – und davon verspritzte es jetzt eine ganze Fontäne – zeigte die geringste Spur von verräterischem Blut oder Knochen.

»Ist da jemand?«, fragte Mottyl. Und merkte sogleich, wie dumm die Frage war – aber sie war die erste, die ihr einfiel.

Ob dumm oder nicht, jedenfalls machte sie jeder Bewegung ein Ende – und Mottyl bildete sich ein, dass jemand Luft holte.

»Ist da jemand?«, wiederholte sie.

»Wo?« Die Stimme hatte ein enormes Volumen und schien aus einem sehr kleinen Mund zu kommen. »Ich habe niemanden gesehen.«

Mottyls Antwort war leise. »Ich liege, glaube ich, ganz nahe bei dir. Ich bin eine Katze.«

»Eine was}«

»Eine Katze. Ich bin irgendwo unten bei deinen Füßen – und ich kann mich nicht bewegen.«

Schweigen – vielleicht dachte das Tier jetzt darüber nach, was eine Katze wohl sein könnte.

»Darf ich dich bitten«, fuhr Mottyl fort, »deine Füße nicht ganz so viel zu bewegen?«

Endlich ließ sich die voluminöse Stimme hoch über ihr wieder vernehmen. Aber ihre Worte waren nicht ganz das, was Mottyl erwartet hätte, wenn ein so großes Geschöpf mit einem so kleinen spricht. Sie klangen ziemlich wehleidig. »Hat eine Katze – womöglich – Ähnlichkeit mit einer Ratze… Ratte?«

»Überhaupt keine.«

Der Seufzer der Erleichterung von oben war so tief, dass Mottyl ihn riechen konnte. Heu – vermischt mit abgestandenen, fast ranzigen Verdauungssäften.

»Hast du ein Magengeschwür?«, fragte Mottyl.

»Ich fürchte, ja«, antwortete das Tier. »Es ist in diesen letzten Tagen, seitdem wir in der Arche sind, viel schlimmer geworden. Ich kann die Dunkelheit nicht ausstehen. Ein bisschen Dunkelheit das geht noch, aber nicht diese endlose Finsternis. Man kriegt so viel Angst.«

»Wer bist du?«, fragte Mottyl.

»Ich heiße Stoßzahn.« Die Stimme kam aus der Finsternis. »Ich bin ein Elefant.«

»Ich habe wahrscheinlich so wenig Ahnung von Elefanten wie du von Katzen, Stoßzahn. Ich merke nur, dass du sehr groß bist.«

Jetzt spürte Mottyl etwas Seltsames, das sie zuerst beunruhigte. Ihr Körper wurde auf eine weiche, nicht unangenehme und sehr sanfte Weise untersucht. Was sie beunruhigte, war der Gedanke, dass es – auch wenn die Untersuchung so sanft war – sich um eine Schlange handeln können.

»Dein Geruch kommt mir nicht gefährlich vor«, schnüffelte Stoßzahn. »Aber du bist verletzt.«

»Ich weiß. Ich weiß nur nicht, wie schlimm.«

»Und zur Zeit säugst du Junge…«

»Ja – und sie brauchen mich. Kannst du mir – vielleicht – helfen, hier herauszukommen?«

»Es kommt darauf an, wo du hinwillst. Wo bist du hergekommen? Wie bist du hierher gekommen?«

»Sie ist gefallen.« Das war eine andere Stimme – sie kam von irgendwo aus der Ecke. Eine schroffe, schlecht gelaunte Stimme.

»Wer ist das?«, fragte Mottyl.

»Das ist nur Hippo«, antwortete Stoßzahn.

»Ach ja«, nickte Mottyl im Dunkeln. »Ich habe schon von Hippo gehört. Man hat ihn mir beschrieben. Ist immer am Jammern.«

»Du würdest dich auch beklagen, Katze, wenn man dir alles Wasser wegnähme. Ich will baden. Ich will untertauchen – und was kriege ich? Jeden Morgen nur einen Eimer voll Wasser. Würde das dich am Leben halten?«

Mottyl gab darauf keine Antwort.

»Von wo bist du gefallen?« Stoßzahn schien besorgt.

»Ich weiß eigentlich nicht, wie weit ich gefallen bin – aber ich bin von ganz oben gefallen – wo immer oben auch sein mag.«

»Dann bist du ganze drei Stockwerke gefallen.«

Hippo war offensichtlich beeindruckt. »Dass sie noch lebt, ist ein Wunder. Ich wäre schon platt gedrückt, wenn ich nur ein Stockwerk fallen würde.«

»Ja«, grollte Stoßzahn. »Und wir alle anderen auch. Aber dieses Geschöpf ist ganz anders als du und ich und Rhino. Es ist ganz, ganz klein – und mit Fell bedeckt, hat weder Haut noch Schuppen.«

Mottyl war verunsichert. »Wer ist Rhino?«

»Rhino liegt da und pennt. Er ist sehr deprimiert. Er hat ein ganz anderes Problem als Hippo. Für ihn ist die Arche viel zu feucht. Er braucht Staub zum Wühlen – und hier haben wir natürlich keinen Staub, nur Leckwasser und nassen Mist.«

»Oh, bitte«, rief Mottyl. »Kannst du mich von hier wegbringen? Meine Kinder…«

Stoßzahn überlegte lange, so lange, dass Mottyl fürchtete, er sei eingeschlafen wie Rhino.

Schließlich hatte Hippo eine Idee. »Warum hebst du sie nicht mit deinem Rüssel hoch? Du könntest sie mindestens bis zum nächsten Deck befördern.«

»Das stimmt.« Stoßzahn wackelte mit seinem riesigen Kopf. »Aber sie ist so klein…« Er versuchte angestrengt, Mottyl zu erkennen. »Traust du mir, Katze?«

»Das muss ich wohl.«

»Na, gut. Dann werde ich dich hochheben. Aber du darfst dich nicht dagegen wehren.«

Wieder spürte Mottyl, wie die weiche Sonde des Elefanten sie abtastete – sie fühlte, wie sie ganz sanft gefasst und gehalten wurde – wie in der Krümmung eines großen Ellbogens – so wie Mrs Noyes sie manchmal hielt. Und dann wurde sie hochgehoben

Was ist los?

Da seid ihr ja wieder.

Ja – aber wo?

Keine Zeit für Erklärungen. Wir sind irgendwo mitten in der Luft.

Und steigen!

Stoßzahn hob Mottyl sehr hoch und schwenkte sie zum Fußboden des nächsthöheren Decks.

»Kannst du unter dir etwas fühlen?«, fragte Stoßzahn – er hatte Mottyl noch nicht losgelassen.

»Ja. Da sind Planken.«

»Ich schiebe dich jetzt auf diese Planken, dann lasse ich dich los. In Ordnung?«

»Ja.«

»Bist du bereit?«

»Ja.«

Mottyl fühlte, wie sie über dem Boden landete – und wie Stoßzahn seine Sonde zurückzog.

Wieder allein, fand sich Mottyl – noch immer auf der Seite liegend – in einem schwach beleuchteten Gang, kaum anders als der, von dem aus sie gestürzt war. Details konnte sie nicht erkennen – nur ein ganz schwaches Licht.

»Danke«, rief sie in die Dunkelheit hinein. »Du warst sehr gut zu mir, Stoßzahn. Du hast mir das Leben gerettet – und das meiner Kinder.«

»Keine Ursache.« Stoßzahns Stimme klang jetzt gedämpft; er schien weit weg zu sein. »Wir sitzen alle im selben Boot – und jeder tut, was er kann.«

Das Erstaunliche war, dass Mottyl weder beim Hochgehoben- noch beim Festgehaltenwerden ihre Verletzungen gespürt hatte. Nicht einmal ihre angebrochene Rippe.

Stoßzahn rief von unten herauf.

»Falls du da oben etwas für uns tun kannst, Katze, könnten wir vielleicht ein bisschen Licht hier unten haben?«

»Ja«, fügte Hippo hinzu. »Und Wasser.«

»Ich werde mein Bestes tun«, versicherte Mottyl. »Ich bin sicher, dass euch jemand helfen wird.«

Binnen einer halben Stunde hatte Mottyl es geschafft, um die Innenseite des Schachts dicht an der Wand des Ganges entlang zu kriechen, bis sie – völlig erschöpft – nicht mehr konnte.

Sie machte sich Sorgen um ihre Kinder.

Jetzt würden die Kleinen sie suchen – es war Fütterungszeit –nein, eigentlich war die Fütterungszeit schon lange vorbei. Aber sie wusste, sie hatte keine Kraft mehr weiterzukriechen.

»Wenn ich ihnen nur eine Nachricht schicken könnte…«, murmelte sie, ohne zu wissen, dass sie überhaupt gesprochen hatte.

»Das kannst du«, versicherte ihr eine vertraute Stimme. »Du musst nur sagen, wo die Nachricht hin soll.«

Es war das Einhorn – irgendwo weiter oben in seinem Käfig – und Mottyl fiel vor Dankbarkeit fast in Ohnmacht, als sie seine Stimme hörte.

 

 

Als Mrs Noyes auffiel, dass Mottyl schon zu lange weg war, um nur ihre Notdurft zu verrichten, fragte sie die anderen, ob sie die Katze zufälligerweise gesehen hatten. Sie strengte sich sehr an, nicht in Panik zu geraten und vor den anderen Tieren zu verbergen, wie viel Angst sie hatte. Angst – und außerdem fing sie auch ziemlich heftig an zu zittern. Ihr sehnlichster Wunsch war jetzt – abgesehen von Mottyls Rückkehr – ein Drink.

Doch es gab keinen Drink.

Nur ein kleiner Schluck Gin hätte die Spannungen um sie herum erträglicher gemacht: die Gräuel der Arche selbst -       den Verlust ihrer Katze – den Verlust ihres Platzes in der Ordnung der Dinge.

Ach, bitte – ach, nein, sagte sie zu sich selbst, als sie ihre Schürze schon als Taschentuch benutzen musste; bitte, nicht weinen; bitte, keine Tränen… Sie leckte sich die Lippen und stellte sich vor, dass jede Träne ein Tropfen Gin wäre. »Salziger Gin«, sagte sie laut. Und lachte darüber.

Als sie bei den Schafen ankam, war Mrs Noyes in sehr schlechter Verfassung. Noch immer gab es keine Spur von Mottyl – noch immer keine Hoffnung, dass auf magische Weise ein Krug unter den Stroh- und Heuballen zum Vorschein kommen würde. Ach – hätte ich doch nur daran gedacht, jammerte sie innerlich. Hätte ich nur geahnt, dass ich hier landen würde, dann hätte ich ganze Kisten mit Ginkrügen voll gestopft

Die Schafe sahen so verlassen und traurig aus. Und die Lämmer waren alle so träge. Nur mit großer Mühe lernten die Rinder, wie sie sich bei den heftigen Bewegungen der Arche auf den Füßen halten konnten – und die Pferde hatten Durst – aber sie hatten schon ihre Wasserration bekommen und mehr durfte es nicht geben – und die Ziegen wollten Schuhe, die sie fressen könnten, oder Blumen – und im Ochsenverschlag war es so eng, dass die Tiere sich nicht hinlegen konnten – und die Hennen waren… und die Gänse waren… und die Schweine waren… und…

»Ach – alle!«, sagte Mrs Noyes plötzlich mit lauter Stimme – sie stand mitten im Heu, eine Heugabel in der Hand, und die Tränen rollten ihr die Wangen hinunter. »Warum müssen wir hier so hilflos sein und so unglücklich?…«

Alle Tiere drehten sich um und starrten sie beunruhigt an. Und als sie ihren besorgten Blick sah, tat es ihr so Leid, dass sie gesehen hatten, wie sie zusammengebrochen war. Dabei hatte sie sich geschworen, dass sie gerade dies nicht erleben sollten – denn sie brauchten sie – sie brauchten jemanden – irgendjemanden –, der stark war.

Einen Augenblick lang – sie erwiderte ihren Blick fast trotzig – ertappte sich Mrs Noyes bei dem Gedanken: Ich will nicht stark sein. Warum kann ich mich nicht ausruhen? Warum kann nicht jemand anderer stark sein? Warum muss immer ich es sein – die als Erste wieder den Kopf über Wasser streckt, wenn ich doch nur einfach untergehen will.

Wenn ich nur aufhören will. Wenn ich nur meinen Gin haben will. Und – verdammt! (Sie sah die Schafe an.) Ich will, dass jemand mir mein Heu bringt!

Dann zwang sie sich zu einem Lächeln.

»Warum singen wir nicht?«, fragte sie. »Ja? Wir können doch alle ein schönes – fröhliches – Lied singen…«

Eine Pause entstand, während Mrs Noyes versuchte – es gelang ihr nicht –, an ein fröhliches Lied zu denken.

»Wir müssen für Mottyl singen«, sagte sie. »Besonders für Mottyl – denn sie ist verschwunden und wir wissen nicht, wo sie überhaupt stecken kann. Und wenn wir laut genug singen, wird sie uns vielleicht hören…«

Genau in diesem Augenblick tat die Arche einen furchtbaren Ruck, der Sturm war schlimmer geworden. Die Laterne schaukelte so heftig, dass Mrs Noyes fürchtete, sie könnte herunterfallen und einen Brand verursachen. Sie ließ ihre Heugabel los, nahm die Laterne vom Haken und hielt sie fest.

Ganz langsam und zögernd begann Mrs Noyes zu singen, so als würde die alte Hymne just in diesem Augenblick geschaffen:

 

Wie mit grimmigem Unverstand Wellen sich bewegen!

Nirgends Rettung, nirgends Land vor des Sturmwinds

Schlägen!

Einer ist’s, der in der Nacht, einer ist’s, der uns bewacht:

Kyrie, du wandelst auf der See.

 

Die Schafe schlossen sich ihr als Erste an – die Mutterschafe, dann die Widder und zum Schluss die Lämmer. Sogar die Ziegen hoben zu singen an – und die Ochsen – die in der Vergangenheit nie mitgesungen hatten – begannen zu summen – nur zu summen, denn sie kannten den Text nicht.

 

Wie vor unserm Angesicht Mond und Sterne schwinden!

Wenn des Schiffleins Ruder bricht,

wo dann Rettung finden?

Keine Hilf, als bei dem Herrn, er ist unser Morgenstern:

Kyrie, erschein uns auf der See!

 

Und als alle sangen, bahnte sich die Nachricht, die vom Einhorn an das Stachelschwein, vom Stachelschwein an das Wiesel, vom Wiesel an die Füchsin weitergeleitet worden war, bereits ihren Weg von den unteren Ebenen der Arche zu den höheren, und als würde es diese Nachricht beantworten – dass Mottyl gefunden und sicher war –, verlief der Gesang in die entgegengesetzte Richtung, so lange, bis alle Tiere flüsterten und brüllten:

 

Nach dem Sturme fahren wir sicher durch die Wellen,

lassen, großer Schöpfer, dir unser Lob erschallen,

lobet ihn mit Herz und Mund,

lobet ihn zu jeder Stund:

Kyrie, ja dir gehorcht die See.

 

Und einen sicheren Platz für Mottyl;

Staub zum Wühlen für Rhino;

Wasser für Hippo;

Licht für Stoßzahn

Und einen Krug Gin für mich…

Amen.

 

 

Die Tage vergingen – wurden zu Wochen, und mit den Wochen zeigten sich bei jedem Anzeichen dafür, dass Geduld und Durchhaltevermögen bald ein Ende haben würden. Der Tagesablauf auf Deck war streng geregelt und bot wenig Abwechslung. Wirkliche Erlebnisse waren so selten wie Sonnentage. Hannahs Kind in ihrem Bauch war so groß, dass man täglich mit der Geburt rechnen konnte. Sem fand immer weniger, womit er sich beschäftigen könnte und saß bald nur noch mitten im Vorratslager des Hochwürdigen Doktors, wo er sich mit Delikatessen voll stopfte, Datteln, Avocados, Brot und Butter und Bananen. Bald schien er mit seiner Frau in Sachen Bauchumfang zu wetteifern.

Japeth mit seiner überschäumenden Jugend, dachte nur an eines: an Sex. Jeden Tag von Neuem legte er seine Schwerter und Messer, seine Beinschienen, seinen Brustharnisch und seinen Helm an und nahm sie wieder ab – und jeden Tag, wenn er sich in voller Montur in seinem Schild erblickte, hielt er inne – staunend angesichts der Schönheit seiner blauen Gliedmaßen und bevor er es verhindern konnte, streckte sein Organ sich seiner Hand entgegen und verlangte Zuwendung.

Jeden Morgen zog Noah sich in die Kapelle zurück und las in der Heiligen Schrift und den Schriftrollen. Nachmittags las er in seinen Seefahrtsbüchern. Abends saß er mit Hannah und den beiden Katzen zusammen, und dann las entweder sie ihm aus den Werken verschiedener gnostischer Magier vor – oder er diktierte seine Theorien über Die Kunst der wahren Alchemie oder Die Anatomie der Vierfüßler, worin er fortfuhr, einerseits die Verwendung von Zink und andererseits die Möglichkeit, ein Schaf mit einer Ziege zu kreuzen, zu untersuchen. Zweimal am Tag ging er auf dem Deck spazieren und starrte zum Himmel hinauf.

Noah war sich gar nicht bewusst darüber, wie sehr Hannah bereits seinen Tagesablauf kontrollierte – wie eine Krankenschwester, die sich um einen betagten, verwirrten Patienten kümmert. Manchmal saßen die beiden einfach stundenlang zusammen – still und ruhig.

Unter Deck war man viel beschäftigter – auch wenn es sich meist um einfache Arbeiten handelte. Emma fütterte die Vögel, Ham die größeren Tiere und Luci die Tiere, die weder als groß noch als klein galten. Mrs Noyes versorgte ihre Schafe und sorgte dafür, dass alle zu essen bekamen. Mottyl hatte sich in einem verborgenen Nest über dem Käfig des Einhorns häuslich niedergelassen und ihre Kätzchen gediehen und machten nach ein paar Tagen Ohren und Augen auf, um die Welt der Arche zu erkunden.

Mrs Noyes brauchte lange, um von ihrem Bedürfnis nach Alkohol geheilt zu werden – und gelegentlich brauchte sie Hilfe, um sich von ihren Träumen zu erholen. Manchmal begann sie, im Schlaf zu wandeln, und das hatte ein außergewöhnliches Erlebnis zur Folge.

