Viele gute Gründe – sowohl strategische als auch praktische – sprachen dafür, die Arche oben auf dem Berg zu bauen. Zum einen war der Berg am Kamm kahl. Dort oben befand sich nichts außer dem Familienaltar der Noyes und der Pinie. Genau unterhalb des Altars und der Pinie – auf der anderen Seite – lag eine kreisrunde, nicht eingezäunte Wiese, die vor dem Bau der Arche mit blassblauen Blumen und bauchhohem Knistergras übersät war. Vor Baubeginn hatte Sem diese Wiese vorsichtshalber gemäht; als die Fuhrleute mit den Ochsenkarren ankamen, die das Holz aus dem Forst jenseits des Flusses brachten, konnte man die Ochsen mit Blumen und Gras füttern. In den Tagen, bevor der Regen einsetzte, sah die Wiese aus wie der staubige Hof einer florierenden Holzhandlung – was bei den einfachen Leuten, die auf der Straße hin- und hergingen, keinen Argwohn weckte. »Schau nur«, sagten sie, »da wird jemand mit Holzhandel ein Vermögen verdienen.«

Als Baumaterial war Tannenholz gewählt worden, ein kräftiges, leicht gemasertes Holz, das gewisse Eigenschaften von Kork aufweist. Balken und Planken wurden aus riesigen Bäumen mit giftgrüner Rinde und gelbem Holz gehauen. Für solche Bäume musste man sehr weit suchen – sie wuchsen nur jenseits des Flusses und tief drinnen im Forst. Aus den Randbezirken des Forstes – einer Gegend, in der fast ausschließlich blonde Riesen und zwergwüchsige Ausländer mit einer unverständlichen Sprache lebten – wurden ganze Mannschaften von großen blonden Männern angeheuert, die kaum jemals den Mund auftaten. Die Riesen und die Zwerge hatten nicht immer dort gewohnt – aber niemand hätte sagen können, wann das nicht der Fall gewesen war. Einst war der Forst den Drachen vorbehalten gewesen – doch kein Lebender konnte sich an eine solche Zeit erinnern.

Einige der großen blonden Männer waren Emmas Brüder, allerdings hatte ihr Doktor Noyes verboten, mit ihnen zu sprechen. Die Verbindung von der natürlichen Wortkargheit der Waldbewohner mit Doktor Noyes führte dazu, dass die Menschen bei ihrer Arbeit seltsam schweigsam waren. Sem gab zwar die Befehle – aber da er einem Ochsen ähnlich war, war er fast so wortkarg wie die Arbeiter. Das Ganze ähnelte einem Treffen von Stummen.

Was Noah gefiel. Denn so wurden keine Fragen gestellt – Fragen über die Arche, die er unmöglich hätte beantworten können. Gewiss wurde spekuliert: Warum machen wir das? Aber die Frage wurde nie offen artikuliert. Gelegentlich bemerkte Noah, dass man ihn anstarrte – einige kratzten sich am Kopf, die Miene anderer wiederum spiegelte die allgemeine Verwunderung über das Unternehmen wider. Ganz offensichtlich dachten sie: »Der Alte spinnt«, aber dieser Meinung waren sie schon immer gewesen. Die Arche war also nur ein weiterer Hinweis für seine Spinnerei. Und wenn schon. Noah kümmerte es nicht. Nach einiger Zeit würden diese Männer alle nach Hause gehen – und er würde sie nie wiedersehen. Sie würden ertrinken – und ihre Meinungen mit ihnen.

Für Emma, die ihre Brüder liebte und sie schrecklich vermisste, war das alles viel schwerer. Sie und Mrs Noyes – die Emmas Familie auch sehr gern mochte – stiegen frühmorgens auf den Berg hinauf und schauten im Verborgenen zu, wie die Männer ankamen. Sobald sie sich ans Werk machten, gab es zu viel Staub und Durcheinander, um die einzelnen Gesichter zu erkennen, die sie suchten. Zumal jeder von ihnen groß und blond war – und ihre Gesichter sehr bald zu Masken aus Schweiß und Schmutz wurden, welche die letzten Spuren von Eigenart und Persönlichkeit verbargen.

Eines Tages war sich Mrs Noyes sicher, Emmas Vater gesehen zu haben, der ihr vor Jahren Brennholz geliefert hatte. Als sie ihn sah, lenkte er eine der Holzfuhren – ein gut aussehender Mann mit einem gütigen Gesicht, das man nicht vergessen konnte. Er war so bestürzt gewesen, als man seine Tochter an das andere Ufer des Flusses geholt hatte, um Japeth Noyes zu heiraten – und Mrs Noyes hatte seinetwegen ein schlechtes Gewissen. Er hatte nur die zwei Mädchen – Emma und ihre Schwester Lotte; all seine anderen Kinder – hunderte, so schien es! – waren Jungs.

Als sie ihn entdeckte, gab sie Emma Bescheid und zusammen warteten sie am Weg oberhalb des Obstgartens, wo Bäume standen, die sie vor Noahs Blicken schützten. Zwei ganze Stunden harrten sie dort aus und riskierten dabei den Zorn des Doktors – und endlich, als es schon fast dämmerte, kam der letzte Wagen den Weg heruntergefahren; eine ganze Horde junger Männer hockte auf der hinteren Ladefläche; ihre Beine baumelten seitlich herunter. Der Fahrer konnte nur Emmas Vater sein – ihr »Pa«, so nannte sie ihn.

Mrs Noyes trat vor die Ochsen, die sich langsam vorwärts bewegten, und schwenkte ihre Schürze, um sie zum Stehen zu bringen.

Als der Wagen anhielt und die große Staubwolke sich legte, kam Mrs Noyes mit Emma im Schlepptau hervor; sie ging direkt auf den Fuhrmann zu und sagte: »Lass uns mit euch den Berg hinunterfahren! Wir laufen danach gerne wieder hoch.«

Zur Begrüßung von Mrs Noyes zog Emmas Vater an seiner Stirnlocke und grinste – sagte aber kein Wort. Er reichte ihr die Hand und zog sie – als wäre sie eine Stoffpuppe – neben sich auf den Bock, während Emma von ihren Brüdern auf die Ladefläche gehoben wurde, wo auch sie die Beine über die Kante hängen ließ; die ganze Strecke den Berg hinunter kam ihr himmlisch vor.

Mrs Noyes erkundigte sich nach Emmas Mutter und Lotte und den Zuständen auf der anderen Seite des Flusses.

Emmas Mutter gehe es gut; sie sei ganz damit beschäftigt, die Horde Jungs, die hinten auf dem Wagen saß, satt zu kriegen. Die Worte von Emmas Vater klangen amüsiert und liebevoll. Er war seiner Frau sehr zugetan und schätzte sie. Das Leben jenseits des Flusses war »furchtbar hart«, wie er sich ausdrückte, »furchtbar hart und wunderbar, wenn man sich dahinter klemmt. Sie würde nirgendwo sonst leben wollen und ich auch nicht…«

Lotte, das sei etwas anderes. Sie vermisse ihre Schwester Emma »ganz schrecklich«, aber gesundheitlich gehe es ihr gut. »Ansonsten das Übliche…«, sagte er, etwas rätselhaft. Lotte würde niemals heiraten. Sie würde immer zu Hause bleiben. Der Grund dafür wurde nie erwähnt, doch Mrs Noyes kannte ihn.

»Ach, ich wünschte so sehr«, sagte Mrs Noyes, »dass Emma euch besuchen dürfte. Es ist verrückt, dass ich sie euch so herbringen muss – so verstohlen, so kurz. Aber er lässt es einfach nicht zu, und wir müssen ihm gehorchen…«

»Das habe ich bemerkt«, sagte Emmas Vater; er schaute Mrs Noyes an, und wie er sie anlächelte, war wunderbar.

Mrs Noyes errötete. Was sie da gerade tat – wie sie so neben einem anderen Mann auf einem Holzwagen mitfuhr –, war ungehorsam, wie könnte eine Frau weniger gehorsam sein? Trotzdem platzte das Lachen aus ihr heraus – sie bedauerte keine Minute. Allein nur zu hören, dass Lotte und Emmas Mutter noch lebten und dass es ihnen gut ging – allein nur Emmas so seltenes Lachen hinten auf dem Wagen zu vernehmen –, nur diese wenigen kurzen Augenblicke neben diesem großen, vernünftigen, liebenden Mann zu sitzen – ja, das war jede Minute des Risikos und der Gefahr wert.

Sie waren unten angekommen.

Mrs Noyes stieg ab und ging diskret nach hinten zur Ladefläche, um Emmas Brüder zu begrüßen, während Emma und ihr Vater einander begrüßten und gleich wieder Abschied voneinander nahmen.

Sie warf nur einen kurzen Blick auf sie – und was sie sah, brach ihr fast das Herz. Der staubbedeckte blonde Riese hielt seine Tochter – die klein und dunkel war wie ihre Mutter –, so wie er sie wohl auch als Kind gehalten hatte, er drückte sie an seine Schulter, während sie sich an ihn klammerte und weinte.

Endlich war Emmas Vater so vernünftig einzusehen, dass sie unmöglich noch länger zusammen sein konnten – und er bat Mrs Noyes, Emma nach Hause zu bringen.

Plötzlich war »nach Hause« nicht mehr oben auf dem Berg, sondern jenseits des Flusses – und das machte ihren Abschied so traurig.

Mrs Noyes stand da und hielt Emmas Hand und gemeinsam schauten sie zu, wie das große Holzfuhrwerk in der zunehmenden Dämmerung und im Staub verschwand, und beide riefen: »Auf Wiedersehen!« Emma sagte: »Liebe Grüße an Ma und Lotte!« All die blassen Hände hinten auf dem Wagen gingen in die Höhe, dann machte der Weg eine Biegung und weg waren sie.

Das Einzige, was Emma auf dem Rückweg den Berg hinauf von sich gab, war »danke«.

Mrs Noyes drückte dem Kind die Hand und meinte: »Gern geschehen, Liebes. Aber lass uns beide dankbar sein!«

Emma wusste nicht, dass ihr Vater und ihre Mutter, ihre Brüder und Lotte ertrinken sollten. Mrs Noyes wusste es, hielt aber den Gedanken nicht aus, dass es wahr sei, und sah mit Schrecken dem Tag entgegen – sie wusste, dass er kommen würde –, an dem Doktor Noyes die Worte aussprechen würde.

 

Es gab danach keine Begegnung mehr mit Emmas Vater und ihren Brüdern. Japeth hatte Verdacht geschöpft, als er eines Abends seine Frau mit einem Korb voller Obst am Wegrand sitzen sah. Da er wusste, dass ihr Vater und ihre Brüder am Bau der Arche beteiligt waren, verbot er ihr, sich jemals wieder in die Nähe des Weges zu begeben. Diesmal hatte das Verbot Wirkung. Emma wurde unter Hannahs strenge Aufsicht gestellt, und bei Anbruch der Dunkelheit sperrte man sie in ihr Zimmer.

Der Bau der Arche war ein monströses Unternehmen, und als der Rahmen für den Kiel einmal gelegt und die Rippen der eigentlichen Arche montiert waren, wurde ersichtlich, wie riesig sie sein würde: das größte Bauwerk, das jemals in der Region errichtet worden war. Die Arbeiter hatten jetzt so viel Ehrfurcht davor, als ob sie an einem Tempel bauten, und diese Einstellung hatte eine durchweg befriedigende Atmosphäre zur Folge: »Es werden keine Fragen mehr gestellt – keine Fragen mehr gebraucht.« Noah war jetzt in der Lage, jedem Arbeiter direkt in die Augen zu sehen und ihn mit seinem Blick aufzufordern, die Größe des Projekts anzuerkennen. Als ob die Größe der Arche sie allein schon rechtfertigen würde.

 

 

In der Zwischenzeit, während dieser ganzen Hektik und rasanten Betriebsamkeit, heirateten Ham und Luci. Doktor Noyes sträubte sich dagegen, Hannah weigerte sich davon zu sprechen und Japeth war vor Eifersucht wütend. Er vermutete zu Recht, dass es in der Ehe seines Bruders zwischen der Freude über die Eheschließung und den Freuden des Ehebettes keine Pause geben würde. Und warum hatte ausgerechnet Ham, der noch nie eine Frau überhaupt angeschaut, den Namen einer Frau niemals erwähnt hatte, so viel Glück? Es war unfair. Japeth würde Ham und Luci – zuerst heimlich, dann ganz offen – für immer und ewig hassen. Alles, was Japeth wollte, hatte ein anderer entweder mit in die Wiege gelegt bekommen oder mit einem bloßen Fingerschnippen erreicht. Nur sein Leben war mit Problemen beladen – nur sein Leben war die Hölle.

Was Doktor Noyes und Hannah betraf, so konnten sie, auch wenn sie die Aussicht, dass Schwester Luci (wie man sie jetzt nennen musste) bald Mitglied der Familie war, weder guthießen noch freudig aufnahmen, nichts anderes dagegen tun, als die ganze Nachbarschaft nach einer anderen Kandidatin abzusuchen. Was jedoch Wochen in Anspruch genommen – und womöglich nichts Besseres als eine zweite Emma zum Vorschein gebracht hätte. Jahwes Edikt hatte eindeutig festgelegt: »Noah, seine Frau, seine drei Söhne und die Frauen seiner Söhne.« Dem musste die Familie Noyes beim Besteigen der Arche entsprechen – und jetzt, da Ham Luci geheiratet hatte, war diese Forderung erfüllt.

 

 

Hannah hatte ihre eigenen Probleme. Als der Bau der Arche den zweiten Monat erreicht hatte – das war etwa die Zeit von Hams Eheschließung –, hatte Hannah sich selbst endlich eingestanden, dass sie schwanger war. Im dritten Monat – oder war es schon der vierte? Könnte sie sich täuschen…? Jeden Monat, wenn ihre Regel wieder ausblieb, versuchte sie mit ihrer ganzen Geisteskraft zu leugnen, dass es schon vor vier Monaten angefangen hatte. Im ersten Monat waren ihre Tage einfach so ausgeblieben; sie war im Stress; sie hatte den Überblick verloren – sich verrechnet… Auf jeden Fall war drei die Zahl, die sie Sem nannte. Falls die Zeit sie Lügen strafen sollte, dann wäre sie – natürlich – nicht die erste Frau, die ein Kind vorzeitig zur Welt brächte, und bis dahin würde die Aufregung über die Ankunft des Kindes das Interesse der anderen für Zahlen dämpfen.

Dennoch betete Hannah jeden Abend: »Bitte, mach, dass ich mich täusche!«

 

 

Die Arche wurde an einem Tag vollendet, an dem Staubstürme tobten.

So etwas Hässliches hatte es noch nie gegeben. Verlassen stand sie auf ihrem Berghang, ihr Afterdeck und Kastell waren formlos, die Farbe war abscheulich und wurde durch breite triefende Pechbahnen, die wie eine Unmenge ungenießbarer Creme auf einer Gifttorte seitlich hinuntersickerten, noch schlimmer.

Noah ließ sich von Hannah den Berg hinaufbegleiten – beide gegen den Staub in Tücher gehüllt –, nur damit er das Unding segnen und sich dann gleich wieder entfernen konnte.

Noah starrte es an und in einem Augenblick der Schwäche wünschte er, dass er seinen Vertrag mit Jahwe nochmals aushandeln könnte. Wenn dieses erbärmliche Machwerk – von Staubwolken umtost – für die nächsten hundert Jahre sein Zuhause sein sollte, so konnte er nur hoffen, dass es schwimmen würde.

Mrs Noyes und Emma, Ham und die elegante Luci standen unten im Hof, auch sie gegen den Staub in flatternde Tücher gewickelt, und schauten wortlos zu, wie die letzten Holzwagen mit ihren schweigenden Arbeitertrupps den Berg hinunterrollten. Keiner winkte, keiner rief einen Abschiedsgruß. Zuletzt sah man von all diesen Männern nur noch ihre baumelnden Beine und ihre gesenkten Köpfe – zuletzt sah man von den Wagen und den Ochsen nur noch das Geisterbild einer Flotte flacher Holzboote, die in Zeitlupe einen Sandfluss hinuntergerissen wurde.

Der Wind tobte zwei oder drei Tage ununterbrochen – ein am Boden entlangwehender, heißer, nicht nachlassender Wind, der den Berg hinuntersauste, als ob sich sein Ursprung am Gipfel befände. In der Nacht machte er eigene Geräusche – und tagsüber war er von den Schreien verirrter Vögel erfüllt, die weit über die Bäume hochgetrieben wurden, wo der Himmel erstaunlich klar und blau war. Unter ihm verschwand die Erde, durch windgepeitschten Mutterboden und hochgewirbelten Staub und Zweige verdeckt.

Es war ziemlich schwierig, etwas zu sehen – es gelang nur, wenn man sich gegen den Wind kehrte und rückwärts lief. Den Berg hinaufzugehen war also sehr schwer, das Hinuntergehen aber war ein Kinderspiel.

Noah hatte im Edikt nachgeschaut – es bestand teils aus einem Zeitplan, teils aus einer Regelsammlung – und war zu dem Schluss gekommen, dass man – trotz Staub und Wind – nicht umhinkonnte: Sie mussten damit anfangen, die Tiere aufzuladen.

Was auf der Stelle ein Chaos verursachte.

Zumal nur die Familienmitglieder da waren, um zu helfen. Alle Waldarbeiter und Wanderarbeiter waren bereits entlassen worden und schon meilenweit weg, wo sie, ohne es zu wissen, die paar Tage verlebten, die ihnen noch bleiben sollten.

Dass die Sicht ein Problem war, lag auf der Hand – und dazukam, dass sie den Weg zur Arche festlegen und ihn dann genau befolgen mussten. Die Entscheidung fiel so aus: Wenn man zwischen den Bäumen Seile und Ketten spannte, könnte man ganz einfach den schon vorhandenen Pfad benutzen. Er hatte zumindest den Vorteil, dass er streckenweise schon auf einer Seite, manchmal auch auf beiden, eingezäunt war – und er führte die ganze Strecke entlang, vom Fuß bis zum Kamm des Berges.

Das schlimmste und größte Problem waren aber die Tiere selbst.

Es war schön und gut, dass das Edikt »je ein Paar« vermerkte – aber Tiere kommen nicht paarweise vor, und sich für diese Stute und jenen Hengst zu entscheiden war leichter gesagt als getan.

Die Schafe waren ein Alptraum. Mrs Noyes hatte ihnen allen das Singen beigebracht. Sie hatte ihre Lieblinge unter ihnen – wie sich aber herausstellte, waren alle ihre Lieblinge –, doch nur sieben durfte sie mitnehmen. Einen Widder, sechs Mutterschafe – keine Lämmer. Schließlich musste Mrs Noyes mit Gewalt von ihnen entfernt werden und Sem erhielt den Auftrag, sie auszuwählen.

Alle großen Tiere mussten aus den Käfigen auf der Wiese befreit werden: Elefanten und Löwen; Giraffen und Kamele; Nilpferde und Wasserbüffel… siebzig Tierpaare insgesamt, wovon mehr als die Hälfte bösartig und alle außer sich waren vor Angst.

Japeth war so klug, seine Jagdtechniken in Anwendung zu bringen – er setzte seine Brüder und Luci jeweils auf ein Pferd und versah sie mit einem Speer, den sie als Stock zum Treiben benutzten. Mrs Noyes und Emma wurden dem Federvieh und den kleineren Tieren aus der Käfighaltung – Hasen, Meerschweinchen, Ratten und so weiter – zugeteilt. Wobei das »und so weiter« sich über viele Seiten erstreckte, und jedes Tier – jede Art und jedes Geschlecht – auf Hannahs Liste abgehakt werden musste, wenn es an Bord geschoben, getragen oder getrieben wurde.

Etliche Tiere wurden auf dem Berghang zu Tode getrampelt. Etliche wurden von anderen, die in Panik geraten waren, angegriffen; man ließ sie an Ort und Stelle krepieren. Etliche entwischten unter den Seilen, andere sprangen über die Zäune und verschwanden meilenweit in der Ferne. Wieder andere verirrten sich in die verschiedenen Höfe, sogar ins Haus. Mrs Noyes brachte den Pfau an Bord, konnte aber die Pfauhenne nicht finden. Als sie sie endlich gefunden hatte, war der Pfau entwichen und sie musste ihn wieder einfangen.

Draußen auf der Wiese kauerten Pfeifer und die Füchsin in ihren Bauten; sie glaubten, die Erde selbst sei zum Leben erweckt. Mäuse wurden lebendig begraben und Dämonen randalierten in panischer Angst.

Der Lärm der großen Prozession, des großen Zusammentreibens, war in der Tat jenseits des Forstes zu hören; er hielt eine Nacht und zwei Tage an.

Einmal kletterten Emma und Mrs Noyes auf das Hausdach, um ein Paar Störche herunterzuholen, und da hielten sie inne und schauten zum Berg hin, zur Arche hinauf und zum Fluss hinunter. Sie erblickten eine sich endlos bewegende Masse aus Rücken und Schultern und Köpfen, die sich gegen den Wind stemmte und durch den Staub nach oben drängte; einige, mit Hörnern oder Geweih, hielten den Kopf hoch oben; andere, mit massiver Stirn und vom Sand geblendeten Augen, stießen mit gesenktem Kopf nach vorne. Alle schrien, aus Verwirrung und Angst, und viele riefen nach ihren verlassenen Jungen oder in Pferchen, Korralen oder Ställen eingesperrten – zum Untergang verurteilten – Artgenossen. Der weite Himmel über ihnen füllte sich mit Vögeln, und von Wolken gab es keine Spur, nur die unbarmherzige Sonne brannte, die partout nicht untergehen wollte.

In diesem Augenblick wandte sich Mrs Noyes Emma zu, legte ihr einen Arm um die Schulter, hielt sie fest und sagte zu ihr: »Liebes, vergiss nie, was du da unten gesehen hast – denn dies ist der Anfang einer neuen Welt!«

Emma starrte hinunter und Mrs Noyes ging auf die andere Seite des Daches, wo sie sich in den Schatten des Kamins setzte und weinte.

In der Küche hielt sich Mottyl während der ganzen Geschehnisse hinter dem Ofen versteckt. Selbst ihr blindes Auge blieb die ganze Zeit offen.

 

 

Mrs Noyes stürzte durch die jetzt schon finsteren Gänge – ihre Röcke und Schürzen um die Oberschenkel hochgezerrt; sie rannte in der blinden Panik einer Mutter, die ihre Kinder nicht finden kann, obwohl sie ihre Hilfeschreie hört. Rauch waberte durch das Haus, von einer Haustür zur andern. Zuerst war Mrs Noyes überzeugt, dass das Feuer drinnen sein musste, aber als sie die offene Tür erreichte und den lodernden Scheiterhaufen erblickte, wusste sie, dass nicht das Haus, sondern etwas anderes – etwas Lebendiges – in Flammen stand.

Sie zögerte nur eine Sekunde – gerade so lange, um die Arme als Schutz gegen die Hitze hochzureißen und sich eine Schürze um den Kopf zu binden, denn die Luft war voller Funken, groß wie Vögel, und ihre Haare waren zundertrocken – dann rannte sie erneut los – raste durch den dichter werdenden Rauch und versuchte verzweifelt herauszufinden, welches Geschöpf dieses hohe Wehklagen hervorbrachte; sie kannte diesen Schrei – und kannte ihn auch wieder nicht. Sie versuchte auch die Gestalten zu zählen, die mit ihr durch den Ofen (so kam es ihr jetzt vor) drängten – um festzustellen, ob es menschliche Gestalten – ihre Söhne – ihr Mann – ihre Schwiegertöchter waren…

Nichts von dem, was sie sich bewegen sah, hatte Füße oder Beine – nur Arme und Hals und Kopf –, und alles trieb dahin – stemmte sich durch die Rauchschwaden hoch wie Tiere, die beim Ertrinken an die Oberfläche schnellten, dann versanken und wieder hochkamen. Und wieder versanken und nochmals hochkamen – und endgültig verschwanden.

Es war zwecklos, Namen zu rufen. Ihre Stimme war zu schwach, und jedes Mal, wenn sie den Mund aufmachte, füllte er sich sogleich mit Asche. Und der Wind – gleichviel, ob er die Flammen anfachte oder durch die Flammen überhaupt ausgelöst worden war – machte ein ganz eigenes Geräusch, das aus dem Feuer entstand und fast greifbar schien.

