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Als sie die Trainingshalle wieder betraten, machten alle anwesenden Sportler dem kleinen Trupp unwillkürlich Platz. Zwei der jungen Männer nahmen Rique und Katja die verletzte Frau ab und halfen ihr ins Behandlungszimmer.

»Hat's dich erwischt, Rique?«, fragte ein athletisch gebauter Mann in einem Muskelshirt.

»Nicht so tragisch, hoffe ich.«

Der alte Liang betrachtete kurz Ritas Kopf, bat sie höflich um ein wenig Geduld und wandte sich dann Rique zu.

»Lass mal sehen«, sagte er, riss den Ärmel von Riques Hemd auf und begutachtete die Wunde.

»Halb so schlimm, Junge. Du hast Glück gehabt, es ist wohl nu' ein St'eifschuss. Setze dich mal besse' hin.« Er nahm Desinfektionsspray und Einweghandschuhe aus dem Erste Hilfe Schrank. Er löste Katjas T-Shirt und reichte es ihr. Trotz der Blutflecken streifte sie es sich schnell über.

Dr. Liang säuberte die Wunde, desinfizierte sie und legte einen Mullverband an. Chen Lu klopfte Katja auf die Schulter und sagte: »Ich bin gleich wieder da, ich hole dir eben ein neues.« Dabei zupfte sie an ihrem eigenen, eng anliegenden Sportshirt. Katja verstand, ergriff sofort Chen Lus Arm und hielt sie fest. Dann drückte sie die kleinere Chinesin an sich und lächelte sie dankbar an.

»Chen Lu hat uns rausgeboxt«, erklärte Rique seinem alten Lehrer, »ich hätte es vermasselt. Hatte den Typ unterschätzt.«

Liang nickte einmal kurz zum Zeichen, dass er verstanden hatte. In dieser kleinen Geste war ein gewisser Stolz auf seine Enkelin nicht zu übersehen. Chen Lu beugte sich zu Rique hinab, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und lief aus dem Raum. Nun wandte sich Dr. Liang Rita zu. Die schlimmste Verletzung war die  Platzwunde am Jochbein. Er säuberte und desinfizierte auch diese und verschloss sie anschließend mit einem Klammerpflaster. Dann tränkte er ein Handtuch mit kaltem Wasser, stopfte es in eine Plastiktüte und gab sie ihr mit der Aufforderung, ihr Gesicht damit zu kühlen. In dem Moment kam Chen Lu mit einem neuen T-Shirt zurück. Katja nahm es dankbar entgegen und tauschte es schnell gegen das blutige.

 

Dann setzte sie sich zu der Freundin ihrer Mutter auf die Krankenliege und streichelte ihr die freie Hand. Rita ergriff sie und drückte sie fest.

Dr. Liang kam zu ihnen und setzte sich ebenfalls auf die Kante der Liege und fragte die Frau: »Können Sie sp'echen?«

»Es tut etwas weh, aber es geht«, presste sie etwas mühsam hervor.

»Was wollen die Männe' von Ihnen?«

Während er das fragte, reichte er ihr ein Tuch, das mit einer angenehm riechenden Flüssigkeit getränkt war und bedeutete ihr, es sich über die Augen zu legen.

Rique und Chen Lu nahmen sich einen Stuhl und gesellten sich dazu. Katja forderte Dr. Liang in Gebärdensprache auf, seine Frage zu wiederholen. Das tat er auch, und er fügte für alle hinzu, dass Katja ihn dazu aufgefordert hatte. Er verstehe ihre Gesten.

»Ich habe den Männern schon nichts gesagt, die mich geprügelt haben, und ich werde auch hier nichts sagen, solange ich nicht weiß, dass Katja sich hundertprozentig sicher fühlt.«

Dr. Liang schien problemlos Ritas Worte für Katja zu übertragen. Alle konnten sehen, wie schwer es Rita fiel, mit geschwollenem Gesicht und den gerissenen Lippen Worte zu formulieren.

Katja stupste Dr. Liang an und gab ihm mit  Gebärden ein Wort. Er wollte es für Rita schon aussprechen, stutzte aber dann, so als sei er sich nicht sicher, ob er Katja richtig verstanden habe. Er drehte sich wieder zu Katja und fragte:

»Ophelia?«

Erleichtert atmete die Frau auf der Liege auf. Katja nickte, und Rita brachte hervor:

»Das war es, was ich hören wollte. Ophelia ist das Codewort, das mir Katjas Mutter Ramona eingeschärft hat, für den Fall, dass Katja mich in irgendeiner Begleitung aufsuchen sollte. Dann würde sie es nämlich nur preisgeben, wenn sie dieser Begleitung bedingungslos vertraue. Ich weiß zwar nicht, wer Sie alle sind, aber ich danke Ihnen.«

Rique kratzte sich nachdenklich am Kopf.