Vier Wochen, nachdem die Arche ihre Fahrt begonnen hatte, geriet sie in einen furchtbaren Sturm mit vielen Blitzen und tobendem Donner. Obwohl das ganze Boot vom Krach des Gewitters widerhallte, brach Mrs Noyes unbewusst – was nicht ungefährlich war – zu einem ihrer nächtlichen Spaziergänge auf. Er führte sie bald zu einem Käfig, in dem zwei Bären saßen, die wegen des Sturms große Angst hatten. Mrs Noyes, die sich schon immer sehr vor Bären gefürchtet hatte, geriet bei ihrem Anblick in Angst und Wut. Eine Wut, die zweifellos aus ihrer Unfähigkeit rührte, ihre Angst zu überwinden. Wie auch immer, jedenfalls lagen die Bären da und schliefen, und einer von ihnen weinte. Mrs Noyes träumte gerade von Lotte und selbst im Schlaf brach ihr das Herz bei der Erinnerung an das Kind, das ihr genommen worden war. Als sie mitten in einem gewaltigen Donnerschlag aufwachte, hörte Mrs Noyes den Bären weinen. In Gedanken noch ganz bei Lotte, öffnete sie die Tür des Bärenkäfigs und ging hinein.

»Arme, arme Lotte«, sagte sie, und streckte dem weinenden Bären ihre Arme entgegen. »Hab keine Angst – es ist nur ein Sturm…«

Der Bär lief in ihre ausgebreiteten Arme und ließ den Kopf über ihre Schulter hängen.

»Ist schon gut, ist ja schon gut«, sagte Mrs Noyes und erst, als sie dem Wesen besänftigend den Rücken streichelte, erkannte sie, was sich da in ihren Armen befand. Sie war hin- und hergerissen zwischen Angst und Wut, doch zu guter Letzt siegten praktische Überlegungen.

Nanu – dachte sie –, was soll ich jetzt tun?

Die Antwort war ziemlich einfach.

Sie setzte sich auf den Boden des Bärenkäfigs und hielt den erschrockenen Bären so lange fest, bis er mit dem Kopf auf ihrem Schoß einschlief…

So fand Ham die beiden am nächsten Morgen: Seine Mutter, im Nachthemd, lag schnarchend im Stroh, zu jeder Seite ein schlafender Bär.

Eine ganze Nacht hindurch hatte es so heftig geregnet, dass am Morgen das Wasser ganz flach und ruhig war. Nebel war herabgestiegen und blieb schwebend über der Oberfläche des großen Meeres hängen – da und dort bildeten sich Wirbel, die von kleineren Sturmböen verjagt wurden – der Nebel stieg ein bisschen höher – gab den Blick frei – verstellte ihn wieder, verdeckte jedoch nie das Wasser selbst oder den Regen, der massierend darauf fiel.

Die Wellen schlugen hoch und die Arche stieg und fiel; bald tauchte das Dach des Kastells und der Pagode auf, bald verschwand es wieder, der Anblick wirkte nach einiger Zeit nervtötend.

Japeth – der das alles von der Tür des Arsenals aus beobachtet hatte – wollte sich gerade für einen weiteren vergeudeten Tag in seine Koje zurückziehen, als er jenseits der Arche etwas erspähte, das ihm einen kalten Schauer durch sämtliche Glieder jagte.

Oh, Gott – oh, Gott!, dachte er – wir sind hier draußen nicht alleinewir sind nicht alleine!

Er wollte zur Mitte des Kastells eilen, kehrte aber gleich wieder um, um sich zu bewaffnen. Als er wieder herauskam, schon im Laufschritt, trug er Schwert und Schild und Brustharnisch – Netz und Dreizack – drei Messer – zwei Äxte – seinen Bogen, Pfeile und seinen Jagdspeer. Japeth rutschte und schlitterte, fiel hin und kam wieder hoch, während er zum Kastell rannte und mit dem Schrei »Krieg! Krieg!« die Tür aufstieß.

»Was?«, fragte Noah, der gerade beim Frühstücken war – dabei fütterte er Abraham und Sarah auf seinem Schoß, wie Jahwe es getan hatte.

»Krieg!«, sagte Japeth noch einmal. »Krieg!« Er zeigte mit seinem Speer aufs Wasser hinaus. »KRIEG!« Zu mehr Worten war er nicht fähig. Sein Mund steckte voller Messer, seine Hände voller Schnallen und Schwerter, und auf dem Fußboden um ihn herum stapelte sich heruntergefallenes Kriegsgerät.

Noah, der ruhig zu bleiben versuchte, was ihm jedoch nicht gelang, stand abrupt vom Stuhl auf, die Katzen fielen zu Boden. Er griff nach seinem Regenschirm, schritt zur Tür – drehte sich um und sagte: »Hole Sem und Schwester Hannah, sofort!«

Dann war er weg.

Zwanzig Sekunden später kehrte er wieder ins Kastell zurück, und schrie – wie zuvor Japeth – ein einziges Wort. Doch Noahs Wort hieß nicht Krieg. Noahs Wort war: »PIRATEN!«

Was sich auf Deck abspielte, war das reinste Chaos. Selbst Schwester Hannah – mit prallem Bauch – schwenkte ein Schwert. Sem und Japeth sausten von einem Ende der Arche zum anderen und hauten gegen die Reling, um die Piraten am Herüberklettern zu hindern.

Noah – in voller Pracht und Herrlichkeit – stand auf dem Afterdeck unter dem schwarzen Regenschirm; seine Roben flatterten im Wind, sein Bart wallte um ihn herum. Er rief den anderen zu: »Keine Enterkommandos! Keine Enterkommandos!« und wiederholte immer wieder das völlig sinnlose Wort: »Avast!«

Als sie das Tohuwabohu hörten, stürzten Mrs Noyes, Ham, Luci und Emma zur Tür ihres Kerkers – in der sicheren Annahme, dass die Arche dabei war unterzugehen.

Als Noah sie herauskommen sah, rief er: »Alle Mann an Deck, um die Enterkommandos abzuwehren!«

Sem starrte seine Mutter mit wildem Blick an (für Sem unerhört) und sagte nur ein einziges Wort: »Piraten!«

Mrs Noyes drängte nach vorn; Emma hielt sich buchstäblich an ihrem Schürzenzipfel fest und Ham und Luci waren dicht hinter ihnen. Mrs Noyes führte ihre Leute mitten auf das Deck, wo sie sehen konnten, was los war.

Die Arche – unter dem Nebel in eine Flaute geraten und beigedreht – war auf allen Seiten von hunderten von verspielten und umhertollenden Geschöpfen umringt, die aus dem Wasser sprangen, mit ihren Flossen der Arche und ihren Insassen zuwinkten und »Hallo! Hallo!« riefen, bevor sie wieder unter die Oberfläche zurückfielen.

Weiter weg war etwas zu erkennen, das einer Flottille blauer Papierwale aus Noahs Maskenspiel von der Erschaffung der Welt ähnelte – nur dass diese Wale echt waren und nicht blau, sondern andersfarbig. (Papier hätte sich aufgelöst – wäre untergegangen –, begriff Mrs Noyes sehr schnell.)

Ein Blick sagte ihr – und so erging es auch Ham und Luci –, dass die Piraten Freunde waren. (Emma hatte keinen einzigen Blick gewagt. Während der ganzen Zeit hielt sie die Augen fest geschlossen.)

»Aufhören!«, schrie Mrs Noyes – und suchte aufgeregt nach Noah. »Aufhören! Seht ihr denn nicht, dass sie unsere Freunde sein wollen?«

In genau diesem Augenblick sauste Japeth an seiner Mutter vorbei, schwenkte sein Schwert und schubste sie dabei mit so großer Wucht an, dass sowohl Mrs Noyes als auch Emma umgestoßen wurden und über das Deck rollten.

Ohne an ihre Verletzungen zu denken (sie blutete), stand Mrs Noyes auf, rannte (mit Emma im Schlepptau) zum Fuß des Afterdecks und rief ihrem Mann zu – der immer noch da stand und tobte –, flehte ihn an, dem Schlachten ein Ende zu machen.

»Freunde!«, rief sie. »Freunde! Sie wollen unsere Freunde sein!«

Aber Noah weigerte sich, auf sie zu hören.

Waren diese Geschöpfe nicht auf allen Seiten der Arche?

Waren sie nicht schon in solchen Mengen über die Bordwände auf das Deck geschossen, dass es genügte, um die Herren der Arche zu überwältigen? Nur dank des glorreichen Armes seines Krieger-Sohnes wurden sie ebenso schnell erledigt, wie sie aufgekreuzt waren.

»Madam«, rief er durch seinen rauchumhüllten Bart hinunter – den Arm und den schwarzen Schirm gen Himmel erhoben, »das sind Geschöpfe der Hölle! Piraten aus dem Abgrund! Aus Satans eigenem Mund gespuckt! Tu deine Pflicht, Frau! Töte sie!«

Mrs Noyes wandte sich ab. Ihr war übel.

Da sprang eine große, graue, wie Perlmutt schimmernde Gestalt – sie glänzte, kämpfte gegen die Luft an – vor Mrs Noyes in die Höhe – und landete vor ihren Füßen.

Sie wälzte sich auf den Rücken wie eine spielende Katze, hob den Kopf und schaute sie mit Augen an, die sie nie mehr vergessen würde.

Das ganze Gesicht war eine Botschaft der Freude und der Begrüßung.

Aber genau in dem Augenblick des Erkennens, als Mrs Noyes und die Kreatur einander anschauten und anlächelten – fiel Japeths Schwert – flink und mit tödlicher Wirkung.

 

 

Mrs Noyes stieß einen wütenden Schrei aus und befreite sich von der Last ihrer Schwiegertochter – dann warf sie sich mit voller Wucht auf ihren Sohn. Sie kämpfte gegen seine Arme – sie kämpfte gegen seine Augen – sie kämpfte gegen seine Beine und gegen sein Schwert. Doch sie konnte ihn nicht aufhalten. Sem ließ es nicht zu.

Der Ochs schritt von hinten an sie heran und versetzte ihr Fußtritte auf beide Arme – zwang sie, die Beine seines Bruders loszulassen.

Emma war gegen die Wand des Arsenals gefallen und heulte, was ihre Lungen hergaben. Ham und Luci, die erkannt hatten, dass man die Eindringlinge nur retten konnte, wenn man sie bei lebendigem Leib ins Meer zurückwarf, waren gerade mit dieser Arbeit beschäftigt, als Japeth seinen Dreizack und sein Netz holte und sie wie Vögel einfing; er befestigte das Netz am Deck, indem er es genau wie Lucis Kimono mit dem Dreizack durchstach.

Als das Wasser rings um die Arche nicht nur von ihrem Blut verfärbt, sondern auch mit den Leichen ihrer Brüder und Schwestern übersät war, traten die Angreifer endlich ihren Rückzug in völliger Verwirrung an. Mrs Noyes lag noch immer auf dem Deck; Sems Fußtritte waren so heftig gewesen, dass sie nicht aufstehen konnte. Sie schaute unter der Nebelhülle hinaus und sah, wie sich die Geschöpfe zwischen der Arche und den ungeschlachten Gestalten der Wale neu gruppierten. Sie hätte ihnen gerne zugerufen: Geht zurück! Aber da sie wusste, wie ungestüm ihr Mann in solchen Augenblicken reagieren konnte, schwieg sie.

Doch tief in ihrem Herzen schrie sie: Geht zurück! Geht zurück! Sie werden euch alle umbringen.

Als er das seltsame Gemetzel unter sich betrachtete, verkündete Noah, im Namen Jahwes hätten sie einen großen Sieg errungen. Die Heiligkeit der Arche war bewahrt und die Piraten waren zurückgeschlagen worden.

 

 

Der wirtschaftlich denkende Sem (Spare in der Zeit, so hast du in der Not!) gab sich mit dem bloßen Sieg nicht zufrieden. Die Leichen der Piraten, so redete er seinem Vater ein, wären für die Löwen genau das Richtige.

Nachdem er die Piraten identifiziert und ihnen einen Platz in der Weltordnung zugewiesen hatte, widmete Noah sich wieder dem Problem des zunehmenden Missmuts in der eigenen Fraktion. Mit Schlössern und Schlüsseln und harter Arbeit würde er die anderen in Schach halten, aber was war mit Sem und Hannah? Und mit Japeth?

Schon lange vor Noahs Zeit hatte man eingesehen, wie schwer das Leben für die ist, die sich als Führer der Menschen begreifen. Allein bei der Vorstellung, wie viele politische Probleme es verursacht hat, die Blutlinien von Seth und Kain auseinander zu halten, kann ein denkender Mensch für Adam nur viel Mitgefühl aufbringen. Der Vater der Menschheit war notgedrungen auch der Vater der Diplomatie gewesen. Doch sosehr er sich auch bemüht hatte, alles war misslungen.

Während Noahs trübster Tage an Bord der Arche dachte er viel und oft über seinen illustren Ahnen nach. Schließlich teilten sie – historisch gesehen – dieselbe Verantwortung, nämlich: das Überleben der Menschheit; die Unterwerfung der Natur; die Herstellung von Recht und Ordnung. Von der Kriegsführung innerhalb der eigenen Familie ganz zu schweigen. Dreimal hintereinander hatte Adam das Experiment neu begonnen und dreimal hatte er mit nichts anderem als mit seiner eigenen Entschlossenheit, seiner Genialität und mit seiner Beziehung zu Gott angefangen. Einmal, nachdem Jahwe ihn aus dem Staub Edens zusammengeschustert hatte – noch einmal vor den Toren des Paradieses und – das letzte Mal – nach Abels Tod.

Im Garten: die Benennung der Tiere – die entsetzliche Einsamkeit – die Geburt Evas und die Prüfung der Versuchung. Scheitern. Nach Eden: das Umgraben steinigen Bodens – die Ablehnung durch Lilith – die Gründung einer Familie – und Kains Steine. Scheitern. Doch es gab Hoffnung, als nach Abels Ermordung Seth geboren wurde – nach Evas Sündenfall die Frauen sich unterordnen mussten – und, nachdem Adams Söhne sich mit Menschen gepaart hatten, die Söhne Gottes geboren wurden. Aber zum Schluss waren die Riesen der Korruption erschienen, und die Anbetung Baals und Mammons wurde stärker – ein Zeichen für das endgültige Aus.

Scheitern.

Es sah so aus, als ob – ganz gleich, welche Entscheidungen getroffen wurden, ganz gleich, welche Vorgehensweise befolgt wurde – das Scheitern – trotz gewisser Erfolge – unausweichlich sei. Und ganz gleich, wie oft Noah das Deck unter seinem Regenschirm umrundete – wobei er um neue und andere Antworten rang – die Antworten waren immer die gleichen: Jede Geburt sagt einen Tod voraus: In jedem neuen Anfang liegt die Saat des Untergangs. Eva und die Äpfel – Kain und Mord – die Riesen und die Korruption. Die Menschheit und der Regen.

Und für den jetzigen Neubeginn – mit dem Symbol der Arche – war Noah zum Verwalter ernannt worden. Und in dieser Funktion hatte er die Saat des Untergangs bereits sprießen sehen: an seiner Frau; an Ham und Luci. Diese drei waren im Inneren der Arche schon am Werk – sie verbreiteten Widerstand gegen das Edikt – unterschieden zwischen dem Willen Jahwes und dem bloßen Willen der Menschen.

Doch ihre Absichten durften sich nicht erfüllen. Das hatte Noah sich geschworen. Es musste ihm nur gelingen, seine Macht über die anderen aufrechtzuerhalten.

Dieses Mal: Erfolg. Dieses Mal: Herrschaft, durch welche Mittel auch immer. Dieses Mal würde der Wille Gottes siegen, koste es, was es wolle.

Eines Tages, als er tief deprimiert auf dem Deck herumspazierte, sprach Noah viele Gebete. Warum gerieten die Kinder der Mächtigen immer so schlecht? Er besaß keinen Sohn, den er lieben konnte. Ham – der allerschlimmste – war ein Rebell und Unzufriedener, der unter seinem Niveau geheiratet hatte – irgendeine Kurtisane, hinter deren gepudertem Gesicht und weiß behandschuhten Händen sich boshafte Täuschung – und sogar Verrat – verbargen. Japeth – blau und gefährlich – war mit seinen Waffen zu etwas nütze, das war aber auch alles. All seine Gedanken kreisten nur mehr um Sex und Sinnliches – sein ganzes Auftreten hatte etwas Animalisches und sein ganzes Leben bestand nur noch aus Schmollen und Faulenzen. Und es kam noch schlimmer: einen furchtbaren Gedanken konnte Noah nie unterdrücken, wenn er an Japeth dachte: Du kannst kein Affe sein und von Gott kommen! Und doch ist er mein…

Mit der ganzen Schwere seiner Verzweiflung fiel Noah gegen die Reling und weinte vor Zorn. Sem – der Ochs –, dessen ganze Existenz nur ein Vorwand für Kraft und brutale Gewalt war. Der kaum über Worte verfügte… dessen Pflichtgefühl seinem Vater gegenüber so pflichtbewusst war, dass Noah fast wünschte, es würde einmal platzen und wenigstens ein einziges Widerwort hervorbringen – ein kleines Nein, das zeigen würde, dass überhaupt jemand in ihm steckte, ein denkendes Wesen!

Denken. Denken. Muss ich denn allein für alle denken?

Ja. Es war nur allzu deutlich. Und ohne Hannah würde er vor Einsamkeit verrückt werden. Wenn nur Jahwe zurückkäme. Wenn Er nur sprechen würde – wenn Er nur…

Hilfe.

Noah ging durch den strömenden Regen nach vorn und blieb am Bug der Arche stehen.

Der Wind hatte nachgelassen, aber auch so war die gesättigte Luft kalt genug. Nebel zog über dem Meer herauf und man merkte kaum, wie sich die Arche vorwärts bewegte. Als er hinunterschaute, sah er das ansteigende Wasser, ruhig und pockig vom Regen, und die wogende Masse des Schiffs, worauf er stand, machte kaum Lärm, nur das Geräusch seines Gewichts war zu hören, als es sich hob und senkte. Noah wischte sich die Augen mit seinem Taschentuch und starrte – Allererster Admiral sämtlicher Ozeane – hinaus auf die Nebelbank.

Von unten drangen die Rufe der Elefanten und die Schreie der Lemuren, das Meckern der Ziegen und das Gegacker der Eier legenden Hennen zu ihm herauf. Und über ihm und um ihn herum – draußen auf dem Wasser – kreischten die Seevögel, und die großen Piratentiere schienen zu singen. Aber es waren keine menschlichen Stimmen darunter – keine einzige. Und niemals, niemals, niemals die Stimme Jahwes…

Sagt mir, betete er – und machte die Augen fast zu, in der Hoffnung, wenn er sie wieder aufmachte, wäre ein Wunder geschehen –, werdet Ihr auf dem Wasser gehen? Werdet Ihr in der Luft schweben? Wo werdet Ihr wieder in Erscheinung treten? Wo kann ich Euch als Nächstes suchen? Wo seid Ihr jetzt?

