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Ihnen würde nicht viel Zeit bleiben. Die Aktion der vergangenen Nacht und die Tatsache, dass Katja wieder frei herum lief, konnte Marone nicht auf sich beruhen lassen. Er würde alles daran setzen, seine Tochter erneut aufzuspüren, sie notfalls zu töten und sich außerdem an Rique zu rächen. Letzteres war schwieriger, denn der Sizilianer wusste nicht, mit wem er es zu tun hatte. Riques Detektei »Chase« war den Hamburgern  namentlich ein Begriff. Allerdings war unbekannt, wo sich dieses Unternehmen befand oder wer genau dahinter steckte. Bekannt war nur eine Telefonnummer für den ersten Kontakt, die jedoch selbst von Spezialisten nicht zu lokalisieren oder zuzuordnen war. Außerdem wusste Marone nicht mit Sicherheit, dass diese in der Unterwelt gefürchtete Detektei hinter dem nächtlichen Überfall steckte. Aber Rique gab sich diesbezüglich keinerlei Illusionen hin. Der Mafiaboss würde sicher ahnen, dass für eine solche Aktion niemand anderes infrage kam. Sorgen machte er sich deswegen nicht, dafür waren er und seine Männer zu unsichtbar. Das Problem war Katja. Sie musste nun unter seinem Schutz für lange Zeit von der Bildfläche verschwinden und ihr altes Leben hinter sich lassen.

Aber noch waren sie nicht fertig.

Ohne geschlafen zu haben, betraten Rique und Katja pünktlich zu Geschäftsbeginn die Räume der angesehenen Privatbank M.M. Warburg & Co in der Ferdinandstraße.

Das ehrwürdige Eckhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert mit seiner wuchtigen Fassade aus massiven Steinblöcken empfing sie mit einer angenehm kühlen Innentemperatur. Die große Eingangshalle beeindruckte mit einem Boden aus Marmor und Mosaiken, sowie mit großformatigen echten Gemälden an den Wänden. Kleine Sitzgruppen mit kunstvoll gedrechselten und fein gepolsterten Sesseln unterstrichen das luxuriöse Ambiente. Im Zentrum der Halle warteten zwei Bankangestellte in dunkelroten Jacketts hinter einer hohen, runden Empfangstheke auf ihre Besucher.

Dort angekommen wurden sie freundlich, aber auch ein wenig distanziert begrüßt. Rique wies auf Katja und sagte: »Guten Morgen, das ist Frau Katja Krömer. Sie ist Inhaberin eines Bankschließfaches in Ihrem Haus. Sie ist stumm, daher spreche ich für sie.«

»Haben Sie eine Nummer für mich?«, erwiderte der Mann hinter dem Tresen distinguiert.

Katja schob ihm einen Zettel mit der Nummer zu, die sie ermittelt hatten. Er entschuldigte sich kurz und überprüfte die Nummer in seinem Computer. Dann sagte er: »Das ist richtig. Dieses Schließfach gehört Ramona und Katja Krömer, jede der Damen hat uneingeschränkte, alleinige Verfügungsgewalt. Darf ich Sie bitten, sich auszuweisen?«

Katja gab ihm auch ihren Personalausweis. Nachdem der Angestellte sich von ihrer Identität überzeugt hatte, bat er die beiden, in einer der Sitzgruppen Platz zu nehmen und einen Moment zu warten. Nach zehn Minuten erschien aus dem hinteren Trakt des Gebäudes ein schlanker Herr von etwa 55 Jahren. Er hatte einen akkurat gezogenen Seitenscheitel, graue Schläfen und trug einen schwarzen Anzug. Mit einem freundlichen Lächeln stellte er sich als ihr Kundenbetreuer vor.

Er betrat mit ihnen einen Aufzug, der ins Untergeschoss fuhr. Dort erwarteten sie zwei bewaffnete Sicherheitskräfte, die ihnen eine zentimeterdicke Stahltür öffneten. Dahinter folgten sie ihrem Betreuer durch einen langen Gang in einen kleinen Raum. Dieser war mit barocken Tapeten ausgekleidet und beherbergte einen Tisch und vier geschmackvolle Sessel, wie sie sie bereits aus dem Foyer kannten. Dazwischen stand ein Servierwagen, und der Mann bat sie, hier zu warten und sich an den bereitgestellten Getränken zu bedienen.

