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Als Werner Hecht ein paar Tage später aus seinem Büro nach Hause kam, erkannte er schon von Weitem den silbernen Audi seines Freundes Gerhard Stör in der Einfahrt seines Grundstückes. Am Fahrbahnrand sah er außerdem Marones Mercedes. Er parkte seinen eigenen Audi direkt dahinter, stieg aus und ging auf den Hauseingang zu. Als er ihn fast erreicht und den Schlüssel bereits in der Hand hatte, wurde die Tür von innen geöffnet. Seine Frau stand im Türrahmen und begrüßte ihn etwas unsicher.

»Werner, wir haben Besuch.«

»Das sehe ich, Schatz«, erwiderte er.

»Aber Gerhard ist nicht allein. Er hat einige fremde Leute mitgebracht«, sagte sie, ohne ihm den Weg freizumachen.

»Fremde Leute...?«, murmelte er nachdenklich und drängte sich an seiner Frau vorbei ins Haus.

Er stellte seinen Aktenkoffer in der Diele ab und betrat das Wohnzimmer. An der Terrassentür stand sein Freund Gerhard Stör und sah hinaus in den Garten. In einem der beiden Sessel saß Lorenzo Marone, den er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Vor der Schrankwand standen zwei seiner Männer, die Arme vor der Brust verschränkt. Aber was ihn am meisten verunsicherte, waren der junge Mann und die beiden jungen Frauen, die nebeneinander auf dem Sofa saßen und ein ihm ebenso unbekannter, durchtrainierter Mann von etwa 30 Jahren, der in dem anderen Sessel saß.

»Was hat das hier zu bedeuten?«, fragte er gereizt. »Gerhard, was ist hier los?«

Hinter ihm betrat seine Frau das Wohnzimmer. Sie trug ein großes Tablett mit Tassen, Milch, Zucker und einer Schüssel mit Keksen. Niemand sagte etwas. Stör hatte sich umgedreht und sah Werner Hecht ruhig an. Dessen Frau verließ den Raum wieder, um kurz darauf mit zwei vollen Kannen Kaffee zurück zu kommen. Sie verteilte die Tassen an die sitzenden Gäste und stellte weitere auf den Esstisch, der an der Wand zur Küche stand.

»Für Sie«, sagte sie an die beiden grimmigen Männer vor der Schrankwand gerichtet, die nicht darauf reagierten. Noch immer sprach niemand ein Wort. »Marlies, lass uns bitte allein«, war plötzlich Hechts Stimme zu hören.

»Aber...«

Er packte seine Frau unsanft am Arm und drückte sie zur Tür hinaus, die er hinter ihr verschloss.

»Also?«

Gerhard Stör zeigte auf die drei jungen Leute auf dem Sofa und sagte: »Werner, das sind deine Kinder. Und dieser Herr«, er zeigte auf Rique, »vertritt sie.«

»Wie bitte? Hast du sie noch alle? Was soll der Scheiß? Ich kenne diese Bande nicht. Verlasst sofort mein Haus!« Er wurde laut.

Niemand, bis auf Gerhard Stör, reagierte.

Dieser ging zum Esstisch, ergriff einen der Stühle, platzierte diesen vor dem Couchtisch und drückte seinen konsternierten Komplizen darauf.

»Setz dich hin, Werner«, sagte er bestimmt, »wir müssen reden.« Dann ging er zurück zur Terrassentür und schaute wieder in den Garten hinaus, während er weitersprach.

»Wir haben viele junge Frauen aus Osteuropa missbraucht, Werner.«

»Gerhard...!«, fuhr ihm Hecht nervös ins Wort.

»Sei still!«, kam es von diesem barsch zurück. »Drei von denen haben Kinder bekommen.« Er drehte sich wieder zu Hecht, zeigte aufs Sofa und sagte: »Das sind diese Kinder.«

»Was habe ich damit zu tun?«, empörte sich der 60jährige Abteilungsleiter der heutigen Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen und stand auf. Aber einer von Marones Männern drückte ihn von hinten wieder auf seinen Sitz. Stör fuhr fort:

»Sie haben einen DNA-Test, der beweist, dass sie Halbgeschwister sind. Verschiedene Mütter, aber den gleichen Vater.«

»Na und? Das kann jeder sein. Keine Ahnung, wie viele damals da drüber gerutscht sind.«

Björn Flemming sprang auf und langte über den Couchtisch hinweg nach Hechts Kragen, aber seine beiden Halbschwestern zogen ihn zurück aufs Sofa. Dann war wieder Stör zu hören:

»Eine der drei Mütter wurde schwanger, nachdem sie ausschließlich und nur mit dir zusammen sein musste.«

Jetzt wurde Hecht bleich, als er die Tragweite dieser Aussage erkannte. Er verlor erkennbar jegliche Körperspannung und sackte in sich zusammen. »Was wollen sie?« Seine Stimme war jetzt leise und kraftlos.