Noah schaute hinauf – neigte den schwarzen Regenschirm über seine Schulter –, ließ den Regen auf sein Gesicht und durch seinen Bart fallen. Aber da war nichts. Und niemand. Er drehte sich um und musterte das Deck hinter sich – suchte den Umriss des Kastells, der Pagode und des dahinter liegenden Arsenals und die gebogene Lippe der Reling des Afterdecks ab. Alles war in Nebel gehüllt und jede Fläche war ausgefüllt mit den Gestalten von Vögeln – sonst nichts, sonst niemand.

In der Luft hing der übelste Geruch von Fisch und Mist und menschlichen Abfällen, und sogar das Meer stank verfault, vielleicht nach verwesenden Leichen.

Noah wandte sich wieder dem Bug zu und nahm sich vor, nicht mehr auf das Wasser unter ihm zu schauen, er wollte nicht noch einmal sehen, was dort war. Stattdessen richtete er seinen Blick auf die Nebelbank, die auf ihn zurollte.

Sein früherer Verdacht, dass Jahwe müde sei und sich ins Land des Schlafes zurückgezogen habe, ging nun in den beunruhigenden Gedanken über, dass ihm vielleicht mehr fehle als nur Erschöpfung. Was wäre, wenn Jahwe krank wäre? Wirklich krank. Könnte Jahwe sterben?

Es war unvorstellbar.

Doch die Sintflut war auch unvorstellbar gewesen – nicht mehr als ein Pfennig und eine Flasche, nichts als ein kindisches Kunststück. Aber hier war sie jetzt: in ihrer ganzen Fülle.

Der Nebel verdeckte die Arche allmählich, und der Gestank toter Kreaturen wurde fast greifbar. Die drückende Stille des Universums schwoll an, wurde gewaltiger als Vogelgeschrei und Tiergebrüll – und sie drückte gegen Noahs Ohren, bis er dachte, sie würden gleich platzen. Und die unheimlichen Lichter, die den Nebel durchzogen, weckten in ihm ein Verlangen, die Sonne zu sehen und zu fühlen, die Sonne, die sie weder gesehen noch gefühlt hatten seit… Er konnte nicht sagen, seit wann. Seit Menschengedenken – schien es zumindest.

Er war einsam. Sehnte sich nach der Sonne. Nach allem, was gewesen war, aber jetzt nicht mehr existierte. Sein Körper in seinem hohen und furchtbaren Alter schmerzte ihn. Seine Knochen waren jetzt so spröde wie Zuckerstangen. Seine Füße waren wie Steine und Kiesel in seinen Slippern, und seine Robe mit dem Gewicht der vielen Schichten und der Feuchtigkeit war unerträglich schwer. Er bräuchte – wie Methusalem – zwei junge Männer, um ihn an den Ellbogen aufrecht zu halten; Frauen, die seine Ärmel und seinen Regenschirm hochhielten; andere Frauen, um ihn zu streicheln und zu trösten – ihm den Tisch zu decken und seine Betttücher aufzuschlagen – sein Bad einzulassen und ihn zu waschen –, jemanden, der seine Hände hielt und seine Beine rieb und wiederbelebte. Er brauchte jemanden, der den Löffel hielt und ihn an seine Lippen führte…

Er bräuchte Frauen und Töchter – aber er hatte nur Sem und Ham und Japeth. Und sie. Diese Frau!

Und einen stummen Gott, der einfach nicht erscheinen wollte.

Noah unterdrückte seine zunehmende Panik und sagte laut: »Ich werde nicht sprechen.« Furchtbare Bilder von Weite und endlosem Nebel, in dem die Arche für immer treiben könnte, zogen durch seine Gedanken – und die düstere Vorahnung des Todes durch Ertrinken.

»Ich brauche Euch hier«, flüsterte er, »wenn nicht als Gott – dann zumindest als einen Freund…«

Bestimmt werde ich nicht für immer allein bleiben, dachte er. Sicher wird es nicht so weit kommen.

Er stand am Bug unter dem schwarzen Regenschirm und wartete. Er wartete eine Stunde. Zwei Stunden. Drei. Er wartete den ganzen Nachmittag.

Von ihrem geheimen Versteck in der Pagode aus beobachtete Krähe Noah. Der alte Mann schien genauso eifrig nach Land Ausschau zu halten wie sie. Aber sie wusste, dass da keins war. Wenn es so wäre, dann hätte sie es gerochen. Und wenn der alte Mann nicht Noah gewesen wäre, wäre sie hinuntergeflogen und hätte es ihm gesagt. Aber so hatte sie keine Lust dazu, und sie plusterte ihre Federn auf und setzte sich tiefer in die tröstliche Rundung des Kaminaufsatzes, der ihr als Nest diente. Wenn der alte Mann ein bisschen Verstand hätte, dachte sie, würde er seine Wache aufgeben. In dem Wasser war nichts (sie hatte so oft nachgeschaut) außer den klobigen Gestalten der Wale, die das Schwimmen erlernten, und den Leichen einiger Kinder und den Seiten einiger Bücher.

 

Jahwe? Nein.

 

An jenem Abend führte Noah beim Essen den Kopf sehr nahe an den Teller. Er hielt seinen Löffel, wie Kinder es tun – in der Faust –, und er siebte seine Suppe durch seinen Bart, als wüsste er gar nicht, dass er einen Bart hatte. Sein Blick bewegte sich flink hin und her über den Tisch und seine Söhne, Sem und Japeth. Und Hannah.

»Was ist das für ein entsetzlicher Brei?«, fragte er.

»Fischsuppe«, sagte Hannah, die inzwischen recht stolz war auf das, was sie da zauberte, nur aus dem, was das Meer lieferte, und dem bisschen, das sie in Noahs Speisekammer fand und besonders seinen Bedürfnissen entsprach, nämlich seine Kräuter, Tees und verschiedene Käsesorten.

»Pfui!« Noah schob den Teller weg und ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen. »Wann wird es mal etwas zu essen geben, das den Namen Essen verdient?«, fragte er.

»Wenn es Land gibt«, sagte Sem.

Noah achtete nicht auf ihn. Die Antwort war zu direkt und ließ keinen Raum zur Diskussion. Und er sehnte sich – dringend – nach Diskussionen; streiten; debattieren; sich unterhalten… etwas, was Geist und Fantasie erforderte. »Seit Wochen schon hast du Gelegenheit zum Üben«, sagte er, immer noch zu Hannah gewandt. »Doch wir kriegen nichts als abscheulichen Fraß. Ich werde nichts mehr davon essen. Bring mir ein Ei oder einen Apfel! Irgendetwas, nur nicht das hier!«

Hannah sagte nichts; sie stand von ihrem Stuhl auf und wollte zur Kombüse.

Noah schlug auf den Tisch.

»Meinen Teller!«, sagte er.

Hannah kam zurück und nahm den Teller in beide Hände. Sie zitterte vor aufgestauter Wut. Obwohl seine Laune sie mürrisch machte und sie von ihrer Schwangerschaft mehr als genug hatte, schluckte sie jedes Wort, das hätte verraten können, wie sie sich zur Zeit fühlte, hinunter und murmelte nur ja und nein. Wenn er den Drang spürte, schrieb sie auf, was der alte Mann diktierte, und las es ihm dann nochmals geduldig vor. Sie kommentierte nie – sagte nie »das stimmt« und »das stimmt nicht« oder »da stimme ich zu« und »da nicht«. Nichts. Kein einziges Wort. Und doch steckte sie voller Worte. Sätze und Absätze. Geflüster und Schreie. Hunderte davon. Tausende. Aber sie war eine Frau und durfte nicht sprechen. Nicht laut sprechen. Nur schweigend denken und verrückt werden. Und auch jetzt, als sie Grund gehabt hätte, im eigenen Interesse zu sprechen, wahrte sie ihr schreckliches Schweigen, nahm den Teller und ging damit durch die kleine Tür, die zur Kombüse führte. Sie ließ die Tür hinter sich zuknallen.

Noah warf einen Blick auf seine Söhne: Sem zu seiner Rechten – Japeth zu seiner Linken, alle beide vis-à-vis, wo er sie im Auge behalten konnte. (Wenn Hannah sich setzte, dann nahm sie am Ende des Tisches Platz in der Nähe ihres Arbeitsbereichs.)

Sem aß ruhig vor sich hin – hob und senkte seinen Löffel –, legte nie, nachdem er den Löffel zum Mund geführt hatte, eine Pause ein. Sprach kein Wort. Er kam zu Tisch, um gefüttert zu werden, mehr nicht. Seine mächtigen Schultern bildeten eine Rundung, hinab bis zum Bauch – und sein Bauch war aufgedunsen und stieß ihn von der Tischkante zurück und Noah dachte: Wenn er nicht aufhört zu essen, wird er noch ganz dick werden, wie seine Mutter…

Japeth war wie ein Tier, das man gerade aus seinem Käfig befreit hatte. Seine Augen waren Hannahs Rückzug in die Kombüse mit solch offensichtlichem Verlangen gefolgt, dass es Noah den Magen umdrehte. Und Japeth hielt seinen Löffel wie ein Messer – umgedreht – und hob die kleinen Fischstücke mit den Fingern vom Teller, schleckte die Finger barbarisch und – irgendwie – lasziv ab, bis Noah sich nicht mehr beherrschen konnte: »Hör auf!«

Japeths Brust glänzte vor lauter Schwitzen und er roch nach altem Schweiß. Noah konnte das nicht nachvollziehen, denn er selbst brauchte zwei Roben übereinander, um seinen Körper warm zu halten und – heute Abend – hatte er noch die zusätzliche Wärme eines Tuches um die Schultern nötig. Japeth aber saß fast nackt da – Arme und Beine entblößt und seine Tunika offen, die lockigen Haare hingen ihm in verfilzten Strähnen feucht in die Stirn. Wie ein Mann mitten in einer Hitzewelle…

»Lass deine Augen von dieser Frau!«, sagte Noah.

Japeth hatte nicht gemerkt, dass sein Vater ihn anstarrte, und er richtete sich kerzengerade auf, wobei er seine Suppe auf dem Schoß verschüttete; Fischstückchen verteilten sich auf seiner Unterlippe.

Verwirrt fuhr er sich mit der Hand über den Mund. »Herr Vater?«, fragte er.

»Lass deine Augen dort, wo sie hingehören! In deinem Kopf!«

»Ich verstehe Sie nicht, Vater.«

»Du hast dich an der Gestalt dieser Frau satt gesehen. Ich habe dich beobachtet.«

Japeth schluckte mit Mühe und fing zu würgen an.

Noah ignorierte es und wandte sich an Sem.

»Hast du das Interesse deines Bruders an deiner Frau nicht bemerkt? Was für ein Ehemann bist du?«

Sem schaute Japeth an und zuckte mit den Schultern.

»Er ist ein Kind, Vater.« (Noahs Aufmerksamkeit für Hannah war keineswegs unbemerkt geblieben – aber diese konnte Sem nicht erwähnen.)

Noah lächelte höhnisch. »Ein Kind? Er ist ein verheirateter Mann.«

Japeths Würgen war so heftig geworden, dass er aufstand und dabei seinen Stuhl umwarf.

Hannah tauchte in der Tür zur Kombüse auf, eine Birne in der einen Hand und ein Geschirrtuch in der anderen. Sie trocknete die Birne und starrte Japeth an.

Noah stand auf und ging um den Tisch herum.

Japeth war dunkelrot und dem Tode nahe.

Noah trat hinter seinen Sohn und hob Japeths Schwert vom Tisch auf.

Hannah machte einen Schritt nach vorn; das Geschirrtuch fiel zu Boden.

Noah trat zurück und schlug seinem Sohn mit der flachen Seite der Schwertklinge auf die Schultern.

Dennoch ließ der Schlag Blut hervortreten und Sem sprang auf.

Japeth fiel quer über den Tisch – seine Hände voller Löffel und Teller, sein Gesicht nass von der Suppe –, sein Hintern entblößt.

Noah konnte nicht widerstehen; er schlug noch einmal zu.

Dann legte er das Schwert auf den Tisch zurück, ging wieder auf die andere Seite und setzte sich.

»Geh hinaus und stell dich in den Regen!«, sagte er zu Japeth – der nicht mehr würgte, aber noch nicht wieder sprechen konnte. »Bleib dort stehen, bis du gefrierst!«

Hannah hatte das Tuch vom Boden aufgehoben und wollte gerade Japeths Gesicht und Schultern abwischen, aber Noah sagte: »Die Birne braucht einen Teller darunter – und ein Messer zum Aufschneiden und ein Stück Käse daneben.«

Hannah reichte Japeth das Tuch und ging hinaus.

Noah sagte: »In den Regen. Geh hinaus in den Regen und bleib dort stehen!«

Japeth putzte sich mit dem Tuch die Nase und wischte sich dann geistesabwesend auch übers Gesicht und ging ohne sich noch einmal umzusehen durch die Tür hinaus aufs Deck.

Als er weg war, blickte Noah Sem an.

»Auch wenn deine Frau ein Kind trägt«, sagte er, »wäre es weise, sie nicht mit ihm alleine zu lassen.«

Sem war noch immer skeptisch. »Ich kann nicht glauben, dass…«

»Findest du sie nicht attraktiv?«

Diese Frage verwirrte Sem nur. Er konnte nicht ganz folgen, worauf Noah hinauswollte. Hannah war seine Frau. Er brauchte sie nicht attraktiv zu finden.

»Was wollen Sie damit sagen, Vater?«

Über seine Schulter warf Noah einen kurzen Blick auf die Kombüsentür. Sie war geschlossen. Dann neigte er sich über den Tisch zu Sem; er nahm seine Serviette, um Japeths Schweinerei beiseite zu schieben.

»Hast du zur Zeit Verkehr mit deiner Frau?«

Sem setzte sich zurück und wäre fast aufgestanden. Eine solche Frage war ihm noch nie gestellt worden, und er war tatsächlich so schockiert, dass er nicht antworten konnte – er fragte nur: »Was?«

Noah lächelte.

»Ich könnte dir sagen, wie, wenn du Interesse hättest. Man kann eine schwangere Frau nehmen, weißt du.«

Sem war entsetzt.

»Deine Frau hat nie zuvor ein Kind getragen. Du warst noch nie in dieser Situation. Aber dein Begehren nach ihr muss noch lebendig sein… oder? Sag’s mir! So ist es doch, nicht wahr?«

Sem sah auf seinen Schoß und presste den Mund zu.

»Ich hatte immer den Verdacht, dass du eine Frau in einem der Arbeiterhäuschen versteckt hältst. Ein kräftiger Mann wie du… dir hat doch sicher deine Frau allein nicht genügt. Hab ich Recht?«

Sem schüttelte den Kopf.

»Keine andere Frau, eh? Nun ja. Du hast noch weniger Phantasie, als ich dachte.«

Noah musste wieder an Japeth denken. Das Bild seines toten Zwillings stieg vor ihm auf, er sah ihn in der Tür stehen – seine langen Arme baumelten herab und seine kleinen Augen starrten und sein Mund hing offen. Da durchfuhr ihn ein furchtbarer Gedanke.

»Das Kind ist doch von dir, nicht wahr?«, sagte er zu Sem.

Sem sah von seinem Schoß auf and starrte seinen Vater an.

»Welches Kind?«

»Dieses Kind – Hannahs Kind –, es ist sicher von dir?«

»Natürlich, Vater.«

Noah schaute wieder auf die Tür, die zum Deck führte und sagte: »Das kannst du nicht ernst meinen, wenn du sagst, du hast nicht gesehen, wie er sie anschaut. Seine Augen sind nie woanders. Und was ist mit ihr? Hm? Sag’s mir! Hat sie ihn jemals angeschaut?«

»Niemals.«

»Das sagst du so schnell; ich frage mich, ob es wahr ist.« Mit zusammengekniffenen Augen fixierte Noah Sem, den Ochsen. »Sag mir, dass du keinerlei Zweifel daran hast, dass das Kind von dir ist!«

»Es ist von mir, Vater.«

Noah wischte seine Finger am Bart ab.

»Trotzdem«, sagte er, »finde ich es an der Zeit, eine gewisse Sache zu erzwingen.«

Sem wartete.

Noah sagte: »Ich finde, es ist an der Zeit, diesen jungen Mann und seine eigene Frau zusammenzubringen.«

Sem biss sich auf die Lippe.

»Wenn wir mit dem Abendessen fertig sind«, sagte Noah, »will ich, dass du in den Laderaum hinuntergehst und sie heraufholst. Sag nichts! Bring sie nur her! Zu mir.«

Japeth hatte an jenem Morgen Piraten für die Leoparden und die Löwen geliefert und Mrs Noyes war nur froh, dass sie tot angeliefert wurden. Das Säubern und Ausnehmen erinnerte zur Genüge an das Schlachthaus zu Hause – vielen Dank –, wo die Rinder und die Schweine an den Füßen aufgehängt wurden, während man ihnen den Hals aufschlitzte und ihre Augen glotzten.

Ham mit seinem fast beunruhigend pragmatischen Sinn hatte gesagt, nichts dürfe verschwendet werden. Und es wurde nichts verschwendet. Nicht einmal die Gedärme. Sie wurden in der Tat an die Bären verfüttert, die darin Fische und anderes Getier fanden, das die Piraten gefressen hatten. Und in diesen Fischen und anderem Getier – noch anderem Getier – und in diesen Geschöpfen noch mehr – bis Mrs Noyes es aufgab, die Schichten zählen zu wollen. Ham aber schaffte es – und fand sie wunderbar.

Emma hatte wegen der geschlachteten Jungtiere reichlich Tränen vergossen, ihr Leben war geopfert worden, um vor der Ankunft der Piraten die Leoparden und die Löwen zu füttern, doch jetzt wurde sie stoisch und still. Es war ihre Aufgabe, die Fleisch fressenden Vögel zu füttern, und obwohl sie vor Vögeln größten Respekt hatte, schien es ihr gar nichts auszumachen, wenn sie damit beauftragt wurde, Tabletts mit Herzen und Leber für die Adler und die Habichte, die Bussarde und die Eulen hinaufzutragen. Warum – das kapierte Mrs Noyes erst, als sie zufällig in der Vogelgalerie mit anhörte, wie das Kind mit singender Stimme zu den Tieren sprach, während es die kleinen Delikatesshäppchen durch das Gitter schob. Emma lief im Takt ihrer Worte von Käfig zu Käfig und zirpte mit ihrer kleinen Vogelstimme: »Eine Maus weniger für dich… ein Kaninchen weniger für dich… eine Kröte weniger für dich… einen Spatzen weniger für dich!…«

Mrs Noyes ging lächelnd davon, und als sie bald darauf einen Löwen mit einem Piraten fütterte, machte sie vor ihm einen Knicks und sagte: »Ein Pony weniger für dich!«

Trotzdem hatte sie die Tragödie – und es schien ihr nicht weniger als eine Tragödie zu sein – all dieser toten Piraten noch nicht verarbeitet; ihre lustigen Augen und ihr bezauberndes Lachen, als sie neben der Arche spielten und Japeth zuriefen, dessen Bogen sie für eine Harfe hielten, waren so wunderbar gewesen. Mrs Noyes’ Rebellion gegen das Abschlachten hatte einen hohen Preis – auch für die anderen. Jetzt sperrte Japeth sie ein und keinem von ihnen war erlaubt, in den wenigen Pausen ihrer Zwangsarbeit an die frische Luft zu gehen. Ihre Arme taten da, wo Sem sie mit Füßen getreten hatte, damit sie Japeths Beine losließ, unerträglich weh. Die blauen Flecken waren inzwischen gelb geworden und sie fürchtete, ihre Finger bald nicht mehr benutzen zu können, da beim Greifen jede Muskelbewegung in den Unterarmen die reinste Qual war. Wenn sie das Fleisch aufschnitt, musste sie es mit der Innenfläche einer Hand festhalten, während sie mit einem Messer daran sägte, das Ham an der anderen Hand und dem Handgelenk, die mit Zweigen geschient waren, festgebunden hatte.