Mrs Noyes fiel hin – ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Auf einmal lag sie unter dem Rauch auf dem Boden und ihre Handflächen wurden versengt – und was sie versengte, das war ein brennendes Stück Fleisch, und als sie aufblickte, erkannte sie endlich die Gestalten, die sich um sie her bewegten. Es waren Schafe und Rinder und Ziegen und Hunde…

Mrs Noyes zwang sich auf die Knie, dann auf die Füße, dann stand sie da – wie angewurzelt, starrte von einer Seite zur anderen, die Hand gegen den Mund gedrückt. Und während sie schaute und lauschte, wurde sie allmählich von einer furchtbaren Gewissheit überwältigt. Sie kapierte, was hier vor sich ging – und die Panik, die sie jetzt fühlte, verwandelte ihre Beine in Stein und ihren Verstand in Brei und sie erstarrte vor der einen Erkenntnis: Alles, was hier passiert, geschieht mit Absicht und dieses Feuer bedeutet, dass hunderte geopfert werden.

Noah…

Wenn nur ihre Stimme zurückkäme! Wenn sie nur ein Restchen davon aufbringen könnte…

Noah…!

Hör auf!

Aber es kam nichts. Die Worte kamen nicht zustande – und das Einzige, was zu hören war, war, wie um sie herum all ihre Rinder – all ihre Schafe – all ihre Pferde – all die Hunde und all ihre Schreie im Namen Gottes in den Tod durch Verbrennung getrieben wurden.

Endlich war Mrs Noyes fähig sich zu bewegen; sie streckte die Hände dem nächsten Tier entgegen, ohne überhaupt zu wissen, was es war, und eine Stimme sagte: »Mutter, deine Röcke brennen«, mit einer Seelenruhe, so als würde sie sagen: »Deine Bänder sind aufgegangen…«

Das Gesicht vor ihr war ein Gesicht, das sie erkannte, obwohl die Züge mit Ruß verschmiert und mit Blasen bedeckt waren. Es war Ham und er hatte gesagt, dass ihre Kleider brannten, und fiel auf die Knie, um die Flammen mit seinen Händen zu ersticken – aber bevor er sich hinkniete, drückte er etwas Lebendiges in ihre Arme und sie presste es ganz automatisch an ihre Brust, ohne zu wissen, was es war, und dort hielt sie es fest, während Ham die Flammen um ihre Füße ausdrückte.

Als er wieder aufstand, legte er ihr den Arm um die Schultern, zog ihre Schürze weiter über ihre Haare und führte sie weg von der Mitte zum Rand des Hofes auf der Windseite des Rauches, und erst jetzt hörte sie das Geschöpf an ihrer Brust und sah, dass es Mottyl war, blind und trächtig, und sie sagte: »Wollte er auch Mottyl umbringen? Für Jahwe?«

Ham schaute weg – er schämte sich.

Mrs Noyes stieß einen Schrei aus. »Ich werde ihn umbringen«, sagte sie. »Ich werde – ihn umbringen.«

Ham schaute zu Boden und tat, als hätte er es nicht gehört.

Mrs Noyes hielt Mottyl jetzt ganz behutsam und beruhigte sie mit einem Stückchen Stoff – wischte ihr die milchigen erblindeten Augen und verlagerte das Gewicht des trächtigen Körpers, so dass die Katze flach an ihrem Körper lag. In Sicherheit war.

»Hat er wirklich die Absicht sie alle – all diese Tiere – zu töten?«, fragte sie Ham – und sie schaute um sich, um festzustellen, ob sie irgendeine Spur von Doktor Noyes oder ihren anderen Söhnen entdecken konnte. »Jedes einzelne?«

»Er sagt, es sei das letzte Opfer, bevor wir an Bord gehen«, sagte Ham zu ihr. »Das ist sein Geschenk an Jahwe, dafür, dass…«, und gegen seinen Willen konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken, »dafür, dass er uns verschont hat.«

Mrs Noyes ächzte und drückte ihr Kinn gegen Mottyls Kopf.

»Ich gehe nicht mit«, sagte sie. »Zum Teufel mit ihm. Zum Teufel mit seinem wer schont wen. So einfach ist das. Ich gehe nicht mit.«

Mrs Noyes machte ein paar Schritte, drehte sich noch einmal um und schaute Ham an.

»Kommst du mit mir?«

Ham rührte sich nicht.

Er war schließlich jung und frisch verheiratet. Er wollte die Arche besteigen – verschont werden. Mrs Noyes konnte ihm nachfühlen – und sie wusste es zu schätzen, dass er zu ihr hielt; als ob ein Teil von ihm ihr folgen würde, wenn nur seine Lebensumstände andere wären.

»Na gut«, sagte sie – und lächelte. Beim Lächeln verengten sich ihre Augen und sie schaute Ham kurz an – prägte sich seine Gesichtszüge und Körperhaltung ins Gedächtnis ein. Dann sagte sie: »Auf Wiedersehen«, drehte sich um und wollte mit Mottyl in ihren Armen den Berg hinuntergehen, als sie – plötzlich – von einer Hand gepackt wurde und jemand sich ihr in den Weg stellte.

Es war Sem, und er sagte nur: »Er will dich sehen.« Dann drehte er sie an der Schulter um und führte sie weg.

 

 

Sie stiegen den Berg hinauf – bis ganz nach oben, wohin sich Noah zurückgezogen hatte, um so weit wie möglich vom Holocaust da unten entfernt zu sein. Er stand auf dem Familienaltar – fast, als wollte er sich selber opfern, obwohl Mrs Noyes wusste, dass das höchst unwahrscheinlich war. Die Opferglocke läutete.

Noahs Arme waren über seinen Kopf erhoben und sein Gesicht war dem Himmel zugewandt – so dass Mrs Noyes nur seine verschmutzte weiße Robe, seinen verfilzten Bart und seine nach hinten geworfene weiße Mähne sehen konnte.

Sem hielt sie noch immer an der Schulter fest, die Finger seiner großen schwieligen Hand drangen bis an ihre Knochen – und sie roch den Geruch des Feuers an seinem Arm und auch sonst überall war brennendes Fleisch und Grasfeuer und die Angst und der Schrecken der Tiere zu riechen. Mrs Noyes drückte Mottyl noch fester an ihre Brust und versuchte, den zerrissenen Stofffetzen noch näher an ihr Kinn zu ziehen, um sie zu verbergen.

Als das Gebet, das er sprach, zu Ende war – Mrs Noyes hatte es mit offenen Augen und hoch erhobenen Hauptes angehört –, ließ Noah die Arme fallen und betrachtete seine Frau.

»Du warst verschwunden«, sagte er.

»Ich hatte zu tun.«

»Aha.«

(Dass sie damit beschäftigt war, die Vorräte für eine monatelange Seereise zu besorgen, war für ihn nicht einmal einer Erwähnung wert.)

»Du wolltest mich sehen?«

»Ja. Ich hatte gehofft, du würdest das Opfer mit ansehen, daran teilnehmen.«

»Ich hatte keine Lust, daran teilzunehmen – und ich habe es gesehen. Danke.«

»Du bist ziemlich kurz angebunden, meine Liebe.«

»Das stimmt.«

Hannah half Noah vom Altar herunter. Mrs Noyes merkte gleich, dass sie in makelloses Weiß gekleidet war.

»Du bist zweifellos übermüdet«, sagte Noah und meinte damit ihre Reizbarkeit.

»Nein«, sagte Mrs Noyes. »Eigentlich bin ich ziemlich aufgewühlt, danke.«

»Hat dich das Opfer erbaut?«

»Kaum.«

Doktor Noyes ging nicht auf ihre Bemerkung ein, sondern setzte einfach unbeirrt seine Erklärung der Ereignisse des Nachmittags fort, während er sich auf dem Altar niederließ.

»Solltest du wissen wollen, worum es hier geht – bei diesem größten Opfer, das wir dem Herrn jemals dargebracht haben –, kann ich es dir in einem Satz erklären.«

»Mir wäre es lieber, du tätest es nicht.«

»Nein, meine Liebe. Das können wir nicht hinnehmen. Schließlich bist du meine Frau, ich bin für deine Erziehung verantwortlich.«

In diesem Moment trat Hannah vor; sie brachte Wasser, in dem der alte Mann sich die Hände wusch – und dann kniete sie sich hin und wusch ihm die Füße, während er sein Gespräch mit Mrs Noyes fortführte.

»Es war unsere Pflicht, meine Liebe, diese Tiere nicht zu vergeuden – schließlich waren sie erstklassige Opfertiere, zu diesem Zweck gezüchtet. Etwa hundert Schafe und fünfzig Rinder. Verschiedenes Federvieh, von den Ziegen ganz zu schweigen… sie wären sonst alle ertrunken, meine Liebe. Was für eine Verschwendung. Unverzeihlich. Und – als Abschiedsgeste – und, wie ich sagen würde, als eine Geste der Dankbarkeit gegenüber dem Herrn…«

»Du hast die Pferde nicht erwähnt.«

»Was?«

»Die Pferde – du hast die Pferde nicht erwähnt. Die anderen, nicht die Opfertiere. Die Schweine. Und die Ochsen. Und die Maultiere. Und die Puten. Und die Hunde. Und die Pfaue. Und…«

»Hör auf!«

»Und meine Katze!«, brüllte Mrs Noyes – und obwohl ihre Stimme bei diesen Worten versagte, hatte sie sie ausgesprochen und er wusste, dass sie wusste, was er getan hatte – und was es ihr bedeutete.

»Deine Katze, meine Liebe?«

»Ja.«

Mrs Noyes schlug den Stofffetzen zurück und offenbarte einen Teil von Mottyl, die an ihrer Brust kauerte – in Panik, wegen der Gegenwart von Doktor Noyes.

Der atmete durch sein hölzernes Gebiss ein und machte dabei das zischende Geräusch, das immer ein Zeichen für großes Missfallen war. Dann wies er Mottyl mit einem Wink ab und sagte: »Wir haben schon zwei Katzen, meine Liebe. Zwei ganz besondere Katzen, darf ich hinzufügen… und das Edikt sagt ganz eindeutig zwei – nur zwei.«

»Du könntest eine Ausnahme machen.«

»Wirklich? Warum sollte ich?«

»WEIL SIE MIR GEHÖRT!«

Hannah schrak zurück – und die Hälfte des Wassers in der Schüssel wurde verschüttet.

Keiner bewegte sich – nicht einmal Noah.

Als sie merkte, dass weder ihre Worte noch die Art, wie sie sie ausgesprochen hatte, eine Veränderung in ihrem Mann bewirkten – schloss Mrs Noyes schließlich im Flüsterton: »Ich werde nicht mit dir mitkommen, Noah. Wenn meine Katze – wenn Mottyl nicht mitkommen darf, dann werde ich auch nicht mitkommen.«

Hannah zuckte zusammen. Sie hielt es für möglich, dass die Erde sich jetzt auftat.

Noah stieß die Schüssel mit dem Fuß beiseite und richtete sich zu voller Größe auf, als ob er nie alt gewesen, sondern immer noch jung und ein Riese wäre, und er holte weit aus und traf Mrs Noyes mit einem Rückhandschlag.

Sie fiel zu Boden – natürlich – und Mottyl hatte Angst, sprang aus ihren Armen und war weg.

Mrs Noyes lag regungslos dort, wo sie hingefallen war. Das Einzige, was sie denken konnte, war: Sie ist blind – und ich werde sie nie wiedersehen.

 

 

Doktor Noyes setzte sich hin. Ehrlich gesagt, konnte er nicht anders. Die Anstrengung, die es ihn gekostet hatte, seine Frau zu schlagen, hatte ihn fast gelähmt und – auf einmal war er wieder alt.

Trotzdem sammelte er sich, und als Hannah seine Füße fertig gewaschen hatte (sie hatte aus dem Krug frisches Wasser eingegossen), versuchte er, Mrs Noyes vernünftig zuzureden, auch wenn sie ihn kaum hörte.

»Es gibt doch andere Katzen… sehr schöne Katzen, Abraham und Sarah – und deine Katze ist trächtig; alt – und dahergelaufen – und blind noch dazu, meine Liebe. Sie wäre nur über Bord gefallen.« Fast musste er dabei nachsichtig kichern. »Und überlege, wie schlecht du dich dann erst gefühlt hättest: vom Meer verschluckt…«

»Sie wird ohnehin vom Meer verschluckt werden – wenn wir sie zurücklassen.«

»Na – sei es, wie es ist, du bist ohne sie besser dran und sie ist besser dran, wo sie ist. Sie wird mit ihresgleichen sterben – dort, wo sie hingehört.«

Mrs Noyes schwieg – und Doktor Noyes lächelte – und damit war das Thema offensichtlich beendet. Sie stand auf und er stand auf und beide standen da – allerdings nicht nebeneinander – und schauten den Berg hinunter; hinter ihnen ragte die große Arche empor und unter ihnen flammten die Opferfeuer auf. Er sagte: »Es ziemt sich so. Es ist recht so. Wir sind Gott gegenüber gehorsam. Und wenn wir die Arche zusammen besteigen, werden wir unseren Auftrag hier ausgeführt haben. Wir haben in der Zukunft einen weiteren Auftrag auszuführen und wir werden froh sein, dass wir unsere Pflicht hier erfüllt haben. Ja?«

Nein.

Sie würde nicht froh sein.

Und sie würde ihm nicht verzeihen.

Nie.

Ganz langsam fing es zu regnen an.

 

 

Da seit so vielen Wochen Dürre herrschte, brachte der erste Regen eine Welle der Erleichterung. Ham und Luci und Emma stiegen auf das Deck der Arche und Emma tanzte und sang alle Regenlieder, die sie kannte: »Es regnet, es regnet, es regnet seinen Lauf« und »Regen, Regentröpfchen, fall mir auf mein Köpfchen!« In der Tat wurde so viel gesungen und gelacht und in Pfützen geplanscht, dass offensichtlich keiner merkte, was das für ein seltsamer Regen war. Bis Emma mit dem Finger auf Luci zeigte, die ein langes weißes Gewand trug, und sagte: »Schau! Der Regen ist farbig!« Und das stimmte. Er war lila.

 

 

Am dritten Tag des Regens senkten sich die Regenwolken, bis sie die oberen Äste der Pinie und das Dach der Arche fast berührten. In den tiefen Furchen aus lila verfärbtem Ton, durch die der Regen jetzt Bäche und Wasserfälle bahnte, fing es – zuerst nur sehr langsam – mit weniger Farbe und mehr Gewalt zu fließen an. Donner war überall, aber noch weit weg, sein Echo umgab die Berge. Jetzt begann der Regen, der seine Durchsichtigkeit und die lila Farbe verloren hatte, trüb und milchig auszusehen. Noah sagte, der Regen, der vorher »böse« gewesen sei, werde jetzt als »leidenschaftlicher« Regen aus dem Himmel geschüttet – er werde auf der sterbenden Erde verschwendet und vergeudet, und er nannte ihn »den Regen des Onan«.

 

 

Mrs Noyes war verschwunden. Keiner konnte sie finden. Doktor Noyes war außer sich.

Zugegeben, nicht weil er den Verlust einer Person befürchtete, die er liebte – sondern weil er den Verlust einer Person befürchtete, die er brauchte. Ohne Mrs Noyes konnte die Arche nicht losfahren, ihre Reise wäre zum Scheitern verurteilt. Jahwes Edikt lautete: »Du und deine Söhne und deine Frau und die Frauen deiner Söhne…« Diese acht – sonst würde keiner gerettet werden.

Hannah kam und stellte sich neben Doktor Noyes unter seinen Regenschirm; vom Deck über dem Landungssteg aus stierten beide durch den Regen.

»Sie wird uns alle umbringen«, sagte Doktor Noyes.

Hannah zog ihr Tuch über ihren Bauch.

»Sie wird uns alle umbringen!«, schrie Doktor Noyes dem Himmel zu. »SIE WIRD UNS ALLE UMBRINGEN! VERHINDERE ES!«

 

 

Zuerst streifte Mrs Noyes am Fuß des Berges herum, während der Regen weiter fiel und der Wald sich allmählich mit abtrünnigen Hunden und Truthähnen füllte, die von verlassenen Heimstätten weit unten an der Straße vertrieben worden waren. Auch andere Tiere erschienen allmählich am Ufer des angeschwollenen Flusses und im Wald – bald waren es so viele, dass die ortsansässigen Lemuren anfingen in die Baumwipfel zu klettern und von dort zu schreien: »Kein Platz mehr! Kein Platz mehr!«

Irgendwo in Mrs Noyes’ Kopf hatte sich die vage, jetzt allerdings nur mehr verzweifelte Hoffnung gehalten, Mottyl könnte irgendwie mitten aus diesem Ansturm herren- und obdachloser Tiere auftauchen; vielleicht könnte ein Wunder des Zufalls ihnen helfen, einander wiederzufinden.

Aber weder das lange Gras – bis in den Boden getreten – noch die Randbezirke des Waldes und die rapide kürzer werdenden Strecken der Straße, die sie bei ihrer zunehmenden Erschöpfung noch schaffte – nichts brachte eine Spur von Mottyl zutage. Mrs Noyes’ Kleidung war jetzt völlig durchnässt, und da sie nach nasser Wolle, verbrannter Schürze und angesengten Haaren roch, fühlte sie sich wie ein gelöschtes Feuer. Ihr hätte kalt sein müssen, doch dem war nicht so. Der Regen war erstaunlich warm und kam ihr – zuweilen – fast heiß vor. Im Tal trieben Nebelschwaden, die in Fetzen hingen wie früher der Dampf, der aus den köchelnden Töpfen auf ihrem Herd hochstieg.

Jedes Mal, wenn das Gras sich bewegte oder ein Zweig knackte oder ein Ast herunterfiel, blieb Mrs Noyes abrupt stehen und flüsterte: »Mottyl? Mottyl?« Es war zwecklos, lauter zu sprechen, besonders gegen das Schreien der Lemuren anzukämpfen. Die Welt war eine Wildnis geworden – und sollte sie ihre Katze finden, dann hätte sie das allein nur dem Zufall zu verdanken.

 

 

Im Finstern – und finster war es immer – rannte Mottyl davon; sie rannte weg vom Klang von Doktor Noyes’ Stimme, vom Geruch des Feuers und vom Gestank brennenden Fleisches. Das Feuer war jedermanns Feind – aber Doktor Noyes war schon immer ihr ganz persönlicher Feind gewesen: der Schöpfer ihrer Blindheit und der Mörder ihrer Kinder. Und jetzt hatte er versucht auch sie umzubringen.

Die Finsternis, in der sie sich bewegte, war nicht völlig dunkel. Es gab Übergänge – blasse, wässrige Übergänge, die Formen unbeweglicher, manchmal auch sich bewegender Dinge erkennen ließen: einen Schwarm fliegender Vögel, einen laufenden Hund, die springende ruckartige Bewegung eines Lemuren. Bäume und Felsen und Mauern waren ihre allerschlimmsten Feinde – fast ohne Vorwarnung tauchten sie plötzlich auf – flach und ohne Dimensionen; sie bedeuteten drohende Zusammenstöße und verursachten diese auch allzu oft.

Mottyl machte sich davon, den Berg hinunter – und beschwor all ihre Erinnerungen an Mauern und Bäume und Tore und ihre Standorte – versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wo die Öffnungen waren, die kleinen Lichtflecken, die sie durchließen –, aber sie musste einen großen und nicht vertrauten Umweg um die Stelle im Hof machen, wo ihresgleichen dem Feuertod anheimfiel und verfing sich fast augenblicklich in den Leichen, die da schwelten.

Mottyl schrie sehr selten. Sie war schon immer eine stoische Katze gewesen und meistens schwieg sie, wenn sie Angst hatte – und wenn sie Schmerzen hatte, verkroch sie sich. Doch hier im Hof, wo ihre Nüstern vom gewaltigen Gestank schwelenden Fells überwältigt waren, wo das Geräusch brennender Innereien in ihren Ohren sang und das sickernde, kleisterartige Knochenmark an ihren Pfoten festklebte, in Panik wegen des Rauches und aus Angst vor dem Feuer, das sie nicht ganz sehen konnte, war sie ergriffen und blieb – bewegungsunfähig – stehen, warf den Kopf in den Nacken und heulte.

Keiner hörte sie.

Es war niemand in der Nähe außer den Toten und – in der Luft – das stille Kreisen der Geier, die warteten.

Als Mottyl sich endlich bewegen konnte, hatte es zu regnen begonnen und jeglicher Orientierungssinn war ihr abhanden gekommen.

 

 

Mrs Noyes musste nach Essen suchen, denn alles Essbare war aus den Gärten und Speisekammern und Vorratskellern geholt worden. Jedes Ei aus dem Hühnerstall – jeder Sack Mehl aus dem Lagerraum – jedes Stückchen Fleisch aus der Räucherkammer und jedes Bündelchen Kräuter, das von den Balken ihrer Sommerküche gehangen hatte – alles war weg. Und jedes Korn aus dem Getreidespeicher. Nichts war übrig geblieben: Es war entweder verbrannt worden oder lag tief im Laderaum der Arche. Der bloße Gedanke, dass sie an dieser Aktion teilgenommen hatte – sogar bereitwillig teilgenommen hatte…

Nun gut.

Es gab jedoch durchweichtes Gras und bittere Wurzeln in der Erde und saure gelbe Beeren, die an Reben hingen, und es müsste Äpfel geben…

Wie dumm von ihr!

Sicher gab es noch Äpfel im Obstgarten… Schließlich war so vielen verboten, Äpfel zu essen, dass nur sehr wenige überhaupt verzehrt wurden. Frauen war es vollkommen untersagt, Äpfel zu essen, ebenso Kindern und Haustieren.

Nur die Ältesten wie Noah – Männer, die in die Mysterien eingeweiht waren – durften Früchte aus dem Obstgarten verzehren. Nun aber war der Obstgarten voller Apfelbäume. Dutzenden – im Frühling blühten sie so schön und im herbstlichen Regen konnte man den Duft der Apfelschalen riechen. Warum hatte sie daran nicht gedacht?

Sie stürzte los – ohne auf den Schlamm und das rutschige Gras und den Blumenwirrwarr überall auf dem Berghang zu achten. Auf dem Weg bergauf durchquerte sie die Felder Richtung Fuhrweg mit den niedrigen Steinmauern, auf denen Glasscherben lagen und dem Tor, das immer abgeschlossen war, das sie aber im Geiste jetzt schon aufbrach.

Alle Äpfel werden mir gehören, dachte sie.

Als sie den Fuhrweg erreichte, war sie so außer Atem, dass sie anhalten musste; sie fiel auf die Knie, dann auf die Hüfte – nur einen Augenblick… »Nur einen Augenblick Pause«, flüsterte sie. Und dann – mit einem Schlag – riss es sie hoch – stand sie kerzengerade.

Ben Azai war gestorben… Ben Zoma hatte seinen Verstand verloren… Ben Abuya hatte die Pflanzen der Vernunft ausgerissen…

So hatte Jahwe erzählt – weil sie den Obstgarten betreten hatten.

Wieder sackte Mrs Noyes zusammen – ihre Hüfte stieß gegen einen großen runden Stein – und beim Schmerz, ausgelöst durch den Stein, der auf ihre Knochen drückte, fuhr der Gedanke durch sie hindurch: Aber sie haben den Obstgarten doch nicht wegen der Äpfel betreten… sie sind hineingegangen, um zur Erkenntnis zu gelangen, und ich will nur etwas zu essen! (Sie stand auf.) Und – außerdem: Ist nicht einer am Leben geblieben? Ist nicht einer heil aus dem Obstgarten gekommen?

Ja.

Mrs Noyes drehte sich um und schaute den Weg hinauf, zum Tor mit seiner Kette und seinem Schloss.

Rabbi Akiva ging heil in den Obstgarten hinein und kam heil wieder heraus.

Das würde sie auch.

Mrs Noyes riss einen ihrer Unterröcke in lange, breite Streifen und hängte sich vorsorglich ein paar davon um den Hals. Vielleicht würde sie die Streifen einmal brauchen, wer weiß? Sie war lange genug Hausfrau und Mutter gewesen, um zu wissen, dass es überhaupt nichts gab, was nicht irgendwie von Nutzen sein konnte. Den Rest des Unterrocks wickelte sie in mehreren Lagen als Verband um die Hände und ließ dabei nur die Daumen frei. Das Ganze wirkte wie Fäustlinge aus Baumwolle – etwas unförmig zwar, aber sie würden ihren Zweck schon erfüllen.

Ihr kam der Gedanke, dass das Aufbrechen des Tores womöglich die Wirkung eines magischen Fluches auslösen könnte, den Jahwe oder Noah über das Schloss ausgesprochen hatten. Das Elmsfeuer oder die Große Schlange von Eden könnte heraufbeschworen werden – und dieser Gedanke behagte ihr gar nicht. Es war besser, ihr Glück bei der Mauer mit den Glasscherben zu versuchen.