Kurz darauf kam er zurück und stellte eine silberne Metallbox auf den Tisch, etwa so groß wie vier Schuhkartons.

»Das ist Ihre«, sagte er freundlich. »Möchten Sie, dass ich bei Ihnen bleibe, oder möchten Sie alleine sein?«

Rique ging um den Tisch herum und betrachtete die Box von allen Seiten. Nirgendwo konnte er irgendeinen Öffnungsmechanismus entdecken. Kein Schloss, keine Tastatur, kein Bedienfeld,  keine Zahlenrädchen. Nichts.

»Wie macht man die auf?«, fragte er verwirrt.

»Diese Box ist mit einer Stimmerkennung gesichert. Sie öffnet sich nur durch eine ganz bestimmte und einzigartige Stimmfrequenz. Frau Krömer hatte stets ein kleines Diktiergerät dabei, mit der Aufnahme einer...«, er hielt kurz inne, »...ich denke, es war die Aufnahme einer unsicheren Kinderstimme, wenn Sie mich fragen. Haben Sie diese Aufnahme nicht dabei? Ohne sie können Sie die Box nicht öffnen, tut mir leid.«

Rique und Katja sahen sich einen Augenblick verwundert an. Sie verband eine gemeinsam empfundene Vorahnung.

»Wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns alleine ließen«, wandte sich Rique an den hilfsbereiten Angestellten.

»Natürlich! Drücken Sie hier drauf, wenn Sie mich brauchen.« Er zeigte auf einen kleinen Knopf neben der Türe. Dann drehte er sich um, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Sie setzten sich an den Tisch und starrten gebannt auf die Box. Rique und Katja verstanden sich in diesem Moment ohne Worte. Beiden war klar, dass ihre Mutter eine dieser damals für Katja lästigen Sprechübungen aufgenommen und für diese Box als Schlüssel verwendet haben musste. Die Frage war, ob es auch auf bestimmte Worte ankam oder nur auf die Klangfrequenz.

Rique zog Ramonas Abschiedsgedicht aus der Tasche und zeigte Katja die letzte Zeile:

 

Vergib mir laut, ich liebe Dich

 

»Ich glaube...«, sagte er und deutete auf das Komma, »...dass hier kein Komma hingehört, sondern ein Doppelpunkt.« Er sah Katja an, und sie nickte zustimmend. Das war einleuchtend.

Sie drehte ihr Gesicht zu der silbernen Box auf dem Tisch und öffnete ihren Mund. Rique hielt den Atem an. Er sah eine flüchtige Röte auf ihren Wangen und bekam eine Gänsehaut. Noch kam kein Ton über ihre Lippen. Katja kämpfte mit ihrem Unbehagen, Laute zu erzeugen, die sie selber nicht hören konnte. Sie fühlte sich dabei verletzlich und ausgeliefert. Ihr Mund schloss sich wieder. Sie drehte sich zu Rique, erfasste seine kräftigen Hände mit den ihren und sah ihm hilfesuchend in die Augen. Bevor er wusste, wie er sie beruhigen konnte, öffneten sich ihre Lippen, und tief aus ihrer Kehle sickerte ein mühsames und kindlich-helles »Ih liibe dih« hervor.

Der Deckel der Box sprang an einer Seite einen Millimeter nach oben. Rique ignorierte es. Er schluckte, sein Herz raste, und in seinem Bauch kribbelte alles. Dann fragte er Katja, wie »Ich liebe Dich« in Gebärdensprache ginge. Sie ließ seine Hände los und machte es ihm vor. Dann empfing sie sein Liebesbekenntnis, und es rührte sie, dass er dies nun in ihrer Sprache sagte und dabei mit seinen Händen ebenso unsicher war, wie sie es in seiner Sprache war. Keinen von beiden kümmerte in diesem Moment die offene Box.

Sie hielten und sie küssten sich.