Luci war in diesen Tagen seltsam verschlossen, so, als hätte die Piratenepisode auch sie betroffen. Doch ihre Verschlossenheit (das heißt, sie erzählte keine Witze mehr und lachte nie) hatte dazu geführt, dass sie auch weniger schlampig war. Ihre Körperhaltung zeigte wieder die gewohnte Anmut, sie lief kerzengerade und so wunderbar geräuschlos herum, wie, so erinnerte sich Mrs Noyes, damals, als sie zum ersten Mal aufgetaucht war. Ihr gepudertes Gesicht war noch weißer – sofern das überhaupt möglich war –, ihre Augenbrauen waren noch kräftiger nachgezeichnet und ihre schwarzroten Lippen hatten einen noch bestimmteren Ausdruck. Ihre Haare hatten ihren alten Glanz wiedererlangt – wie das Fell eines Tieres nach langer Krankheit. Die Tiefe der Farbe, die schwarze Pracht waren schöner als je zuvor. Mrs Noyes beobachtete Luci, während diese durch die Korridore lief und ihrer Arbeit nachging, und da fiel ihr ein, was Luci gesagt hatte, als Mrs Noyes vor langer Zeit, bevor sie die Erde verlassen hatten, sie gefragt hatte, wie groß sie sei. »Zwei Meter sechsundzwanzig, und jeder Zentimeter eine Königin.« Wahrhaftig. Denn ihre Gewänder, die sie Kimonos nannte, waren aus Seidenstoffen, die sehr wohl aus dem Besitz einer Königin hätten stammen können. Mrs Noyes konnte nicht umhin, sich zu fragen, wie eine einzige Aussteuertruhe so viele dieser Kimonos aufnehmen und trotzdem noch Platz für alle anderen Wunder bieten konnte, die Luci andauernd zu ihrem Komfort und zu ihrer Unterhaltung anschleppte: die Musikinstrumente, das Porzellangeschirr, von dem sie aßen, und die Messer mit Perlmuttgriffen, mit denen sie ihre Speisen aufschnitten. Und die magischen Laternen – dass sie diese Laternen Noah entwendet hatte, konnte sie jemand anderem erzählen. Was für eine seltsame, entzückende Kreatur Luci war – und Mrs Noyes freute sich immer mehr, dass ihr Sohn, von dem jeder gesagt hatte, er würde überhaupt nie heiraten, eine Frau mit so viel Geschmack und Reichtum und Charakterstärke gefunden hatte. Und eine so tolle Schauspielerin dazu: »Mit all den lustigen Stimmen!«, die Mrs Noyes – ab und zu – nachzuahmen versuchte.

Als die Nacht hereinbrach und alle Tiere gefüttert waren, lief Mrs Noyes den Gang entlang und die Treppe hinunter zu dem versteckten Brett über dem Einhorn, wo im Dunkeln Mottyl und ihre Kätzchen lagen.

»Hallo, meine Liebe«, sagte sie und zog den Strohvorhang beiseite und hängte ihre Lampe an den Haken über ihrem Kopf.

Mottyl lag auf der Seite und döste; die Kätzchen waren zum Füttern aufgereiht, schliefen aber fest. Das warme, tiefe Geräusch, das von ihnen kam, wirkte auf Mottyl wie ein Beruhigungsmittel.

»Ich habe dir ein Stückchen Leber und ein bisschen Niere mitgebracht«, sagte Mrs Noyes, als sie es sich oben auf dem Geheimtreppchen bequem machte, das sie heruntergezogen hatte, um auf gleicher Höhe wie Mottyl zu sein.

»Ach – muss sie dir Niere und Leber geben!«, klagte das Einhorn mit seiner flüsternden Stimme. »Warum kann eine Katze kein vernünftiges Zeug fressen, Blumen zum Beispiel?«

»Eine Katze«, antwortete Mottyl, setzte sich auf und streckte sich, »frisst schon vernünftiges Zeug wie Blumen.

Aber nur zu vernünftigen Jahreszeiten wie im Frühling und Sommer.«

»Wirklich?«, fragte das Einhorn. »Was für Blumen denn?«

»Kräuter. Katzenminze«, Mottyl beugte sich über die Leber und Niere, »wofür ich im Augenblick fast meine ungeborenen Kinder verkaufen würde.« Sie drehte den Kopf auf eine Seite und warf die Niere auf ihre Backenzähne, um möglichst viel Saft herauszuholen.

»Sag mir, was du noch für Blumen magst!« Das Einhorn hätte alles – auch den bloßen Namen einer Blume – jetzt besser gefunden als den Geruch von so viel Fleisch.

»Eukalyptusblätter.« Mottyl schnüffelte auf der Suche nach mehr Niere im Teller herum. »Spargel, Lavendel. Lauch.« Bald würde sie auf dem Fleisch draufsitzen. »Mimose.«

»Mimose. Ach – das hättest du besser nicht erwähnen sollen.« Das Einhorn seufzte. »Mimosen gehörten zu meinen Allerlieblingsdingen. Es gab so vieles, was ich liebte…«

Auf ihrer Stufe lehnte sich Mrs Noyes gegen den Balken und hörte kaum zu. Mit ihren schmerzenden Fingern streichelte sie die Kätzchen, eins nach dem anderen, und wünschte, sie könnte die Finger weit genug krümmen, um die Kätzchen hochzuheben. Das silberfarbene war besonders niedlich… Jahwes Kater war es gewesen, das war klar, obwohl vier Kätzchen eher Mottyl als ihm ähnelten. Nur das silberne war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Und das weiße sah Mottyl ein bisschen weniger ähnlich als Abraham. Sechs Kätzchen. Sechs. Vier Weibchen und zwei Männchen. Und jedes Einzelne war am Leben. Bis jetzt.

Obwohl die Arche in so vielen Dingen die absolute Hölle war und obwohl ihr Leben hier so entsetzlich war – eingesperrt und unterernährt, von Luft und Tageslicht abgeschnitten, von all ihren Artgenossen außer einem getrennt –, gab es hier im Schein der Lampe doch ein bisschen Trost, hier war es warm und alle hockten eng beisammen und wurden in dieser großen, dicken Wiege auf dem Wasser geschaukelt – es gab einen Trost, der keinem anderen glich. Keinem Haus, keinem Stall, keinem Bau. Kein einziger Ort hatte jemals so viele Leben eingeschlossen, und keiner war jemals im Inneren so friedlich wie dieser, gerade jetzt vor dem Schlafengehen und nach der Fütterung. So viele Gestalten und unterschiedlich große Formen, die in so vielen Positionen dalagen, die so unterschiedliche Räume füllten und so viele verschiedene Seufzer von sich gaben: Für Mrs Noyes war es ein Mysterium. Es war, als hätte sie in jenen frühen Tagen auf der Erde mitten in den Wald laufen können, ohne darauf zu achten, ob sie in eine Drachensuhle fiel oder auf eine Schlange trat. Hier war nichts von alledem von Bedeutung. Der Wald – die Hälfte der Tiere, die in der Arche versammelt waren, hatten dort ihr Leben verbracht – bot weniger Gefahr als diese Arche. Dennoch fühlte Mrs Noyes sich hier sicherer. Wenn auch trauriger als damals im Wald. Sicherer und trauriger zugleich: wie seltsam, dachte sie.

In der Nähe lagen Füchse und Waschbären Seite an Seite, nur ein bisschen Hühnerdraht war zwischen ihnen, und über ihnen starrten Bip und Ringer in die Ferne und fragten sich noch immer, wo all die Bäume geblieben waren. Eine furchtbare Traurigkeit lag über ihnen allen – und über einigen eine fast elegische Mattigkeit, wie sie so gesenkten Kopfes dasaßen und ihre Zehen zählten. Sie fühlten sich genauso wie Mrs Noyes. Wenn sie aufblickten, war der Ausdruck in ihren Augen fast unerträglich: Trauer um den Verlust von Raum und Luft und Himmel. Die Affen und die anderen in Gruppen lebenden Tiere waren nicht in der Lage zu verstehen – ganz gleich, wie oft man es ihnen erklärte –, warum nicht noch eins oder zwanzig oder hundert mehr von ihrer Art hatten gerettet werden können. Nichts, was diesen Ort und nichts was die Umstände ihres Hierseins betraf, konnte ihnen wirklich klargemacht werden. Viele der Tiere dachten, dass dies – und nicht, was sie zurückgelassen hatten – der Tod sei. Oder zumindest etwas, was dem Tod sehr nahe kam.

Mrs Noyes war sich plötzlich der Dunkelheit und der Wände ringsum und des Daches oben und des Fußbodens unten schmerzlich bewusst. Die Arme taten ihr weh – und ein Teil des Schmerzes rührte von der Erinnerung, warum sie ihr wehtaten. Wir sind hier wahrhaftig Gefangene, dachte sie; jeder Einzelne von uns – und dennoch heißt das: gerettet werden.

Vielleicht war es das, was sie mit Sicherheit und Traurigkeit zugleich gemeint hatte: Sie und all diese Geschöpfe, die bei ihr waren, teilten ihre Gefangenschaft auf eine Art, wie sie den Wald niemals hätten teilen können. Wenn man zusammen in derselben Falle sitzt, teilt man dieselbe Angst vor der Dunkelheit und vor den Wänden und man hat auch denselben Feind. Man fürchtet sich vor demselben Gefängniswärter. Man träumt denselben Traum von der Freiheit – alle zusammen warten darauf, dass dieselbe Tür aufgeht. Man lernt auch zusammen auf eine Art und Weise zu überleben, die Gefangenen niemals einfallen würde. Hätte sie sich zum Beispiel je vorstellen können, wenn sie im Wald einen Bären vor Schmerz schreien hörte, einfach hinzugehen, ungeachtet all der anderen Bären und ihn zu trösten? Doch in der Arche bewegte sie sich nicht nur unter Bären – sie saß unter ihnen und hatte keine Angst. Genauso wie das Einhorn vor ihr keine Angst hatte. Und auch das war früher unvorstellbar gewesen. Aber hier waren sie. Zusammen. Miteinander sicher – und doch…

Was ist denn das für eine Grausamkeit, fragte sie sich, die diese Türen da oben zuriegelt und uns einsperrt, als ob wir Drachen wären – und man Angst vor uns haben müsste?

Der Gedanke an Noahs Wutanfälle und an den bewaffneten Japeth gab ihr die Antwort.

Grausamkeit war getarnte Angst, nichts anderes. Und hatte nicht einer von Japeths heiligen Fremden einmal gesagt, Angst sei nichts anderes als Mangel an Phantasie?

Deswegen hatte Mrs Noyes Angst vor Bären gehabt.

Sie hatte sich nicht vorstellen können, sie zu trösten.

 

 

»Mutter!«

Mrs Noyes purzelte fast von ihrem Treppchen. »MUTTER!«

Es war Sem, der Ochs.

»MUTTER!«

Er war so schrecklich nahe, dass Mrs Noyes sich beeilen musste, um Mottyl und die Kätzchen schnell zu verstecken und ihre Lampe herunterzuholen. Dabei gebrauchte sie versehentlich ihre Finger und schrie vor Schmerz auf.

Sem kam um die Ecke und stieß beinahe mit ihr zusammen.

»Warum schreist du so?«, fragte er; er vergaß ganz, dass auch er geschrien hatte.

»Ich bin mit dem Arm angestoßen«, sagte Mrs Noyes. Gerade als sie sprach, hörte sie zu ihrem Schreck ein Geräusch von Mottyls Kätzchen.

Sem war zwar schwer von Begriff, aber doch nicht so sehr, dass er die Stimmen von kleinen Katzen nicht hätte erkennen können. Im Versuch, sie zu retten, begann Mrs Noyes schnell ein Lied zu singen:

»Fels des Heils, geöffnet mir!«, brüllte sie, »birg mich, ew’ger Hort, in dir!«

»Mutter…«

»Warum gehen wir nicht hinunter in den Flur?«, fragte Mrs Noyes. »Wir wollen die Tiere doch nicht aufwecken…« und dann sang sie lauthals weiter: »Lass das Wasser und das Blut«

Mrs Noyes stupste Sem mit dem Ellbogen und drängte ihn den Gang entlang zur Treppe.

»Jetzt sag mir, was du willst!«, sagte sie, als sie auf der Treppe und die Kätzchen sicher außer Hörweite waren. »Warum kommst du diesmal und störst uns?«

»Ich will Emma«, sagte Sem.

»Das mag schon sein – aber du kannst sie nicht haben«, sagte Mrs Noyes. »Sie gehört Japeth.«

Sie stieß ihn in die Rippen und zwang ihn vor ihr hinaufzugehen.

»Du und Vater, ihr denkt nur an Sex«, fragte Sem.

Mrs Noyes blieb abrupt stehen. »Wie bitte?«, sagte sie.

»Du und Vater, ihr denkt nur an Sex«, sagte Sem noch einmal.

»Lass mich aus dem Spiel!«, rief Mrs Noyes. »Warum sagst du so etwas von deinem Vater?«

»Ich meine nicht, dass er Sex für sich will«, sagte Sem. »Ich meine, Sex für andere Leute. Mir kommt es vor, als würde er zur Zeit von nichts anderem reden.«

»Ach, wirklich?…« Mrs Noyes versuchte ruhig zu bleiben. »Und jetzt willst du Emma?…«

»Ja.«

Sie erreichten das obere Ende der Treppe und gingen auf die Kombüse zu, in der sich Emma – höchstwahrscheinlich – aufhielt.

»Warum willst du sie?«

»Darf ich nicht sagen«, sagte Sem. »Sollte nur hierher kommen und sie holen.«

Mrs Noyes wollte gerade dagegen protestieren, als ihr Plan durch das plötzliche Auftauchen von Emma selber zunichte gemacht wurde.

»Hat mich jemand gerufen?«, fragte sie. »Ich habe meinen Namen gehört.«

Das hast du wahrhaftig, dachte Mrs Noyes. Leider!

»Du sollst mit Sem mitkommen«, sagte sie laut. Und dann, an Sem gewandt: »Ist nicht so viel Zeit, dass sie wenigstens noch ihr Kleid wechseln kann?«

»Soll sie sofort mit hinaufnehmen«, sagte Sem.

»Darf sie nicht einmal die Haare bürsten?«

»Sofort«, sagte Sem, breitete seine Ochsenarme aus und zeigte Emma sein straffes kleines Lächeln, was als nette Begrüßung gemeint war.

Mrs Noyes sah, wie sauber ihr Sohn war. Die Haare auf seinen Armen glänzten im Licht der Lampe und sein Nacken war sauber und seine Zehennägel auch. Plötzlich kam es ihr ziemlich sonderbar vor, zu merken, dass sie selbst sich seit Tagen, vielleicht sogar seit Wochen, nicht mehr gewaschen hatte. Der korrekt gezogene Mittelscheitel in Sems sandfarbenem Haar und der Geruch seiner Tunika brachten sie fast zum Weinen.

»Nun«, sagte sie zu Emma. »Am besten, du gehst mit ihm. Hab keine Angst!«

Sie führte Emma zur Treppe, die zum oberen Deck führte, und küsste sie zum Abschied auf den Kopf. Dann sagte sie: »Hier. Warte…«, und sie ging wieder ein paar schnelle Schritte auf Emma zu. »Nimm das!«, sagte sie – und reichte dem Mädchen ihr Taschentuch. »Wisch dir das Gesicht, während du über das Deck gehst! Und binde die Schleife hinten am Kleid!«

»Ja.«

Emma nahm das Taschentuch und lächelte. Das war falsch. Immer wenn sie weinen sollte, tat sie es garantiert nie.

»Ich werde für dich viel frische Luft tanken, Mutter Noyes«, sagte sie. »Auf Wiedersehen.«

Mrs Noyes winkte – und bereute es sogleich. Der Schmerz schoss ihr durch den Arm.

»Auf Wiedersehen«, flüsterte sie.

Und lächelte, um Emmas willen.

 

 

Als sich oben die Tür öffnete, glaubte Mrs Noyes einen Stern zu sehen – aber es war nur eine Laterne, die vom Portikus hing.

Als die Riegel vorgeschoben wurden, klang das schlimmer als jedes Geräusch, das sie sich vorstellen konnte.

Beim Zurückgehen sah sie, dass Luci im Dunkeln unter ihr stand. Ihre Augen leuchteten ganz seltsam.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht genau«, sagte Mrs Noyes. »Ich weiß nur, dass ich im Augenblick sehr gern glauben möchte, dass Beten hilft.«

 

 

»Da bist du nun endlich«, sagte Noah, geradeso als ob Emma aus eigenen Stücken weggeblieben wäre. »Lass mich dich anschauen – lass mich sehen!«

Emma hatte es geschafft, genau mitten im Gesicht eine kreisrunde Stelle zu säubern, und ihre Augen schienen wie aus einem Mond heraus hell zu leuchten. Ihre Haare waren von einigen verlotterten Stofffetzen gebändigt, die kreuz und quer herunterhingen und von denen keine zwei dieselbe Farbe hatten. Ihr Kleid war stark zerrissen und ihre Schürzen mit Fett- und Seifenflecken übersät. Vogeldreck und Strohstaub verklebten ihre Schultern. Ihre Arme – die Ärmel ihres Kleides waren hochgekrempelt, damit sie beim Spülen nicht ganz nass wurden – leuchteten unpassend bleich und unbefleckt.

Noah stand auf und nickte Sem zu, der sich widerwillig zurückzog. Er traute seinem Vater jetzt nicht mehr, und es graute ihm vor dem, was nun geschehen könnte – jedoch nicht um Emmas willen. Sems Grauen bezog sich nur auf die Laune seines Vaters, falls sich die Ereignisse gegen dessen Willen entwickeln sollten.