 

 

Blinde können durch Willenskraft eine Art Sehen erzwingen. Obwohl sie nichts klar erkennen, kann dann ein Schatten Form annehmen und eine Lichtquelle wahrgenommen werden.

Mottyl hatte den Obstgarten ebenfalls gefunden – aber früher als Mrs Noyes. Früher hatte sie diesen Ort nicht oft aufgesucht – vor allem wegen der Tatsache, dass Doktor Noyes und Hannah auf allen Wegen ihren Geruch zurückgelassen hatten und die Torpfosten nach ihren Handabdrücken rochen. Vor sehr langer Zeit einmal hatte sie die Mauer ausprobiert und sich dabei an den Scherben ihre Fußballen aufgeschnitten – aber damals war sie noch ein Kätzchen, und sie hatte nur noch eine vage Erinnerung daran. Als sie sich der Mauer jetzt früh am Morgen nach der Tierverbrennung näherte, rieten ihr die Flüsterstimmen, sie solle sich vor der Mauer in Acht nehmen – mehr nicht.

Es war noch vor Morgengrauen und am Himmel war nur ein ganz blasser Lichtschimmer erkennbar. Mottyls Gesamteindruck von der Welt war grau – alles verschwamm, doppelt benebelt: Alles dampfte, weil der Regen darauf fiel – alles wurde durch die getrübten Linsen des grauen Stars wahrgenommen. Die Nacht – den finstersten Teil davon – hatte sie an den Ast eines Nadelbaums geklammert verbracht; keine Minute hatte sie richtig geschlafen – die Ohren gespitzt und ihre ausgestreckten Krallen tief in die Rinde geschlagen – so tief, dass das ausströmende Harz ihre Träume färbte. In ihrem Fell mit den roten, schwarzen und weißen Flecken hing noch der Geruch nach Feuer und Rauch, doch je länger sie im Regen auf ihrem Ast kauerte, desto weniger war davon wahrnehmbar. Und jetzt – als sie sich zur Mauer des Obstgartens aufmachte – bemerkte man den Geruch kaum mehr. Wenn die Drachen, vor denen sie so viel Angst hatte, aufgetaucht wären, hätten sie sie gleich wittern können, denn die Nässe ihres Fells und die Wärme ihres Körpers, mit der sie die morgendliche Kühle ausgleichen konnte, verstärkten ihren Eigengeruch. Das könnte problematisch werden und sie überlegte, wo sie etwas Mist finden könnte, um sich darin zu wälzen oder, besser noch, irgendwelche Kräuter, die gleich zwei Vorteile hätten: sie würden ihre Flohbisse lindern und ihre Stimmung heben. Der Duft der Äpfel jenseits der Mauer war geradezu betörend, obwohl er für Mottyl nicht dieselbe Bedeutung hatte wie für Mrs Noyes. Für Mottyl hatte der Duft nichts mit Essen zu tun, sondern diente ausschließlich zur Bestimmung ihres Standorts. Er verlieh ihr einen Punkt, um den herum sie einen Kreis ziehen und dabei Entfernung und Richtung fast genauso wie früher feststellen konnte, als sie sich in Häusern und bei wenigstens einem Teil der Leute, mit denen sie lebte, sicher fühlte – als sie ihren Standort am Geruch von Mrs Noyes abschätzen konnte, an den Gerüchen der Küche und ihrer geliebten Veranda, an deren Rand sie in der Sonne gelegen hatte – am Geruch des Schaukelstuhls mit der gewirkten Sitzfläche und den Armlehnen, die mit dem Schweiß von Jahrhunderten aus Mrs Noyes’ Handflächen geölt waren. Als sie sich dem Obstgarten näherte, freute sich Mottyl also über den Duft seiner Äpfel. Ebenso erging es – offensichtlich – einer Vogelschar. Die Vögel waren nicht sehr groß – dafür aber umso lauter.

Wenn sie sich nur hätten entscheiden können, welche Art von Lärm sie machen wollten. Aus den Baumwipfeln ließen sie jeden nur erdenklichen Vogelruf ertönen und sogar ein paar andere Rufe – einen bellenden Hund – den Schrei eines Lemuren – ein Menschenweib. Und das Geräusch surrender Dinge – wie Uhren und Doktor Noyes’ mechanische Geräte…

Stare.

Mottyl lief näher, den Hang hinunter auf die Mauer zu. Das Licht war jetzt stärker, obwohl sich die Sonne selber nicht zeigte.

Wenn nur ihre Flüsterstimmen nicht so laut wären, könnte sie ungestraft ihr Glück bei der Mauer versuchen. Aber sie wollten einfach nicht still sein, wurden sogar so laut, dass es allmählich lästig war.

Warum sagt ihr mir nicht, was los ist? Warum brummt ihr nur: »Gib Acht! Gib Acht!«? Sagt mir lieber, warum ich Acht geben sollte – wovor ich mich in Acht nehmen sollte. Ist da jemand? Der Engel? Ist der Engel da?

Nein. Nur Vögel. Nicht gefährlich.

Was dann?

Mauer. Mauer.

Mauer. Das ist mir eine große Hilfe! Sagt mir, warum die Mauer.

Wir können nicht. Wir können uns nicht mehr erinnern. Nur… die Mauer; die Mauer; gib Acht!

Mottyl befand sich jetzt am Hang, etwa sechs oder sieben Sprünge oberhalb der Mauer, die sie als eine niedrige, dunkle Form »sehen« konnte, eine Form, die ein Band durch das Grau bildete. Der Apfelduft stieg ihr in die Nase, der Lärm der Stare in die Ohren.

Stare waren sehnig – drahtige kleine Dinger –, kaum Fleisch, und auch das Bisschen war nicht schmackhaft. Es war bitteres Fleisch, das etwas metallisch schmeckte – ungefähr wie der Rost, den man in bestimmten Quellen und Tümpeln vorfand. Es war sogar ein ganz schwacher Hauch von Aloe dabei – als ob sich Stare von giftigen Beeren und den Blättern der Stechpalme ernähren würden. Trotzdem…

Mottyl saß kerzengerade da – wie ein Hase –, das Gesicht auf die singenden Bäume gerichtet.

»Vogel!«, rief sie. »Vogel?«

Die Stare verfielen – sofort – in Schweigen.

Mottyl machte sich flach – überquerte im Laufen den Hang – und blieb wieder stehen.

»Vogel…«, rief sie erneut – diesmal leiser. »Vogel?« – mit entstelltem Tonfall. Es war dieselbe Technik wie beim Mäuseanlocken, obwohl – notgedrungen – etwas schroffer, weil die Stimme nach oben in die Luft statt nach unten auf die Erde und durch das Gras gerichtet war.

»Vogel!« Sehr barsch dieses Mal. »Vogel!«

In ihren Bäumen murrten die Stare – verunsichert…

Jetzt wusste Mottyl, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, und sie fing zu schnattern an.

Schnattern konnte so herrlich verhängnisvoll sein – wenn man den richtigen Ton traf. Nicht jeder Vogel ließ sich in Versuchung führen. Zum Beispiel fiel eine Wanderdrossel niemals auf dieses Manöver herein – aber Stare, Kuhstärlinge und Finken konnten ihm nicht widerstehen – sie krochen einem fast ins Maul, wenn sie angeschnattert wurden.

Ein Star erlag der Versuchung.

Er flog vom Apfelbaum herunter und ließ sich auf der Mauer nieder, schaute auf das Durcheinander von durchweichtem Gras und Gestrüpp und murrte.

Mottyl verfluchte ihre Blindheit. Sie wusste, der Vogel war da, erkannte es an seiner Stimme – aber seine Form ähnelte zu sehr der Form der hoch ragenden Steine ringsum. Wenn er sich nur bewegen würde! Mottyl verfluchte auch das Gewicht ihrer Kätzchen im Bauch, das jetzt genügte, um sie beim Springen aus dem Gleichgewicht zu bringen – obwohl das alles nicht schlimm wäre, wenn sie noch ihr Augenlicht hätte.

Sprich noch mal! Sprich, flehte sie den Vogel an. Sprich!

Als ob der Vogel ihr Flehen gehört hätte, rief er den anderen im Baum etwas zu.

Mottyl schlich sich an die Stimme heran und nutzte dabei die überhängenden Äste eines Myrtenhains als Deckung – sie ließ die Zweige gegen ihren Rücken drücken, so dass sie merken konnte, wenn das Gewicht der Zweige zu den Spitzen hin abnahm… Red weiter! Sprich noch einmal! Sprich…

Der Star beugte sich nach vorne – starrte auf die Erde unter der Mauer –, hielt unvorsichtigerweise nach Insekten Ausschau.

Mottyl war jetzt nur noch einen einzigen Sprung von ihrer Beute entfernt – und war sicher, dass sie deren Form erkannt und von den Formen der Steine unterschieden hatte.

Plötzlich stieß der Vogel einen Schrei aus.

Er hatte sie gesehen.

Mottyl sprang.

Der Star entflog – und Mottyl, nur wenige Zentimeter von den Steinen entfernt, hörte plötzlich ihre Flüsterstimmen schreien…

GLAS!

Alle Stare wirbelten hoch – schrien empört die hochfliegende Gestalt Mottyls an – als sie die eingemörtelten Glasscherben übersprang – und auf der Gartenseite der Mauer zu Boden fiel. Die Vögel flogen weiter, in die Baumreihen hinein, wo sie sich wieder setzten und, zwischen Äpfeln und Blättern verteilt, wie Harpyien kreischten: »Katze! Katze! Katze!«

Mottyl, die auf den Pfoten gelandet war, war wie durchgerüttelt – neben der Mauer ging sie in Kauerstellung; ihr Herz pochte und ihre Zunge geiferte und ihre Ohren waren angelegt. Sie konnte kaum Luft holen – und der Dunst vor ihr wimmelte von kleinen weißen Pünktchen, die ihr schwindelig machten. Tief in ihrem Bauch spürte sie, wie ihre Kinder – durcheinander gewirbelt und beunruhigt – sich verlagerten, sich gegenseitig verschoben. Schnell legte sie sich auf die Seite und streckte ihre Flanken möglichst weit, um ihre Bauchhöhle zu vergrößern. Sie machte die Augen zu – hatte jetzt keine Lust auf Helligkeit – und versuchte tief und lang zu atmen; sie zog die Luft tiefer und fester in die Lungen ein und krümmte langsam ihre Pfoten – ein – aus – ein – aus, bis alles Zucken und Hüpfen und Zittern sich gelegt hatte und sie auf die Herzschläge horchen konnte, die nicht ihre eigenen waren.

Eins.

Zwei. Drei.

Vier. Fünf…

Nichts.

Sechs; es hätten sechs sein sollen.

Wo bist du, sechs? Wo bist du?

Nichts.

Mottyl drehte sich auf die andere Seite.

Sechs? Sechs?

Sechs?

Bedächtig zog sie den Kopf über ihren Bauch; sie lag jetzt auf der Rundung ihres Rückens und zwickte ihre Haut, damit die Kinder sich wieder bewegen mussten. Bewegt euch! Bewegt euch!

Sie verlagerten sich – diesmal ganz sanft –, trieben durch die Flüssigkeiten, in die sie gebettet waren – eins – zwei – drei…

Vier.

Fünf.

Sechs.

Mottyl lag gegen die Mauer gelehnt da und schlief volle fünf Minuten. Alle sechs Herzen und ihr eigenes schlugen im Rhythmus des fallenden Regens.

Mit seinen ordentlichen Baumreihen und den grasbewachsenen Wegen sah der Obstgarten so friedlich aus; es schien äußerst seltsam, dass Mrs Noyes vor einem solchen Ort Angst haben sollte. Aber sie hatte Angst. Ihr ganzes Leben lang hatte man ihrem weiblichen Gewissen eingebläut, dass nur Frauen mit dem Dispens von allerhöchster Seite erlaubt war, unter diesen Bäumen und auf diesem Gras zu wandeln: Frauen wie Hannah – in der Tat war sie das einzige weibliche Wesen, nach Kenntnis von Mrs Noyes, für das die erforderlichen Zugeständnisse gemacht worden waren.

Sie näherte sich der Mauer.

Die ganze Zeit über war sie sich im Klaren darüber, dass ihr jemand von der Arche aus möglicherweise nachspionierte, und folglich duckte sie sich bei jeder Bewegung zu Boden. Gebückt und ihre baumwollenen Fäustlinge durch den Dreck schleifend, überwand sie die letzte offene Wegstrecke und warf sich dann gegen die Mauer, wo ein paar Johannisbeersträucher üppig genug wuchsen, um sie zu verbergen.

Sie wartete.

Kein Geräusch außer dem Regen – und überhaupt kein Hinweis darauf, dass jemand sie gesehen hatte.

Die Mauer, die sich jetzt direkt über ihr am Hang befand, war nicht ganz so hoch, wie Mrs Noyes groß war. Die Steine darauf liefen spitz zu – und die Menge der Glasscherben war größer, als sie in Erinnerung hatte.

Nun gut: je früher begonnen, desto früher vorbei.

Sie richtete sich auf – bis zu ihrer vollen Größe – und zupfte an den Streifenenden ihrer Fäustlinge; sie band sie eng um die Handgelenke. Dann legte sie ihre Hände, sehr vorsichtig – aber fest – auf eine Stelle, wo ihr die Scherben am wenigsten bedrohlich vorkamen, und hob sich vom Boden ab…

Ach Gott.

Sie steckte fest.

Ihre Hüfte, von den Röcken heruntergezogen, war voll auf der Mauerspitze gelandet und sie fühlte das Glas ganz langsam wie eine Unmenge Drachenzähne in ihr Fleisch eindringen.

Sie lag ganz ruhig; sie hatte Angst davor, sich bei der geringsten Bewegung die Seite aufzureißen; dann hob Mrs Noyes – so wie man einen einarmigen Liegestütz ausführen würde – ihr Gewicht in die Höhe und ließ sich auf der anderen Seite der Mauer auf den Boden rollen. Bluten würde sie – aber wenn sie nicht hinschaute, würde sie nicht in Ohnmacht fallen.

 

 

Nach ihrem Fünf-Minuten-Schlaf wachte Mottyl auf – erleichtert und froh, dass alle sechs Kinder lebten – und immer noch hungrig.

Sie setzte sich auf, beschnupperte die Luft und merkte sehr schnell, dass sie nicht alleine im Obstgarten war.

Die Füchsin war auch drin.

Mottyl stand auf – und nahm eine drohende Haltung an. Das war eine automatische Reaktion. Wenn man die Füchsin witterte, bereitete man sich am besten sofort auf die Verteidigung vor – obwohl die beste Verteidigung darin bestanden hätte, abzuhauen, und zwar so weit wie möglich. Das Problem war – sie wusste nicht genau, wo die Füchsin sich befand. Höchstwahrscheinlich suchte sie – genau wie Mottyl – nach Nahrung. Sie schnüffelte oft im Obstgarten und am Rand der Felder herum, ob es dort nicht junge Hasen gab. Aber die Luft war feucht und es war völlig windstill, was zur Folge hatte, dass der Geruch der Füchsin überall war – durch den Nebel gleichmäßig verteilt.

Aufgrund ihrer Blindheit war Mottyl mehr oder weniger wehrlos. Auf jeden Fall wäre sie ein allzu leichtes Opfer für jedes Tier, das ihr Blindsein bemerkte – und wenn besagtes Tier groß genug wäre, wären Mottyl und ihre Kinder verloren. Was nicht heißt, dass sie nicht kämpfen würde. Doch es gibt Kämpfe, die man nicht gewinnen kann…

Mottyl lauschte mit äußerster Konzentration. Aber kein Laut war zu hören. Jedenfalls nichts, was sie mit einem Fuchs in Verbindung bringen würde.

Mottyl schlich von der Mauer weg; sie vermied die bedrohlich hoch ragenden Konturen der Baumstämme und streifte unter den Ästen vorbei, redete sich ein, dass sie notfalls immer noch auf einen Baum klettern könnte.

Plötzlich stand die Füchsin vor ihr – sie kam offensichtlich aus dem langen Gras.

Mottyl sauste den nächsten Baum hoch, so hoch, wie sie es den Ästen überhaupt noch zutraute, ihr Gewicht zu tragen.

Am Fuß des Baumes drehte die jetzt bellende Füchsin durch. Sie war wütend auf Mottyl, weil sie ihr entkommen war, und warf ihr jeden Schimpfnamen, der ihr einfiel, durch die Blätter entgegen, während Mottyl – erst einmal in Sicherheit – sich auf eine lange Belagerung einstellte. Doch dann passierte etwas sehr Seltsames.

Obwohl ihre Schimpfkanonade gegen die Katze so heftig und böse war, brach die Füchsin mittendrin ab und sank auf die Seite ins Gras. Mottyl konnte ihr Keuchen hören – und dann, ganz langsam, nahm sie ein anderes Geräusch wahr: Die Füchsin war erschöpft. Sie murrte und klagte. Sie war dem Heulen nah. Weil es nichts zu fressen gab. Es keinen sicheren Ort gab, an dem man sich verstecken konnte. Sie war am Verhungern und ihre Jungen waren schon tot.

Mottyl hatte ganz zufällig eben ein ganzes Gelege Eier in einem Blauhähernest entdeckt.

»Füchsin?«

Die Füchsin blickte zu ihr auf.

Mottyl stieß zwei Eier aus dem Nest – und ließ drei für sich übrig.

»Iss!«

 

 

In all seiner geordneten Herrlichkeit breitete sich der Obstgarten vor Mrs Noyes aus.

Sie lief – humpelte eher – schnell zum nächsten Baum, wo die Äpfel eine blasse, liebliche gelbe Farbe hatten, nahm einen – zwei – drei in rascher Folge ab und aß sie; sie benutzte beide mit Fäustlingen versehenen Hände, um die Äpfel zum Mund zu führen. Sie aß nicht nur, sie trank auch – die Säfte trieften von den Mundwinkeln über ihr Kinn den Hals hinunter und in die Spalte zwischen ihren Brüsten. Es war fast wie ein Bad in Nektar, sie schwelgte darin – und hätte die Butzen am liebsten über ihren Haaren ausgedrückt. Das Fruchtfleisch der Äpfel war besser als alles, was sie jemals gekostet hatte – obwohl wahrscheinlich fast jedes Nahrungsmittel dieselbe Wirkung gehabt hätte, denn das halbe Vergnügen lag darin, dass sie Durst und Hunger mit etwas anderem als Wasser stillen konnte.

Sie blickte um sich und sah, wie viele Bäume noch immer Früchte trugen, und sie dachte: Ich muss mir einen Vorrat jenseits der Mauer anlegen – dann muss ich nicht jedes Mal, wenn ich Hunger habe, diese blöden Fäustlinge anlegen und mir die Beine aufschlitzen.

Rote Äpfel, grüne Äpfel, violette Äpfel, gelbe Äpfel, sogar weiße Äpfel – hingen von den Ästen – und fielen ihr in die Schürze, als sie die Äste schüttelte und sich dann bückte, um die Äpfel aufzulesen, die unter dem Gewicht des Regens schon zu Boden gefallen waren. Und das Gras war süß, wegen der Äpfel und auch wegen seines eigenen nassen Geruchs, und Mrs Noyes dachte, dass es keine bessere Erinnerung an die Erde geben könne als diese: an die Wohlgestalten Äste ihrer Bäume und den Geschmack ihrer Früchte und den Duft ihres Grases und die Wärme ihres Regens.

 

 

Zwei Schürzen voller Äpfel würden sie einen ganzen Monat lang durchfüttern; allerdings konnte sie nicht glauben, dass sie dann noch am Leben wäre, um sie zu essen. Mrs Noyes setzte sich auf den Boden und aß hintereinander ein Dutzend Äpfel. Die Röcke hochgezogen, saß sie da, der Regen konnte ihre Beine abwaschen, und sobald sie einen Apfel aufgegessen hatte, rieb sie ihre Wunden ganz sanft mit dem Butzen ein. Die Säure brannte, doch sie wusste, dass sie helfen würde, die Schnittwunden zu heilen.

Es war nicht vorauszusehen, ob der Regen noch an Stärke zunehmen würde – aber Mrs Noyes kannte Noahs Gerissenheit und erinnerte sich, wie wütend Jahwe gewesen war: Das gab ihr wenig Zuversicht, auf Mäßigung hoffen zu können. Es könnte sehr wohl sein, dass es noch tagelang weiterregnete – so weich und warm –, in späteren Zeiten würde man es als »schottischer Nieselregen« bezeichnen. Aber es würde auf Dauer nicht so bleiben. Sicher würde der heilige Donner kommen, auch Jahwes rasende zackige Blitzschläge, mit denen er so oft versuchte, seine Leute in Angst und Schrecken zu versetzen. Und es würde herabstürzende Wasserfälle geben. Und gefrierenden Regen, der in undurchsichtigen Strömen herunterkommen würde. Und heftige Wolkenbrüche, von lärmendem Sturm und peitschendem Wirbelwind begleitet. Und schließlich… was? Die Tümpel würden über ihre Ränder treten – alle Flüsse über die Ufer – alle Teiche würden die Berge hinunterstürzen – und die Wasserfälle würden verstummen, verschluckt von den ansteigenden Seen und den versinkenden Bergen. Und dann…

Mrs Noyes stand auf.

Und dann…

Sie warf das letzte Kerngehäuse weg, wischte den Mund mit dem Handrücken und rülpste. Ich bin wie eine Kuh, dachte sie. Ich stehe im Regen und starre vor mich hin. Gleich fange ich noch an, wiederzukäuen!

Und dann…

Mrs Noyes konnte sich nichts mehr vorstellen, obwohl sie ganz genau wusste, dass noch mehr vorstellbar war – und Jahwe und Noah es sich schon vorgestellt hatten. Aber das ging sie nichts an. Ihr würde der Regen, ganz gleich, wie viel fallen sollte, für immer genügen; die Absicht, die dahinter stand, war vom Augenblick des ersten Tropfens an klar gewesen.

Sie drehte sich kurz um und blickte auf den Obstgarten zurück, sog einen letzten Zug seines süßen Duftes ein. Außer Äpfeln lag noch etwas anderes in der Luft. »Ich rieche ein Tier«, sagte sie. Groß? Klein? Gefährlich? Gutmütig? Wie konnte sie es wissen? Es war einfach – ein Tier.

»Mottyl?«

Nein – der Geruch war wilder.

Mrs Noyes schüttelte ihre Röcke aus, warf die mit Äpfeln gefüllten Schürzen über ihre Schultern und ging den Berg hinunter. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund, fand sie, war – seltsamerweise – etwas Tröstliches in der Mischung aus Apfelduft und dem Geruch eines Tiers. Vielleicht war dies gerade das Zeichen, dass außer ihr noch etwas anderes am Leben war und auf dem Berg herumzog. Wenn es nur ihre Katze gewesen wäre.

 

 

Mottyl trottete zum Waldrand hinunter. Es wurde jetzt Abend, und die Lemuren schrien nach der Sonne. Mottyl dachte gerade an Bip und Ringer – wünschte, sie wären in Sicherheit an Bord der Arche.

Der ständige Regen und das durchtränkte Gras hatten sie bis auf die Haut durchnässt; also setzte sich Mottyl, bevor sie den Wald betrat, auf den kaputten Zaun, wo Michael Archangelis den Drachen getötet hatte, und fing an sich zu trocknen; sie benutzte die Pfote, um das Wasser aus ihrem Fell zu drücken.

Bip und Ringer schauten aus ihrer Pappel auf sie hinunter; sie waren sich nicht ganz sicher, ob es wirklich Mottyl war. Sie sah so lächerlich klein aus.

»Bist du es, Mottyl?« Bip ließ sich an einem der eher rutenähnlichen Äste hinabgleiten und überschüttete alles darunter mit einem Schauer von nassen Blättern.

»Bip?«

»Wieso bist du nicht zu Hause?«

Mottyl erklärte ihm nicht, dass sie vor Doktor Noyes geflohen war. Im Moment war es wichtiger, ihre Freunde dazu zu bewegen, an Bord der Arche zu gehen.

Sie berichtete Bip und Ringer, wie die Tiere paarweise an Bord geholt wurden; sie sei sicher, dass Ringelschwanzlemuren noch keine darunter wären; Bip und Ringer müssten sich retten, müssten möglichst schnell zur Arche gehen.