Erst danach öffneten sie den aufgesprungenen Deckel vollends und sahen in die Box hinein. Auf ihrem Boden fanden sie zwei Mappen, auf denen eine Visitenkarte lag. Sonst war nichts in der Box, kein Brief und auch keine Erklärung.

Es handelte sich um Laborergebnisse eines anerkannten Hamburger Instituts, die über 15 Jahre alt waren. Die eine Untersuchung schloss mit absoluter Sicherheit Lorenzo Marone als Katjas Vater aus. Die andere hingegen, ein sogenannter Geschwistertest, konstatierte mit 99%iger Sicherheit, dass Katja Krömer, Annika Peters und Björn Flemming Halbgeschwister seien, von verschiedenen Müttern, aber vom gleichen Vater. Genannt wurde der Vater in der Mappe nicht. Katja sah Rique fragend an. Diese Namen, Annika Peters und Björn Flemming, sagten ihr überhaupt nichts. Sie betrachteten die vorgefundene Visitenkarte. Sie gehörte einem Helmut Janssen, Journalist bei der Hamburger Morgenpost. War das Katjas Vater?

Sie würden es bald wissen.

 

Helmut Janssen war ein Mann von Anfang fünfzig. Er saß hinter einem voll gepackten Schreibtisch in seinem Redaktionsbüro. Als Rique und Katja herein gebeten wurden, stand er auf und begrüßte seine Besucher mit einem festen Händedruck. Er bat sie, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen und setzte sich selbst wieder dahinter. Eine Sekretärin brachte ihnen Kaffee.

»Sie sagten, es sei wichtig und dringend«, begann er das Gespräch, »was kann ich also für Sie tun?« Aufmerksam sah er seine Besucher an.

Rique überreichte ihm die Visitenkarte, die sie gefunden hatten, und zeigte ihm dann auf seinem Handy Fotos der Labormappen.

»Das ist ein negativer Vaterschaftstest«, erklärte er dazu, »und das hier ein Nachweis über die Halbgeschwisterschaft von Katja Krömer, einer Annika Peters sowie einem Björn Flemming. Bei diesen Unterlagen war auch Ihre Karte. Herr Janssen, ich frage Sie direkt heraus, was Sie damit zu tun haben.«

Der Journalist stellte seine Kaffeetasse wieder ab, die er sich gerade noch zum Mund hatte führen wollen und sah zuerst Katja und dann Rique lange an.

»Sie sind Katja Krömer?«, fragte er an die junge Frau gerichtet. Katja nickte.

»Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen. Haben Sie diese Unterlagen dabei? Ist es jetzt soweit?«, fragte er und schien alles, womit er bis dahin beschäftigt war, vergessen zu haben.

»Frau Krömer ist taubstumm, Herr Janssen«, mischte sich Rique ein. »Sie kann Ihnen von den Lippen lesen, wenn Sie artikuliert sprechen. Ansonsten gestalte ich die Unterhaltung, und um auf Ihre Frage zu antworten: Nein, wir haben die Unterlagen aus Sicherheitsgründen nicht dabei. Sie befinden sich in einem Bankschließfach. Ich muss Sie also enttäuschen.«

»Warum sind Sie dann hier?«, wollte Janssen wissen und lehnte sich langsam in seinem Drehstuhl zurück. Rique sah Katja von der Seite an, als suche er ihr stummes Einverständnis für das, was er nun sagen wollte.

»Herr Janssen, wir wissen nicht, was es mit diesen Unterlagen auf sich hat. Wir wissen auch nicht, was Sie damit zu tun haben. Sind Sie der Vater von Katja, Annika und Björn? Wir kennen auch die Familien Peters und Flemming nicht. Katjas Mutter Ramona ist vor vier Tagen umgebracht worden. Ihre Leiche befindet sich noch im gerichtsmedizinischen Institut. Sie hat diese Unterlagen Katja hinterlassen, allerdings haben wir bisher keine Erklärung dazu von ihr finden können. Können Sie uns aufklären?«

Helmut Janssen wurde erkennbar blass, und er begann, durch den offenen Mund zu atmen. Langsam richtete er sich in seinem Stuhl wieder nach vorne, sah beide nacheinander an und fragte dann: »Ist Luka Marone auch tot?«

Rique und Katja sahen sich verwundert an, dann nickten sie gleichzeitig. Helmut Janssen sank erschüttert zurück und hielt sich sichtlich betroffen die Hand vor den Mund. Dann rieb er sich nachdenklich zuerst die Schläfen und danach die Augenlider. Sie konnten sehen, dass sich seine Stirn in Sorgenfalten legte. Es war deutlich zu sehen, dass er mit sich rang.