»Steckt Ophelia in dem Kürzel L12? Kann mir das mal einer erklären?« Gespannt sah er Katja an.

»Ich kann es nicht«, sagte Rita, »mir hat ihre Mutter nur dieses Codewort genannt. Was Sie jetzt mit L12 meinen, das sagt mir nichts.«

Katja hatte über die Lippenbewegungen die Worte verstanden und erklärte mit ihren Händen, was es mit L12 auf sich hatte. Sie habe kürzlich ihren neuen Gedichtband veröffentlicht. Zwischen ihr und ihrer Mutter hatte jedes ihrer Gedichte eine heimliche Kennung. Die bestehe aus einer Zahl und dem Buchstaben L für Luise, ihrem Pseudonym als Dichterin. Und das Gedicht L12 hieße Ophelia. Daher habe sie angenommen, Ophelia sei ein Sicherheitswort, das sie Rita gegenüber nennen müsse.

»Deine Mutter scheint eine kluge Frau gewesen zu sein«, entfuhr es Rique, und er ohrfeigte sich sofort dafür, denn er bemerkte eine plötzliche und tiefe Trauer in Katjas Augen. Impulsiv griff er nach ihrer Hand. Dann wandte er sich Rita zu.

»Rita, was hat Katjas Mutter Ihnen für ihre Tochter hinterlassen?«

Die Frau räusperte sich. Dann erklärte sie, dass Katjas Mutter vor drei Tagen, einen Tag vor dem tödlichen Überfall auf ihr Juweliergeschäft, ganz aufgeregt bei ihr gewesen sei. Sie meinte, es sei etwas Schlimmes passiert, und ihr Leben sei nicht mehr sicher. Warum und durch wen Ramona sich bedroht fühlte, das wüsste sie nicht, und Ramona habe es ihr auch nicht verraten. Sie habe ihr einen kleinen Schlüssel für ein Schließfach im Hauptbahnhof übergeben, den sie Katja aushändigen solle, sollte Ramona bis zu Katjas Rückkehr aus Spanien etwas zustoßen. Was sich in dem Schließfach befinde, auch das wisse sie nicht. Kurz nach Ramonas Tod seien dann diese Männer aufgetaucht und hätten versucht, aus ihr heraus zu prügeln, wo sich die Unterlagen befinden. Aber sie habe überhaupt nicht gewusst, was sie meinten. Von dem Schließfachschlüssel habe sie jedenfalls nichts gesagt. Rita war ihre Erschöpfung inzwischen deutlich anzumerken.

»Ich frage mich die ganze Zeit, wieso die Männer auf Sie gekommen sind, Rita«, rätselte Rique in die eingetretene Stille. »Es könnte natürlich sein, dass der Sanitäter oder ein anderer im Krankenwagen die Nachricht Ramonas auch an diese Männer weitergegeben hat. Dann hätten wir es mit einem der ganz großen Syndikate in Hamburg zu tun, die überall ihre Spitzel und Zuträger haben.« Er rieb sich das Kinn. »Aber selbst wenn das so ist, erklärt das immer noch nicht, woher sie so genau wussten, wer mit Rita gemeint ist. Es sei denn...« Rique hielt inne. Dann murmelte er vor sich hin, als spräche er mit sich selbst: »Es sei denn, Ramona wurde schon seit längerem, vielleicht seit Jahren observiert, und diese Leute kannten alle ihre Sozialkontakte.«

Er drehte sich zu Katja und fragte sie eindringlich, so dass sie seine Worte lesen konnte: »Kann das sein? Ich meine, kannst du dir das vorstellen? Hat deine Mutter mal so etwas vermutet, oder weißt du irgendwas, was diese Annahme plausibel erscheinen lässt?«

Katja zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf. Dann fiel Riques Blick auf ihren Oberarm. Unter dem kurzen Ärmel des neuen T-Shirts erkannte er das untere Ende einer Tätowierung, die ihm bisher entgangen war. Er rückte näher an sie heran, lupfte den Ärmel nach oben und betrachtete die vollständige Tätowierung. Es handelte sich um das astrologische Zeichen für Zwilling mit einer kleinen 2 daneben.

Die ganze Zeit hatte Chen Lu geschwiegen. Jetzt aber mischte sie sich ein: »Was könnte denn vor drei, vier Tagen Katjas Mutter so beunruhigt haben, dass sie plötzlich in Panik verfiel?«

»Das ist eine gute Frage«, erwiderte Rique, rückte wieder von Katja ab und holte sein Telefon aus der Hosentasche. Er rief Andree an und forderte ihn auf, im Pressearchiv zu recherchieren, ob und was vor drei oder vier Tagen an außergewöhnlichen Dingen passiert sei.

Danach wandte er sich erneut an Rita.

»Wo ist der Schließfachschlüssel, von dem Sie sprachen?«, wollte er von ihr wissen.

»Er liegt in einer halbvollen Flasche Olivenöl in meinem Küchenschrank«, antwortete sie.