»Schick Schwester Hannah herein!«, sagte Noah – gerade als Sem schon an der Tür stand. »Sag ihr, dass ich sie brauche!«

Als Sem weg war, lächelte Noah – auch wenn es schwierig war, das unter so viel Bart erkennen zu können. Und seine hölzernen Zähne machten ihm zu schaffen: Sie blieben fest zugeschnappt, wenn er sie aufmachen wollte – und geöffnet, wenn er sie aufeinander pressen wollte. Er führte die Hand zum Mund und drückte die Zahnreihen zusammen, wobei er sich fast in den Finger biss.

»Na, also. Sag guten Tag!«, sagte er.

Emma knickste.

Noah hustete.

»Wir haben uns Sorgen gemacht«, sagte er.

Emma wartete.

Noah hatte offensichtlich nichts weiter dazu zu sagen.

»Du siehst dick und frech aus«, sagte der alte Mann; seine Augen glänzten und seine Finger spielten mit dem Bart. »Wie alt bist du jetzt? Ganz ehrlich!«

Emma kam gar nicht auf den Gedanken zu lügen, wenn es um ihr Alter ging. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich glaube, ich bin zwölf.«

»Du kannst nicht zwölf sein«, sagte Noah. »Vor einem Jahr – mindestens – warst du schon zwölf. Ich hatte eher gehofft, du würdest mir sagen, du seist vierzehn.«

»Es kann sein. Ich weiß es nicht.«

»Auf jeden Fall – wie alt du auch sein magst«, sagte Noah, »bist du kein Kind mehr.«

Das wusste Emma.

Hannah kam herein – sie war ganz in Weiß gekleidet und trug über ihrem langen bauschigen Gewand eine schwere Strickjacke. Das Kind in ihrem Bauch könnten Zwillinge sein, dachte Emma. Er ist riesig.

»Ja, ja. Gut«, sagte Noah. »Hier ist deine junge Freundin, Schwester Hannah.« Noah hustete und gab Hannah mit einem Wink zu verstehen, dass sie sich Emma nähern sollte. »Sie – äh – vielleicht – äh – sie…«

Hannah sagte: »Sie könnte vielleicht ein Bad brauchen, Vater Noyes.«

»Genau«, sagte Noah. »Ja. Ein Bad. Ein schönes, heißes Bad. Ja.«

Emma schniefte und zog Mrs Noyes Taschentuch unter ihre Nase. Ein Bad, dachte sie, wäre herrlich, aber… warum?

»Komm mit, Em!«, sagte Hannah – streckte die Hand aus und lächelte.

Sie waren auf einmal alle so freundlich.

Was sollte das bedeuten?

»Ich werde warten«, sagte Noah. »Hier.«

Hannah führte Emma zur Kombüse.

Nicht noch mehr Töpfe, dachte Emma und wich zurück.

Aus langer Erfahrung kannte Hannah Emmas Abneigung gegen das Spülen und sie sagte schnell zu ihr: »Zum Bad geht es hier durch.«

Oh.

»Schwester Hannah…«, sagte Noah.

Hannah ging zurück und Noah neigte sich zu ihrem Ohr.

»Du könntest ein bisschen von dem Mandelöl nehmen, das du selber auch verwendest.«

Hannah nickte.

Emma fragte sich, worüber sie wohl so viel flüsterten. Aber es interessierte sie nicht wirklich. Sie konnte sehen, dass in der Kombüse alle Töpfe und alles Geschirr schon abgespült und weggeräumt waren – sie sah auch, dass neben dem Ofen Badehandtücher angewärmt wurden.

Ein Bad, dachte sie; ein Bad… Hoffentlich ist es schön tief, damit ich richtig darin versinken kann.

Der Baderaum war schon voller Dampf, die Schwämme lagen in ihrem Eimer bereit und die Birkenruten hingen von ihren Stiften an der Wand über der Bank. Hannah war auf Emmas Ankunft gut vorbereitet; sie hätte ein ganzes Heer baden können. Wenn es ein Heer gegeben hätte. (Keine Heere mehr, dachte sie, während sie einen weiteren Eimer siedend heißen Wassers in den Zuber schüttete. Alle Richtlinien haben sich für uns auf immer verändert. Jetzt wird alles nur noch durch »vor der Sintflut« und »nach der Sintflut« unterschieden. Und es müsste heißen »Sie hätte eine ganze Arche voll baden können…«)

Hannah ging hinaus und sperrte dabei Emma ein. Sie hatte das Mandelöl vergessen.

Emma ging zum Zuber, blieb daneben stehen und tauchte den Finger ins Wasser. Noch zu heiß zum Hineinsteigen. Sie legte ihr Tuch ab und stand da – wie hypnotisiert –, das Tuch in der einen Hand, die Knöpfe ihrer Bluse, schön nacheinander, in der anderen.

Die Birkenruten sahen aus wie Tierschwänze; sie hingen so da, wie Sem früher auf Erden im Schlachthaus die Tierschwänze aufgehängt hatte – die langen sahen aus wie Kuh-, die kurzen wie Kälberschwänze. Emma streckte die gerade noch mit den Knöpfen beschäftigte Hand aus, um die Ruten zu berühren: Sie waren tot wie Schwänze, die vertrockneten Blätter in Büscheln zusammengedreht.

Der Duft der Seife und die Wärme des Dampfes machten Emma schläfrig. Alles hier erinnerte sie an ihre Eltern und ihre Brüder und an das Badhaus daheim, wo alle einmal in der Woche zusammensaßen, während ihr Vater Geschichten erzählte. Dampf und Geschichten waren in ihren Gedanken immer miteinander verbunden – und das Fühlen der Finger ihrer Mutter, wenn diese ihr den Nacken massierte. Ihre Brüder waren, wie ihr Vater, riesengroß mit fahlen Haaren und Holzfällerarmen und sie sprachen, wie ihr Vater, mit leisen sanften Stimmen, wie die Tiere. Einige von ihnen hatten einen Schnurrbart, der sich zum Kinn hin zwirbelte – und der Dampf sammelte sich an den Spitzen dieser Schnurrbärte in großen perlenartigen Tropfen, die Emma an ihrem Finger sammeln und gegen die Steine schleudern durfte, wo sie wie Insekten zischten. Ihre Mutter war genau das Gegenteil von all diesen stillen blonden Männern gewesen – sie war klein und dunkel und regte sich leicht auf. Eine lustige und verspielte Frau, deren Kinder sie abgöttisch liebten. Ihre Augen hatten einen Braunton, der nur in Lottes Augen wieder auftauchte – und ihre Hand war immer ausgestreckt, um einen zu berühren.

Lotte war jedermanns Liebling gewesen – alle Brüder verwöhnten sie, ihr Vater trug sie in seinen Armen und auf seinem Rücken und ihre Arme waren so stark, dass er sie auf seine Schulter hochschwingen konnte, während sie einen Purzelbaum schlug. Lotte war kaum jemals außerhalb der Sichtweite ihrer Mutter gewesen und sie war nie unglücklich, außer sie wurde zurückgelassen, wenn die ganze Familie einkaufen ging – alle drängten dann in den offenen Wagen hinein außer Lotte und einer weiteren Person (es war jedes Mal eine andere), die bei ihr bleiben musste. Verstecken war etwas anderes. Immer wenn ein Fremder sich der Tür näherte, musste Lotte versteckt werden, und zwar im Badhaus. Das Badhaus war ein Ort, an dem alle immer glücklich waren und deshalb war es das ideale Versteck. Manchmal war Emma an der Reihe, sich mit Lotte zu verstecken und dann spielten sie, sie wären Holzfäller wie ihre Brüder – sie fällten die Birkenrutenbäume und stapelten sie kreuzweise mitten auf dem Fußboden, in Haufen mit Miniaturbau- und Brennholz.

Emmas stärkste Erinnerung an Lotte war jedoch, wie weich sie sich anfühlte, und wie herrlich es war, in ihrem großen Strohbett auf dem Dachboden eng neben ihr zu liegen und die langen dünnen, flaumigen Arme zu streicheln und im Winter, wenn ihnen kalt war, in die Mitte des Bettes zu kriechen und sich unter den Decken zusammenzukuscheln, während der Wind um sie heulte und die Eulen von ihren Balken herunterflogen und sich auf das Fußende des Bettes setzten…

»Was machst du? Du bist noch nicht einmal ausgezogen.«

Es war Hannah, die mit dem Mandelöl zurückkam. Einen Augenblick füllte sie den offenen Türrahmen mit ihrer großen Gestalt und der Masse ihres Bauches ganz aus – und der Dampf eilte auf sie zu und bildete um ihren Kopf eine dicke Wolke.

»Ich habe nachgedacht«, sagte Emma.

Wie seltsam, dachte Hannah – und machte die Tür zu. Plötzlich fiel der ganze Dampf von ihr ab und enthüllte sie in einer glühenden Aufwallung von Rot, so dass Emma daran denken musste, wie Hannah einmal in der Sonne saß und ihr Gesicht begierig dem Licht entgegenhielt.

»Ach«, sagte Hannah, während sie den Fußboden bis zum Herd überquerte und die Handtücher ausschüttelte, die sie vorher aus der Kombüse geholt hatte. »Ich bin ganz außer Atem. Ich werde in letzter Zeit so schnell müde…«

Emma sagte: »Kein Wunder. Das Kind, das du trägst, ist ja auch so groß. Meinst du, es werden Zwillinge?«

»Hoffentlich nicht«, sagte Hannah.

»Oh«, sagte Emma. »Wenn ich ein Kind kriegen würde, hätte ich gerne Zwillinge.«

»Ja – du schon. Mach jetzt schnell! Wir können nicht die ganze Nacht hier verbringen.«

Hannah hatte ihre Strickjacke schon ausgezogen und krempelte die Ärmel hoch. Weiß – weiß – weiß; jedes Stückchen ihrer Kleidung war weiß.

Emma starrte Hannahs Bauch an.

»Darf ich das Kind anfassen?«

»Nein«, sagte Hannah. »Zieh dich aus!«

 

 

Der Zuber war so tief, dass man über den Rand klettern und sich ins Wasser fallen lassen und den Boden mit den Zehen suchen musste. Emma war so klein und rund, dass sie den Zuber fast ganz ausfüllte. Das Wasser stieg ihr bis zum Hals und schwappte über den Rand und auf den Fußboden.

Als Erstes schnitt Hannah die Stofffetzen auf, die in Emmas Haaren als Bänder dienten, und dann tauchte sie sie ganz unter, so dass ihre Haare völlig nass wurden.

Spuckend und kreischend kam Emma wieder hoch und klammerte sich mit aller Kraft, über die sie verfügte, an den Rand des Zubers. Ertrinken war genauso schrecklich, wie sie es sich vorgestellt hatte: Alles wurde schwarz um einen und verursachte ein lautes Klingeln in den Ohren.

»Nicht!«, sagte sie. »Nicht!«

Hannah nahm ein dickes Stück Seife – so stark wie diejenige, die Japeth in seinem verzweifelten Versuch, das Blau von seiner Haut zu entfernen, benutzt hatte. Es war die stärkste Seife, die Mrs Noyes hatte herstellen können, und sie roch so intensiv nach Lauge, dass Emma noch benommener wurde.

Hannahs Finger waren sehr kräftig, und während sie mit der Seife Emmas Haare bearbeitete, schickten sie starke sinnliche Signale aus, auf den oberen und hinteren Teil von Emmas Kopf und ihren Nacken hinunter.

Die Finger arbeiteten sich den Schädel herab, hielten unten am Nacken an, um auch dort die Muskeln zu massieren, sandten weitere Signale das Rückgrat entlang und über die Schultern…

Emma ließ den Rand des Zubers los und stand einfach nur da, bis zum Brustbein im Wasser, mit gesenktem Kopf und offenem Mund.

Wirbel für Wirbel arbeitete sich Hannah den Rücken der Kindsbraut hinunter, drückte mit den Daumen in der Mitte und breitete die Finger über das warme Fleisch auf beiden Seiten aus. Noch nie hatte Emma sich so entspannt oder so warm oder so verwirrt gefühlt.

»Dreh dich um!«, befahl Hannah.

Emma vollführte eine fast ballettartige Umdrehung; sie hob sich auf die Zehenspitzen und kreiste langsam im Wasser, bis ihr Gesicht Hannah zugewandt war.

Hannah sagte: »Tauch unter!«

Emma, den Mund noch immer offen, beugte die Knie und tauchte unter Wasser.

Da stand Hannah auf und ging durch den Raum bis zum Herd, wo sie den Deckel hob und anfing, Emmas Kleidung hineinzuwerfen: ihre durchlöcherten, zerrissenen Strümpfe, ihre halb aufgelösten Schuhe aus Pappkarton, ihre Röcke und ihre Pumphose, ihre Bluse für drunter sowie ihre Bluse für drüber und ihr Tuch.

Genau in diesem Augenblick tauchte Emma aus dem Wasser wieder auf, wischte sich die Augen und sah, was Hannah tat.

»Was machst du da?«, fragte sie – sie nahm alles nur noch halb bewusst wahr.

»Ich verbrenne deine Kleider. Das siehst du doch!«

»Aber – das kannst du nicht! Das darfst du nicht! Nicht mein Tuch! Meine Mutter hat es für mich gemacht…«

Sie brach in Tränen aus.

»Emma.«

Emma biss sich auf die Lippe – und das Tuch fiel ins Feuer.

Als Nächstes – und Letztes – hob Hannah mit Hilfe eines Stocks Emmas dreckigstes Kleidungsstück – ihre Schürze – auf und hielt sie den Flammen entgegen.

»Nicht meine Schürze! NEIN!«

Aber sie war schon verschwunden. Und mit ihr Emmas gesamte Federnsammlung.

Emma war halb aus dem Zuber geklettert und eines ihrer dicken kurzen Beine hing über den Rand. »Meine Federn…«, sagte sie. All die Federn, die sie so geduldig bei dem ihr aufgebürdeten Füttern der Vögel gesammelt hatte – die Federn, aus denen Emma in ihren Tagträumen Flügel machte. Flügel für Mrs Noyes. Flügel für Ham und Luci. Flügel für Mottyl und Flügel für das Einhorn – damit sie alle eines Tages mit Krähe abheben und losfliegen und die Arche für immer verlassen könnten.

Emma sank zurück – ihr Bein plumpste hilflos über den Rand ins Wasser.

 

 

Nach dem Bad stand Emma ganz schweigsam da – sie dachte an ihre Schürze und ihr Tuch –, während Hannah sie überall abtrocknete.

Endlich setzte sich Hannah auf einen dreibeinigen Melkschemel und zog das Mandelöl aus ihrer Rocktasche.

»Komm her und stell dich hin!«, sagte sie.

Emma stellte sich vor ihre Schwägerin.

»Halt die Hände über den Kopf!«, sagte Hannah.

Emma tat wie befohlen – in der Annahme, sie würde jetzt nach etwaigen überlebenden Läusen abgesucht, so wie ihre Mutter die Kinder nach dem Baden immer untersucht hatte –, sie faltete die Hände über dem Kopf zusammen und hielt sie an großen Haarbüscheln fest. Sie machte auch die Augen zu.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Sei nur still und beweg dich nicht!«, sagte Hannah, deren Stimme seltsam aufgeregt klang.

Mandelduft stieg in Emmas Nase und sie fühlte, wie Hannahs Finger ihre Brüste seitlich berührten.

»Oh«, sagte sie. »Oh…«

Hannahs Finger konnten viel zärtlicher sein, als Emma vermutet hätte. Sie waren überall – sie verteilten das Öl auf ihren Brüsten und dazwischen und darunter, liebkosten sie mit Öl und arbeiteten sich – ganz langsam – auf die Brustwarzen zu.

»Oh«, sagte sie. »Oh…«

Emma bewegte sich heftig.

Hannah hörte auf.

Emma machte die Augen auf – aber Hannah goss nur noch mehr Mandelöl in ihre Handflächen und rieb die Hände aneinander, bereitete sich auf eine weitere Attacke vor.

»Sei still!«

»Ich kann nicht still sein. Ich weiß nicht, was du tust…«

»Kümmere dich nicht um das, was ich mache! Sei einfach still!«

Emma hielt die Hände erneut über den Kopf und wartete. Wo würden die Finger sie als Nächstes berühren? Das war ganz anders als bei Japeth, dessen Hände nur aus Fingernägeln und Fäusten und Daumen bestanden.

Die Finger setzten auf – leicht wie Schmetterlinge – und fingen an über ihren Bauch hinunter und ihre Oberschenkel hinauf zu wandern.

»Sei nur still! Sei einfach still!…«, flüsterte Hannah. Aber das war unmöglich.

 

 

Als Emma zu Noah zurückgebracht wurde, trug sie eines von Hannahs Hemdkleidern und sie befand sich fast in Trance. Ihr Haar war getrocknet und gebürstet und locker und mit einem einzigen Band am Nacken zusammengebunden.

»Nanu«, sagte Noah. »Wen haben wir denn da?«

»Von vorn bis achtern sauber«, sagte Hannah.

»Alles?«

»Alles.«

Noah richtete sich im großen Sessel auf, beugte sich nach vorn, und seine Augen funkelten. Als er sprach, war seine Stimme – soweit Emma sich erinnern konnte – anders als jede, die er jemals gebraucht hatte: belegt, feucht und leicht bebend.

»Komm hierher, stell dich vor mich hin, Kind!«

(Er war wieder dazu übergegangen, sie Kind zu nennen. Warum nannte er sie immer anders? Einmal »Du bist kein Kind mehr«, und dann: »Komm hierher, Kind…«)

Als Emma zu ihm hinschlurfte und dabei Angst hatte, über das Hemdkleid zu stolpern, ging Hannah hinüber und setzte sich an die andere Seite des Tisches; ein Arm ruhte auf ihrem Bauch. Ihre Haare waren vom langen Aufenthalt im Bad feucht geworden und sie sah sehr schön aus, wie sie so im Licht der Lampe dasaß, nach außen hin ganz ruhig.

»Nun will ich«, sagte Noah – und er zupfte mit seinen Fingern an Emmas Hemd. »Ich will, dass du das über die Hüften ziehst.«

Emma starrte ihn nur an.

»Hoch, hoch damit«, sagte Noah – als verlange er von ihr nur, sie solle ein Fensterrollo hochziehen. »Na, mach schon!«

Emma warf Hannah einen flehenden Blick zu – aber Hannah schaute nicht einmal zu ihr hin; vielleicht hatte sie auch nicht zugehört. Sie saß einfach an der anderen Tischseite – und starrte ins Nichts.

Emma griff hinunter, nahm die Stofffalten in ihre Hände und zog sie bis zu den Oberschenkeln hoch – konnte aber nicht weiter.