»Die ganze Sache in die Morgenpost bringen«, antwortete ihm Marone kühl.

Hecht fing an zu zittern. Er griff nach einer Packung Zigaretten in seiner Jacke und versuchte, sich eine anzuzünden, was ihm jedoch nicht gelingen wollte. Rique beugte sich vor und half ihm. Der Mann nahm hastig ein paar Züge. Dabei war es ihm in diesem Moment völlig egal, dass er im Haus nicht rauchen durfte. Vor seinem inneren Auge entfaltete sich ein Schreckensszenario:

Umfangreiche Untersuchungen, ein riesiger Skandal über Zwangsprostitution, über dutzende Vergewaltigungen und über Korruption im ganz großen Stil, Disziplinar- und Strafverfahren, zuerst Suspendierung, dann Entlassung, nicht zuletzt Verlust der Pensionsansprüche, Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe, Scheidung. Er sah seinen Namen und sein Gesicht in allen Zeitungen und im Fernsehen. Für alle Menschen immer verbunden mit der unfassbaren Widerlichkeit, derer er sich schuldig gemacht hatte. Auch für Stör bedeutete diese Katastrophe das Ende seiner Existenz. Marone, dem die Ermittlungsbehörden bisher nie eine Verbindung zur Mafia haben nachweisen können, wäre als Drahtzieher und Mafiaboss entlarvt und würde für viele andere Delikte lange Zeit im Gefängnis verschwinden.

»Können wir uns nicht anderweitig einigen?«, fragte er mit einem panischen Zittern in der Stimme und warf den Rest der Kippe in eine leere Kaffeetasse.

»Deswegen sind diese Menschen hier, Werner«, sagte der bekannte Architekt, der wieder in den Garten hinaus sah. Stör bemühte sich sichtlich darum, trotz der auch für ihn beschämenden und bedrohlichen Situation souverän und überlegen zu erscheinen. In seinem Ton lag eine Kälte, die seinen nervösen Freund Hecht in die Enge trieb. »Der Herr im Sessel neben dir, der leider nicht so freundlich war, uns seinen Namen zu nennen, hat gesagt, sie seien zu einem Handel bereit.«

Hecht sah zu Rique. »Wie viel?«, fragte er.

»Es geht nicht nur um Geld«, antwortete dieser ganz ruhig.

»Sagen Sie, was Sie haben wollen.«

»Zunächst einmal«, begann Rique, »ist es unerlässlich, dass die betroffenen Frauen und ihre Kinder vor kuriosen Autounfällen und ähnlichen Unglücken sicher sind.« Bei diesen Worten wechselte er einen vielsagenden Blick mit dem ihm gegenüber sitzenden Mafiaboss.

»Mir scheint, sie leben sicherer, wenn sie die Story nicht veröffentlichen. Wir haben daher die eidesstattlichen Erklärungen der betroffenen Mütter und auch die Laborergebnisse der Detektei Chase anvertraut. Die dürfte Ihnen ja sicher ein Begriff sein. Zweitens möchten wir Sie natürlich nicht vor den finanziellen Aufwendungen bewahren, die im Falle einer Veröffentlichung auf Sie zukämen. Uns schweben da 3,2 Millionen Euro vor, die Sie sicher mühelos gemeinsam aufbringen können. Diese Summe ist garantiert viel kleiner, als das, was Sie im Falle einer Veröffentlichung zu erwarten hätten.«

Werner Hecht schöpfte Hoffnung. Er würde zu dieser Summe trotz seiner hohen B-Besoldung nur einen kleinen Teil beitragen können. Aber er konnte die Vermögenssituation von Marone und vor allem von Stör einschätzen. Er wusste daher, dass der fremde Mann neben ihm eine Summe vorgeschlagen hatte, die aufzubringen keine großen Probleme bereiten würde. Vor allem Stör käme vergleichsweise glimpflich davon, trotz der Tatsache, dass dieser den größten Teil der Summe würde beisteuern müssen.