»Cooles Versteck!«, platzte Chen Lu heraus.

Rique trat an die Frau auf der Liege heran.

»Ist es in Ordnung, wenn wir ihn holen? Haben Sie Ihren Wohnungsschlüssel noch?«

Rita bejahte den ersten und verneinte den zweiten Teil der Frage. Ihren Schlüssel habe sie nicht mitnehmen können, als die Männer sie und Katja verschleppten. Sie erklärte ihm noch, dass ihre Wohnung im siebten Stock des Hochhauses sei. Es handele sich um die Tür direkt gegenüber des Aufzuges. Dann klingelte sein Handy.

Es war Andree.

»Hör mal, Boss. Muss ich dich raus hauen, oder was? Du bist ja nicht gerade mitteilsam. Ich habe nichts wirklich Außergewöhnliches gefunden. Sommerloch! Eine Messerstecherei auf der Reeperbahn, sonst nichts. Ich schicke dir den Link zum Zeitungsartikel.«

Rique begann, aufmerksam zu lesen.

Vor vier Tagen hatte es einen Streit zwischen zwei rivalisierenden Jugendgangs in einer Bar auf der Reeperbahn gegeben, in deren Verlauf einer der Jungen erstochen wurde und noch am Tatort verstarb. Es war ein Foto von der am Boden liegenden Leiche abgedruckt, wenn auch mit einem Tuch abgedeckt. Lediglich der rechte Arm schaute darunter hervor. Die Hamburger Polizei sei sich sicher, dass es sich um ein Tötungsdelikt des organisierten Verbrechens handele. Rique sah etwas in dem Bild, das ihn den Atem anhalten ließ. Auf dem sichtbaren Oberarm des jungen Mannes entdeckte er eine Tätowierung.

Das Zwillingszeichen mit einer 1 daneben.

Er schaute Katja mit großen Augen an, und als er den entsprechenden Bildausschnitt auf seinem Display vergrößerte und ihn ihr zeigte, riss auch sie Augen und Mund auf. Es sah so aus, als wolle sie schreien, doch sie brachte keinen Ton hervor.

»Kennst du etwa den Jungen?«, fragte er sie.

Katja konnte ihren Blick nicht von seinem Display nehmen, schüttelte aber den Kopf. Stattdessen zeigte sie sichtlich fassungslos immer wieder auf dessen Tätowierung.

»Was bedeutet dein Tattoo denn?«, fragte Rique.

Sie erklärte Dr. Liang, der es mündlich wiedergab, dass sie im Sternzeichen des Zwillings geboren sei und zwar am 2. Juni, daher die 2.

Rique wurde nachdenklich. Das war zu individuell und weit davon entfernt, eine ins Auge springende Verbindung zu dem Mann auf dem Foto herzustellen.

»Wann hast du das machen lassen?«

Katja erklärte, dass sie die Tätowierung überhaupt nicht selber hat machen lassen. Ihre Mutter habe sie stechen lassen, als sie noch sehr klein war. Sie könne sich selbst gar nicht mehr daran erinnern. Aber ihre Mutter habe ihr die Bedeutung später erklärt.

»Das wird ja immer verrückter«, seufzte Rique.

Er zeigte Liang das Bild und erklärte dabei Rita, was darauf zu sehen sei.

Dann rief er noch einmal in seinem Büro an und bat Andree darum, den Namen des Toten herauszufinden. Anschließend erklärte er den anderen, dass er zuerst mit Katja den Schließfachschlüssel aus Ritas Wohnung holen werde.

»Vielleicht bekommen wir dann endlich ein paar Antworten«, sagte er. »Das wird auch Zeit.«

Er drehte sich zu dem alten Chinesen um und fragte ihn: »Kann Rita erst mal hier...« Weiter kam er nicht. Liang nickte einmal, stand auf und legte Rique die Hand auf die Schulter. »Kein P'oblem, mein F'eund. Wi' b'ingen sie gleich nach oben. Da kann sie sich hinlegen und aus'uhen«, beruhigte er ihn.

Rique nahm sich eine Armschlinge aus dem Erste Hilfe Schrank, legte sie sich um und seinen linken Arm hinein. Er schnappte sich die Waffe, die Chen Lu aus der Buttstraße mitgebracht und auf den Schreibtisch ihres Großvaters gelegt hatte, kontrollierte sie und schob diese dann ebenfalls in die Schlinge. Er nahm Katja wie selbstverständlich an die Hand und drehte sich zum Gehen.

Doch Chen Lu versperrte ihnen im Türrahmen den Weg. Sie stand da mit vor der Brust verschränkten Armen, zog die Augenbrauen böse zusammen und wippte ebenso abwartend wie auffordernd mit ihrem rechten Fuß.

»Ist ja gut«, sagte Rique, »komm mit!«

Ein triumphierendes Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie löste ihre Arme, drehte sich um und stürmte voran.