»Hoch«, sagte Noah. »Ganz hinauf.«

Emma machte die Augen zu und hob das Hemd ganz bis zur Taille hinauf, wo sie es festzog, wie einen Gürtel.

Noah murmelte: »Ja, ja…«, und sie spürte seinen Atem an ihren Beinen.

Die Arche wogte auf und ab, und der Regen war auf dem Kastelldach zu hören – sonst nichts.

Noah streckte seine Finger aus.

Emma zitterte.

»Ist dir kalt, Mädchen?«

»Nein, Herr.«

Die Finger glitten an ihren Oberschenkeln hoch, bis sie ihre Mitte erreicht hatten, so weich wie Zungen in Öl. Emma wich zurück.

»Bleib ruhig!«

Die Finger der einen Hand erreichten ihr Ziel und die Finger der anderen – die Zugang suchten – zogen ihr Fleisch sanft zur Seite.

Emma weinte. »Das tut weh«, sagte sie. »Das tut weh.«

Aber einer von Noahs Fingern war schon in ihr – und erkundete sie.

»Das tut WEH!«, schrie Emma – und zog sich so heftig zurück, dass sie gegen die Wand dahinter fiel.

Aber weder Noah noch Hannah schienen sich für ihren Schmerz zu interessieren. Noah sagte nur: »Kein Wunder, dass der arme Junge nicht hinein kann. Sie ist so eng und fest, dass eine Nadel kaum hindurch könnte.«

Hannah sagte nichts.

Emma ließ sich auf den Boden nieder und zog die Knie zum Kinn.

Und Noah redete einfach weiter – gerade so, als ob man ihr nicht wehtue, sondern ihr helfen würde. Als ob sie es gut mit ihr meinten.

»Ich will jetzt wieder zurück«, sagte sie. »Ich will zurück.«

Aber sie hätte ebenso gut schweigen können. Noah neigte sich mit dem Rücken zu ihr nach vorn, beugte sich zu Hannah hinüber.

Emma verstand nur: »… etwas, das fest genug ist… etwas Scharfes… würde ich sehr ungern benutzen…«

Sie stöhnte und presste die Hände gegen ihre Ohren.

 

Was sie holten (Hannah holte es) – war das Einhorn.

 

Emmas Geschrei hielt eine Stunde an.

Im Innern der Arche konnte Mrs Noyes es hören, doch sie ahnte nicht, was es bedeutete. Emmas ganzes Leben, so kam es ihr vor, bestand seit ihrer Heirat mit Japeth nur aus Heulen oder Schluchzen oder Schreien. Das Einzige, was Mrs Noyes durch den Kopf ging, war: »Prima! Sie wehrt sich gegen ihn, bis es nicht mehr geht!«

Andererseits…

Wenn es Japeth gelang…

Nein. Daran durfte sie nicht einmal denken.

 

 

Gerade als Noah das Horn des Einhorns herauszog, kam Japeth – der im fernen Arsenal das Geschrei ebenfalls gehört hatte – und stürzte durch die Tür in den Salon. Er war – buchstäblich – bis an die Zähne bewaffnet, denn er trug ein Messer zwischen den Lippen und seine Lippen bluteten.

Die Szene, die er vorfand, machte für ihn zuerst keinen Sinn. Sein Vater hielt das Tier mit dem Horn – es war nicht größer als ein Hund –, Emma wurde in einer steifen Umarmung von seinem Bruder Sem festgehalten – während Schwester Hannah zu Emmas Füßen hockte und mit einem kleinen roten Handtuch an etwas tupfte, das wie eine Wunde aussah. Emma schrie noch immer und stampfte mit den Füßen auf den Boden wie jemand, der versucht, eine Schlange zu töten.

Er brauchte eine ganze Minute, um diese Bilder zusammenzusetzen, damit sie einen schlüssigen Sinn ergaben, den Japeth – trotz allem – nicht glauben konnte.

Aber das Horn des Einhorns war blutverschmiert und das sagte alles, was die sonstigen Dinge, die er sah, verschwiegen.

»Wir waren gerade…«, sagte Noah.

Japeth zog sein Schwert.

Noah wich nicht von der Stelle – eine Haltung, die, wie er aus langer Erfahrung wusste, seinen Sohn einschüchtern würde. Einen einzigen Schritt nach hinten – und alles könnte verloren sein. Aber Japeth konnte es nicht ertragen, wenn ein Mann sich nicht bewegte. Es verwirrte ihn. Besonders wenn dieser Mann keine Waffen trug.

Noahs Hand lag auf dem Rücken des Einhorns – und das Einhorn war auf den Knien zusammengebrochen, fast schon ohnmächtig. Das einzige bisschen Stimme, das es zustande brachte, war für menschliche Ohren nicht wahrnehmbar. Sowohl sein Gesicht als auch sein Horn waren blutverschmiert und sein Horn war ihm fast von der Stirn gerissen worden. Zum Teil war es sein eigenes Blut – und nicht mehr lange und es würde auf dem Tisch verbluten. Aber niemand schenkte ihm die geringste Beachtung – und Noahs Hand wog so schwer, dass dem Einhorn die Luft wegblieb.

Hannah stand auf und ging mit dem dunkelroten Handtuch hinaus.

Sem ließ Emmas Arme los, worauf sie sofort in die dunkelste Ecke des Zimmers rannte, das Gesicht zur Wand drehte und ganz schweigsam und still stehen blieb.

Noah sprach monoton auf Japeth ein – seine Stimme war der reine Klang der Vernunft – und er versuchte seinen Sohn zu beschwichtigen: »Wir haben all deine Probleme gelöst: die Probleme, die du nicht lösen konntest. Sie kann dich jetzt empfangen. Es lag nicht an dir – sondern an ihr. Dies da war notwendig…« Er zeigte auf das Einhorn. »Es war nichts anderes als das, was eine Hebamme gemacht hätte: nichts anderes als das, was der Apotheker ihrer Mutter geraten hätte, wenn diese nur halb so verantwortungsbewusst gewesen wäre wie andere Mütter, die so anständig sind, vorher den Rat eines Apothekers zu suchen. Deine eigene Mutter hätte sich darum kümmern müssen…« Jetzt vollzog Noah die wie stets abenteuerliche und unvorhersehbare Wendung, die ihn von jeglicher Schuldzuweisung befreien sollte; die Wendung, die sogar ihn selbst davon überzeugte, dass er schuldlos sei und – mehr als schuldlos – dass er, nur er, die ganze Situation dadurch rette, indem er alle und jeden vor dem sicheren Ruin bewahre: dieses Rucken, das damit begann, dass sein Arm nach vorne schnellte und sein Finger durch die Luft fuhr, um den wahren, den absoluten Übeltäter ausfindig zu machen: die unvermeidliche Ursache alles Bedrohlichen, alles Gefährlichen; alles Törichten; alles Wahnsinnigen. Dieser Finger der Vernunft, der immer sonst jemanden fand – und zwar meistens seine Frau.

»Gib deiner Mutter die Schuld – aber komm nicht mit gezogenem Schwert auf mich zu! Ich habe nur meine väterliche Pflicht getan. Sonst nichts.«

Langsam ließ Japeth das Schwert sinken und nahm das Messer aus dem Mund und einen Augenblick lang kam es Noah und Sem vor, als würde er sie ohne ein Wort verlassen, denn er drehte sich halb um und machte einen Schritt scheinbar hin zur Tür. Doch plötzlich wandte er sich so schnell wieder um, dass weder Sem noch Noah wirklich sehen konnten, was er tat.

Das Schwert erhob sich im Laternenlicht – und sauste fest, von zwei Händen geführt, auf den Tisch herunter, wo es das Horn des Einhorns vom Kopf trennte.

 

 

Für Noah war das eine nur allzu verständliche Reaktion.

Jeder Mann muss Rache nehmen, wie und wann er es für richtig hält. Das Objekt der Rache ist dabei unwichtig. Wichtig ist nur der Racheakt selbst, da er den Mann charakterisiert. Später sollte Japeth zur Überzeugung kommen, dass er als der Arm Gottes gehandelt hatte. Noah würde es ihm so erklären.

 

 

Es kam ihnen vor, als hätten sie eine Ewigkeit gewartet – und je länger sie warteten, desto näher rückten sie zusammen.

Mrs Noyes war zu Mottyl gegangen und bei ihr sitzen geblieben – zum Teil, weil sie Angst um sie hatte –, nachdem Hannah mit dem Einhorn verschwunden war.

 

 

»Was hast du mit ihm vor?«, fragte Mrs Noyes, als Hannah das Einhorn aus seinem Nest hob. »Es ist sehr empfindlich, weißt du. Es ist krank gewesen.«

»Ich habe nichts mit ihm vor.« (Hannah legte das Einhorn in ihre Armbeuge und zog den Zipfel ihres hellblauen Regentuchs über die Schulter, um das Tier vor dem Sturm zu schützen.) »Doktor Noyes hat nach ihm verlangt.«

»Ach so – jetzt heißt es also wieder ›Doktor Noyes‹? Und was bedeutet dies jetzt – geht es um ein Experiment oder um Ehrerbietung gegenüber Gott? Ist es der Hochwürdige Doktor Noyes, der es will, oder nur einfach der Doktor Noyes?«

Hannah zog die Spitze ihres Tuchs über ihren Kopf und war schon dabei, die Treppe hinaufzugehen.

»Diese Frage kann ich nicht beantworten, Mutter Noyes. Ich weiß nur, dass er das Einhorn will.«

»Und wo ist Emma? Was ist mit Emma geschehen?«

»Emma geht es gut, Mutter Noyes.«

Hannah ging die Treppe hinauf, nahm jede Stufe ganz langsam, und bevor sie das nächste Deck erreichte, war sie schon ganz außer Atem.

Mrs Noyes lief dicht hinter ihr her und sah, wie ihre Schwiegertochter stehen bleiben musste, die Hand am Geländer und die Schultern nach vorn gebeugt. Schnell war Mrs Noyes neben ihr.

»Was fehlt dir?«

»Nichts. Ich bin nur müde.«

Mrs Noyes ging um sie herum und sah in Hannahs Gesicht, aus dem die Farbe verschwunden und in dem der Mund fest gespannt war.

»Erzähl keine Märchen!«, sagte sie. »Irgendetwas stimmt nicht.«

Hannah befand sich offensichtlich in einem Dilemma. Abgesehen von Emma – mit der man einfach kein ernsthaftes Gespräch führen und keine ernsthafte Angelegenheit diskutieren konnte – hatte sie seit Wochen keine andere Frau gesehen – außer mitten in einer Krise. Sie brauchte – und wollte – dringend jemanden, mit dem sie reden konnte, und vor allem eine Frau; aber sie konnte sich nicht dazu entschließen, sich an eine der Frauen zu wenden. Ihr ganzer Stolz war in ihr Schweigen eingeschlossen: Ihr ganzer Ehrgeiz war in die Entscheidung mit eingebunden, die sie getroffen hatte, nämlich zur rechten Seite der Macht zu sitzen. Von allen Menschen an Bord der Arche – außer vielleicht Doktor Noyes selbst – war Hannah die einzige Mitreisende, die ganz nüchtern über das Überleben nachgedacht hatte; die den ganzen langen Prozess des Am-Leben-Bleiben-Wollens – um welchen Preis auch immer – rationell durchdacht hatte; deren Durchhaltevermögen von einem Augenblick zum nächsten berechnet war. Jetzt war so ein Augenblick.

Als sie Mrs Noyes ins Gesicht schaute – und darin die fast peinlich unverhohlene Besorgnis ihrer Schwiegermutter sah –, hätte Hannah alle Kontrollen und Hemmnisse, die sie so lange und so sorgfältig aufrechterhalten hatte, am liebsten fallen lassen. Sie hätte gerne zugegeben, dass sie Angst hatte; gern von ihrer Einsamkeit erzählt; gern laut gesagt: Ich habe Schmerzen. Sie hätte gern von dem Kind erzählt, von dem sie fürchtete, es sei in ihrem Leib gestorben. Und vom Blut, das sie verlor.

Ein Teil dessen, was Hannah gerne gesagt hätte – gegen ihren Willen und sogar ohne dass sie sich dessen bewusst war –, war in ihrem Gesichtsausdruck zu lesen, den Mrs Noyes entziffern konnte, wenn auch nur unvollständig. Sechshundert Jahre Erfahrung im Kindergebären, in Einsamkeit und in Angsthaben waren eine gute Voraussetzung, um die Türen im Gesicht einer anderen Frau zu öffnen. Aber Mrs Noyes konnte nicht mehr als das Ausmaß des Problems erkennen und die Tatsache, dass Hannah nahe daran war, von ihm – was auch immer es war – überwältigt zu werden. Sie konnte den Schmerz ahnen, aber nicht das Blut. Sie konnte die Angst ahnen, aber nicht die Sorge, dass das Kind vielleicht tot war. Sie konnte die Falle ahnen, die Hannah sich selber gestellt hatte – aber sie wusste nicht, wo die Tür war, durch die sie wieder hinauskonnte. All das musste ausgesprochen werden. Und Hannah wollte nicht sprechen.

»Willst du dich nicht wenigstens einen Augenblick setzen und dir eine Tasse Brühe oder einen Zuckerwürfel bringen lassen?«

»Nein«, sagte Hannah. »Nein.«

»Sag mir, was los ist!«, sagte Mrs Noyes. »Um Himmels willen…«

»Nein«, sagte Hannah. »Nein. Es gibt nichts zu sagen. Ich muss zurück.«

Und sie kehrte zurück. Und mit ihr das Einhorn.

 

 

Jetzt saß Mrs Noyes auf dem geheimen Treppchen; das Stroh war beiseite geschoben und Mottyl lag blind im Licht der Lampe und schnurrte.

Der Käfig des Einhorns darunter war leer und ohne seine Gegenwart wirkte sein Nest erschreckend klein. Das Weibchen war wie immer so weit hinten im Schatten versteckt, dass nur das Horn sichtbar war, und Mrs Noyes konnte nicht umhin, erneut die Frage zu stellen – vielleicht zum hundertneunzigsten Mal: »Warum sprichst du nicht?«

Und die hundertneunzigste Antwort fiel genauso aus wie die Hannahs. Sie war Schweigen.

 

 

Ham kam und lehnte sich ans Geländer, starrte in den Schacht. Luci lief mit ihrer Laterne umher, auf der anderen Seite durch den schmalen Gang, blieb bei jedem Käfig stehen und steckte ihre behandschuhten Finger durch das Gitter oder den Draht. Niemand sprach. Wenn eine Uhr dort gewesen wäre, dann wäre ihr lautes Ticken vielleicht auf allen Decks zu hören gewesen – auch bei den weit entfernten Bären und den Elefanten und Nashörnern auf der alleruntersten Ebene. Die unausgesprochene Frage war jedoch allgegenwärtig: Wann wird Emma uns zurückgegeben – und das Einhorn?

Ganz weit weg, jenseits der Außenseiten der Arche und tief im Stampfen und Rollen des Meeres verborgen, das jetzt zum Ozean anschwoll, sangen die Wale, sammelten sich die Piraten zum nächsten Angriff. Auch Ham musste an die Wale denken – und Mrs Noyes an die Piraten. Ham dachte: Eines Tages werde ich verstehen, was sie singen. Und Mrs Noyes dachte: Wenn die Piraten nur verstehen würden, dass wir kein Spiel für sie sind…

 

 

Solange dieses Blut noch vorhanden und bevor Absolution erteilt werden konnte, musste gebetet werden.

Von sich und von Sem und von Schwester Hannah sagte Noah: »Wir drei dürfen so beten, wie wir sind. Doch Japeth und seine Braut müssen das Blut dieses Tieres teilen, da dieses Tier jetzt das eigentliche Symbol ihrer Weihe vor Jahwe darstellt.«

Während Noah und Sem hinausgingen, um in der Kapelle alles zu richten, stellte Hannah Emma auf die Füße. Das übergroße Hemd war noch immer über ihre Hüften hochgeschoben und ihre Oberschenkel waren mit Streifen getrockneten Blutes verschmiert. Emma, die ganz unter Schock stand, schaute auf ihr verschandeltes Geschlechtsteil herab und sagte zu Hannah: »Ich will nicht leben.«

Hannah sagte: »Das ist jetzt vorbei. Es wird bald vergessen sein – und es muss vergessen werden. Das, wovor du Angst hattest, gehört der Vergangenheit an.«

Emmas Blick richtete sich über Hannahs Schulter.

»Japeth ist immer noch da«, sagte sie. Er wandte ihr den Rücken zu und putzte sein Schwert.

»Ja. Aber vergiss nicht – Japeth hat sich ebenso sehr wie du durch das verändert, was hier passiert ist.«

»Wieso?«, fragte Emma und schaute ihre Schenkel und die blutigen Falten des Hemdes an. »Ihn hat doch niemand aufgeschlitzt…«

»Du hast anscheinend nicht begriffen, dass das, was dir angetan wurde, mit Japeth zu tun hat. Du warst nicht wie andere Mädchen und Frauen. Du warst schwierig. Japeth konnte nicht eindringen. Und…«

»Er konnte nicht eindringen, weil ich es nicht zuließ!«

»Nein.« Hannahs Stimme war ruhig und besonnen. »Er konnte nicht eindringen, weil du so geschaffen warst. Jetzt kann er es, weil es bei dir in Ordnung gebracht wurde.«

Emma sagte: »Ich will mich waschen. Ich will, dass du mich wäschst. Ich will, dass du es tust, nicht er.«

»Nein«, sagte Hannah. »Das darf ich nie wieder tun. Das darf man bei einem Kind. Jetzt bist du eine Frau.«

»Aber ich will Japeth nicht!«

Hannah sah, dass Emma gleich in Tränen ausbrechen würde, und sie legte ihre Hand – ganz sanft – auf Emmas Lippen. Die Falten des blutigen Hemds fielen zwischen beiden herab, und Emmas Hände bewegten sich auf Hannahs Handgelenke zu. Doch Hannahs Handgelenke waren stärker als Emmas Finger.

»Warte!«, sagte Hannah. »Warte und hör mir zu!«

Emma hätte am liebsten in Hannahs Hand gebissen – widerstand aber dem Wunsch, weil sie fürchtete, dann würde noch mehr Blut fließen.

Hannah sagte: »Von jetzt an zählt nicht mehr, was du willst…« (Hatte es jemals gezählt?, wollte Emma schreien. Wollte ich eine Noyes werden? Wollte ich all die Töpfe? Habe ich um einen blauen Ehemann gebeten?) »Das Einzige, was zählt, ist, dass Japeth auf dich Anspruch erhoben hat und dass du seine Frau bist. Wir unterstehen alle einem Edikt. Wir sind die letzten Menschen. Wir hier alle sind dieser Tatsache unterworfen. Und du bist ganz direkt Japeth Noyes unterworfen. So sind die Dinge nun einmal, Emma – so werden sie immer sein. Finde dich damit ab! Jetzt.«

Das Wort »jetzt« war ein Befehl – und Emma wusste das. Es war ausgesprochen worden, wie Mrs Noyes es getan hätte – ja sogar, wie ihre eigene dunkelhaarige, liebende Mutter es ausgesprochen hätte. Sie konnte sich nicht weigern, denn es war ein Sakrileg, einem Elternteil den Gehorsam zu verweigern. Unheilig. Heilig bedeutete: keinen Ausweg.