»Sie hat keinerlei Ahnung? Sie kennt die Geschichte ihrer Mutter nicht?«, flüsterte er in Riques Richtung, so als glaube er, dass Katja ihn nur so nicht hören könne. Rique sah ihn ernst an und schüttelte den Kopf.

»Frau Krömer, Herr Allmers, ich warte seit vielen Jahren auf diese Laborergebnisse. Sie sind für mich bestimmt. Sie beweisen eine Geschichte, die seit ebenso vielen Jahren in meiner Schublade liegt und seitdem darauf wartet, veröffentlicht zu werden. Es ist eine extrem brisante Story, die ein gesellschaftliches und wirtschaftspolitisches Erdbeben in Hamburg auslösen wird, das kann ich Ihnen versprechen. Sie wird zwei angesehene Existenzen zerstören, und ich wünsche mir seit Jahren nichts sehnlicher, als diese Geschichte zu schreiben und damit zwei widerliche Verbrecher ans Licht zu zerren und an den Pranger zu stellen. Aber das geht nur mit diesen Laborergebnissen. Sie enthalten den Beweis für alles.«

Er stand auf und ging zu einer großen, gerahmten Urlaubsfotografie an der Wand. Er nahm sie kurz ab, so dass ein kleiner Wandtresor dahinter sichtbar wurde. Dann hängte er das Bild wieder darüber und setzte sich erneut hin.

»In diesem Tresor bewahre ich drei notariell beglaubigte, eidesstattliche Erklärungen auf, mit denen vor einigen Jahren drei Frauen an mich heran getreten sind. Darunter Ramona Krömer. Sie erzählten mir ihre Geschichten und baten mich, diese öffentlich zu machen, sobald sie mir auch diese Testergebnisse aushändigen würden. Es sei die Story meines journalistischen Lebens, sagten sie. Sie hatten Recht. Diese Story wird mich sehr berühmt machen. Allerdings hätte eine Veröffentlichung das Leben von Ramonas Sohn Luka gefährdet. Ramona Krömer war eine Schlüsselperson in dieser Angelegenheit. Deswegen vereinbarten wir gemeinsam, alle drei Frauen und ich, dass nur sie die Laborergebnisse sicher verwahrt. Eine Veröffentlichung sollte erst erfolgen, wenn Frau Krömer ihr Einverständnis dazu gibt. Dann nämlich, wenn ihrem Sohn etwas zustieße oder sich die Gesamtsituation anderweitig verändert habe.«

»Wie sind diese Frauen ausgerechnet auf Sie gekommen, Herr Janssen?«, fragte Rique.

Der Journalist sah ihm ernst in die Augen, dann sah er unsicher Katja an. Er nahm den Telefonhörer ab und drückte eine Kurzwahl.

»Uwe, schickst du mir bitte Tatjana hinauf? Es ist sehr wichtig. Danke!«

 

Die Frau, die kurz darauf das Büro betrat, war etwa Mitte oder Ende vierzig. Die Jahre hatten nur geringe Spuren der Zeit in ihrem Gesicht hinterlassen. Rique und Katja erkannten sofort die außergewöhnliche, natürliche Schönheit dieser Frau. Sie war groß und schlank, hatte volles und langes schwarzes Haar, große blaue Augen und hochstehende Wangenknochen. In jungen Jahren könnte sie ein gefragtes Model gewesen sein.