Bip hatte Zweifel. »Es ist nur Regen. Zugegeben, der schlimmste, den wir je erlebt haben. Aber die Dürre war auch die schlimmste, die wir je erlebt hatten, kein Wunder also, dass es jetzt so regnet.«

»Nein.« Mottyl blieb hartnäckig. »Dies werdet ihr nicht überleben, glaubt mir! Schreckliche Dinge ereignen sich.«

Da schwang Ringer sich herunter und gesellte sich zu ihnen. »Was? Was Schreckliches denn?«

Mottyl überlegte, ob sie ihnen von dem bevorstehenden Tod Jahwes erzählen sollte – und von dem Pakt, den er mit Doktor Noyes geschlossen hatte, um die Welt zu vernichten. Aber der Pakt war nur eine Vermutung – ein Gerücht; die Arche dagegen war echt – und der Regen war echt und spürbar; mit diesen Informationen konnte man etwas anfangen.

Schließlich sagte sie zu Bip und Ringer, falls sie an Bord der Arche gingen und sie, Mottyl, Unrecht hätte, bräuchten sie ja nur wieder auszusteigen. Wenn sie aber Recht hätte, wären sie schon an Bord und sicher, wenn die Katastrophe losging.

»Was ist mit dir?«, wollte Bip wissen.

»Ich warte noch«, log Mottyl. »Ich werde schon rechtzeitig oben sein, muss noch ein oder zwei Dinge erledigen.«

»Deine Kätzchen auf die Welt bringen?«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

Bip warf Ringer einen Blick zu. Der Klang von vielleicht auch nicht gefiel ihm nicht.

»Geht’s dir gut?« Auch Ringer machte sich um Mottyl Sorgen. »Hast du Probleme?«

»Nein. Keine Probleme. Ja. Es geht mir gut. Aber euch wird es nicht gut gehen, wenn ihr jetzt nicht zur Arche geht.«

Endlich, wenn auch gegen ihren Willen (»Wir würden lieber auf dich warten«), ließen sich Bip und Ringer dazu überreden, den Berg hinaufzugehen.

Der Wald war zum Ziel fast jeder Wanderschaft geworden: Er wurde ein Schutzort für jede Art von flüchtendem Getier in jeglichem Zustand – ein Schlafplatz für die Vögel – ein Versteck für die Verletzten und ein Marktplatz für die Raubtiere. Sumpftiere – Wiesentiere – Flusstiere – Haustiere zogen ein – jedes einzelne zwangsvertrieben. Jäger und Beute; Wirte und Parasiten; eine große Vielfalt an Vögeln und anderen Tieren und Insekten – alle um dasselbe Futter ringend – durchstreifte die Dämmerung. Jede Beere, jedes saftige Blatt, jeder Frosch und jede Maus wurden vertilgt. Eichhörnchen, Kaninchen, Affen, Maulwürfe und dutzenderlei Vögel konnten kein Versteck mehr finden – überall waren ihre Schreie zu vernehmen – und der Gestank von Blut und Innereien.

Dennoch konnten selbst die potenziellen Opfer sich nicht entschließen, den Wald zu verlassen. Gerade so, als ob die Bäume – und nur die Bäume – in der Lage wären, sie zu retten.

Nachdem sie sich von Bip und Ringer verabschiedet hatte, ging auch Mottyl in den Wald; sie war auf der Hut, fühlte sich aber ganz ruhig. Ihre Erfahrung mit der Blindheit hatte ihr eine Art Beharrlichkeit gegeben, wenn es darum ging, im Wald zu überleben. Sie hatte hier schon so viel mitgemacht – und ging jetzt direkt auf ihr Ziel zu, den Kopf gesenkt und die Schultern nach vorne gestreckt. Ihr Ziel war der Baum nicht weit vom weitesten Waldrand, nahe der Straße, wo Krähe ihr Nest hatte. Wenn jemand ihr helfen könnte, war es Krähe. Und Krähe würde es tun. Nicht umsonst waren sie die ganzen Jahre über Freundinnen gewesen. Sie waren einander so oft behilflich, hatten so oft Essen und Warnungen getauscht. Was Mottyl jetzt vor allem brauchte, waren Krähes Augen und Krähes Nest.

Und sie hatte so viel Hunger. Die Eier waren nicht sehr groß gewesen, hatten nur ihren Appetit angeregt.

Mit festem Schritt und eingezogenen Krallen – ihre Kinder schaukelten in ihrem Bauch – machte sich Mottyl auf den Weg; sie war fest entschlossen, wenn sie unterwegs sonst nichts finden würde, Insekten zu fressen.

Vor ihr huschten Feen kreischend auseinander. In ihren Wald waren so viele Fremde eingefallen, dass sie nicht wussten, wo sich verstecken. Einigen hatte es schon das Leben gekostet, andere waren so geschwächt, dass sie sich kaum vom Boden lösen konnten. Alles, was sie gewöhnlich aßen – die sonst so reichlich vorhandenen Honig- und Harzsorten –, war vertilgt, und, was Nahrung anging, war der Wald für sie zu einem Ödland geworden. Mottyl begegnete mindestens drei Gruppen von Feen, die so erschöpft und vor Hunger so geschwächt waren, dass sie um sie herumgehen musste. Sie konnten sich nicht mehr bewegen.

Es war eine sehr seltsame Zeit für Mrs Noyes – da sie so völlig allein war, nicht wusste, welcher Tag es war, sich ausschließlich von Äpfeln ernährte und auf den Bäumen schlief. Es gab allerdings Augenblicke – während sie durch die Felder ging oder irgendeinem jungfräulichen Pfad folgte, in denen sie merkte, dass nach und nach die Zivilisation von ihren Schultern abfiel, und dafür war sie dankbar. Welch eine Last sie gewesen war! »Das kann ich euch sagen!« (Sie rief es laut den Vögeln zu.) All diese Manieren – all diese Benimmregeln: »mein Herr« und »gnädige Frau« – Kratzfüße und Handküsse – auf Befehl hinfallen und wieder aufstehen – das alles einhalten zu müssen. Messer und Löffel und Teller in der richtigen Reihenfolge zu benutzen – die Haare hochzustecken und Hauben und Kopftücher und Schleier tragen zu müssen, um dies, das und jenes zuzudecken, damit die Herren der Schöpfung nicht verleitet würden – und zuzulassen, dass das alles weggerissen wurde, wenn dein Ehegatte sein Vergnügen haben wollte. Der zeitliche Druck – der tägliche Ritus der Gewalt – das ganze Beten und das Blut und der Wein – die Eintönigkeit des Protokolls: um Erlaubnis bitten zu müssen, wenn man sprechen, etwas berühren, sich bewegen wollte. Und die Lügen… und das leere Lächeln… und die versteckten Ginkrüge…

Eines Morgens hob Mrs Noyes ihre Röcke hoch, hockte sich voll im Blickfeld der Fenster eines verlassenen Wagens hin – und pinkelte.

War das herrlich!

Einfach dort zu hocken, die Knie auseinander, Oberschenkel und Scham dem Regen dargeboten – und die süße Erleichterung beim Gießen des Grases…

… als ob das Gras gegossen werden müsste…

Doch dann – plötzlich – stand Mrs Noyes blitzschnell auf und ließ den Saum ihrer Röcke fallen. Sie merkte sogar, wie ihre Hand – unwillkürlich – hochfuhr, um ihr Haar zu befühlen und den Verschluss ihrer Kleidung am Hals zurechtzurücken.

Da war jemand.

Ging zu Fuß…

Mrs Noyes lehnte den Arm an die Stirn, versuchte auf diese Weise ihre Augen vor dem Regen zu schützen.

Jenseits des Flusses am anderen Ufer bewegte sich eine Gestalt, gebückt – stehend.

Mrs Noyes war nahe daran zu rufen. Zu winken. Den Berg hinunterzulaufen. Aber sie tat es nicht. Gerade noch rechtzeitig hielt sie inne und blieb stocksteif stehen.

Vielleicht war das, was da war, gefährlich.

Was könnte es sein?… Oder wer?

Wirkte es nur so klein, weil es so weit weg war – oder war es ein Tier… ein Zwerg… ein Kind?

Eine Sinnestäuschung? Der Geist von irgendjemand? Ihrer Mutter?…

»Ach! Meine Mutter…«

Mrs Noyes rieb sich die Augen.

Nein. Es war nicht der Geist ihrer Mutter und es war kein Trugbild. Es war wirklich jemand da. Eine Person.

 

 

Der Fluss war stark angeschwollen und die Strömung inzwischen so schnell, dass selbst die größten Gegenstände flussabwärts getrieben wurden – ganze Bäume, landwirtschaftliche Fahrzeuge, Wegweiser und öffentliche Hinweisschilder aus den fernen Städten: MARKTSTRASSE und BEKANNTMACHUNG: HIERMIT TEILEN WIR MIT, DASS…

Die Person – wer immer es auch war – versuchte offensichtlich den Fluss zu überqueren, fand aber keine Möglichkeit dazu. Die Untiefe, die sich früher an der breitesten Stelle der Biegung befunden hatte, war jetzt zu einem tiefen, reißenden Wasserfall geworden. Auf und ab ging die Person an der Uferböschung – gelegentlich wagte sie sich bis ins Wasser hinein – und wich dann voller Angst schnell wieder zurück. Mrs Noyes blieb auf ihrem Hang und schaute hinüber, ging unbewusst ein paar Schritte auf die Flussauen zu, wobei sie ihre Schürzen voller Äpfel mitschleppte.

Soweit sie es erkennen konnte – obwohl der Dunst das Sehen sehr erschwerte, jede Gewissheit unmöglich machte –, musste das die Gestalt eines Zwerges sein. Die Beine waren extrem kurz. Vielleicht war es auch ein Kind, dachte Mrs Noyes, und ging wieder unwillkürlich ein paar Schritte weiter. Inzwischen war Mrs Noyes, ohne dass sie es gemerkt hatte, ganz unten am Berghang angekommen; jede neue Gewissheit über die Gestalt am Flussufer brachte sie dazu, wie von einem Magnet angezogen, auf sie zu zu gehen. Die Gestalt trug eine Art Kinderkleid: etwas zerrissen und aus heller Baumwolle. Das Kleid hatte kleine Puffärmel, am Saum eine Rüsche und einen weichen weißen Kragen. Ein ganz schönes Kleid eigentlich, das um die Taille ein breites blaues Band mit einer Schleife hinten hatte.

Eine verstörende Erinnerung stieg in Mrs Noyes’ Kopf auf, während sie das Geschöpf beobachtete, wie es langsam und geduldig zum Fluss hinunter- und wieder zurückging… wie es das Wasser anstarrte… wie es sich bückte – ungeschickt – um es zu berühren, um sicher zu erfahren, dass es wirklich da war… und dann wieder zurückwich – das langsame, fast traurige Grübeln, als es die Steine absuchte und nachdachte, wie es sie nutzen könnte…

Sie.

Lotte.

Es war Lotte, Emmas Schwester.

Mrs Noyes rannte, ließ beide Apfelschürzen fallen, hob ihre Röcke hoch, um schneller über das Gras und über die Straße und über die Steine laufen zu können.

Du lieber Gott – es war Lotte. Allein.

Lotte war Emmas ältere Schwester – obwohl keiner der Noyes jemals erfahren hatte, wie alt sie wirklich war. Sie wussten nur, dass Emma elf war, als sie Japeth angetraut wurde – und das war etwa ein Jahr her. Aber Lottes Alter war unwichtig. Zumindest das Alter ihres Körpers. Was zählte, war ihr geistiges Alter – und das wurde als »irgendwo zwischen zwei und null« geschätzt, wie Noah es beschrieben hatte, ihre eigenen Eltern allerdings sprachen niemals so über sie. Lottes Eltern liebten sie – auch wenn es gefährlich war, ein solches Kind zu lieben. Man musste seine Existenz verheimlichen, und für Lotte hatten ihre Eltern ein Leben abseits vom Leben ihrer anderen Kinder – abseits von jedermann – eingerichtet. Mrs Noyes wusste Bescheid über diese Dinge, denn auch sie hatte vor vielen Jahren ein Kind wie Lotte bekommen. Und sie hatte das getan, was die meisten Leute in dieser Lage taten.

Sie hatte es getötet.

Wenn man es nicht selber tötete, kamen manchmal andere Leute und nahmen einem das Töten ab. Dies war die Regel allerdings nicht Gesetz. Das Gesetz schwieg über so etwas – vielleicht, weil man davon ausging, dass jeder zivilisierte Mensch die Regeln kannte. Eine kurze Zeit hatte Mrs Noyes die Regeln missachtet; sie hatte es ihrem verbotenen Kind erlaubt zu leben, so wie es Lotte erlaubt wurde zu leben; die Folgen waren tragisch. Sie hatte das Kind in seinem allzu kurzen Leben lieben gelernt – und das war ihr Verhängnis. Mrs Noyes hatte ihr unwillkommenes Baby ihren Paria – nie vergessen – und auch nicht, wie sie es verloren hatte. Deshalb hatte sie Lottes Eltern, weil sie den Mut hatten, sie zu behalten, bewundert, doch sie hatte sich ihretwegen auch Sorgen gemacht (»um sie getrauert« wäre ein noch besseres Wort), denn das Schicksal eines solchen Kindes war unerbittlich.

 

 

Mrs Noyes konnte sich noch erinnern, wie sie das allererste Mal auf Lotte aufmerksam wurde.

Eines Abends – Monate vor Japeths und Emmas Hochzeit – Monate vor ihrer Verlobung – war sie zum Fluss gegangen, um in der Dämmerung nach Flusskrebsen zu suchen. Mottyl war bei ihr. Es war Frühling oder vielleicht gerade Frühsommer. Alle Bäume am Waldrand jenseits des Flusses trugen blasse junge Blätter und ihr Duft, der Duft ihres süßen triefenden Harzes, erfüllte die Luft. Mit seinem Vogelgezwitscher und Lemurengeschnatter, mit seinem Dunst und seinem blassen orangefarbenen Licht war der Abend wie verzaubert. Mrs Noyes hatte zusätzlich zu ihrem Eimer auch eine Laterne mitgenommen – obwohl sie diese erst später würde anzünden müssen. Sie nahm an, dass man sie nicht zu deutlich sehen konnte (ihre Röcke waren gerafft und ihre Sandalen hatte sie weit hinter sich auf die Steine geworfen), denn hell war es nur am anderen Ufer. Am Wasserrand bückte sie sich. Sie hob Kieselsteine auf, versuchte die Krebse nicht zu erschrecken, und ihre Finger tasteten durchs Wasser, als ein Schatten – oder eine Spiegelung – ihren Blick anzog… Mit dem Kopf nach unten gingen Leute im Wasser spazieren… sie hörte Lachen.

Mrs Noyes schaute auf und da erblickte sie Lotte zum allerersten Mal. Lotte – mit dem Holzfäller und seiner Frau – erst dachte sie, die beiden würden ein Haustier spazieren führen. Bis sie bemerkte, dass das »Haustier« ein Kleid trug.

Da bummelten, trödelten, schlenderten die drei im Abendlicht, so wie Mrs Noyes es auch gerne tat – Vater und Mutter hielten Lotte an einer Hand –, und Mrs Noyes stand wie verwandelt da, denn dieses Bild zeigte ihr eine Art von Wonne und Glück, die sie selbst hinter sich gelassen hatte, die sie sich und ihrem Kind durch ihre Einwilligung in seine Ermordung verweigert hatte.

 

 

Mrs Noyes drang durch den Dunst – behielt das Kind ständig im Blick, bewegte sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Warum schreist du nicht? Vielleicht hört sie dich…

Nein. Es würde sie erschrecken.

Mrs Noyes stolperte zum hundertsten Mal und fiel auf die Knie, dort, wo das Gras an den Hochwasser führenden Fluss grenzte. Als sie sich im Knien zurücklehnte und auf die Fersen setzte, dachte sie, dass ihr Körper von Schmerzen und blauen Flecken allmählich genug hatte.

»Verdammt noch mal – es tut weh, wenn man hinfällt«, sagte sie laut.

Jemand hörte sie – und da war eine Geräuschfläche, die durch das Gras huschte.

Feen? Am Fluss? Das war unerhört. Sie gingen niemals zum Fluss. Sie könnten von der geringsten Strömung erfasst und weggespült werden.

Kletterten sie etwa an ihr empor?

Mrs Noyes tastete mit ihren schmerzenden Fingern die nassen Falten ihrer Röcke und Schürzen ganz sorgfältig ab – und fühlte in ihren Taschen. Doch sie fand nur ihre schmutzigen Stofffetzen und die übliche Sammlung von zerrissenen Spitzenhauben und Schnurresten… Sie tastete auch ihre Schultern ab – aber auch da waren keine Feen.

Keine.

Trotzdem war sie sicher, dass sie ganz in der Nähe waren, und sie sprach zu ihnen. »Ihr solltet besser nicht hier sein«, sagte sie – ohne genau zu wissen, wohin gewandt sie es sagen sollte. »Es ist gefährlich…«

Wieder eine Geräuschfläche – sie bewegte sich links von ihr und dann parallel zu ihrer hockenden Gestalt in einer Entfernung von etwa acht Schritten. Mrs Noyes sprach sie direkt in ihrem »Mutterton« an; ausnahmsweise war sie froh, dass sie ihre Stimme fast verloren hatte. Bestimmte Sorten von Menschenstimmen – jede Stimme, wenn sie laut war – konnten die Feen wie ein Orkan wegblasen und sie in die Bäume schleudern. Mrs Noyes dachte an das letzte Mal, als sie den Feen zugerufen hatte – damals, als sie über das Haus flogen und das verbotene Zeichen für das Unendliche gemacht hatten, was – wie Luci ihr später erklärt hatte – eine Warnung war: Die Zeit ist nicht das, wofür du sie hältst. Sei auf der Hut! Jetzt war es an Mrs Noyes, die Feen zu warnen.

»Ihr solltet über die Straße und in den Wald zurückgehen, wo ihr hingehört und wo ihr sicher seid«, sagte sie. »Der Fluss birgt Lebensgefahr.«

Sie konnte sie jetzt sehen – das heißt, sie konnte die Druckstelle sehen, wo sie standen; es war offensichtlich eine sehr große Versammlung – vielleicht sogar eine ganze Gemeinde: hunderte, die mindestens einen Quadratmeter durchnässten Grases bedeckten. Das Geräusch kam näher – aber nur ein Teil, und es kam grüppchenweise. Vielleicht schickten sie ihr eine Delegation. Das Geräusch, das sie machten, klang, als würden sich Kristalle bilden – Klänge wie von Glas, »fast wie Windspiele«, hatte Mrs Noyes Hannah einmal erklärt, die noch nie Feen gesehen oder gehört hatte. »Windspiele – aber ohne…« Mrs Noyes fand es sehr schwierig, das Geräusch zu beschreiben. Der Klang war einmalig.

»Ja?« Mrs Noyes sprach zum Boden gewandt; ganz aufrecht saß sie auf ihren Fersen und zog ihr Tuch um die Schultern. »Klettert bloß nicht an mir hoch«, sagte sie. »Ich werde gleich gefährlich für euch. Ich werde jetzt den Fluss überqueren, um das Kind da drüben zu holen – ihr würdet ertrinken.«

Irgendwo unten an ihrer Hüfte fand eine Konferenz statt.

Mrs Noyes wartete und spähte durch den Dunst nach Lotte, die immer noch am anderen Ufer auf und nieder ging. Ihr Kleid war jetzt triefnass. Vielleicht hatte sie versucht den Fluss zu überqueren, während Mrs Noyes von den Feen abgelenkt wurde.

»Sagt mir schnell, was ihr von mir wollt!«, sagte sie.

Im Gras war ein Raunen, dann spürte Mrs Noyes, wie ein Zittern über ihre Haut lief. Die Delegation bestieg sie – wie die Arche –, sie kletterte an ihrem Oberschenkel empor und auf ihren Arm…

»Aber – ich werde doch durch den Fluss gehen«, protestierte sie; sie hatte Angst um die Feen. »Versteht ihr denn nicht – ihr werdet sterben…« Dann dachte sie: Warum fliegen sie nicht? Was ist nur mit ihnen los? Vielleicht sind sie krank… »Ich werde schwimmen müssen«, sagte sie. »Versteht ihr nicht?« Aber all ihre Proteste waren vergebens. Die Delegation stieg weiter hoch, an ihrem Ellbogen vorbei und über die Falten ihres Tuches auf ihre Schultern zu. Sie fühlte, wie sie dort verharrte – und sie wartete, ohne sich zu rühren.

Dann wurde ein Signal gegeben – eine Art gläserner Schrei –, und Mrs Noyes sah, wie das Gras wogte – und sie hörte ein wellenhaft ansteigendes Feengeräusch. Sie strömten auf sie zu – alle –, eilten herbei, um sich den anderen auf ihren Schultern hinzuzugesellen.

»Dann beeilt euch!«, sagte sie. »Wenn ihr unbedingt mitkommen wollt, müsst ihr euch beeilen. Das Kind wird nicht warten – und ich auch nicht.«

Sie konnte fühlen, wie hunderte von ihnen sich auf ihren Oberschenkel, die Rippen hoch, auf ihren Arm und über ihr Tuch drängten, genauso wie die anderen zuvor, und sie warnte sie, sich in ihren Taschen zu verstecken, auch wenn sie ihnen bequem und sicher vorkamen. »Die werden unter Wasser tauchen«, sagte sie.

Als alle Feen »an Bord« zu sein schienen, erklärte sie: »Ich richte mich jetzt auf. Haltet euch fest!« Und schwankend erhob sie sich auf die Füße. Die Feen waren fast gewichtslos, doch ihre Menge genügte, um sie etwas aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie konnte fühlen, dass sie sich über ihre Schulter zu ihrem Hals bewegten; einige klammerten sich schon an ihren Haaren fest.

»Jetzt gehe ich vorwärts«, sagte sie. »Ich mache einen Schritt nach vorn.«

Sie tat es – und währenddessen kletterten die Feen in ihre Haare und banden sich fest.

 

 

Der Fluss war warm – so warm wie der Regen –, aber die ehedem seichten Stellen reichten Mrs Noyes jetzt bis zu den Knien und dann, sehr bald, bis zu ihren Oberschenkeln, ihrer Taille, ihrer Brust… Auf halber Strecke – nein, so weit war sie noch nicht gekommen – wurde ihr klar, dass sie einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Sie hätte Lotte erst rufen müssen, denn wegen der Feen in ihren Haaren konnte sie jetzt überhaupt nichts mehr von sich geben. Die Lautstärke ihrer Stimme würde die Feen sofort abwerfen. Sie konnte nur…

Beten, dachte sie beinahe, darum, dass Lotte keine Angst hat, wenn sie mich kommen sieht.

Aber ich werde nicht beten: nicht zu Dir, der Du dort oben vor lauter Rache verrückt geworden bist. Nie mehr werde ich zu Dir beten. Ich werde zu irgendwem – irgendwas – beten – beten werde ich

Zum Fluss.

Ja.

Lieber Fluss – bitte – lass zu, dass ich bis zur anderen Seite durchkomme. Ich bitte um deine Barmherzigkeit und deine Vergebung – dass ich dich unbefugt überquere. Aber dort drüben ist ein Kind – und das Kind hat Angst vor dir – und es will – es muss zur anderen Seite gebracht werden. Nur ich kann es hinüberbringen – bitte – lass mich durchAmen.

Und – ach ja – ich bitte auch um deine Barmherzigkeit für diese erschrockenen Geschöpfe, die mich begleiten.

Aus ihren Haaren kam ein singendes Geräusch, als hätten die Feen ihr Gebet gehört, und sie fühlte, wie sie sich noch fester anklammerten, sich in ihre Kopfhaut hineindrückten, als sie genau die Mitte des Flusses – und den allerschlimmsten Teil der Strömung – erreichte.

Einen entsetzlichen Augenblick lang spürte Mrs Noyes, wie ihre Füße weggezogen wurden, und sie wandte sich stromaufwärts und drückte sich gegen die Strömung und bewegte sich seitlich – wie ein Krebs.

 

 

Lotte schaute jetzt vom Ufer aus zu – sie war die Böschung hinaufgestiegen. Sie starrte durch den Regen und hatte die Hände auf den Kopf gelegt, es sah aus, als hätte sie Mrs Noyes erkannt – vielleicht –, denn sie wartete und machte keine Anstalten wegzulaufen.

»Lieber Fluss, bitte…«, betete Mrs Noyes.

Und die Feen flüsterten, vielleicht beteten sie auch. Wenn nicht – so sollten sie es schleunigst lernen.