»Jetzt«, sagte Hannah. »Jetzt, Emma.«

Emma gab nach.

Hannah nahm die Hand von Emmas Mund – und legte ihre beiden Hände auf die Schultern des Mädchens. »Gut«, sagte sie. »Du hast den ersten Schritt hin zur Weisheit gewagt.«

Emma fragte: »Hat man dir angetan, was man mir angetan hat?«

Hannah zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie antwortete. »Nein«, sagte sie. »Nein. Mir hat man es nicht angetan.«

Emmas Augen füllten sich mit Zorn – aber ihre Stimme klang ruhig, und zum allerersten Mal dachte Hannah: Innerlich wird dieses Mädchen also auch ein Eisblock sein.

»Warum hat man es dir nicht angetan?«, fragte Emma. »Du warst auch nur eine Braut, so wie ich.«

Hannah schüttelte den Kopf. Ihre Hände ruhten auf ihrem Kind – dem Kind, das Emma nicht berühren durfte.

»Der Unterschied hat nichts mit mir und dir zu tun«, sagte sie, »sondern mit den Männern, die auf uns Anspruch erheben.«

»Aber du hast gesagt, der Unterschied liege an mir.«

»Nein«, sagte Hannah. »Ich sagte, die Schwierigkeit liege an dir.«

Dann wandte sie sich ab und setzte sich hin. Die Schmerzen kamen wieder und es war, als würden kleine Hände gegen ihr Herz schlagen.

Emma konnte sehen, dass Hannah plötzlich ganz bleich wurde. »Was fehlt dir?«, fragte sie.

»Alles«, sagte Hannah. »Alles. Frag nicht!«

Die Kapelle war klein, denn man hatte sie eher im Hinblick auf die Bedürfnisse Noahs als auf die der ganzen Familie gebaut. Ihr angeblicher Zweck bestand darin, als Ort zu dienen, wo der Hochwürdige Doktor die Verbindung zu seinem Gott suchen konnte. Aber sie war zu einem Ort geworden (obwohl nur der Hochwürdige Doktor sich dessen bewusst war), wo Noah Verbindung mit seinem Freund nur gesucht, aber nicht gefunden hatte. Inmitten ihrer mit Ikonen übersäten Wände hatte Jahwe sich kein einziges Mal eingefunden; und seine Stimme hatte auch nicht aus den Tiefen des mit einem Vorhang verhüllten Sanktuariums gesprochen. Noch nie.

Der Opferaltar, der unter der Pagode stand, aus welcher der Rauch des Feuers entweichen sollte, war noch nie benutzt worden, denn es war ursprünglich Noahs Absicht gewesen, erst dann ein Opfer darzubringen, wenn der Regen aufgehört und die großen Stürme nachgelassen hätten. Die Tötung des Einhorns jedoch bot eine Gelegenheit zum Opfern, die man nicht ignorieren konnte. Sie zu ignorieren hätte bedeutet, dass man die Katastrophe herausfordert. Das Einhorn war eines von Jahwes Lieblingstieren gewesen. Daher hatte Noah – etwas voreilig – die Tötung dieses Tieres in das verkehrt, was er hartnäckig einen rituellen Tod nannte. Jahwe musste beschwichtigt werden, wo immer er auch sein mochte.

Außerdem musste das Ritualopfer dazu dienen, Noahs entschieden schlechtes Gewissen, was das Einhorn betraf, zu beruhigen. Vielleicht auch noch hinsichtlich eines oder zweier anderer Dinge, die man jetzt besser nicht erwähnen sollte… (Sei still!) Hätte er das Einhorn nicht holen lassen, damit es Emmas Verstümmelung bewerkstelligte, könnte das Tier noch am Leben sein. Daher musste für seinen Tod ein heiliger Zweck erfunden werden.

 

 

Die Leiche des Einhorns war jedoch unrein: Seine gespaltenen Hufe ließen es nicht zu, dass man es auf den Altar legte. Sein Horn – der heilige Phallus – war natürlich etwas anderes und gerade war Sem dabei, mit einem Hammer seinen Bernstein in Staub zu verwandeln.

Noah lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf dieses Ritual.

Dieser heilige Staub… (Sehr gut! Heiliger Staub war gut)…

Dieser heilige Staub wird dann mit Met (heiligem Met) und mit dem Blut von Emmas Wunde (heiliger Wunde?) vermischt und anschließend von den beiden jungen Menschen zur Erinnerung an das Heilige Tier getrunken, dessen Horn den Vollzug ihrer Ehe ermöglicht hat. Und dessen Heiliges Leben geopfert wurde, damit… damit…

Noah stockte.

Damit… Affen…

Noah blickte sich um. Beobachtete ihn jemand? War da jemand?

Nein.

Dessen Leben… dessen Heiliges Leben geopfert wurde… zum größeren Verständnis von… Affen…

HÖR AUF DAMIT!

All die Ikonen – viele mit Jahwes Angesicht – beobachteten ihn.

Damit…

Schweigen. All die vergoldeten Augen und all die Rubinaugen Jahwes waren auf ihn gerichtet: unerbittlich.

Noah stand haargenau in der Mitte der Kapelle, vor Panik gelähmt.

Wie sollte er beten?

Die Ikonen funkelten.

Sollte er die achtzehn Segen intonieren – vom Lobpreis des Glaubens der Urväter angefangen bis zur Bitte um Frieden auf der Welt?

Aber es gab keine Urväter.

Es gab keine Welt.

Und allem, was vom Glauben übrig blieb, würde es bald so ergehen wie dem Frieden.

Endlich wagte Noah, den Ikonen ins Gesicht zu sehen.

»Sagt mir!«, sprach er laut. »Wie soll ich beten?«

Die Rubinaugen – die vergoldeten Augen – antworteten nicht, wollten nicht antworten. Alle Münder Jahwes – jeder einzelne – versagten sich den Worten.

Noah drehte sich zum Altar um, wo er drei Würfel Weihrauch hinlegte. Er würde das feierliche Trauergebet für das Einhorn sprechen – für dieses spezielle Einhorn und für das Einhorn als das Letzte seiner Art – seinen unwiderruflichen Tod aus den Händen der ungezähmten Bestie beklagen…

Den es aus den Händen Japeths, des Affen, empfangen hatte.

Und aus denen Emmas.

Noah stand mucksmäuschenstill vor dem Altar, an seinen Fingern haftete der Geruch von Weihrauch.

Wenn ich überhaupt ein Gebet finde; was ich auch sonst bete – ich muss um noch einen Tod beten.

Er legte die Hände zusammen – schloss die Augen und fiel auf die Knie, und in dieser Haltung fanden ihn Sem und Hannah, Japeth und Emma, als sie hereinkamen, um am feierlichen Ritus des Heiligen Phallus zur Erinnerung an das Heilige Tier Jahwes, das Heilige Einhorn, teilzunehmen.

Sogar Emma – die ihren Schwiegervater ewig hassen würde – fand es bewundernswert, dass er so inbrünstig betete.

 

 

Krähe saß wie betäubt auf ihrem Kaminaufsatz im Inneren der Pagode. Ihre Ausflüge in den Regen hinaus waren immer weniger abenteuerlich. Sie war müde; sie hatte das Sitzen satt (wenn ich doch nur ein Ei zum Draufsitzen hätte; dann hätte es zumindest einen Sinn) – sie hatte den Regen satt – sie hatte die Kälte satt. Und die großen, breiten Wasserflächen, über denen sie wagemutig herumflog, hatten in letzter Zeit so viele Bilder des Gemetzels und Grauens geboten, dass ihre Flüge sich jetzt nur noch auf Umkreisungen der Arche beschränkten.

Einen Feind im Kampf zu verlieren, ist eine Sache: ihn fallen zu sehen und dann in seinen Eingeweiden zu schwelgen. Doch wenn alle Feinde dem Meer anheim fallen, ist es nur traurig. Mit wem sollte man – so wie früher – den freudigen Kampf um Nahrung bestreiten? Nicht einmal mit dem eigenen Partner war es möglich – zumal sie keinen Partner hatte und die einzigen anderen Krähen sich tief unten in der Arche befanden. Und im Finstern hinunterzufliegen, um sich allein nur von toten Fischen zu ernähren, war langweilig. Worin lag der Kampf, der das Leben lebenswert machte?

Und obwohl sie wusste, dass Mrs Noyes und Mottyl in der Nähe waren – und obwohl sie sogar Mrs Noyes ab und zu sah –, wäre etwas Gesellschaft zur Aufmunterung nicht schlecht. Die Witze, das Geschäftemachen, das Feilschen: das alles fehlte ihr ganz schrecklich. Es stumpfte den Geist ab, wenn man die Freunde nicht um ihre geschätzten Leberund Hirnbrocken prellen konnte.

Und die Piraten, die machten keinen Spaß. Mit Vögeln wollten sie nicht spielen. Sie wollten sich nur den Menschen anschließen. Diese Narren. Nicht einmal all die Todesfälle, die Japeth bei ihnen verursacht hatte, konnten sie davon überzeugen, dass sie dem Schiff fern bleiben sollten. Sie konnte hören, wie sie davon sprachen – und dass sie der festen Überzeugung waren, »wenn wir nur Geduld haben, werden wir ihnen zu verstehen geben, dass wir ihre Freunde sind«. So stand es also um die angeborene Intelligenz der Piraten. Die Wale waren wenigstens vernünftig genug, um auf Distanz zu bleiben.

»Nanu, was ist das?«, fragte sie sich. »Es ist ganz plötzlich so warm geworden.«

Und es roch auch anders.

Angesengte Federn?

Nein. Keine angesengten Federn. Kirchengeruch, der ihr von einer sehr kurzen Woche bekannt vorkam, die sie in einem Glockenturm verbracht hatte, bevor sie durch den plötzlichen, unerwarteten Sabbat vertrieben worden war.

Doktor Noyes hatte unter ihr das Feuer angezündet, und er brachte jetzt Opfer dar.

Krähe hob von ihrem Nest ab, flog hin und setzte sich auf die Reling, von wo aus sie sehen konnte, wie Rauch und Weihrauch aus ihrem Kamin stiegen. Sie fragte sich, wie lange das dauern würde.

Mein Hinterteil riecht nach Sandelholz, dachte sie.

Na – das würde zumindest die Läuse ausräuchern.

Mrs Noyes saß auf ihrem geheimen Treppchen; ihren Arm hielt sie in Mottyls Nest und Mottyl kuschelte sich schlafend an ihn. Die Kätzchen, die in einer Ecke zusammengedrängt lagen, zappelten im Traum. Das silberfarbene Männchen träumte offensichtlich von Gewalt: Es lag auf dem Rücken und wehrte mit allen vier Pfoten Feinde ab. Mrs Noyes streckte ihm ihren Finger hin und versuchte, es zu beruhigen. Es lutschte an ihren Fingernägeln und seine Anspannung ließ allmählich nach. Es war ein süßes, liebes Kätzchen – sehr vertrauensvoll und viel zu abenteuerlustig. Vielleicht ergaben seine Träume ja einen Sinn. Es lebte in dieser schrecklichen Gefangenschaft, umgeben von Stürmen und brüllenden Tieren.

Gerade jetzt allerdings lagen mehrere dieser sonst brüllenden Tiere da und schnarchten, andere dagegen befanden sich in ihrer mitternächtlichen Trance – die Augen offen – den Blick auf Geister und Ahnen, nicht aber auf Träume oder Mrs Noyes gerichtet.

Ham lehnte noch immer am Geländer und starrte auf die riesigen Tiere da unten. Er entwarf die Welt neu gemäß ihren verschiedenen Gestalten und Größen. Die Elefanten zum Beispiel würden einen Ort mit Suhlen und Wasser und Bäumen brauchen, Bäumen, die in ihrer verschwenderischen Fülle nicht zu dicht wuchsen: einen Wald oder einen Forst, wo man zwischen den Eukalyptusbäumen und Buchen noch Platz zum Durchgehen fand: Grasland, wo sie weiden konnten… Und was dorthin passen würde: das Zebra, denn das graste, und Langhals, der bräuchte das Flachland zum Laufen und die Bäume der Ebene zum Äsen…

Luci war neben dem Käfig des Greifs stehen geblieben und hatte sogar ihre Finger durch das Gitter gesteckt! Ham fragte sich, ob es überhaupt etwas Gefährliches gab, das sie aus der Fassung bringen konnte. Luci schien immer gerade von den Außenseitern und Geächteten, den seltsam Gestalteten und den extrem Zarten fasziniert zu sein: von Greifen und Glasmäusen, Dämonen und Einhörnern; von Kobras und Schnabeltieren. Ihre Lieblingsvögel waren die ungemein hässlichen Dodos und die ungemein unbeliebten Kuckucke, deren Eier überall zu finden waren, auch in Lucis Perücken und in Emmas Bett.

»Hast du gewusst«, sagte Luci – sie rief über den offenen Schacht hinweg, der sich zwischen ihnen befand –, »dass der Greif ein Sprachgenie ist? Er kann alle Sprachen, die es gibt, sogar meine.«

»Wie meinst du, ›sogar deine‹?«, fragte Ham.

»Nichts«, sagte Lud. »Nur so eine Redensart. Hast du keine eigene Sprache?«

In diesem Augenblick öffnete sich – noch bevor Ham antworten konnte – ein Stockwerk höher die große Tür zum Deck.

Mrs Noyes war plötzlich hellwach und stieg hinunter, zog ihren Arm von Mottyl und ihre Finger vom silbernen Männchen weg.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Das könnte Emma sein, die zurückkommt.«

Schnell schob sie das Treppchen in sein Versteck und ließ den Strohvorhang herunter.

In der Zwischenzeit war Ham schon den Gang entlang zur Treppe unterwegs, und Lucis Laterne hatte sich vom Greifenkäfig abgewandt und wippte auf der anderen Seite des Schachts.

»Schnell, schnell!«, trieb Mrs Noyes sich selbst an. »Schnell, schnell…«, denn zu ihrem Leidwesen hatte sie entdeckt, dass ihr die Beine eingeschlafen waren.

 

 

Zuerst zeigte nur der geräuschvolle Luftzug, dass jemand da war. Mrs Noyes, Ham und Luci machten sich auf den Weg zum oberen Stockwerk – in der Annahme, dass sie jeden Augenblick Emmas Stimme hören würden. Auch wenn sie heulen sollte. Hauptsache es wäre ihre Stimme. Aber nur der Wind und das Quietschen der Tür waren zu hören.

Als sie die zweite Treppe erreichten, erkannten sie, nur allzu deutlich, dass Japeth dort stand, obwohl er keine Laterne trug und nur vom Licht von Lucis Lampe beschienen war. Japeth hielt in einer Hand sein Schwert und in der anderen etwas anderes, etwas Unidentifizierbares.

Schließlich räusperte sich Mrs Noyes und fragte: »Wo ist Emma?«

Japeth sagte: »Emma ist hier oben, endgültig. Sie gehört jetzt zu uns.«

Ham sagte: »Das ist unmöglich.« Fast hätte er laut gelacht.

Japeth sagte: »Nein. Es ist nicht unmöglich. Vater hat einen Ritus durchgeführt und Emma ist jetzt endlich und wahrhaftig meine Frau.« Wie zum Beweis dafür wurde seine Haltung noch gerader.

Ham hegte noch Zweifel. »Emma ist schon immer deine Frau gewesen, Jap. Du hast nur Schwierigkeiten gehabt beim Versuch…«

»Fang nicht damit an!«, sagte Japeth. »Fang nicht wieder damit an!«

Also, dachte Mrs Noyes, ist es endlich geschehen. Nun – verflucht soll er werden!

Japeth kam weiter aus der Dunkelheit hervor und streckte ihnen das Ding in seiner Hand hin. Sein Schwert war es nicht. Aber die Form sagte ihnen nichts. Nur der Zustand des Gegenstandes ließ sie auf eine Geschichte schließen – es war tot und blutüberströmt. Und auch Japeths Arm war voller Blut. »Hier«, sagte er. »Hier habt ihr euren anderen Freund.« Und er warf den Körper eines kleinen verstümmelten Tieres nach unten, dessen Wunden so blutig waren, dass niemand erkennen oder erraten konnte, wer es war.

 

 

Als Japeth ging, machte er ein großes Spektakel daraus, die Tür zu verschließen und zu verriegeln, dabei kam ein heftiger Windstoß herein, so laut, als würden schwere Nägel in etwas hineingehämmert. Der Lärm ließ alle starr im Lichtkreis von Lucis flackernder Lampe verharren; regungslos blickten sie das an, was ihnen zu Füßen lag. Das Einhorn. Tot.

Mrs Noyes fiel nicht hin, auch wenn sie es sich jetzt gewünscht hätte. Ihre Knie wollten nicht nachgeben.

Luci – schweigend – reichte Ham ihre Lampe und kniete sich hin, ohne den Rücken zu krümmen. Sie hob das Einhorn an ihre Brust und hielt es mit einer behandschuhten Hand fest; mit der anderen Hand bedeckte sie seine Augen.

»Nehmt es euch nicht zu Herzen!«, sagte sie. »Nehmt es euch nicht zu Herzen!« Dann stand sie auf.

Mrs Noyes streckte ihre Finger aus, um den Körper ihres Freundes zu berühren, brachte es aber nicht fertig. Ihre Hand zog sich zurück, bevor sie ihr Ziel erreichte. Wie klein es war! Das Einhorn. Wie klein in ihrer Hand.

Luci begann zu laufen – fast ziellos – folgte sie dem Gang – ließ die Vogelgalerie hinter sich – schlängelte sich durch das Labyrinth der Insektenkäfige und Reptilientanks, bis sie das erreichte, was man den Stall nannte. Dort waren die Rinder, Schafe und Ziegen untergebracht, die Tiere, die laut Edikt nicht in Gruppen zu »zwei und zwei«, sondern zu »sieben und sieben« an Bord der Arche gebracht werden sollten – die entbehrlichen Tiere, deren Junge vor dem Auftauchen der Piraten so viel Futter für die Fleischfresser geliefert hatten. Eines Tages würden auch sie – sobald Land in Sicht war – geopfert werden.