»Tatjana Flemming hatte hier ein Jahr zuvor als Sekretärin angefangen. Sie hat Nayla Peters und Ramona Krömer zu mir gebracht«, stellte Janssen sie vor. »Tatjana, das ist Katja Krömer. Sie weiß von nichts. Ihre Mutter hat ihr offenbar bis zum Schluss alles verschwiegen. Mir fällt es schwer, sie aufzuklären. Ich denke, das kannst du besser.«

Die Frau legte sich ungläubig die Hand vor den Mund. Als Katja aufstand, um ihr die Hand zu geben, nahm Tatjana Flemming sie unvermittelt in den Arm und fing an zu weinen. Dann nahm sie sich einen Stuhl, und die beiden Frauen setzten sich dicht gegenüber. Tatjana wusste wohl, dass Katja nichts hören konnte, denn sie artikulierte ihre Worte bewusst deutlich, ohne darauf aufmerksam gemacht worden zu sein.

»Sie hat dir überhaupt nichts erzählt?«

Katja schüttelte den Kopf. Tatjana Flemming vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und kämpfte wieder mit ihrer Fassung. Sie schluckte und weinte. Katja ergriff ihre Hände und zog sie sanft von ihrem mit Tränen überströmten Gesicht. Sie hielt sie fest und formte ein Bitte mit ihren Lippen.

»Es ist nicht schön, Katja. Nicht schön. Gar nicht schön«, brachte sie leise hervor. Katja drehte sich zu Rique um und sah ihn unsicher an. In seinem Blick erkannte sie dieselbe sorgenvolle Ratlosigkeit, die sie empfand. Er war ebenso beunruhigt und angespannt wie sie.

»Ich stamme aus Rumänien«, begann Tatjana nun ihre Geschichte, »genau wie deine Mutter und Nayla Peters. Wir haben alle später einen deutschen Mann geheiratet. Mitte 1990 wurden wir, wie viele andere junge Mädchen, mit dem falschen Versprechen nach Deutschland geschleust, hier in der Gastronomie zu arbeiten. Tatsächlich zwang man uns zur Prostitution.«

Katja wich die Farbe aus dem Gesicht. Sie dachte an ihre Mutter, die ihr das niemals erzählt hatte. Aber sie fand zunächst auch keinen Grund, dieser fremden Frau nicht zu glauben. Tatjana räusperte sich und erzählte nun flüssiger:

»Wir wurden nach Aussehen, Bildung und Herkunft in drei Kategorien einsortiert. Die Mädchen der dritten Kategorie verkauften die Schleuser an verschiedene billige Bordelle. Die zweite Kategorie kam in gehobenere Clubs, und die erste Kategorie setzte sich aus Mädchen und Frauen zusammen, die außergewöhnlich hübsch und gebildet waren. Nayla, Ramona und ich fanden uns in dieser Kategorie wieder. Frauen der ersten Kategorie wurden direkt an die großen Bosse verkauft. Wir drei gehörten zu einer Gruppe von Frauen, die zu Lorenzo Marone kamen. Wir mussten seine wichtigsten Kunden und Geschäftspartner befriedigen.«

Katjas Hände umklammerten so krampfhaft die Stuhllehnen, dass ihre Handrücken fast weiß wurden. Sie starrte diese Frau an, verwirrt, geschockt, fassungslos. Doch bei dem, was Tatjana Flemming nun berichten sollte, musste sie sich zwingen, nicht in Tränen auszubrechen oder ihr Gesicht in ihren Händen zu vergraben. Mühsam rang sie um ihre Selbstbeherrschung, die sie brauchte, um den sprechenden Lippen folgen zu können. Und diese Lippen würgten die nun kommenden Worte mehr heraus, als dass sie sie formten. So sehr bewegten Tatjana die eigenen Erinnerungen an diese Zeit.

»Einer dieser Männer war süchtig danach, neu eingetroffene Frauen als Erster zu vergewaltigen. Zu einem Zeitpunkt, an dem noch kein anderer sie hatte. Zu einem Zeitpunkt, als wir noch nicht resigniert hatten und abgestumpft waren, sondern in dem Moment, als unsere Angst, unsere Abscheu und unser Widerwille noch am größten waren. Das genoss dieser Mann. Sein Name ist Werner Hecht, ein hoher und einflussreicher Beamter der Stadtentwicklungsbehörde.«

»Hecht...«, murmelte Rique in sich hinein.