Die Kleidung von Mrs Noyes war mit Wasser voll gesogen – in der Strömung bauschte sie sich – zog an ihr – zerrte sie stromabwärts. Wieder drehte sie sich, ihre Arme, gerade noch über dem Wasser, streckten sich nach dem anderen Ufer, und Lotte schaute zu. »Bitte – lass nicht zu, dass ein Kind sieht, wie ich ertrinke…«

Mrs Noyes stemmte sich gegen die Wucht des Flusses, mit all der ihr verbleibenden Kraft, bis sie ganz allmählich merkte, dass die Tiefe nachließ. Ihre Achselhöhlen und das Brustbein ragten bereits aus dem Wasser, dann waren ihre Brüste frei, und der Wasserdruck verlagerte sich, bis sie ihn hauptsächlich um ihre Taille spürte, und sie dachte, dass sie jetzt in Sicherheit sei – dass sie das andere Ufer erreicht hätte und noch lebte –, als sie ganz plötzlich absackte und vollkommen untertauchte.

Die Feen werden ertrinken! Oh, Jahwe – du Bastard!

Sie schlug um sich, bis sie wieder an die Oberfläche kam – sie fuchtelte gegen den reißenden Sog der Untiefe unter ihr – irgendwo war da ein großes Loch. Verzweifelt versuchte sie mit den Zehen den Boden zu erreichen, doch er sackte immer wieder weg.

Als die letzte Kraft ihre Arme und Beine verließ und ihre Lungen gerade dabei waren, sich mit Wasser zu füllen – sie hustete und spuckte und war sich sicher, dass sie sterben würde –, fühlte Mrs Noyes endlich feste Felsen unter ihren Fersen. Das Loch lag hinter ihr.

 

 

Sie musste sich ans Ufer ziehen; als Haltegriffe benutzte sie die Äste ufernaher Sträucher – zu denen sie betete: »Haltet, bitte!« Mit einem letzten Zug hievte sie sich auf den Lehm oberhalb des Wasserpegels, die Arme ausgestreckt und ihre Hände im platt gedrückten Unkraut.

Lotte steckte die Finger in den Mund und starrte.

Mrs Noyes blickte auf und sah sie – und ein großes, breites Lächeln brachte Lottes Zähne alle zum Vorschein und ganz langsam fing sie an, vor Vergnügen auf und ab zu wippen.

Mrs Noyes kroch über den Lehm und das Unkraut und die Felsen, bis sie dachte, dass sie genug Kraft hätte, um aufzustehen. Als sie stand, bedeutete sie Lotte, zu schweigen, und führte ihre Finger zu ihren Haaren.

»Seid ihr noch da? Seid ihr noch da?«, flüsterte sie den Feen zu.

Zuerst sah es aus, als würde sie keine Antwort erhalten, aber dann – ganz langsam – bewegte sich etwas, etwas kitzelte, und ein Geräusch wurde hörbar, ganz schwach.

Mrs Noyes ging die Uferböschung weiter hinauf und, so nahe sie es wagte, an die Bäume heran; deren Anblick verursachte auf ihrer Kopfhaut große Aufregung.

»Soll ich euch zu Boden lassen?«, fragte Mrs Noyes. »Die Bäume könnten gefährlich sein, wisst ihr. Dies ist der Forst, nicht euer Wald.«

Die Antwort war ein Ziehen an fast jedem Haar auf ihrem Kopf.

»Gut – dann werde ich hier niederknien und euch runterlassen.«

Mrs Noyes kniete sich hin und senkte den Kopf wie beim Gebet, bis er den Boden berührte. Die Feen drängten allesamt nach vorne, schrien und sangen und standen schließlich vor ihr im Gras. Mrs Noyes blickte auf und schaute sie an. Lotte kam und stellte sich neben sie – streckte die Hand aus, damit sie sie festhielt. Offensichtlich verstand sie, dass die Feen anwesend waren, denn auch sie starrte den Boden vor Mrs Noyes an, die Stelle, wo das Unkraut niedergedrückt und ganz besonders nass war.

»Auf Wiedersehen«, sagte Mrs Noyes. »Auf Wiedersehen – und alles Gute!«

Ein Glockenton schwoll an – ganz gläsern –, ganz eindeutig: ein Hurraruf!

Danke.

Mrs Noyes nickte und stand auf; immer noch hielt sie Lottes Hand. Die Erde vor ihnen wurde von einem breiten Schweif des immer leiser werdenden Feengeräusches gefegt – und weg waren sie.

Aber nicht weit weg. Als hätte die Zerreißprobe im Fluss ihre Kräfte auf magische Weise wiederhergestellt, gingen die Feen auf die Riesenbäume los, deren heraussickerndes bernsteinfarbenes Harz offensichtlich ihre Grundnahrung war. Einige Feen schafften es sogar zu fliegen – aber ihr Flug war sehr kurz und sie hoben kaum vom Boden ab.

Jetzt kletterten sie – flatterten, kämpften sich hoch zu den klebrigen Harztropfen, und als sie sie endlich erreichten, entstand eine solche Aufregung und ein solches Entzücken, dass es wie ein Aufstand war – fast eine Orgie. Irgendwie würde das Harz sie retten – das war sicher: so wie die Äpfel Mrs Noyes gerettet hatten. Und Mrs Noyes fragte sich, wie es möglich war, dass sie den Bäumen in ihrem Leben so wenig Achtung geschenkt hatte.

Lotte begann zu plappern und zu weinen. Sie war so lange allein am Fluss gewesen, dass sie alle Hoffnung aufgegeben hatte, jemand würde kommen und sie retten.

»Wo sind denn deine Eltern?«, fragte Mrs Noyes.

Lotte schwieg.

»Sind sie in die Stadt gegangen?«

Lotte schüttelte den Kopf und sah auf ihre Füße.

»Sind sie zu Hause?«

Wieder schüttelte Lotte den Kopf; sie wich Mrs Noyes’ Blick aus.

»Bist du weggelaufen?« (Nein.) »Weiß jemand, wo du bist?« (Vielleicht.) »Solltest du hier auf jemand warten?« (Eigentlich nicht. Nein.) »Lotte. Sag mir die volle Wahrheit!…« Mrs Noyes biss sich auf die Lippe, bevor sie die letzte Frage stellte. Sie fürchtete, dass sie die Antwort kannte – und sie wollte sie nicht bestätigt haben. Dennoch – die Frage musste gestellt werden. »Haben sie dich hier zurückgelassen?«

Lotte legte die Arme hinter den Rücken und scharrte mit den Füßen auf dem Boden, während sie die Lippen spitzte und über die Antwort nachdachte.

»Lotte…? Sag es mir!«

Lotte blickte auf. Ihre Augen waren voller Tränen.

»Haben sie dich verlassen?«

Ja.

Mrs Noyes lief zu ihr hin, warf sich vor dem Kind auf die Knie und umarmte es. »Keine Sorge«, sagte sie. »Ich werde dich durch den Fluss bringen. Ich werde dich durch den Fluss und auf den Berg bringen… siehst du, wohin ich meine?« Mit dem Finger zeigte sie in die Ferne und Lotte schaute ihm nach. »Wir werden zusammen den Berg hinaufgehen und dort in Sicherheit sein. Das verspreche ich dir. In Ordnung?«

Lotte nickte und legte ihre Arme um Mrs Noyes’ Hals. Mrs Noyes küsste sie und erhob sich, das Kind hielt sie noch immer. Sie schaute auf den Fluss; er war jetzt noch breiter und tiefer als vorher. »Das kann ich wirklich gut – Flüsse überqueren und Leben retten…« Um Lottes willen versuchte sie zu lachen. »Gerade habe ich all diese Feen gerettet. Hast du sie gesehen? Es waren hunderte.«

Lotte nickte. Sie spielte herum – fingerte an Mrs Noyes’ Kleid – nahm die Kordeln am Halsausschnitt und lutschte daran.

»Du musst nur eines tun«, sagte Mrs Noyes: »Auf meine Schultern klettern und dich festhalten! In Ordnung?«

Lotte nickte.

»Also rauf mit dir!«

Mrs Noyes hievte Lotte auf ihren Rücken und ging die Uferböschung hinunter.

»Hab keine Angst!«

 

 

Das Erste, was sie beim Überqueren der Böschung sahen, war eine große Gruppe Schafe, alle tot, die den Fluss hinuntertrieben.

Weiter draußen war eine große, flache Leiche, die man nicht erkennen konnte – langsam drehte sie sich in der starken Strömung –, eine Leiche so groß, dass sie eine ganze Sammlung von Schutt vor sich herschob – kaputte Stühle und eine Glasvitrine; Schuhe, die irgendjemandem gehört hatten, und einen Sonnenhut.

Mrs Noyes wich zurück. Etwas – eine menschliche Hand vielleicht – hatte unter der Wasseroberfläche ihren Knöchel ganz leicht berührt. Sie konnte es nicht riskieren, Lotte in so etwas hineinzuziehen; das Kind würde vor Angst verrückt werden. Schon jetzt brüllte sie und schlug Mrs Noyes aus Protest auf die Schulter.

Nein.

Es musste eine andere Möglichkeit geben hinüberzukommen.

Die nächste Brücke war meilenweit weg. Sie würden sie vor Einbruch der Dunkelheit niemals erreichen.

Mrs Noyes setzte Lotte auf den Boden und hielt sie an der Hand fest.

»Hab keine Angst!«, murmelte sie. »Ich verlange nicht von dir, dass du durchs Wasser gehst. Ich werde irgendeine Methode finden, eine Brücke zu machen…«

Sofort sah Lotte verständig zu den Bäumen hoch. Schließlich waren ihr Vater und ihre Brüder Holzfäller gewesen. Lotte hatte bestimmt oft zugesehen, wie Bäume gefällt wurden. Vielleicht auch, wie Brücken gebaut wurden. Aber wie sollte Mrs Noyes das ohne Axt schaffen? Es war unmöglich. Vielleicht durch Drücken?

Trotz ihrer Zweifel ging sie hin und begutachtete die Bäume, um zu sehen, ob man irgendwelche durch Drücken bewegen könnte – und während sie das prüfte, war ihr Rücken dem Fluss zugekehrt. Lottes Rücken dagegen nicht – und nach einem Augenblick fing sie an, Mrs Noyes sehr fest an ihrem Ärmel zu ziehen.

Schließlich drehte sich diese um und schaute und sah: ein Wunder auf dem Fluss – ein Mann in einem Ruderboot.

»Hallo!«, rief sie.

Der Mann hörte sie nicht.

Mrs Noyes lief zum Flussufer, Lotte klammerte sich an sie, und rief nochmals: »Hallo!«

Der Mann reagierte auch diesmal nicht.

Vielleicht war er taub. Vielleicht war das Geräusch des tosenden Wassers auf dem Fluss lauter als am Ufer.

Mrs Noyes winkte.

Nichts.

Der Mann saß allein in dem Ruderboot – er saß genau in der Mitte und er hielt die Ruder in seinen Händen. Er schien sich auf seine Tätigkeit zu konzentrieren, obwohl sehr wenig Kraft hinter seinen Bemühungen erkennbar war. Das Ruderboot hatte sogar angefangen, sich in den Strudeln herumzudrehen und kam jetzt langsam auf das Ufer zu.

Mrs Noyes betrachtete den Mann im Boot genauer – dazu musste sie sich weit nach vorne lehnen…

Und dann traf sie eine Entscheidung.

»Du musst hier warten, Lotte. Versprich mir, dass du dich nicht vom Fleck rührst! Ich gehe nur hin, um dem netten Mann dabei zu helfen, sein Boot ans Ufer zu bringen. Dann können wir ans andere Ufer rudern. Wird das nicht wunderbar sein?«

Schon rutschte und glitt Mrs Noyes die Böschung hinunter; dann tauchte sie bis zur Taille ins Grauen des Wassers ein. Etwas berührte sie ständig – zupfte an ihr – klatschte unter der Wasseroberfläche gegen sie, und verbissen stieß sie dieses Etwas mit dem Fuß weg und ignorierte es.

Das Boot zu erreichen war relativ einfach. Es war sehr nahe herangetrieben, sie musste es lediglich am Heck packen und einmal kräftig ziehen.

Als sie das tat, fiel der Mann über seine Ruder nach vorne. Ich werde sagen, dass er schläft, entschied Mrs Noyes. Ich werde ihn einfach in den Bug setzen und ihr sagen, dass der arme Mann erschöpft ist, weil er von den Städten bis hierher gerudert ist.

Es war offensichtlich ein Mann aus der Stadt mit sehr feiner Kleidung und gepflegten Fingernägeln. Er konnte noch nicht sehr lange tot sein, denn seine Leiche war noch ziemlich beweglich, als Mrs Noyes ihn in den Bug verlagerte und ihm eine würdige Haltung – den Kopf gesenkt und die Arme gefaltet – verlieh.

Herzinfarkt, meinte sie. Glück gehabt.

»Komm, Lotte, es geht los!«

 

 

Lotte kauerte im Heck, Mrs Noyes saß ihr gegenüber und ruderte. Glücklicherweise verdeckte Mrs Noyes’ beachtliche Gestalt den Bootsbesitzer wirksam vor den Augen des Kindes. Lotte hatte die Geschichte von der Überanstrengung und Erschöpfung offenbar völlig akzeptiert.

Mrs Noyes versuchte nicht das Wasser, sondern nur das gegenüberliegende Ufer anzuschauen, als sie sich ab und zu umdrehte und über ihre Schulter sah.

Es waren keine Schafe mehr da – das war ein Segen. Allerdings gab es viele Gegenstände – am erstaunlichsten eine komplette Wäscheleine; die Kleidung einer ganzen Familie – Mutter, Vater, Kinder, Säuglinge – hing noch daran und winkte aus dem schlammigen Wasser.

 

 

Als sie am anderen Ufer ankamen, erklärte Mrs Noyes Lotte, dass der schlummernde Herr (»Ist er nicht ein Bild der Bequemlichkeit?«) seine Reise wahrscheinlich gerne fortsetzen möchte, auch wenn er schlief. Er würde sicher vor Erreichen seines Zieles wieder aufwachen – also sollten sie ihn ruhig weiterfahren lassen.

»Ade«, sagte sie. »Geh in Frieden!« Worauf sie das Ruderboot sanft in die Mitte des reißendes Stromes zurückstieß. Binnen weniger Augenblicke war es fort und mit ihm ihr ahnungsloser Retter.

Nachdem sie ein paar Äpfel gegessen hatten, gingen Mrs Noyes und Lotte – Hand in Hand – den Berg hinauf. »Hab keine Angst!«

Emma wurde hinausgeführt und musste mit Doktor Noyes und Hannah unter dem schwarzen Regenschirm stehen und vom Deck der Arche hinunterschauen.

Als sie Lotte erblickte, schrak Emma zurück. Sie hatte Angst. Lotte war ein Geheimnis und schon vor langer Zeit hatte Emma schwören müssen, dass sie niemals von Lottes Existenz erzählen würde. Und jetzt stand sie hier, wo jeder sie sehen konnte. Auch wenn Emma sich freute, als sie ihre Schwester erblickte, machte sie Anstalten, sich zu verstecken. Doch Hannah schob sie auf ihren Platz zurück und Doktor Noyes hielt sie mit einer Hand am Nacken fest.

»Bist du sicher«, fragte Mrs Noyes – an ihren Mann gewandt –, »dass Hannah mithören soll, was ich zu sagen habe?«

Das warf Noah förmlich um. Er hatte zwar geahnt, dass hinter Mrs Noyes’ Schachzug ein Trick steckte, doch einen Trick unter der Gürtellinie, darauf war er nicht gefasst. Er überlegte einen Augenblick, ob es schaden könnte, falls Hannah bleiben würde. Er und seine Frau hatten sich so endgültig entschieden, das Thema Lotte und… andere Lotte-ähnliche Kinder… niemals zu erwähnen. Er konnte nicht glauben, dass Mrs Noyes wirklich vorhatte, ihr Geheimnis zu verraten. Und doch – sie kämpfte um ihr eigenes und Lottes Leben – was nur bedeuten konnte, dass ihr alle Mittel recht waren.

Er nickte und wandte sich an Hannah.

»Geh hinein!«, sagte er. »Ich werde dich rufen, wenn das hier vorbei ist.«

Hannah musste eine Menge Selbstbeherrschung aufbringen, um ihre Neugierde zu bändigen und ein höfliches »Ja, Herr Schwiegervater« als Antwort herauszupressen. Widerwillig reichte sie Emma den schwarzen Schirm und schärfte ihr ein: »Vergiss nicht, es gibt viel zu tun! Wenn das hier vorbei ist, erwarte ich dich in der Kombüse.«

Emma zog ihr Taschentuch (einen Lumpen) heraus und putzte sich die Nase, dabei nahm sie den Schirm in die andere Hand. Doktor Noyes ließ ihren Nacken los und sie stand jetzt duldsam neben ihm und hoffte, dass das, was jetzt geschehen würde, ein gutes Ende nehmen möge.

Als Hannah sicher außer Hörweite war, blickte Doktor Noyes auf seine Frau und Lotte hinunter und sagte: »Na gut. Sag mir, was du zu sagen hast! Aber denk dran… Emma ist hier, um sich von ihrer Schwester zu verabschieden – nicht um sich wunders was anzuhören.« Er zog seine Roben zurecht, seufzte ganz tief und fuhr fort: »Ich nehme an, du möchtest verhandeln. Also…«

»Hier wird nicht verhandelt«, sagte Mrs Noyes. »Ich habe vor, an Bord zu kommen – und Lotte kommt mit mir.«

»Träum nur weiter!«, sagte Doktor Noyes. »Das wird nicht geschehen.«

»Oh, doch. Wenn nicht, werde ich nämlich Emma sagen, warum sie wirklich als Japeths Frau ausgewählt wurde…«

»Bitte, dann sag es ihr!«, sagte Noah.

Mrs Noyes war verblüfft, doch sie versuchte ihre Reaktion nicht zu zeigen. Stattdessen lachte sie kurz auf und wies den Vorschlag zurück. »Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte sie. »Du kannst unmöglich wollen, dass es bekannt wird.«

»Ich sagte: ›Bitte, dann sag es ihr!‹, oder?«

»Ja. Aber…«

»Bitte, sag es ihr!«

Mrs Noyes – unsicher geworden – drückte Lottes Hand ein bisschen fester und hustete, bevor sie wieder sprach. Ihre nächsten Worte waren an Emma gerichtet.

»Es tut mir Leid, dir das sagen zu müssen«, fing sie an. »Es kommt mir unfair vor. Du und ich, wir haben unsere Meinungsverschiedenheiten gehabt – aber ich liebe dich, Em – das muss ich sagen, bevor ich anfange.«

Die Worte bewirkten, dass es plötzlich still wurde. Selbst Doktor Noyes war beeindruckt. Emma hörte mit nüchternem Interesse zu und offensichtlich mit einer Ehrfurcht seiner Frau gegenüber, die er nie zuvor bemerkt hatte.

Mrs Noyes fuhr fort – sie musste die Stimme nur so viel heben, dass man sie bei dem Regen verstehen konnte.

»Man hat dir immer eingeredet«, sagte sie zu Emma, »dass eure Familie die einzige sei, die ein Lotte-Kind gekriegt hat. Das ist schlicht und einfach nicht wahr. Andere Leute bekommen sie ebenfalls – auch Doktor Noyes (sie sah ihn fast zärtlich an) und ich. Wir hatten ein Lotte-Kind. Vor achtzehn Jahren.«

Emma erschrak, aber sie schwieg. Es stimmte: Man hatte ihr immer erzählt, dass Lotte einzigartig sei – und dass man sie nie erwähnen dürfe. Andere Leute würden das nicht verstehen… Sie blickte erst Mrs Noyes an, dann Lotte, die sie abgöttisch liebte – und zum Schluss Doktor Noyes, der sich abwandte.

»Es gibt etwas, was du vielleicht weißt, vielleicht auch nicht«, sagte Mrs Noyes. »Vor vielen Jahren hatten der Doktor und ich eine ganz andere Familie. Viele viele Kinder – zehn, um genau zu sein. Aber sie sind alle gestorben. Die Pest ging um, weißt du, und hat sechs getötet. Sechs wunderbare Kinder – tot, einfach so.«

Doktor Noyes warf ihr einen missmutigen Blick zu und sagte: »Mach weiter!«

Mrs Noyes fuhr fort: »Die anderen vier Kinder starben aus anderen Gründen: Unfälle, Fieber, Tiere. Doktor Noyes und ich brauchten sehr viel Zeit, um uns von all diesen Todesfällen zu erholen. Wir liebten unsere Kinder sehr…«

»Mach weiter, meine Liebe!«

Mrs Noyes hustete. Dann sagte sie: »Mit der Zeit fingen wir wieder an. Andere Kinder. Mehr. Eine ganz neue Familie. Als erstes dieser Kinder kam Sem – eine Zeit lang war er der Einzige, der am Leben blieb. Wir bekamen – ich weiß nicht mehr genau – noch zwei oder drei, die starben. Dann Ham. Und dann…«

Plötzlich hustete Doktor Noyes, sehr heftig und laut.

»Willst du nicht, dass ich es sage?«, fragte Mrs Noyes.

Doktor Noyes forderte sie mit einem Wink auf weiterzureden, dann starrte er verdrießlich in die Ferne.

»Als Japeth geboren wurde…«, begann Mrs Noyes – aber sie konnte nicht weiter.

Emma – die mit gerunzelter Stirn ganz konzentriert dastand und deren Finger sich am Griff des Schirmes beim Zählen bewegten, rief plötzlich: »Achtzehn!«

Mrs Noyes wartete ab.

»Japeth ist achtzehn«, sagte Emma.

Mrs Noyes nickte. Lotte zappelte, also hob sie sie hoch und hielt sie unter ihr Tuch; unter ihrem Kinn schaute nur der Kopf des Kindes hervor.

Ein wilder, wahnsinniger Blick der Verständnislosigkeit stand in Emmas Augen. »Aber du hast gesagt, dieses andere Lotte-Kind wurde vor achtzehn Jahren geboren…«

Dieses Mal nickte Mrs Noyes nicht einmal. Sie ließ Emma reden.

»Willst du mir sagen…. dass…?« Nein. Es war unmöglich. Japeth war nicht wie Lotte. »Ich verstehe nicht«, sagte Emma endlich, völlig perplex.

»Japeth hatte einen Zwilling«, sagte Mrs Noyes.

Stille.

»Oh, nein«, sagte Emma leise. »Du willst sagen, er hatte einen Zwilling wie Lotte?«

»Das stimmt.«

Wieder Stille – dann nochmals: »Oh, nein.«

Mrs Noyes fragt ihren Mann. »Willst du immer noch, dass ich weitererzähle?«

Noah murrte. »Mach Schluss!«, sagte er. »Bringen wir es hinter uns!«

»Gut«, sagte Mrs Noyes zu Emma: »Jetzt kommst du an die Reihe. Du und Lotte.«

Emmas Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie war jetzt äußerst misstrauisch und fragte sich, was in aller Welt als Nächstes kommen würde.

»Ich war’s, fürchte ich, die Lotte als Erste sah«, sagte Mrs Noyes. »Und – wie eine Närrin – konnte ich es nicht für mich behalten. Es war eben so großartig, nach so langer Zeit noch ein Kind zu sehen, das genauso war wie Japeths Bruder…«

»Wo ist Japeths Bruder?«, fragte Emma; sie blickte über die Schulter, als wäre er vielleicht plötzlich aufgetaucht.

»Das erzähle ich dir gleich. Aber zuerst muss ich das mit dir und Lotte erklären. Sonst verstehst du nicht, was mit Japeths Bruder passiert ist – und, weiß Gott, vielleicht wäre es besser, du würdest es nicht verstehen.«

Beim Namen Gottes zuckte Noah zusammen. Automatisch.

»Also«, sagte Mrs Noyes: »Als ich sie sah – Lotte –, rannte ich den Berg hinauf – ich war so aufgeregt – ich rannte die ganze Strecke den Berg hinauf bis nach Hause und erzählte es gleich Noah: ›Es gibt noch einen!‹, sagte ich. ›Noch einen…‹«

Noah unterbrach sie wütend: »Das Kind hatte keinen Namen!«

»Oh doch«, sagte Mrs Noyes. »Du weißt verdammt gut, dass er einen Namen hatte. Er hieß Adam.«

»Hör auf damit!«

»Er hieß Adam«, sagte Mrs Noyes. »Und – als ich Lotte sah, hatte ich meinen Adam wiedergesehen, und ich habe es dir gesagt! Ich habe es dir gesagt…« Sie wartete einen Augenblick, bis sie sich wieder gefasst hatte. »Na ja… ich hätte es ihm nicht sagen sollen. Ich hätte es für mich behalten sollen, wie deine Eltern verlangt hatten, die wollten, dass es geheim bliebe. Aber ich hatte sie unten am Fluss gesehen – als sie spazieren gingen – und Lotte zwischen ihnen. Sie sahen so glücklich aus… Nein. Nicht glücklich. Traurig. Traurig. Und mein Herz flog ihnen zu – mein Herz war gebrochen und ich dachte, wie wunderbar es sei, dass es Leute gab, die den Mut und den Stolz… die genug Liebe hatten, um ein solches Kind zu behalten. Und ich dachte: Noah verdient es zu wissen, dass es noch eins gibt. Er verdient es zu wissen, dass andere Leute solchen Kindern das Leben ermöglichen. Dass wir Unrecht haben. UNRECHT!«, schrie sie Noah an. »Unrecht!«

Er wandte sich ab – stumm.