Der Geruch von Stroh, Heu, Hafer und Gerste erfüllte den Stall mit unauslöschlichen Erinnerungen an die Erde und an die Stallungen dort, und an all die anderen, die diese Stallungen einst bewohnt hatten und jetzt für immer verloren waren: an Lili und Hannibal, die Pferde; an die Katze Panik; an den Chor der Schafe; an die Hennen; an die Eulen und an alle Rinder, Ziegen und Schweine, deren Leben den Händen der Familie anvertraut waren: beim Melken, Füttern und Schmusen, damit sie die geheimen Stellen preisgaben, wo Minze und Trüffeln wuchsen. Im Stall musste Mrs Noyes unweigerlich an alle Tage und Nächte, an alle Krankheiten denken, die sie jemals dort erlebt hatte, an alle Geburten und an alle Todesfälle, die sich in jenen Stallungen in ihrem Beisein ereignet hatten: Hebamme für die Welt – und sie liebte diese Aufgabe. Aus all diesen Gründen erinnerte sie der Stall, mehr als jeder andere Ort auf der Arche, am ehesten an zu Hause.

Luci setzte sich neben den Rindern auf einen Haufen Heu und legte das Einhorn, zusammengerollt, auf ihren Schoß.

Mrs Noyes war verschwunden, aber Luci sagte: »Sie ist nur weggegangen, um Mottyl zu holen.«

Sie hatte Recht. Drei Minuten später erschien auch Mrs Noyes im Stall; sie hielt Mottyl an ihre Schulter gedrückt und wurde überraschend von einem weiteren Gast begleitet.

»Ich bin über Japeths Kopf hereingeflogen, als er versucht hat, die Tür zu schließen«, erklärte Krähe. »Er wurde vom Regen geblendet und hat mich nicht gesehen.«

Obwohl der Tod des Einhorns auch sie traurig machte, fing Mottyl an zu schnurren, als sie die Stimme ihrer alten Freundin hörte. Mrs Noyes setzte sie auf dem Stroh am Boden ab und Krähe ließ sich neben ihr nieder.

»Du riechst nach etwas«, flüsterte Mottyl.

»Nach Kirche«, flüsterte Krähe.

»Es tut gut, dich zu hören.«

»Es tut gut, dich zu sehen.«

Alle schwiegen.

Die Laterne baumelte dort beim Schafverschlag, wo Ham sie hingehängt hatte, und der ferne Lärm des Regens klang wie Kinderfinger, die aufs Dach trommelten, und das einzige andere Geräusch war das der Arche selbst, die sich auf dem immer tiefer werdenden Wasser hob, senkte und wieder hob.

 

 

Langsam – und so leise, dass der Klang ihrer Stimme zunächst kaum hörbar war – begann Luci zu sprechen.

Ihre Worte schienen für das Einhorn bestimmt, denn ihr Kopf beugte sich beim Sprechen weiter über das Geschöpf auf ihrem Schoß. Der Rücken des Einhorns war den anderen zugewandt, sein blutiger Kopf war nach innen gebogen wie der Kopf eines schlafenden Kindes. Lucis eine behandschuhte Hand ruhte auf seiner Seite, die Finger griffen in das ziegenartige Fell.

»Glaub mir«, sagte sie, »du brauchst keine Angst zu haben. Du wirst gerächt werden. Sein Schwert kommt meinem Feuer nicht gleich.«

Mrs Noyes schaute ratlos zu Ham hinüber, der mit den Lippen das Wort: »Japeth« formte.

Mrs Noyes nickte.

»Wenn ich dich nur mit nach Hause nehmen könnte«, sagte Luci, »dann würdest du leben. Dort wäre es so leicht – dich nur auf den Boden zu setzen und dir zu sagen: ›Stehe auf und geh!‹ Und ich würde deine Stirn mit meinen Fingern berühren (das tat sie auch)… und dir sagen: ›Sei unversehrt.‹ Zu Hause. Aber hier kann ich nicht zu dir sagen: Stehe auf und geh – denn der Boden hier ist nicht heilig. Und ich kann auch nicht sagen: Sei unversehrt – denn meine Finger haben ihre Macht verloren.«

Mrs Noyes und Ham lehnten sich nach vorne.

Was meinte Luci mit »zu Hause«?

Nur Mottyl lehnte sich nicht nach vorne. Nicht dass Lucis Worte ihr gleichgültig waren – nur: sie wusste schon, hatte von Anfang an gewusst, woher Luci gekommen war – auch wenn sie nicht unbedingt wusste, wer genau sie war. Bip hatte wissen wollen, ob Mottyl je einen bösen Engel gekannt hatte, und Mottyl hatte »nein« gesagt. Sie hätte auch jetzt wieder nein sagen können. Nichts, was sie über Luci wusste, hatte mit Gewalt oder Streitsucht zu tun. Und Luci hatte allein nur Angst vor Wölfen und Hunden und Füchsen – und die hatten ebenso viel Angst vor ihr – ein Unentschieden also. Gewiss war es vor allem wunderbar, dass Luci eine von ihnen war, bei ihnen war im Innern der Arche – dass sie gegen Doktor Noyes war – gegen seine Experimente – gegen sein Edikt – gegen seine Methoden und seine Taktiken und seine…

Mottyl hätte fast gedacht: bösen Eigenschaften.

Warum hatte sie den Gedanken nicht zu Ende denken wollen, wenn sie so offensichtlich Recht hatte?

Es waren böse Eigenschaften.

Hatte Doktor Noyes sich nicht über alle Leute gestellt? Hatte er sie nicht blind gemacht? Hatte er nicht ihre Kinder getötet? Hatte er sie nicht zum großen Feuer verdammt? Hatte er seine Frau nicht zum Leben einer Gefangenen verurteilt? Hatte er nicht die Feen und all jene zahllosen Tiere abgewiesen?

Ja.

Was konnte jemand wirklich wissen, wenn die ganze Welt nur auf dies reduziert worden war: auf vier Stockwerke Erde und Himmel, die von den stinkenden gelben Wänden und dem klebrigen Pech einer undichten Tannenholzarche umschlossen waren?

Luci sagte: »Glaubt mir: wir könnten hier ewig sitzen – und das Einzige, das sterben würde, wäre unsere Erinnerung an diesen Augenblick. Aber nicht dieser Augenblick selbst. Das weiß ich von dort, wo ich gewesen bin, und von dem, was ich gesehen habe. Glaubt mir! Alle Augenblicke des Lebens, die dieses Geschöpf gelebt hat, können wir uns im Nu vergegenwärtigen. Wir müssen uns nur daran erinnern, wie es war, als es noch lebte. Wenn wir seinen Tod vergessen können – wird es leben. Nicht für immer: nicht über den Augenblick seines Todes hinaus – aber vor seinem Tod, wo sein Leben konstant bleibt. Schaut…«

Langsam zog Luci eine Hand aus ihrem Handschuh und dann die andere.

Beim Anblick der Schwimmhäute zwischen den Fingern wich Mrs Noyes zurück, sagte aber kein Wort, um Luci nicht abzulenken. Nur Engel hatten Schwimmhäute… das wusste jeder. Mrs Noyes hatte sie gesehen, die Engel im Dienste Jahwes: Michael Archangelis – den Engel im Obstgarten – die großen blonden Engel, die Jahwe gestützt hatten, als er zum Pavillon hinaufging.

Es schien, als ziehe Luci ihr eigenes Selbst aus ihrer eigenen Person und aus ihren Fingern heraus, die schwebend über dem Einhorn verharrten. Sie brach in Schweiß aus -       und ihre Schminke zerfloss – die fein gezeichneten Augen brauen, die tief geschwärzten Augen verloren allmählich ihre Form und die Schweißtropfen strömten wie der schwarze Regen Jahwes und die Tränen von Clowns ihr weiß bemaltes Gesicht herab.

Aber aus dem Innern des Einhorns – das noch immer auf ihrem Schoß lag – fing ein Licht an zu leuchten und sein Körper regte sich. Seine Beine zuckten und sein Hals streckte sich, bis es endlich den Kopf hob und Luci anblickte, sie intensiv musterte – und sich fragte, wo es war.

Luci berührte mit den Fingern die Stirn des Einhorns und bewegte ihre Lippen – Worte waren jedoch nicht zu hören.

Das Einhorn erhob sich, stellte sich auf die Füße und taumelte – von Luci gestützt – von ihrem Schoß, bis es stand –unsicher zwar, aber eindeutig stand – vor ihr im Stroh – den anderen zugewandt, und es schlug mit dem Schwanz und versuchte zu gehen. Und während der ganzen Zeit wurde das Licht von innen immer stärker – bis es alle Gesichter erleuchtete. Und alle lächelten.

Und alle sahen, wie aus der Stirn des Einhorns ein Horn aus Bernstein wuchs. Mrs Noyes konnte nur eines denken: Nach all diesen Jahren des Zusammenlebens mit Noah Noyes habe ich endlich ein Wunder gesehen.

 

 

Doch nur allzu bald war das Wunder wieder vorbei.

Das Einhorn wurde immer unsicherer auf den Füßen und wandte sich wie Hilfe suchend an Luci.

Luci streckte ihm ihre Hand entgegen und sagte: »Hoda’ah tarn.« Und dann sagte sie: »Ade.«

Mrs Noyes schaute auf – beunruhigt. Ade?

Aber bevor sie ihre Frage stellen konnte, war das Einhorn schon auf die Knie gesunken und von den Knien zur Seite ins Stroh, wo es einen langen Seufzer ausstieß – der aber, so vermutete Mrs Noyes, kein unglücklicher Seufzer war – und sein Leben aushauchte.

Alle – Engel, Tiere und Menschen zugleich – neigten sich über den winzigen Körper, dessen Licht erlosch und den Stall wieder in die Dunkelheit zurückwarf.

Das Einhorn war wahrhaftig tot. Es hatte gelebt, war gestorben und hatte wieder gelebt. Und war wieder gestorben. Und wie Luci sagen würde, es würde die ganze Ewigkeit mit Leben und Sterben verbringen. Eben wie Menschen, die sich an die Zeit erinnerten, als das Einhorn noch aus Fleisch und Blut war und im Wald am Fuße von Noahs Berg lebte, zurückkehrten oder nicht zurückkehrten – zurückkehren konnten oder nicht konnten – zurückkehren wollten oder nicht wollten.

»Wenn du es lebendig machen konntest«, fragte Mrs Noyes, »warum konntest du es nicht am Leben erhalten?«

»Ich könnte dich, Mutter Noyes«, sagte Luci, »bezüglich all deiner toten Kinder dasselbe fragen.«

Luci saß im Stroh, verlagerte ihr Gewicht auf die Hüfte und stützte sich mit einer Hand ab; der Kopf des Einhorns lag noch immer auf ihrem Schoß. Mrs Noyes, deren Körper so erschöpft war, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, bewegte sich nicht. Sie stand da – einen Augenblick kerzengerade im Lichtkreis von Lucis Lampe, die dort beim Schafverschlag hing – und im nächsten Augenblick im Schatten, als die Arche weiterschaukelte und die Laterne hin- und herschwang.

Mottyl, die sich jetzt Sorgen machte, weil sie ihre Kätzchen schon so lange allein ließ, versuchte sich ein Bild von der Szene um sich herum zu machen; ihr Geruchssinn und ihr Gehör halfen ihr dabei. Der intensive, süße Duft des Heus, das sanfte, sporadische Husten der Schafe, der luzerneträchtige Atem der nahen Kühe und die gedämpfte Verlagerung ihres Gewichts, wenn sie sich von der einen auf die andere Seite legten, der leicht störende Geruch des Weihrauchs an Krähes Schwanz und das immer gegenwärtige Geräusch des Regens sowie die Anwesenheit – irgendwo – von Mrs Noyes bildeten in Mottyls Vorstellung eine kreisrunde, in Finsternis getauchte Szenerie. Mitten in diesem Bild thronte die Gestalt Lucis – sie bestand aus Schwefel und raschelnder Seide, und aus der Erinnerung an ein langes weißes Gesicht, das so weit oben schwebte wie der Mond.

Langsam, zunächst fast unhörbar, begann diese Gestalt, die in der Vorstellung einer blinden Katze schwebte und zugleich mitten in einem Stall saß, zu sprechen. Und ihre Stimme war keine Stimme, wie sie einer der Anwesenden jemals gehört hatte. Es war eine verdüsterte Stimme – in der eine Härte lag, die nicht zu der Frau passte, die sie gekannt hatten.

»Vor langer Zeit«, sagte sie, »hörte ich an einem Ort, den ich fast vergessen habe, das Gerücht von einer anderen Welt. Von ganzem Herzen hatte ich den Wunsch – weil ich den Ort, an dem ich mich befand, verabscheute – diese Welt zu sehen. Ich wollte dorthin gehen, dort bleiben und dort leben. Da, wo ich geboren bin, standen die Bäume immer in der Sonne. Daran erinnere ich mich. An erbarmungsloses Licht. Es regnete nie – obwohl wir nie unter Wassermangel litten. Immer schönes Wetter! Langweilig. Ich wollte Stürme. Ich wollte Abwechslung. Und ich hatte also dieses Gerücht gehört… von einer anderen Welt. Und ich fragte mich – ob es dort regnete? Ob es dort vielleicht Wolken gab und Schatten? Ich wollte einmal an einem Platz stehen, wisst ihr, wo ich Wüsten und Schnee sehen konnte. Das wollte ich unbedingt. Ich wollte auch jemanden, mit dem ich mich auseinander setzen konnte. Jemanden, mit dem ich – nur einmal – anderer Meinung sein konnte. Und ich hatte dieses Gerücht gehört: von einer anderen Welt. Und ich fragte mich… könnte es dort Leute geben, in dieser anderen Welt, die mir sagen würden, der Himmel sei grün? Die sagen würden, trocken sei nass – und schwarz sei weiß? Und falls ich sagen sollte: ›Ich bin nicht ich – sondern der, der ich sein will!‹, würde man mir glauben – in dieser anderen Welt?…«

Jetzt zog Luci ein Stück Watte aus ihrer Tasche und begann sich abzuschminken. Den ganzen weißen Puder – das ganze dunkle Rouge – die fein gezeichneten Augenbrauen und die Schwärze, die ihre Lider färbte.

Trotz ihrer Blindheit konnte sogar Mottyl spüren, dass etwas mit Luci geschah. Sie fühlte, wie die andere Luci gelöscht wurde, verschwand.

»Eben vorhin, als das Einhorn starb und ich wusste, ich würde es nicht retten können – war ich zornig«, sagte Luci. »Warum sollte es so sein, dass das Leben nur denjenigen zurückgegeben werden kann, die an einem Ort aufgebahrt sind, wo es niemals regnet? Und wo es keinen Schatten gibt, sondern nur die Sonne? Warum sollte es nicht Leben für alle geben, ob mitten in Stürmen – oder wenn man sich versteckt, wie wir hier, in dieser Finsternis? Warum nicht?«

Luci nahm ihre prächtige schwarze Perücke ab und legte sie beiseite. Das Gesicht unter dem vorigen Gesicht war fahl – fast grau. Der Mund war breiter und die Lippen voller, als Mund und Lippen gewesen waren. Die Nase war länger – spitzer – stärker –, teilte das Gesicht, das kantig und hart war: ein Gesicht, in dem kein Platz war für Lachen, nicht einmal für Lächeln. Darüber befand sich eine kurz geschorene Krone aus kupferfarbenen Haaren – und genau in der Mitte dieser Haare – eine weiße Strähne.

Luci stand jetzt auf und legte das Einhorn – ganz sanft – behutsam – zur Seite.

Sie machte die Bänder auf, die ihren Kimono gehalten hatten, löste die breite Schärpe um die Taille und trat aus diesem Gewand heraus – darunter war ein anderes – ihre Robe aus langen bronzefarbenen Federn.

Ihre Größe schien jetzt noch größer und ihre Hände ohne Handschuhe noch riesiger.

»Wir haben diese Reise zusammen angetreten. Und vor dieser Reise hörte ich ein anderes Gerücht – ihr nicht auch? – von einem anderen gelobten Land. Also – das hier ist jenes gelobte Land, meine Freunde. Das hier ist alles, was wir haben, und es ist gut möglich, dass es das einzige gelobte Land ist, das wir jemals kennen werden. Das Einhorn hat hier bereits sein Leben ausgehaucht. Und schaut – die Laterne flackert. Jeden Augenblick könnte auch sie ausgehen.« Sie hielt inne, dann fuhr sie fort: »Das hier ist ein Ort ohne Zauber. Alles, was zauberhaft und wundervoll war, wurde zurückgelassen – ertränkt – in meiner Welt, die vor eurer Welt existierte – und in eurer Welt, die vor dieser hier war…«

Die Kerze – die einmal garantiert immer hatte brennen sollen – flackerte und erlosch.

In die darauf folgende Finsternis hinein sagte Luci: »Dort, wo ich geboren bin, standen die Bäume immer in der Sonne. Und ich habe jenen Ort verlassen, weil er den Regen nicht duldete. Jetzt befinden wir uns an einem Ort, wo es keine Bäume, sondern nur Regen gibt. Und ich habe vor, diesen Ort zu verlassen, weil er das Licht nicht duldet. Irgendwo – irgendwo muss es einen Ort geben, wo Finsternis und Licht versöhnt sind. Also setze ich hier und jetzt ein Gerücht von einer weiteren Welt in Umlauf. Ich weiß nicht, wann sie zum Vorschein kommen wird – ich weiß nicht, wo sie sein wird. Aber – wie bei all den anderen jetzt vergangenen Welten – wenn sie fertig ist, habe ich vor, mich dorthin auf den Weg zu machen.«

Und als wolle sie zeigen, dass sie jetzt schon dazu bereit war, stand Luci auf und ging.

Einige – auch Mottyl – konnten den Luftzug spüren, als sie an ihnen vorbeischritt.

»Nicht!«, sagte Mrs Noyes.

Luci blieb stehen.

»Warte einen Augenblick! Bitte…«

Luci wartete.

Mrs Noyes fummelte in ihren Taschen herum, wo sich eine Unmenge nützlicher Gegenstände befand: die Schnur, die Gummibänder, die Stofffetzen, die Haarnetze und Apfelkerne und Kerzenstümpfe…

Alle hörten, wie das Streichholz angestrichen wurde – und nicht zündete.

Sie warteten atemlos.

Ein zweites Streichholz wurde angestrichen.

Und zündete auch nicht.

Und dann ein drittes – mit einer breiten, hellen Aureole, die – man stelle sich vor – den Geruch von Schwefel verströmte.

Die Kerzenstümpfe wurden angezündet und von einer Hand zur anderen gereicht.

»Auch wenn es tausend Jahre dauert – wir kommen mit dir«, sagte Mrs Noyes zu Luci. »Wo du auch hingehen magst.«

»Jetzt«, sagte Luci und sie lächelte, »hast du angefangen die Bedeutung deines Zeichens zu verstehen.«

Unendlichkeit.