»Ich schlage vor«, fuhr Rique fort, »dass Sie jeder der drei betroffenen Familien 400.000 Euro als Schmerzensgeld zukommen lassen. Die restlichen zwei Millionen Euro spenden Sie anonym an die Mai-Stiftung. Sie hilft Frauen, aus der Prostitution auszusteigen und fördert das Aufspüren von Zwangsprostituierten und deren Schleusern.«

Marone, Stör und Hecht tauschten Blicke aus. Dann nickten sie. »Einverstanden.«

»Aller guten Dinge sind ja bekanntlich drei«, setzte Rique wieder an. »Eine Forderung habe ich noch, und die ist entscheidend. Wird sie nicht erfüllt, platzt der gesamte Deal.«

Die drei Verbrecher sahen ihn misstrauisch an und warteten darauf, dass er weitersprach.

»Ich möchte Namen von Ihnen. Wo werden hier aktuell illegal eingeschleuste Frauen festgehalten und Leuten wie Ihnen angeboten? Wer sind die Anbieter, wer die Schleuser?«

Lorenzo Marone reagierte zuerst:

»Tut mir leid, aber das kann ich nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Wirklich nicht. Aus diesem Geschäft habe ich mich schon vor 15 Jahren zurückgezogen. Die, die das damals organisiert haben, gibt es heute nicht mehr. Dieses Feld wurde in den letzten Jahren komplett von den Russen übernommen. Meine rumänischen Partner wurden vollständig verdrängt. Und von den Russen halte selbst ich mich fern.« Der Sizilianer hatte während der ganzen Unterhaltung keine Sekunde seine Contenance verloren.

»Tut auch mir leid, Mr. Unbekannt«, schloss sich Stör eilfertig an. »Seit Marone das nicht mehr macht, haben auch Werner und ich keine Verbindungen mehr. Wir sind schon lange sauber, wenn Sie so wollen. Das alles ist lange her.«

»Gerhard!«, fauchte Hecht seinen Freund an. »Versuch jetzt keine Tricks. Lass es uns hier und heute zu Ende bringen.«

Er erntete von Stör einen vernichtenden Blick.

Rique zog die Augenbrauen hoch und musterte den Architekten. Der erwiderte den Blick zunächst, konnte ihm aber nicht lange standhalten. Dann presste er innerlich bebend die Lippen aufeinander, gab auf und griff in die Innentasche seines Jacketts. Er holte ein abgegriffenes Adressbuch heraus und blätterte darin bis zu einer bestimmten Seite. Er riss sie heraus und übergab Rique das Papier, ohne ihn dabei anzusehen. Rique nahm es und las zwei Namen mit Telefonnummern. Er nickte Stör zu. »Dann sind wir uns also einig, meine Herren. Sie haben mein Wort, dass Chase die Dokumente sicher und schweigend aufbewahren wird, es sei denn, einer der Frauen oder ihren Kindern passiert etwas. Die Geldzuweisungen erwarten wir innerhalb der nächsten vier Wochen. Das geht, oder?« Die drei Verbrecher nickten.

»Nachdem zwei von Ihnen gestorben sein werden«, fügte er entgegenkommend hinzu, »wird Chase die Originalunterlagen dem letzten noch lebenden von Ihnen zustellen lassen. Und der kann sie dann von mir aus gerne verbrennen.«

Katja Krömer, Annika Peters und Björn Flemming standen auf und verließen vor Rique das Haus von Werner Hecht. Sie sahen niemanden mehr an und verabschiedeten sich auch nicht.

*

 

Es war bereits Mitternacht, und Rique war immer noch wach. Er lag in seinem Bett auf dem Rücken und genoss den Moment. Katjas Kopf lag auf seiner Brust. Auch sie war noch wach. Katja wiederum genoss es, dass Rique ihr immer wieder durch die Haare strich, ohne damit aufhören zu können.

Sie küsste seine Brustwarze und umfasste fest seinen muskulösen Oberkörper. Dann aber löste sie sich plötzlich, drehte sich zur Seite und angelte nach ihrem Stift und ihrem Block auf dem Nachttisch. Sie schrieb etwas auf, was sie Rique zu lesen gab:

Weißt Du, welcher von den ausgehandelten Punkten mir am besten gefällt?

Rique schüttelte den Kopf.

Dass wir die Unterlagen dem letzten der drei Verbrecher überlassen, wenn zwei von ihnen tot sind.

Rique strich ihr über die Wange und küsste sie.

Das wird bald der Fall sein, oder?

Rique legte seinen Zeigefinger auf ihre Lippen.

»Schlaf jetzt!«

Bevor er das Licht ausknipste, sagte er ihr noch in Gebärdensprache, dass er sie liebe.