»Dazu eingeladen hatte ihn stets der eigentliche Geschäftspartner von Lorenzo Marone, Gerhard Stör, einer der Inhaber des berühmten Hamburger Architekturbüros Stör & Stör.«

»Hecht und Stör...«, wiederholte Rique leise.

»Stör ermöglichte und bezahlte diese teure und perverse Leidenschaft von Hecht. Stör selbst wohnte diesen Erstvergewaltigungen stets bei. Er ergötzte sich dabei an unserer Verzweiflung und an unserem vergeblichen Widerstand. Damit befriedigte er sich und entlud sich dann über uns. Die beiden haben sich auf diese Weise an Dutzenden von uns vergangen, auch an mir, an Nayla und an deiner Mutter.«

Rique legte Katja vorsichtig die Hand auf die Schulter, um ihr zu zeigen, wie nah er bei ihr war. Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Augen waren geweitet und schwammen in Tränen. Er nahm sie in seine Arme. Schluchzend verlor sie ihre Fassung. Sie brauchte mehrere Minuten, bis sie sich von Rique lösen und sich wieder zu Tatjana drehen konnte.

»Nachdem er uns Hecht und Stör überlassen hatte, nahm sich Marone die in seinen Augen schönste von uns zur dauerhaften und exklusiven Gespielin. Das war Ramona. Von da an musste sie nicht mehr mit anderen Freiern schlafen, sondern nur noch mit ihm. Dann wurde deine Mutter mit Zwillingen schwanger, mit dir und Luka. Das passierte nicht selten. Sie war nicht die einzige, die in dieser Zeit schwanger wurde. Die Kinder dieser Frauen wurden damals stets in einer von Marone kontrollierten Privatklinik zur Welt gebracht und mit allen erforderlichen Dokumenten versehen. Und bald nach der Schwangerschaft mussten die Mütter wieder ran. Ein halbes Jahr nach eurer Geburt hatte sich Marone eine neue Gespielin ausgesucht. Deine Mutter war fortan für ihn wieder nur eine von mehreren Frauen, die er bei sich zu Hause gefangen hielt und die dort seine Geschäftspartner bedienen mussten. Fast drei Jahre lang war sie dort. Dann verliebte sich einer ihrer regelmäßigen Freier in sie, Leonard Krömer, ein Juwelier, dein späterer Adoptivvater. Er versprach ihr, sie da rauszuholen, wenn sie ihn dafür heirate. Damit war deine Mutter einverstanden.«

Katja hielt sich inzwischen die Hände vor den Mund. Ihr wurde schlecht. Sie verspürte immer wieder den Impuls, sich zu übergeben. Sie zweifelte aber keinen Moment mehr an Tatjanas Bericht. Auch wenn ihr Körper vor Verzweiflung zitterte, blieben ihre Augen an Tatjanas Lippen.

»Krömer musste sie Marone abkaufen. Zu einem sehr hohen Preis. Der Preis, den sie selbst bezahlen musste, war ungleich höher: Luka.  Lorenzo Marone war davon überzeugt, dass er euer Vater sei. Und er wollte und brauchte einen Sohn. Er überließ dich deiner Mutter, bestand aber darauf, Luka zu behalten. Deine Mutter akzeptierte, auch wenn es ihr extrem schwer fiel und sie all die Jahre sehr darunter gelitten hat.«

Inzwischen spürte Katja nichts mehr. Sie fühlte sich nur noch leer und ausgepumpt. Rique war mittlerweile mit seinem Stuhl neben sie gerückt und hielt ihre Hand.