Emma wartete – vielleicht konnte sie erraten, was mit Adam geschehen war – sie wusste aber noch nicht, was es mit ihr und ihrer Ehe mit Japeth zu tun hatte.

Mrs Noyes verriet es ihr.

»Ich hätte es Doktor Noyes nicht sagen sollen«, sagte sie. »Ich werde es mir nie verzeihen – und es tut mir Leid. Ich hatte vergessen, wer er ist. Und…« Sie hielt inne. »Es tut mir Leid – weil Lotte der Grund ist, warum wir dich als Japeths Frau ausgesucht haben. Als Noah von Lotte erfuhr, hatte er zuerst Angst. Das Auftauchen von anderen Kindern, die so waren wie das unsere, hätte bedeuten können, dass sich vielleicht jemand erinnern würde – obwohl er genau wusste, dass es niemanden gab, der sich erinnern könnte. Niemand außer mir – und natürlich ihm selbst… Aber er dachte eine ganze Nacht hindurch an Lotte: Die ganze Nacht hindurch dachte er an Lotte. Der nächste Morgen kam – ich wusste genau, dass er nicht geschlafen hatte – und er kam in die Küche und sagte zu mir: ›Du kennst die Leute mit diesem Kind?‹ Und ich sagte: ›Natürlich. Er bringt mir das Holz. Sie klöppelt meine Spitzen.‹ Ich fragte, warum er es wissen wollte. Und er sagte: ›Das geht dich nichts an…‹ Das geht dich nichts an. Du lieber Gott – ich sollte dir niemals verzeihen«, sagte sie zu Noah. Dann, zu Emma gewandt: »Wir gingen dann hinüber zu ihnen – und er bat darum, die Töchter deines Vaters zu sehen. Er wusste natürlich, dass man Lotte nicht herzeigen würde. Aber das machte nichts. Was er wissen wollte, war: Gab es rein zufällig eine Tochter im heiratsfähigen Alter für Japeth – unseren Sohn? Und das warst du.«

»Warum?«, fragte Emma. »Warum?«

»Das ist eigentlich sehr einfach«, sagte Mrs Noyes. »Als wir den Berg hinuntergingen und über den Fluss setzten, erzählte er mir alles: seinen großen Plan – diese Verschwörung. Wenn Japeth – dessen Zwilling so wie Lotte war – ein Mädchen heiraten würde, dessen Eltern ein Kind wie unseren Adam auf die Welt gebracht hatten – dann würde man die Schuld an zukünftigen Lottes und Adams nicht bei uns suchen: bei Noah Noyes und seiner Frau – beim Vertrauten Jahwes – beim echten Erben des Namens des Alten Adam. Und da Japeth am ehesten ein Lotte-Kind – ein Adam-Kind – zeugen würde, musste man Lottes Schwester Emma den Hof machen und sie einfangen, koste es, was es wolle. Wenn dann ein Kind auf die Welt kam – würde es deins sein – nicht Japeths. Dein Blut, nicht seins; deine Abstammung… dein Defekt… deine Schuld… deine Verantwortung. Und deine Pflicht, das zu tun, was getan werden muss.«

Emma zitterte. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, obwohl sie die Schreie – Schreie der Angst und der Verwirrung –, die aus ihr herausdrängten, noch zurückhielt. »Was?… Was bedeutet das: ›Was getan werden muss‹?«, fragte sie.

»Was wir mit Adam getan haben. Deine Eltern haben sich geweigert, dasselbe mit Lotte zu tun.«

Emmas Blick erstarrte.

Mrs Noyes schloss die Augen und drückte Lotte eng an sich. Das Kind war fast eingeschlafen, und sie schaukelte es ein bisschen hin und her, bevor sie weitersprach. »Wir haben ihn getötet«, sagte sie. »Ich habe es getan…« Sie schaute Noah an. »Wir haben es getan.«

Regen.

Und die ungestellte Frage: wie?

Mrs Noyes schaute auf Lotte hinunter und legte die Hand über ihre Ohren. »Wir haben ihn ertränkt«, sagte sie. »Nicht unten im Fluss. Er war damals nicht tief genug. Wir haben ihn im Teich ertränkt. Keiner sonst wusste es. Japeth war noch ein Baby, einen Tag alt. Und Sem und Ham… schickten wir weg. Sie haben ihn also nie gesehen. Und keiner von ihnen weiß es, bis heute.« Mrs Noyes schaute jetzt zu Noah…: »Außer natürlich Emma sagt es ihnen.«

Doktor Noyes verlor merklich an Haltung. Er sackte förmlich zusammen.

»Sie braucht es nur einmal herausplatzen zu lassen… dann sind all deine klug ausgeheckten Pläne für die Katz gewesen. Allerdings bin ich sicher – wenn Lotte an Bord wäre, hätte Emma nichts zu sagen. Und wenn ein solches Kind auf die Welt kommt, was der Fall sein kann – oder aber nicht –, dann wird die Ursache offensichtlich sein. Das ist mein Angebot, Noah. Und ich glaube, dass auch Emma um Lottes willen auf diesen Handel eingehen wird.«

»Ja«, sagte Emma. »Ja, ich bin einverstanden.« (Sie begriff das alles zwar noch nicht ganz, hatte aber genug erfahren, um zu kapieren, dass das, wozu sie ja sagte, Lottes Leben retten würde, und nur das zählte.) »Oh ja«, sagte sie, »ich bin einverstanden.«

Doktor Noyes hatte noch immer nichts gesagt.

Jetzt blickte er auf seine Frau herab – und endlich meinte er: »Na gut. Du hast gewonnen, meine Liebe. Du darfst das Kind an Bord bringen.«

Mrs Noyes traute ihren Ohren nicht. Sie hatte nicht mit einem Sieg gerechnet.

»An Bord?«, fragte sie.

»Ja«, sagte Noah. »Bring sie an Bord – aber vorläufig noch nicht unter Deck. Du musst mir Zeit geben, es unseren Söhnen zu sagen. Ich muss eine Ausrede suchen, warum ich das Edikt missachte.« Fast zärtlich schaute er Lotte an, die jetzt in den Armen seiner Frau fest schlief. »Ich werde sagen, es habe einen Todesfall gegeben. Das werden sie verstehen. Ich werde sagen, es habe einen Todesfall gegeben und… dieses Kind (wie er das Wort aussprach, klang nach Widerwillen – fast nach Abscheu)… an Bord dürfe als ein…«

»Ersatz«, half Mrs Noyes nach.

»Ja, ja. Ein Ersatz. Sie werden verstehen. Sie werden verstehen müssen.«

Als er ausgeredet hatte, wurde Noah wieder ganz der Alte – seine Haltung war wieder gerade, vielleicht richtete er sich auf die Begegnung mit seinen Söhnen ein – und er nahm den schwarzen Regenschirm aus Emmas Händen und ging damit zur Eingangstür unter der Markise zurück. »Ich werde nur einen Augenblick brauchen«, sagte er. »In der Zwischenzeit darfst du sie an Bord bringen.«

Er verschwand in die Finsternis hinter der Tür und Emma brach in Freudentränen aus.

»Schhh… schhh… schhh«, machte Mrs Noyes. »Wir dürfen sie jetzt nicht wecken. Lass sie schlafen – und wenn sie aufwacht, wird sie drinnen in Sicherheit sein.«

Emma strahlte vor Freude und putzte die Nase und wischte sich die Augen, dann ging sie über das Deck zu der Öffnung, wo der Landungssteg war.

Mrs Noyes – die sich wie ein ganzer Siegeszug fühlte – stapfte durch den Schlamm und die Pfützen und ging, Lotte fest gegen ihre Brust gedrückt, den Landungssteg hinauf. Wenn nur Mottyl da wäre, dann gäbe es nichts mehr zu erkämpfen – und sogar die Gräuel der bevorstehenden Sintflut wären annehmbar.

Als sie über die Schwelle trat und – endlich – dort stand, wo sie es nie für möglich gehalten hatte – an Bord der Arche, das Deck unter ihren Füßen –, küsste sie Lotte auf den Kopf und flüsterte: »In Sicherheit, endlich. Du bist endlich in Sicherheit – wie ich versprochen habe.«

Sie hätte es besser wissen müssen.

 

 

Als Noah auf das Deck zurückkehrte, kuschelten sich seine Frau und seine Schwiegertochter unter der Markise aneinander und das Kind schlief immer noch in Mrs Noyes’ Armen. Aber nicht seine Söhne kamen mit ihm, sondern die anscheinend allgegenwärtige Hannah, die eine Wolldecke trug und lächelte.

»Die arme kleine Kreatur ist bestimmt durchnässt«, sagte sie zu Mrs Noyes, während sie über das Deck ging. »Lass mich sie nehmen und sie in dieser Decke wärmen!«

»Nein«, sagte Mrs Noyes. »Ich halte sie lieber selbst.« Hannah wandte sich, Hilfe suchend, an Doktor Noyes. Aber der schien nicht beunruhigt zu sein. Vielleicht hatte er so eine Reaktion erwartet.

»Wo sind Sem und Ham und Japeth?«, fragte Mrs Noyes. »Und Luci? Wo sind sie alle?«

»Unter Deck«, sagte Doktor Noyes; er verscheuchte den bloßen Gedanken an sie. »Ich dachte, du würdest dich über die Decke freuen, meine Liebe. Eine sehr aufmerksame Geste von Hannah – du solltest sie nicht zurückweisen. Ich hätte gedacht – unter den Umständen…«

Er schaute seine Frau auf eine Weise an, die ihr bedeuten sollte, dass ihre List nicht funktionieren würde, wenn sie das Kind Hannah nicht aushändigte.

»Lass sie doch das Kindchen nehmen«, sagte er mit widerwärtiger Süße. »Schwester Hannah wird schließlich bald Mutter sein. Die Übung wird ihr gut tun…« Er lächelte seine dienstälteste Schwiegertochter an.

Hannah lächelte zurück.

Mrs Noyes, die sich über Hannahs Motive nie sicher war – nicht einmal, wenn sie lächelte –, fühlte sich dennoch gezwungen das zu tun, was von ihr verlangt wurde.

Ganz zärtlich und umsichtig löste sie die Arme des Kindes von ihrem Hals, küsste es und hielt es Hannah und der Decke entgegen.

Hannahs Mund öffnete sich.

»Aber – es trägt ein Kleid!«, sagte sie.

Ihre Überraschung bei dieser Entdeckung schien ganz echt zu sein. Aber Mrs Noyes war zu sehr darauf konzentriert, das Kind nicht zu wecken, als dass sie mehr hätte herausbringen können als: »Sei still! Wir müssen sie schlafen lassen.«

»Natürlich«, sagte Hannah – nahm Lotte und wickelte die Decke um das noch schlafende Kind. Dabei tat sie eine Äußerung, die für Mrs Noyes noch seltsamer war als die anderen Bemerkungen, die sie von ihr, seit der Begegnung mit Lotte, vernommen hatte. »Ich hätte nie gedacht, dass sie so lieb sein können«, sagte Hannah. Wahrhaftig seltsam, dass eine schwangere Frau so etwas über ein Kind sagen sollte.

Hannah trat zur Eingangstür und Mrs Noyes und Emma wollten folgen. Doch Doktor Noyes schritt dazwischen – mit ausgestrecktem Arm.

»Was machst du?«, fragte Mrs Noyes.

»Ihr müsst warten«, sagte Noah.

Mrs Noyes geriet – schlagartig – in Panik.

»Lass mich vorbei!«, sagte sie. »Lass mich vorbei!«

Sie schlug mit Fäusten auf den Arm, sogar auf das Gesicht ihres Mannes ein und schrie in Richtung Emma: »Lass nicht zu, dass Hannah sie nimmt! Halt sie auf! Halt sie auf!«

Doktor Noyes stellte Emma ein Bein, als sie vorbei wollte, und seine Frau schleuderte er hinter sich, mit einem Schlag, der sie gegen die Wand schmetterte. Seit der Tötung der Tiere hatte es nicht mehr so viel Gewalt gegeben – und das aus gutem Grund. »O Gott!«, schrie Mrs Noyes lauthals. »O Gott! O Gott!… « Sie zerriss sich fast die Stimmbänder. »O GOTT!«

 

 

Japeth tötete sie.

Und auch wenn Mrs Noyes es ihr niemals verzeihen würde – Hannah war am Geschehen nicht beteiligt gewesen. Sie hatte nur getan, was man ihr gesagt hatte, und Lotte, in die Decke eingewickelt, durch die Tür getragen.

Japeth hatte – wie sein Vater befohlen hatte – vor den Augen seiner Mutter und Emmas verborgen, gewartet und sobald Hannah drinnen war, ihr Lotte weggenommen und, während sie schlief, den Hals aufgeschlitzt. Hannah erlitt einen Schock, da das Kind vor ihren Augen umgebracht wurde, und man fürchtete, sie würde ihr Kind verlieren. Sie sperrte sich in ihre Kajüte ein und sprach zwei Tage lang nicht.

Da man Mrs Noyes und Emma daran gehindert hatte, Hannah zu folgen, waren sie noch an Deck, als Japeth mit Lottes Leiche herauskam.

Noah sagte: »Gib sie deiner Mutter! Lass sie trauern! Du – geh und reinige dich! Du hast Blut im Gesicht und an den Armen.«

Japeth schob Mrs Noyes die Leiche zu.

Mrs Noyes stand mit dem Rücken an der Wand, wo Noah sie hingeschleudert hatte. Wortlos – lautlos – nahm sie Lotte an sich und fiel auf die Knie, das Kind und sein Blut an den Schürzen auf ihrem Schoß. Das Baumwollkleid war zerrissen – und der weiche weiße Kragen scharlachrot. Mrs Noyes legte das Kind so, dass sein Kopf an ihrem Herzen lag – sie hielt es, ohne sich zu bewegen – und starrte auf den Regen.

Emma konnte – ausnahmsweise – überhaupt nicht weinen. Sie lief ein paar Schritte und blieb am Bug der Arche stehen; der einzige Laut, den sie hervorbrachte, war eine Art Lied.

Doktor Noyes ging einfach weg; er zog sich in seine Kajüte zurück.

Nach etwa einer halben Stunde war drinnen Lärm auf der Treppe zu hören und Ham kam auf das Deck gerannt.

»Mutter?…«

Er stand vor ihr – kniete sich vor sie hin – wollte ihre Hände nehmen.

Mrs Noyes konnte ihm nur zuflüstern. »Bitte«, sagte sie, »versteh doch; versuch nicht mich zu trösten, während die Toten in meinen Armen liegen.«

Ham lehnte sich auf die Fersen zurück und blieb im Regen hocken. Er wollte so lange wie nötig wachen und warten.

Luci kam auch – mit ihrem zerfetzten Papiersonnenschirm –, stellte sich neben ihn und schaute Mrs Noyes und Lotte mit ihrem seltsamen grünen Blick an. Ihr langes, federngeschmücktes Kleid war nicht einmal nass – trotz der vielen Löcher im Sonnenschirm –, ihr knochiges Gesicht allerdings war mit schwarzer Wimperntusche verschmiert.

Endlich stand Mrs Noyes auf (und Ham) und hob das Kind dem Regen entgegen.

»Es gibt keinen Gott«, sagte sie. »Es gibt keinen Gott, der dieses Kindes würdig wäre. Also gebe ich es an die Welt zurück, wo es hingehört.«

Dann drückte sie Lotte wieder an sich und schritt mit einem Blick auf Ham und Luci, als Dank dafür, dass sie Wache gehalten hatten, zum Landungssteg und ging hinunter.

»Ade«, sagte Ham. Doch es war nicht klar, ob das an seine Mutter oder an Lotte gerichtet war. Seltsamerweise hatte er nicht einmal laut gesprochen.

 

 

Japeth reinigte sich mit Bürsten, mit Bimsstein und schließlich mit Asche. Es war sehr schmerzhaft – auch wenn seine Haut wegen des vielen Schrubbens, mit dem Bemühen, die blaue Färbung loszuwerden, gegen Schmerzen ziemlich immun geworden war.

Er gehorchte, ohne darüber nachzudenken; so war er schon immer gewesen. Als sein Vater ihm also sagte, er müsse sich reinigen, tat er es ohne Protest. Er hielt es allerdings für seltsam, dass man so viel Getue machte. Schließlich hatte er nur einen Affen getötet. Und ein Affe war nur ein Tier. Nichts Menschliches.

 

 

Mrs Noyes trug Lotte den Berg hinunter zum Gebäudekomplex – den ganzen Weg sprach sie zu ihr – hielt Lottes Kopf an ihre Brust, legte den Handballen gegen die Wunde und die Finger an Lottes Wange – und sie sagte: »Es regnet jetzt viel schlimmer als vorhin. Es gießt wie aus Eimern. Macht nichts. Nicht, wenn man durch den Fluss gegangen ist, nicht wahr? Du und ich – Veteranen der Flusskriege… Wer schert sich den Teufel darum, wenn es regnet? Ich nicht; du nicht. Er ist auch ganz heiß geworden – nicht wie der schöne Regen, den wir beide hatten, du und ich – und die Feen – den weichen, warmen Regen. War er nicht herrlich?« Sie fing an schneller zu gehen. »Wir laufen jetzt den Berg hinunter. Spürst du das? Hoppalahopp! Rirarutsch! Schwuppdiwupp, da kommen wir!«

Mrs Noyes rutschte ein Stück den Pfad hinunter, der zu Schmiere geworden war – fing sich wieder und ging weiter; mit den Fersen trat sie Stufen in den Schlamm, da wo die Steine gelockert und dann weggespült worden waren. Bald war sie wieder unter den Bäumen – es war ihr Lieblingsabschnitt auf dem Weg zwischen dem Altar und den Gebäuden –, unter den breiten, hohen Zedern, wo Ham früher verschwunden war, um die Sterne zu beobachten; morgens kam er wieder zu ihr hinunter und breitete alles, was er gefunden hatte, auf dem Küchentisch aus: »Dies ist der Wolfsstern, Mutter – am Morgen rot, am Abend rot…« Jetzt waren alle Sterne weg.

»Was kümmert das uns, Lotte? Warum soll uns das etwas ausmachen? Zur Hölle mit den ganzen Sternen!«

Sie schielte durch die triefenden Bäume nach oben. »Warum ertränkst du nicht auch sie – du Schweinehund! Ertränk doch die Sterne! Wer schert sich schon drum? Und den gottverdammten Mond! Wer braucht ihn denn? Ich nicht – wir nicht…«

Der Pfad wimmelte jetzt von Fröschen und Kröten, die alle Richtung Arche hinaufgingen.

»Kehrt um!«, sagte Mrs Noyes. »Dort wird man euch nicht willkommen heißen. Hockt euch unter eure Pilze! Tut das, was ich jetzt auch tun werde: Begrabt die Toten und dann feiert! Endlich frei, nicht wahr, Lotte? Keine Flüsse mehr zu überqueren. Uns schickt keiner mehr in den Regen hinaus.«

Da war das Haus.

Sie konnte das Dach sehen – mit dem Moos und den Schlingpflanzen, den Dachziegeln, den Kaminen, den Nestern, sogar den Störchen.

»Habt ihr keinen Verstand?«, schrie sie ihnen zu; der Schrei war eigentlich nur ein Flüstern. »Warum hockt ihr immer noch da, begreift ihr denn nicht, ihr blöden, blöden Störche! Das Ende der Welt naht!«

Beim Anblick ihres Hauses weinte sie vor Zorn. Es hatte doch ein Zufluchtsort sein sollen. Wozu waren Häuser sonst gut? Warum sonst vier Wände hochziehen und ein Dach darauf setzen? Sogar die Störche wussten die Antwort darauf – und die Mäuse und die Ratten, die in den Wänden gelebt hatten, und die Spinnen in den Ecken und die Rüsselkäfer in den Dielen. Sogar eine Termite wusste das!

»Macht nichts«, sagte sie und tätschelte Lotte den Rücken. »Wir wissen, wozu Häuser da sind. Ich hätte die Störche nicht anbrüllen sollen. Was bin ich für eine Närrin. Das Dach ist alles, was sie noch haben.«

Sie hatte die Terrasse erreicht, wo sie früher Sonnenblumen gezüchtet hatte – die letzte Ebene vor den Stufen, die zum Badhaus und zu den Latrinen führten. Von hier aus konnte sie den Hof sehen – das Krematorium, wo die verkohlten Leichen der Rinder, Schafe und Ziegen, der Hunde, Ochsen und Pferde verstreut lagen. Raben und Bandikutratten und Geier verrichteten ihre Arbeit – trotz des Regens.

»O Gott…«, sagte sie.

Lotte.

»Hier kann ich dich nicht lassen. Hier kann ich dich ihnen nicht überlassen…«

Mrs Noyes kehrte um und rannte den Weg hinauf auf die Zedern zu. Aber sie war noch keine zehn Schritte gegangen, da hielt sie an.

»Ich kann dich nirgendwo lassen.«

Oder?

In ihrer Verzweiflung drehte Mrs Noyes sich noch einmal zur Terrasse und den Stufen um. Und zum Beinhaus, das einst ihr Zuhause gewesen war.

 

 

»Wo ist deine Mutter?«, fragte Noah Ham auf dem Deck der Arche.

»Weg«, sagte Ham.

»Das sehe ich wohl. Aber wohin?«

»Ich weiß es nicht, Vater. Ich bin nicht mitgegangen.«

Luci kicherte unter dem sich langsam auflösenden Sonnenschirm.

Noah, dessen schwarzer Regenschirm dem Wolkenbruch ohne einen einzigen Riss, ohne ein Loch standhielt, schleuderte Luci einen Blick entgegen – sagte aber nichts.

»Ich glaube nicht«, sagte er zu Ham, »dass dies der richtige Augenblick ist, um leichtfertig zu sein.«

»Im Gegenteil, Vater, ich hätte gedacht, dass all unsere Gebete Leichtigkeit zum Thema hätten.«

Wieder Kichern – Luci, die auf einem Fuß stand, drehte sich geziert weg.

Noah wurde rot; er erkannte, dass Ham allmählich die Oberhand gewann; das durfte nicht sein – vor allem nicht vor dieser kichernden, weiß geschminkten Geisha. »Und was genau willst du mit dieser Bemerkung sagen?«

»Ich meine nur, dass es klug sein könnte, uns an Gott zu wenden, falls die Arche nicht schwimmt.«

Noah warf wieder einen Blick auf Luci; er wollte sehen, ob sie auch diesmal kichern und ihm damit zeigen würde, ob die Bemerkung lustig war.

Offensichtlich war sie es nicht; Luci schwieg.

»Ich weise dich darauf hin«, sagte Noah zu Ham, »dass, wenn deine Mutter nicht an Bord dieses Schiffes gebracht wird – und zwar noch heute – es vollkommen gleichgültig ist, ob es schwimmt oder nicht.«

»Das weiß ich, Vater.«

»Was gedenkst du also zu tun?«

»Ich könnte sie ja suchen, Vater. Vorausgesetzt, Sie würden es erlauben.«

»Ja. Ja. Ich würde das erlauben.«

»Danke, Vater.« Ham machte einen Schritt in Richtung Landungssteg.

»Und nimm deine Frau mit!«

»Ja, Vater.«

 

 

Mrs Noyes setzte Lotte, zusammengerollt, als würde sie schlafen, in ihren Schaukelstuhl. Ihr Affenkörper ähnelte dem eines Menschenkindes so sehr, dass Mrs Noyes erschrak und laut sagte: »Aber das ist ein Menschenkind! Lotte ist von Menschenfleisch geboren wie mein Adam; macht sie das nicht zum Menschen?« Die einzige Antwort, die ihr darauf zuteil wurde, war der kollektive Schrei fressender Vögel.

Mrs Noyes wusste nicht, was sie tun sollte. Wo in aller Welt könnte sie Lotte lassen – sie in Sicherheit lassen? Es war so gut wie unmöglich, angesichts des zunehmenden Niederschlags ein Grab auszuheben. Auf keinen Fall konnte sie Lotte irgendwo draußen lassen – wo alle Aasfresser sich bei den Leichen der geopferten Tiere gesammelt hatten – und sie konnte sie auch nicht einfach im Stich lassen. Dafür hatte sie das Kind zu sehr geliebt.