»Nayla und ich sollten noch zwei weitere Jahre in dieser Hölle leben. Dann aber beendete Lorenzo Marone sein Geschäft mit der Prostitution und verlegte sich auf andere kriminelle Felder. Wir wurden an Bordelle verkauft, lernten irgendwann unsere heutigen Männer kennen und leben seitdem in einer relativen Normalität. Wir drei trafen uns ab und zu. Nicht oft, denn jedes Wiedersehen brachte frühere Bilder zurück und riss alte Wunden auf. Aber bei einem dieser Treffen redeten wir darüber, dass wir nahezu gleichzeitig schwanger geworden waren. Ramona berichtete, dass sie ihre Schwangerschaft schon gefühlt hatte, noch bevor Lorenzo sie ein paar Tage später zu seiner Gespielin nahm. Wir vermuten, dass dieser Widerling Werner Hecht uns drei geschwängert hat. In den letzten zwanzig Jahren durfte Ramona ab und zu Lorenzo Marone besuchen, um ihren Sohn zu sehen, vorausgesetzt sie gab sich ihm nicht als seine Mutter zu erkennen. Bei einem dieser Besuche entwendete sie unbemerkt ein paar von Marones Haaren vom Kragen einer seiner Jacken. Wir bezahlten einen Vaterschaftstest und stellten fest, dass er nicht euer Vater ist. Dann ließen wir ein sehr aufwendiges Verfahren machen, einen  sogenannten Geschwistertest. Damit kann man auch ohne eine Probe des Erzeugers feststellen, dass unsere Kinder alle denselben Vater haben müssen. Wir sind uns sicher, dass es Hecht ist. Deine Mutter hat vor ein paar Jahren Marone von den Ergebnissen erzählt. Er war geschockt, dass Luka doch nicht sein Sohn sei. Ramona hoffte, er gäbe ihn ihr zurück, aber das tat er nicht. Er benutzte ihn stattdessen als Druckmittel, um sich selbst und seinen Geschäftsfreund Stör vor der Veröffentlichung dieser Akten zu schützen.«

Nachdem Tatjana Flemming geendet hatte, sagte lange niemand etwas. Die Stille legte sich wie Blei auf alle Anwesenden. Dann plötzlich presste Katja ein kehliges »Heh« hervor, stand auf und zeigte auf das Urlaubsbild, hinter dem sie den Wandtresor wusste. Helmut Janssen stand auf, nahm das Bild ab und öffnete den Tresor. Er holte die eidesstattlichen Erklärungen der drei Frauen heraus und reichte sie Katja. Die nahm nur jene ihrer Mutter und überflog die Zeilen, als ob sie sich vergewissern musste, dass das soeben erfahrene Grauen tatsächlich bitterer Ernst war. Dann gab sie sie Janssen zurück, ging zu Tatjana Flemming und umarmte sie. Die beiden Frauen hielten sich stumm eine Weile, dann nahm Tatjana Katjas Gesicht in die Hände, um sie direkt ansprechen zu können.

»Katja, es tut mir sehr leid. Die Wahrheit tut mir leid. Du tust mir leid. Es tut mir um Ramona und deinen Bruder leid. Diese beiden Männer und Lorenzo Marone haben sehr, sehr viel Leid über viele Menschen gebracht. Und deine Mutter und wir haben viele Jahre darauf gewartet, diese perversen Arschlöcher ans Licht zu zerren und öffentlich zu brandmarken. Ihre Taten sind leider inzwischen verjährt, wir können sie nicht mehr ins Gefängnis bringen. Aber wir können sie und ihre Familien zerstören. Und vermutlich auch ihre Existenz. Stör & Stör sind in den 90ern so groß und berühmt geworden, weil sie alle lukrativen Aufträge von der Stadtentwicklungsbehörde bekamen. Wir wissen, warum. Das würde alles aufgerollt, sie kämen auf die schwarze Liste für öffentliche Aufträge und müssten vermutlich eine so hohe Strafe zahlen, dass sie sich nicht mehr davon erholen würden.«

Sie sah Katja eindringlich an.

»Gib uns die Unterlagen. Bitte!«, flehte sie.

Katja löste sich von ihr, drehte sich zu Janssens Schreibtisch, nahm einen Stift und riss ein Stück Papier aus einem dort liegenden Schreibblock. Dann schrieb sie etwas auf, drückte Tatjana diesen Zettel in die Hand, ergriff Rique und zog ihn mit sich hinaus. Der Journalist und die Sekretärin sahen ihnen verwundert hinterher. Dann drehte Tatjana Flemming den Zettel in ihrer Hand und las:

Sie haben tausendmal mehr erlitten, als ich es heute musste. Ich danke Ihnen für alles. Ich denke über Ihre Worte nach und melde mich wieder hier.