Wenn doch nur noch ein Krug mit Gin übrig wäre!

Und es müsste noch einen geben.

Müsste. Über die Jahre hatte sie so viele Krüge mit Gin hier draußen versteckt.

Sie inspizierte das Rankgitter und die Trompetenwinde – aber sie gaben nichts preis.

Die Kiste, worauf sie ihren Fuß gestützt hatte?

Nichts.

Die Fußbodendielen…

Ja! Das war’s. Oh – bestimmt (sie lag schon auf den Knien und brach sich die Fingernägel beim Versuch, die Planken aus Zedernholz anzuheben) – bestimmt wäre etwas hier. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre muss ich mindestens zweihundert Krüge unter diesen Brettern versteckt haben. Dreihundert.

Endlich gelang es ihr, zuerst eine Planke, dann noch eine anzuheben, und sie legte sich flach auf den Boden um darunter schauen zu können.

Da unten war es kühl – und es roch so herrlich nach Erde und verwelkten Blättern und alten Spinnweben. Sie streckte ihre kurzen Arme aus, so weit es ging – zuerst den einen, dann den anderen.

Ah!

Ja! Ja!

Ein – zwei – drei Ginkrüge.

Aber waren sie voll – halb voll – oder leer?

Wie Kristallvasen zog sie die Krüge heraus, entsetzt bei der Vorstellung, sie könnte sie kaputtmachen. Bitte. Bitte. Bitte.

Bete, Lotte, bete!

 

 

Seit dem Beginn des Regens hatte Mrs Noyes keinen Tropfen Gin mehr gekostet – Noah hatte jeden einzelnen Krug, den sie besaß, zertrümmert oder, genauer, Japeth mit dem Zertrümmern beauftragt. Zumindest – jeden einzelnen Krug, den sie finden konnten.

Diese drei waren ihnen entgangen.

Halleluja!

Und da Mrs Noyes seit dem Beginn des Regens keinen Gin mehr gekostet hatte, war sie seit Jahwes Besuch auch nicht angeheitert oder gar betrunken gewesen.

»Oh, Lotte…« Sie sang es fast, wie eine Totenklage. »Wenn du all das nur gesehen hättest, als es noch lebendig und himmlisch schön war. Die Veranda – die Aussicht, die sie bot –, meine Katze… den Hof, ohne die Toten… der Blick über die Rasenflächen… den Berg – das Wunder der im Nebel schwebenden Bäume. Die vielen Lemuren, wenn sie die Sonne anschrien, und die Vögel im Flug – oh – Lotte! Wenn du doch jene Welt nur hättest sehen können! Sie sah so – sie duftete so – sie war so kühl. Eine halbe Stunde – eine ganze Stunde, jeden Tag –, man musste nicht schlafen, um träumen zu können. Alles war da draußen – so echt wie du und ich. Wunderbar! Hier draußen habe ich gesungen. Ich und Mottyl. Jeden Abend haben wir gesungen, jede Nacht… und manchmal ging ich dort hinein – zurück ins Wohnzimmer – dann spielte ich und spielte. Und sang. Oh – ich machte sie alle verrückt!«

Sie lachte.

»Aufhören! Aufhören! Aufhören! Haben sie dann geschrien. Hör mit dem Katzenjammer auf! Hast du kein Erbarmen? HÖR AUF! Aber ich hörte nicht auf. Niemals, niemals! Ich wurde nur leiser – und sang weiter. Weitersingen – darauf kommt es an.« Mrs Noyes nahm einen langen, kräftigen Schluck und genoss das lange, heftige Brennen, das er auslöste – im Mund – im Hals – in der Brust – im Magen… Mehr. Mehr.

Sie betrachtete das Kind, das in ihrem Schaukelstuhl schlief.

»Ich möchte wetten, dass du niemals ein Klavier gehört hast. Vielleicht hast du nicht einmal jemand singen hören. Hast du? Hast du? Horch… Ich weiß was. Ich werde dir jetzt das erste und das letzte Lied, das du jemals hörst, vorspielen. Warte einen Moment! Warte…«

Mrs Noyes, die jetzt sehr angeheitert war, drängte durch die Tür ins Wohnzimmer, und zündete eine Lampe an. Ihre Ginkrüge neben sich aufgereiht – setzte sie sich auf die Klavierbank, auf der Mottyl früher neben ihr gesessen hatte – und nahm einen mächtigen Zug Gin, der sie prusten und husten ließ. Dann fing sie an zu spielen.

Sie spielte »Das Rätsellied« und sie spielte »In einem kühlen Grunde«. Sie spielte »Mariechen saß weinend im Garten«, »Die Lorelei« und »Es flog ein kleines Waldvöglein«. Sie spielte »Es ist ein Schnee gefallen« und »Kein schöner Land in dieser Zeit«, »Der Winter ist vergangen, ich seh des Maien Schein«, »Es waren zwei Königskinder«, »Der Mond ist aufgegangen«, »All mein Gedanken, die ich hob«, »Wahre Freundschaft soll nicht wanken«, »Wir hatten gebauet ein stattliches Haus«, »Sah ein Knab ein Röslein stehn« und »Es blies ein Jäger wohl in sein Horn«. Immer weiter spielte sie… nippte dabei an ihrem Gin… sie brach geradezu in Gesang aus, auch wenn ihre Stimme so dürftig war, dass es zum »Ausbrechen« nicht reichte, sie war nur noch der klägliche Überrest von dem, was man früher als Kreuzung zwischen einem schwebenden Sopran und einem schwankenden Alt bezeichnen konnte. »Ade zur guten Nacht«, »Weiß mir ein Blümlein blaue«, »Ach, wie ists möglich dann« und »Wach auf, meins Herzens Schöne«.

Zum Schluss spielte sie wie immer das, was Ham einst ihre »Lieblingslieblinge« genannt hatte – die drei Lieder, die ihren Kopf – ihre Stimme – ihren Rücken – das Klavier und die Klavierbank, die Ginkrüge, Mottyl und alles – unweigerlich aufrichteten, bis das ganze Haus vor Schwingungen und Widerhall zitterte. Diese drei Lieder waren: »Lang, lang ists her«, »Es tagt, der Sonne Morgenstrahl« und der schwungvolle, pochende Ruf: »Die heilige Stadt«.

 

Jerusalem.

 

Sie war fertig. Es war vorbei.

Sie nahm den Fuß vom Pedal – und der letzte Akkord hallte noch im Raum – als wollte das Klavier alleine weitersingen.

Dann der Gin und die Stille und ein Donnerschlag.

Keine Musik mehr: nie mehr.

Mrs Noyes stand auf – vom Widerhall der Lieder in ihrem Kopf ganz schwindelig – vor Hunger sehr geschwächt – vom Gin taumelnd. Sie tanzte, torkelte durchs Wohnzimmer, fiel fast durch die Tür zur Veranda, wo sie am Türrahmen zusammensackte und Lotte zuflüsterte: »Das war’s. Mehr Lieder gibt es nicht…«

Aber Lotte hatte sie nicht gehört.

Ob tot oder lebendig, sie war weg.

Der Schaukelstuhl war leer.

 

 

Einen verrückten Augenblick lang fing Mrs Noyes an, nach ihr zu rufen.

»Lotte? Lotte?…«

Nicht auf der Veranda und nicht im Wohnzimmer. Nicht in der Küche – nicht in der Speisekammer. Wo – wo – wo?

O Lotte, was habe ich getan?

Mrs Noyes ging zur Veranda zurück. Sie war hier. Sie war genau hier, genau da. Im Schaukelstuhl.

Bleib ruhig!

Noch etwas Gin.

Mrs Noyes warf den Kopf in den Nacken und trank, bis der Gin ihr aus den Mundwinkeln und das Kinn hinunterfloss, und als sie den Kopf nach vorn neigte, um das Verschüttete aufzufangen, fing sie mit den Augen auch den Himmel ein.

Raben.

Jehova!

Mitsamt dem Ginkrug rannte Mrs Noyes los; an jedem Nagel und jedem vorstehenden Teil, den die Veranda und die dazwischen stehenden Bäume und Zäune und Himbeerstauden aufwiesen, zerriss sie ihre Tücher und Röcke und Schürzen. Es schüttete jetzt und der Regen war so heiß, dass er beim Aufschlag auf den Boden zischte, und all die Geier – all die Raben – all die Bandikutratten dampften, während sie die verkohlten Reste der Rinder, Schafe und Ziegen in Stücke rissen.

»Verschwindet! Haut ab! Verdrückt euch!«

Mrs Noyes sauste zwischen die Aasfresser, schlug mit den Armen und verschüttete ihren Gin, schwenkte ihre Tücher über dem Kopf.

»Weg mit euch! Weg mit euch! WEG!«

Sie war außer sich, und obwohl sie Lotte nicht gesehen hatte, fürchtete sie – mit einer entsetzlichen, widerlichen
Sicherheit –, dass sie sie dort unter den anderen Leichen finden würde.

Es war leichter, die Geier zu vertreiben als die Raben, die einfach zur Seite hüpften – und die Ratten huschten vor ihr weg, sie konnte sie nicht erreichen – zuerst rannten sie auf allen vieren, dann blieben sie neben einem halb verbrannten, halb verzehrten Kadaver stehen und stopften die Backentaschen mit Fleisch und den Mund mit Innereien voll. Dieser Anblick versetzte Mrs Noyes in eine solche Wut, dass sie sich bückte und Steine, Kiesel, Felsbrocken – was sie auch erwischte – aufhob und sie nach den Raben und Ratten warf. Sie spuckte sie sogar an – und wenn sie nahe genug kam, verpasste sie ihnen einen Fußtritt.

»Haut ab!«

Einmal stolperte sie über einen Kuhkadaver, reichte hinunter, entriss dem Rückgrat eine Rippe und fing an, damit herumzufuchteln.

Dann entdeckte sie sie.

Genauer gesagt, entdeckte sie ihr Kleid mit dem Band.

Lotte lag mit dem Gesicht nach unten zwischen den Schafen; ihre langen pelzigen Arme waren auf beiden Seiten weit ausgebreitet, ihr Kleid zeigte unzählige Löcher, wo die Raben versucht hatten, an ihr Fleisch zu gelangen.

Mrs Noyes kniete im Schlamm und in der Asche nieder und deckte Lottes Körper mit dem eigenen zu.

Sie sprach nicht. Es gab nichts zu sagen.

Sie wagte kaum anzuschauen, was sie gefunden hatte, aber sie wusste, es würde ihr nicht erspart bleiben. Als sie die Leiche umdrehte, um sie in die Arme zu nehmen, sah sie, dass Lotte keine Augen hatte.

Mrs Noyes erstarrte.

Dann stand sie auf und trug das tote Kind – unter ihrem Kopftuch – fort. Als die Vögel herunterstürzten, um sie sich zu holen, ging sie einfach weiter; wie betäubt versetzte sie den Ratten Fußtritte und stapfte über die Rinder. Sie ging zur Veranda und durch das Wohnzimmer, am stummen Klavier vorbei zur Küche – wo sie Lotte endlich auf dem Erntetisch ausbreitete, sich neben sie setzte und weinte.

 

 

Mrs Noyes ging nach oben und schleppte ihre Aussteuertruhe – holterdiepolter – die Treppe hinunter und über die rauen Schieferplatten des Flurs. In der Küche holte sie alle Bahnen holländischen Brokats und chinesischer Seide und ägyptischer Baumwolle heraus. Mrs Noyes hatte das alles niemals benutzt. Es sollte dann einmal ihren Töchtern gehören, die alle gestorben waren, und dann den Schwiegertöchtern – den Enkelinnen – den Urenkelinnen. Nun. So weit war es nicht gekommen. Während einer seiner fundamentalistischen Säuberungsaktionen hatte Noah angeordnet, dass alles, was nicht weiß oder schwarz, braun oder grau war, sündhaft sei, und so wurde die ganze Sammlung von Brokat, Seide und Leinen weggeräumt.

Auch Krüge mit Knöpfen – Schachteln mit Schnallen – lange seidene Hüllen mit Bändern – kostbare Papierpäckchen mit Nadeln – Spulen mit Garn und Karten voller Metallhaken für Rückenteile von Kleidern waren in der Truhe.

Mrs Noyes betastete all diese Dinge – nippte am Gin – und fragte sich, warum sie alle unbenutzt verkümmerten. Sie waren zwar unwichtig – hatten nur mit den Träumen zu tun, die umsonst geträumt worden waren – vor zehntausend Jahren, als sie selbst ein Kind – ein Mädchen – eine Braut war. Von Fenstern mit Vorhängen geträumt hatte und von langen weichen Kleidern und von Hüten, deren Bänder auf ihren Rücken herabhingen, und von Stühlen mit Sitzflächen aus Brokat und von Samtkissen…

Sie lachte auf.

Eine Arche staffierte man nicht mit holländischem Brokat aus.

Nun gut. Sie warf alles durcheinander auf den Boden und ignorierte es.

Außer den Nadeln. Außer dem Garn. Außer den Knöpfen.

 

 

Mrs Noyes wickelte Lotte, ihre Affenarme über dem Herzen gefaltet, fest mit den langen dünnen Unterrockstreifen ein, die von ihren Obstgartenfäustlingen übrig geblieben waren. Den Kopf mit dem herunterhängenden Unterkiefer und seinem wunderbaren unerschütterlichen Grinsen ließ sie frei. Sogar im Tode lächelte Lotte. Und dieses Lächeln war fast eine Art Rache. Wenn nur Doktor Noyes sie jetzt sehen könnte! Ich bin ein Affe – aber ich hatte eine menschliche Mutter und ich hatte einen menschlichen Vater, sagte das Lächeln. Ich wurde geliebt – ich wurde umsorgt – ich wurde in menschlichen Armen gehalten.

Mrs Noyes verfluchte sich insgeheim, weil sie schwächer gewesen war als Lottes Eltern. Nun gut. Jetzt würde sie für diese Schwäche geradestehen. Lotte würde wie ein Mensch begraben werden.

Sie schloss die Lider über den leeren Augenhöhlen, drückte Messingknöpfe an die Stelle, wo in dem schwarzen Gesicht einst die tief liegenden Augen waren, und nachdem sie das Kind auf die Lippen geküsst hatte, als wolle sie ihm damit versichern, dass ihr Vorhaben keinen Schmerz verursachen würde, nähte sie die Wunde am Hals zu und befestigte dort, wo der blutgetränkte Kragen war, ein leuchtend blaues Band.

Als das alles getan war, faltete sie aus vielen Lagen Brokat ein Kissen, legte es in ihre Aussteuertruhe, hob Lotte auf, legte sie hinein und umgab sie mit all der chinesischen Seide und all dem ägyptischen Leinen – verabschiedete sich von ihr – und machte den Deckel zu.

»Jetzt kann dich keiner mehr kriegen«, sagte sie. »Sie hätten gar keine Chance.«

Danach schleppte Mrs Noyes die Aussteuertruhe wieder durch den Gang und durch den mächtigen eichenen Türrahmen, wo sie sie als Barrikade mitten im Eingang stehen ließ – ein Zeichen gegen die herannahende Flut.

»Jetzt habe ich einen anständigen Drink verdient«, sagte sie, setzte sich auf die Truhe und machte ihren letzten Ginkrug auf.

 

 

»Dein Vater ist also Magier?«, sagte Luci.

»Ja. So etwas Ähnliches«, sagte Ham.

»Kann er Gold herstellen?«

»Er hat’s versucht.«

»Und?«

»Nicht geschafft.«

Luci lächelte. Sie saßen auf einem Felsen unter der dichtesten aller Zedern, wo sie vor Regen fast geschützt waren. Luci streifte das letzte Stück Papier von ihrem Sonnenschirm ab – legte den Bambusrahmen frei.

»Das geht den meisten so«, sagte sie, »es nicht zu schaffen.«

»Den meisten?«, fragte Ham. »Da habe ich aber etwas anderes gehört.«

»Oh?«

»Keiner schafft es«, sagte Ham. »So etwas wie Alchemie gibt es nicht. Naturwissenschaftlich gesehen ist es Unsinn.«

»Muss denn alles naturwissenschaftlich sinnvoll sein, ehe du es glaubst?«

»Fast alles. Das heißt – mir ist schon klar, dass es Ausnahmen gibt… die Musik zum Beispiel. Ja, man kann auch aus der Musik eine Wissenschaft machen – aber wenn man daraus eine Wissenschaft macht, hört sie meines Erachtens auf Musik zu sein. Und wird…«

»Was?«

»Zu vernunftbetont, nehme ich an. Berechnet und mit Bedacht überlegt. Nicht mehr abenteuerlich.«

Ham legte seine Hand auf Lucis Knie. »Ich weiß nicht, wieso ich auf einmal so viel Glück hatte«, sagte er. »Dass ich dich gefunden habe! Die vollkommene Geliebte und die vollkommene Gefährtin. Früher musste ich all diese Gespräche immer alleine führen – nur ich und mein Notizbuch.«

»Hast du nie mit deinem Vater über diese Dinge diskutiert?«

»Mit meinem Vater hat man keine ›Diskussionen‹, Luci. Man hat Auseinandersetzungen und Edikte. Das Problem mit ihm ist: Auch wenn man es ihm wissenschaftlich beweisen kann, findet er irgendeinen Weg, alles zu widerlegen. ›So etwas wie ein Wasserrad gibt es nicht, Junge!‹, rief er. Auch als ich ihm eins gezeigt habe.«

Luci lachte.

»Aber als vulkanische Asche von einem Augusthimmel fiel, war sie ›Schnee‹\ Ein Wunder! Das glaubt er. Wunder und Alchemie. Auch wenn ihm beides nicht gelungen ist.«

»Gut«, sagte Luci und hob den Sonnenschirm über ihre Köpfe. »Eines Tages werde ich es ihm beibringen.«

Ham richtete sich auf und sein Mund stand vor Überraschung offen.

Luci stand auf und wischte den Dreck weg, der von der Zeder auf ihr Federkleid gefallen war. »Komm jetzt!«, sagte sie. »Wir sollen doch deine Mutter suchen.«

Ham sprang auf – wich zurück – von ihr weg. »Aber…« Er starrte den Sonnenschirm an.

»Was hast du nur?«, fragte Luci.

»Er ist…« Ham deutete auf das, was nur Augenblicke vorher ein Skelett aus Bambus war. »Er ist mit Gold überzogen.«

»Das stimmt.«

»Aber…«

»Ich hab es dir gesagt, Schätzchen, nicht wahr?« Sie streckte ihre Hand aus und kitzelte ihn mit ihren geübten behandschuhten Fingern unter dem Kinn. »Eines Tages werde ich es deinem Vater beibringen. Aber im Augenblick ruft die Mutter. Komm!«

 

 

Mrs Noyes saß ganz ruhig und aufrecht und betrunken auf der Aussteuertruhe am Eingang.

Ihrer Vorstellung nach »versperrte sie den Weg«, wie einst der Engel im Garten Eden. Das hier war eine ganz neue Welt, eine Welt, in der einige Leute Schiffe bestiegen und fortsegelten, während andere zurückblieben und in den Bäumen schliefen – ihre Kinder in Aussteuertruhen beisetzten – im Regen saßen und sämtliche Äpfel erbten.

Hätte sich einer das vorstellen können?, fragte sie sich. Dass man mich hier mit dem Obstgarten zurücklässt – mir die Schlüssel zur Weisheit reicht – und sagt…

Ertrinke!

Es machte sie nachdenklich – und sie sackte ein wenig in sich zusammen.

Nun, noch bin ich nicht ertrunken. Noch bin ich hier, am Leben. Immer noch ich – und, tatsächlich, noch mehr ich selbst als zu der Zeit, bevor das alles angefangen hat.

»Hörst du?«, sagte sie und schaute zur Arche hinauf. »Ich bin endlich ich, und zwar ganz. Ob es dir passt oder nicht.«

Nicht wahr, Lotte.

Mrs Noyes sackte jetzt ganz zusammen, ihre Hände drückten auf den unter ihr befindlichen Deckel.

Um ihren Hals schmiegten sich Bänder und in ihrer Hand war ein Apfel – der Apfel war zur Hälfte verspeist, die Bänder – in jeglicher Farbe – verschmolzen mit ihren bunten Tüchern und Schürzen. Mrs Noyes sah aus wie ein wandelnder Flohmarkt: Die Streifen ihres Unterrocks und die Bänder, Stofffetzen, Seile und Schärpen hingen vorne und hinten herab; all ihre Taschen und baumelnden Beutel waren voll gestopft mit Schnurresten, Krügen voll Knöpfen, Spitzenhäubchen und Wäscheklammern, Nadeln, Scheren, Tüten mit Heilkräutern und Heftchen mit Stecknadeln. Säckchen voll Rosenblättern, die sie aus der Aussteuertruhe gerettet hatte. ALTER KRAM SO VIEL DAS HERZ BEGEHRT! Hätte sie als Schild vor sich hertragen können.

Mrs Noyes rülpste und trank noch einen Schluck Gin.

Was nun, alte Frau?

Noch ein letzter Blick auf alles – und dann den Berg hinunter um zu sterben.

ICH WILL NICHT STERBEN.

Aber – ich werde.

Mrs Noyes stand auf und warf mit einer dramatischen Geste die Enden ihrer »Halsbekleidung« über die Schulter. Sie tat es mit so viel Wucht, dass sie fast hinfiel; wie gewöhnlich war sie sich nicht bewusst darüber, wie betrunken sie schon war.

Sie sah zu dem Tierhaufen im Hof – vom Regen gepeitscht und von anderen Tieren angefressen – und wandte sich ihm zu, als wäre er ihre Gemeinde: »Zu wem, zum Teufel, soll man beten, frage ich mich, wenn man leben will und es keinen Gott gibt?«

Sie versuchte das Ganze durch den Wolkenbruch hinweg klar zu fixieren, doch ohne Erfolg – sie sah nur den See, der sich allmählich um die toten Tiere bildete, sah, wie alle so still und stumm dort lagen – keiner von ihnen hatte irgendeine Antwort für sie.

»Vielleicht sollten wir zueinander beten«, sagte Mrs Noyes – sie ging näher auf sie zu, versuchte nicht einmal ihre Füße aus dem Wasser zu heben – ging einfach mitten in den See, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. »Zueinander beten – ist das die Antwort? Wie ich zum Fluss betete, als ich am Ertrinken war…« Sie hielt inne; der Ginkrug hing von ihren Fingern. »Vielleicht – wenn ich zu Mottyl beten würde – könnten wir einander sogar finden. Meint ihr, dass das möglich wäre? Ich hätte nichts dagegen, sie zu finden. Ich meine – wenn ich sie finden könnte – wären wir nicht allein.«

Der Regen war jetzt in ein Prasseln übergegangen – mit Tropfen, so groß wie Tannenzapfen.

Mrs Noyes stieg den Berg hinauf und setzte sich ins Badhaus.

Dort war das Geräusch des Regens gedämpft. Zuber und Eimer und zurückgelassene Handtücher stapelten sich in den Regalen oder lagen auf dem Fußboden. Die großen weißen Laken, in die sich Noah in den Nächten eingewickelt hatte, als er hierher kam, um sich zu reinigen und über den dampfenden Steinen mit Jahwe zu kommunizieren, hingen von ihren Haken wie Kapitulationsfahnen. Das Badhaus war im Augenblick das trockenste Gebäude im ganzen Komplex und Mrs Noyes saß da und genoss die Gerüche von einstmaliger Sauberkeit und Zubern aus Zedernholz.

Etwas huschte vorbei und war nicht mehr zu sehen.

Ratten.

Aber Mrs Noyes hatte keine Lust, sich zu bewegen. Sie hatte keine Angst mehr vor Ratten. Jetzt war sie eine von ihnen.

»Vielleicht ist sie da hineingegangen…«

Es war Luci – gleich vor der Tür.

Mrs Noyes sprang hinter eines der aufgehängten Laken.

Ham trat als Erster ein, gefolgt von Luci.

»Nein. Hier nicht…«, sagte Ham.

»Irgendwo muss sie aber sein. Geh du in den Latrinen nachschauen, ich werde hier weitersuchen.«

Ham ging und sagte: »Bleib nicht zu lang! Vater macht sich sonst Sorgen.«

Nachdem Ham gegangen war, versuchte Mrs Noyes einen Augenblick die Luft anzuhalten. Aber es war unmöglich. Sie seufzte hinter ihrem Tuch, es kam einfach so aus ihr heraus.

Luci beschnüffelte die Luft und zählte auf: Seife und saubere Laken und Zedernholz…

Und Gin.

Durch eine Öffnung in ihrem Laken konnte Mrs Noyes sie beobachten, und einen entsetzlichen Augenblick lang drehte Luci sich um und schaute sie direkt an.

Mrs Noyes schaute zurück.

Dann marschierte Luci zur Tür und machte sie auf – und Mrs Noyes war sicher, dass sie gleich verraten werden würde.

Doch stattdessen trat Luci hinaus und gerade, als sie die Hand ausstreckte und die Tür hinter sich schließen wollte, steckte sie den Kopf noch mal herein und fragte: »Hast du deine Katze gefunden?«

Mrs Noyes sagte: »Nein.«

Luci sagte: »Gib nicht auf! Viel Glück!«

Und dann war sie weg.

Mrs Noyes sagte: »Danke.«

Jetzt blieb Mrs Noyes nur noch der Stall, um sich zu verstecken.

Über den Boxen waren die Namen der Pferde zu lesen: Lili, Betty, Tom und die anderen. Suse, Kaspar und Blackie. Und da waren die Verschläge, wo all ihre Lämmer geboren worden waren – ihr Kinderchor. Und der Verschlag für die Mutterschafe und die Box für die Widder – Altisten, Sopranisten, Bässe und Tenöre.

Ach, die Winterabende, die sie hier verbracht hatte – und die Sommernächte auf den Weiden, als sie ihnen allen das Singen beigebracht hatte! Das waren ihre allerliebsten Zeiten. Ihre Lieblingszeiten. Und jetzt…

»In Paradisum deducant te Angeli«, murmelte sie und schaute hinunter zu der Stelle, wo zu anderen Zeiten die Schafe und Lämmer gewesen waren. »Ins Paradies mögen dich die Engel führen; bei deiner Ankunft mögen dich die Märtyrer empfangen – und dich in die Heilige Stadt bringen.«

»Amen.«

Mrs Noyes fiel fast in Ohnmacht.

»Wer hat das gesagt?«, flüsterte sie. Werde ich verrückt? Stimmen?

»Ich«, verkündete eine dunkle Stimme – irgendwo über ihrem Kopf.

Mrs Noyes schaute hinauf.

»Wer ist da?«

»Ich bin’s nur«, und es rauschte, als Krähe hinunterflog und auf dem obersten Brett des Lämmerverschlags neben Mrs Noyes aufsetzte. »Ich habe dich überall gesucht. Ich bin hierher gekommen, um dich zu Mottyl zu bringen.«

Lilafarbener Regen war in Onans Regen übergegangen und Onans Regen in dampfähnlichen Regen und der dampfende Regen in heißen und der heiße in den Regen, der nun niederging: Tannenzapfenregen. Allein das Geräusch, das er machte, war Angst erregend – nicht so sehr wegen der Lautstärke, obwohl es laut genug war – sondern eher, weil es so seltsam war. Jedes zapfengroße Kügelchen war ein Paket, und als jedes dieser Pakete dort aufschlug, wo es zuerst hinfiel, platzte es – und ließ dabei eine Flüssigkeit frei, die eher öl- als wasserartig war: golden und glänzend. Folglich verwandelten sich alle Bäume und Gebäude – sämtliches Gras und die Erde – in etwas Goldüberzogenes, Glänzendes, das nicht nur unheimlich, sondern auch heimtückisch war.

Als Mrs Noyes aus der Scheune hinausspähte, erblickte sie eine Welt, die mit Balsam aus Gilead hätte gesalbt sein können. Sie duftete sogar nach Harz und üppigen Kräutersäften. Was hatte Jahwe als Nächstes vor? Jede neue Art Regen schien eine neue Art düstere Schönheit hervorzubringen.

 

 

Mrs Noyes verließ den Stall und ging zum Hof, sie zog ihre Tücher und Schürzen über den Kopf und lief im goldenen Regen durch das Tor und den Berg hinunter. Über ihr flatterte Krähe, etwas beschwerlich, und gab Anweisungen: »In diese Richtung – da drüben – hierher!« Mrs Noyes hatte Mühe mitzuhalten.

»Wo bringst du mich hin?«

»Hinunter durch den Wald. Beeil dich! Schnell!«

Dass sie sich beeilen müsse war die allerletzte Aufforderung, die Mrs Noyes jetzt nötig hatte. Sie wurde ganz ohne eigenes Zutun getrieben. Das Gras hatte eine ölige Patina, und obwohl es ihr schwer fiel, Krähe zu folgen, kam es ihr vor, als würde sie auf Schlittschuhen den Berg hinuntersausen. Gott, verschone mich mit Löchern von Waldmurmeltieren!

Was Krähe betraf, machte ihr der Flug andere Sorgen. Ihr Gefieder wurde langsam vom Öl überzogen; oder vielleicht sollte man eher sagen, vergoldet.

»Der Regen zieht mich hinunter«, rief sie Mrs Noyes zu. »Schnell! Schnell!«

Endlich erreichten sie den Zugang zum Wald, durch den Mottyl am Tag zuvor verschwunden war. Aber jetzt waren keine Feen da und vielleicht auch keine Tiere. Jedenfalls war nichts zu sehen.

Als sie durch den Wald auf die andere Seite schaute, bemerkte Mrs Noyes, dass er ganz golden war. Jeder Baum, jeder Zweig und Ast waren mit glänzendem Balsam überzogen und die schwer gewordenen Blätter fielen zu Boden, als sie den Wald betrat. Im Zwielicht verschlug ihr ein atemberaubendes Schauspiel den Atem – Mrs Noyes war sprachlos.

Wo können nur alle sein?, fragte sie sich. Wo sind all die Tiere hin? Und dann, als ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnten, begriff sie.

Auf dem Boden – auf den Ästen – auf jedem umgekippten Baum befand sich eine goldene Menagerie: Stillgelegt und stumm ertranken alle langsam in Jahwes Alchemie.

 

 

Endlich erreichten sie einen Baum an der am weitesten entfernten Seite des Waldes – und Krähe, die keine Federlänge weiter hätte fliegen können, setzte sich in das oberste Geäst. Ihre Stimme war sehr schwach.

»Da wären wir«, rief sie zu Mrs Noyes hinunter.

»Wo?«, fragte Mrs Noyes, selbst außer Atem und ohne Stimme. »Das ist nur ein alter Baum; Mottyl sehe ich nirgends.«

»Schau herauf!«, schrie Krähe. »Schau hierher!«

Mrs Noyes schaute hinauf.

Nichts.

Nicht einmal Krähe.

»Ich kann nicht einmal dich sehen, von meiner Katze ganz zu schweigen«, sagte Mrs Noyes. »Hör mit den Spielereien auf! Wo ist sie?«

»Du wirst schon hinaufklettern müssen, wenn du sie finden willst. Und an deiner Stelle würde ich es schnell tun.«

Der fragliche Baum war zum Glück eine Sequoia; das heißt, es waren viele Äste zum Klettern da, und dort, wo es keine Äste gab, befanden sich Eulennester und Spechthöhlen und andere Löcher und Vertiefungen, wo Mrs Noyes’ Zehen Halt finden konnten, während sie gehorsam Krähes Anweisungen befolgte: »Nach links – nach rechts – weiterklettern!«

Endlich konnte Mrs Noyes sehen, wo Krähe saß, fünf oder sechs Meter unterhalb des Baumwipfels, und – genau darunter, zwei oder drei Äste tiefer, bot sich ihr ein Anblick, mit dem Mrs Noyes nicht mehr gerechnet hatte.

Mottyls Schwanz.

Wie alles andere war er mit goldenem Schimmer überzogen – und er zeigte hinunter auf Mrs Noyes, hing über den Rand von etwas, das wie ein sehr großer aus Reisigbündeln gemachter Sonnenhut aussah.

Mit letzter Kraft zog Mrs Noyes sich hoch, bis sie in diesen umgedrehten »Sonnenhut« hineinschauen konnte, und dort war, sehr nass – aber auch sehr lebendig – Mottyl.

Sie war unversehrt.

Mrs Noyes war zu müde, um zu schimpfen und zu müde, um zu weinen, sogar zu müde, um sich zu freuen. Ihre Kraft reichte nur noch für ein einziges Wort.

»Hallo.«

 

 

Als Mrs Noyes zum letzten Mal auf der Wiese vor der Arche auftauchte, war es der siebte Tag, nachdem der Regen angefangen hatte. Er hatte sich von golden zu silbern verwandelt – von silbern zu grau und von grau zu schwarz. Und in diesem tintenschwarzen Regen stand sie vor Noah; ihre Schürzen waren voller Äpfel, ihr Haar hing lose herunter, ihre Schuhe lösten sich auf und ihre Haut strotzte vor Drecktupfern und blauen Flecken.

Noah stand auf seinem gewohnten Platz auf Deck, geschützt von dem schwarzen Regenschirm, den die immerwährend anwesende Hannah festhielt.

»Nun. Du hast also endlich Vernunft angenommen.«

»Ja…«

»Ich habe dich nicht gehört.«

»Ja, Herr«, sagte Mrs Noyes.

»Deine Wanderschaft ist zu Ende?«

»Ja, Herr.«

»Und du stimmst mir zu?«

»Ich verstehe nicht, was du meinst…«

»Du stimmst mir zu, dass wir dem Edikt gehorchen müssen?«

Mrs Noyes fuhr mit der Zunge über die Lippen, die seltsam trocken waren. Auch ihr Mund war trocken und es fiel ihr äußerst schwer zu sprechen. Noah war geduldig. Er war bereit zu warten.

»Ja. Ich… stimme dir zu. Ja.«

»Sag mir, was in den Schürzen ist!«, sagte Noah.

»Hast du die Absicht, das alles an Bord zu bringen? Was ist es? Andenken? Kerzenleuchter? Familienerbstücke? Hier ist kein Platz für solches Gelumpe, weißt du. Was ist es?«

Mrs Noyes sammelte genug Speichel, um zu fragen: »Welche Frage soll ich jetzt beantworten?«

»Spiel mir nicht die Kokette, meine Liebe! Die Tage sind für immer vorbei.«

»Ja, Herr.«

»Was ist in den Schürzen?«

»Äpfel.«

»Äpfel?« In der Frage lag weder Ärger noch Vorwurf. Eher so etwas wie Belustigung. »Also – endlich hast du es geschafft, hast unbefugterweise das Tor passiert.«

»Nein, Herr. Ich bin über die Mauer geklettert. Das Tor war abgeschlossen.«

»Das stimmt. Na – hast du dich dabei gut amüsiert?«

»Nicht so sehr. Ich habe mir am Glas den Oberschenkel aufgeschnitten.«

»Aha. Na, genau deswegen war das Glas ja da. Und jetzt willst du die Früchte deines unbefugten Handelns mit an Bord bringen – stimmt’s?«

»Ja. Wenn ich darf…«

Doktor Noyes schaute auf die Schürzen, die prall im Schlamm vor den Füßen seiner Frau lagen.

»Bist du sicher, dass außer Äpfeln nichts drin ist?«, hakte er nach.

»Ja, Herr. Nur Äpfel.«

»Vielleicht solltest du mal die Bänder aufmachen, damit ich reinschauen kann…«

Mrs Noyes hustete und versuchte, ihre Haare zurechtzuzupfen, aber sie fielen ihr gleich wieder ins Gesicht und sie musste sie andauernd vom Mund entfernen.

»Du scheinst sehr nervös, meine Liebe.«

»Nein. Nein, bin ich nicht. Ich bin… ich bin müde, Noah. Meine Güte – seit Tagen laufe ich herum. Ich musste Lotte begraben. Ich wollte meine Katze finden… es gab nichts zu essen. Ich bin müde, das ist alles.«

Noah sagte: »Ham und Luci haben dich überall gesucht. Als sie ohne dich zurückkamen, glaubte ich fast, du wärest tot.«

»Ich bin aber nicht tot. Ich bin hier.«

»Hast du deine Katze gefunden?«

»Nein.« Mrs Noyes weinte vor Erschöpfung. »Ja.«

Doktor Noyes beugte sich nach vorn.

Hannah beugte sich ebenfalls vor und neigte den Schirm, damit sein Rücken nicht nass wurde. Dadurch war sie selbst dem Regen ausgesetzt und begann sich – ganz langsam – schwarz zu färben.

»So?«, sagte Doktor Noyes. »Du hast sie also doch gefunden.«

»Ja. Tot. Sie war tot.«

»Soso…« Doktor Noyes lehnte sich wieder zurück, Hannah und der Schirm machten die Bewegung mit. »Also dann, mach die Schürzen auf, zeig mir erst die Äpfel, dann kannst du an Bord kommen.«

»Ich… die Äpfel werden zerstört«, sagte Mrs Noyes. »Willst du vielleicht schwarze Äpfel essen?«

Noah dachte nach – aber nur kurz, dann befahl er: »Komm an Bord!«

Mrs Noyes sagte »danke« und bückte sich, um die Schürzen an den Bändern zu packen. »Seid still!«, sagte sie.

»Hast du etwas gesagt?«, fragte Doktor Noyes.

Mrs Noyes machte sich an den Schürzen zu schaffen – hievte sie schließlich über die Schultern auf den Rücken. »Gesagt?«, wiederholte sie. »Ja, ich habe ›danke‹ gesagt.«

Doktor Noyes nickte ihr zu. »Bitte schön, meine Liebe.« Er drehte sich um. »Ich werde drinnen auf dich warten.«

Donner.

»Da, siehst du? Jahwe freut sich, dass du dich der Wirklichkeit ergeben hast. Und an deiner Stelle, meine Liebe, wäre ich dankbar, dass er eine so große Verspätung duldet.«

Mrs Noyes gab keine Antwort.

»Nun komm endlich! Komm rein, raus aus dem Regen!« Und Doktor Noyes verschwand und Hannah mit ihm. »Ja, Herr«, sagte Mrs Noyes. Und ging an Bord – mit ihren Äpfeln.

 

 

Und der Regen – der gerade schwarz gewesen war – verlor jetzt jegliche Farbe und ging über in heftige Güsse. Von denen, welche die Sintflut überleben sollten, waren jetzt alle an Bord der Arche. Und Jahwe – und dies war seine allerletzte Geste – schloss sie ein.

 

 

So wie ein Licht den Verirrten in der Finsternis den Weg weist, so wurde die Arche zu einer Art Magnet, der einen Strom von Möchtegernüberlebenden den Berg hinaufzog. Als der Regen zunahm, kamen zuerst lange Reihen von Mäusen und Horden von Ameisen und Käfern – und Unmengen all jener Geschöpfe, die im Boden leben, und deren Wohnstatt nun überflutet war und weggespült wurde. Sie suchten die Sicherheit, welche die Erde bietet, mehr nicht, da offensichtlich mehr nicht möglich war. Doch die Aussicht, die oberen Regionen zu erreichen – irgendeine Stelle, die noch nicht überflutet war –, führte sie bald zum Wunderwerk des großen gelben Stalles, den Noah – sie wussten, dass dies sein Berg war – auf den seltsam schräg platzierten Stelzen auf freiem Feld errichtet hatte.

Kleine Wolken aus Mäusen huschten über die Wiese, vom Wind von einer Seite zur andern getrieben; manchmal vereinten sie sich zu größeren Wolken, bis in einem Wirrwarr von Zurufen an verloren gegangene Kinder und dem Schrei: »Familien – geht nicht auseinander!« sich ganze Stürme von piepsenden Mäusen zusammengebraut hatten. Endlich blieben alle – es waren tausende – stehen. Sie hatten eine Stelle erreicht, von der aus sie auf die Arche hinunterstarren konnten, um sie zu studieren; sie grübelten noch, welche Möglichkeiten ihnen dieses Bauwerk bieten würde; sie versuchten sich mit seiner Größe anzufreunden – es war weitaus größer als irgendeine Scheune, irgendein Stall, den einer von ihnen je gesehen hatte. Aber – wie kam man hinein?

 

 

Pfeifer lugte ganz vorsichtig aus der Erde und überlegte, ob er sich den Flüchtlingsströmen anschließen sollte, die den Berg hinaufzogen.

Sein Platz war weitgehend überflutet, sogar in seine Schlafkammer drang das Wasser jetzt ein. All seine Essensvorräte waren schon zerstört und binnen weniger Stunden würden ihm seine Höhlen und Gänge auch nichts mehr nützen.

Aber auf dem Berg waren schon so viele, darunter Waldmurmeltiere von anderen Feldern, dass er zweifelte, ob bei der großen Pilgerfahrt noch ein Platz für ihn wäre.

Überall, so schien es, war lebendes Fleisch – ein ganzer Berg voller Rücken und huschender Füße. Es war nicht so, dass Pfeifer nicht gewusst hätte, welche Hoffnungen sie antrieben. Aber er wusste auch, dass diese zum Scheitern verurteilt waren. Es hatte etwas mit Jahwe und Noah zu tun und damit, dass der Tod eine Schneise, so breit und tief wie überhaupt nur vorstellbar, schlagen sollte. Von der Opferung im Hof hatte er die Geräusche gehört und die Feuer gesehen – und er wusste, diese Tiere, die in Richtung Altar hinaufzogen – die meisten von ihnen ohne eine Ahnung, was ein Altar war – teilten alle dieselbe Hoffnung, nämlich gerettet zu werden. Nun – er hatte nicht das Recht, ihre Hoffnungen zu zerstören.

Geht nur weiter – vorwärts, marsch!

Sein Blick wanderte über das Feld und so weit sein Auge reichte, bis zur Steinmauer – und er dachte: Hierher gehöre ich. Es ist besser, dem großen Tod hier zu begegnen, als mich der verlorenen Horde anzuschließen und zertrampelt und beiseite geschoben zu werden. Sein Alter – sein geschwächtes Sehvermögen – seine schmerzenden Knochen –, Pfeifer wusste, er würde das Gedränge der anderen nicht überstehen.

Nein. Er würde warten. Mit der Zeit würde die Menge abnehmen – die Panik würde sich verringern –, dann würde er sein Feld überqueren, nach oben gehen und sich in Richtung Osten durch den Regen bewegen – und er würde in seinem Lieblingsbau sitzen und die letzten Tage der Welt von dort aus betrachten.

 

 

Bis zum Abend hatte die Flut die Wipfel des Zedernhains erreicht; bei Einbruch der Dunkelheit war sie bei der unteren Grenze der oberen Wiese angekommen.

Die Wiese war jetzt voll von Geschöpfen jeglicher Größe; sie bedeckten jeden geknickten Grashalm und jeden Ast und Zweig der Pinie und jeden Stein des heiligen Altars. Vögel und Insekten und Tiere jeglicher Art hatten sich dort versammelt und das Läuten der Altarglocke, deren Seil sich gelöst hatte, vermischte sich mit dem Ansturm von Stimmen, welche die schweigende Arche anflehten.

Die riesige Versammlung war jetzt ganz frei von Panik. Ihre Betäubung hatte sie in einen Zustand trostloser Vernunft versetzt, der sich jetzt in Schock verwandelte. Ihre Mitglieder hatten über alle Tage, die der Regen, das Laufen, das Hungern und das endlose Hochsteigen schon dauerte, ausgeharrt. Jedes Plateau war unter ihnen weggewaschen worden. So lange wie nur möglich waren sie aufeinander zu und wieder auseinander gegangen, und dabei hatten sie behutsam schmerzliche Konfrontationen vermieden: Der Panther war der Antilope aus dem Weg gegangen, die Füchsin dem Hasen. Nachdem sie in jede Art Fluss geworfen, an jeder Art Ufer herausgezogen und von jeder Art Regen und Wasserfall gepeitscht worden waren, hatten sie – ganz allmählich – erkannt, dass der Tod sie alle auf unbegreifliche Weise zur Vernichtung zusammentrieb – und dass die Jagd vorbei war. Da auf dem Berg – in der Dunkelheit – im Regen und beim Klang der Glocke waren sie für jedes Gefühl taub, außer für den ganz schwachen Hoffnungsschimmer, der sich in der gelben Arche mit ihren Wänden und Fußböden und einem Dach äußerte; und mit einer Tür, die ihnen, so stellte sich ein jeder von ihnen vor, Sicherheit bieten würde.

Sie warteten.

Die Tür ging nicht auf.

Der Regen hörte nicht auf.

Die Dunkelheit bildete ein Zelt und deckte sie völlig zu.

Etwa um die Zeit, da gewöhnlich die Sterne erlöschen – wenn es denn Sterne gibt – erschien ein Licht.

Es schwebte über dem Wasser – leuchtend und voll, dann nur noch gebrochen – erst ein Licht, dann viele Lichter – und sie bewegten sich, getrennt oder vereint, so nahe an der gepeitschten Wasseroberfläche, dass es sich darin spiegelte. Und trotz Glockenläuten sandten die Lichter einen Klang aus; er stieß auf die wartenden Ohren wie ein wohl bekannter Ruf, obwohl er in Wirklichkeit kaum mehr als ein Flüstern war: wie vom Winde getriebene Glasstückchen.

Jedes Geschöpf, das auf Noahs Berg versammelt war, kannte die Feen ab dem Tag seiner Geburt. Alle hatten im Gras ihre Lichter und ihre wogenden Bewegungen gesehen und hatten ihren Stimmen gelauscht, ob tief im Wald, im Unterholz oder auf den Tierpfaden, die sie ab- und niedersausten. Zu irgendeiner Zeit waren fast alle – ob jung oder alt – von den Feen gerettet worden – so wie der Lemur vor dem Drachen gerettet wurde, den Michael Archangelis getötet hatte – denn die Feen waren die einzigen Wesen, die weder Angst vor Drachen noch vor Stimmen in Höhlen noch vor dutzenden anderer Schreckgespenster hatten.

Jetzt reckten sich alle Tiere nach vorn, um zu sehen, wie sich die Feen in Richtung Arche drehten, von oben nach unten zum ersten Mal auf sie zuflogen, sich dann hinter die Arche begaben und langsam aus dem Blick verschwanden.

»Glaubt ihr, jemand wird sie hören? Glaubt ihr, jemand wird sie sehen?«, fragte jemand mit kaum vernehmbarer Stimme.

Niemand wagte eine Antwort darauf. Es gab keine.

Während sie warteten, stiegen die Hoffnungen. Vielleicht gab es ja auf der anderen Seite einen Eingang… und vielleicht würde Mrs Noyes, die gütige Mrs Noyes – oder Ham oder die Engelin Luci – durch die Spalten hinausschauen und die Feen sehen oder hören. Und wenn man den Feen Einlass gewährte, würden sich dann die Türen nicht für sie alle öffnen?

Wenn nur der Lärm der Glocke aufhören würde. Wenn der Regen nur so lange aufhören würde, bis man etwas sehen könnte…

»Sind sie zurückgekommen? Wo sind sie?…«

Wieder reckten sich alle nach vorne, aller Augen bohrten sich in die Dunkelheit und aller Ohren pressten sich der Luft entgegen, während jeder Pulsschlag aufzuhören schien und atemlose Stille eintrat.

Minuten vergingen und nichts passierte.

Nichts.

Doch dann…

Kamen die Lichter zurück. Eins und dann noch eins und dann die ganze Anzahl.

Der Berg atmete aus – und die Glocke hatte plötzlich eine Bedeutung erhalten.

Ein oder zwei Lichtstückchen rissen sich vom Ganzen los und flogen hoch über die Arche, als suchten sie dort einen Eingang – aber nur allzu bald kehrten sie um – vom Regen zurückgeschlagen.

Der ganze Berg schaute zu. Wartete.

Die Feen drängten sich jetzt zusammen und drückten ihre Lichter gegen die Wände der Arche – selbst vom Gipfel des Berges aus konnte man den kristallenen Klang ihrer Schreie hören. Die Lichter schlugen so lange gegen die Wände, bis einige erloschen. Die Menge, kleiner jetzt, formte sich neu und flog über die Arche, klopfte dem Regen zum Trotz gegen das Dach.

Doch mit jedem neuen Manöver wurden die Lichter schwächer – sowohl an Anzahl als auch an Stärke – und der Klang war nicht mehr zu hören, nur noch als Pulsieren erkennbar. Alle sahen, wie das Licht in der Dunkelheit ausging – seine Ränder verlor – in der Mitte zusammenbrach – nur noch ein Netz jetzt wie das einer Spinne, die darin gegen den Regen ankämpft – so lange, bis die letzten paar Lichtfäden fielen – und erloschen –, zum Schweigen gebracht und aus dem Leben und für immer von allem Lebendigen fortgerissen.

Und die Glocke läutete weiter – aber die Arche war erbarmungslos, wie immer unnachgiebig. Ihre Gestalt hatte eine Stimme erhalten. Und die Stimme sagte: Nein.