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Während Chen Lu den Golf durch die Straßen Hamburgs lenkte, sprach Rique mit Katja. Sie nickte in regelmäßigen Abständen, um ihm zu zeigen, dass sie ihn über seine Lippen verstehen könne.

»Ich bin mir ganz sicher, dass dieses Foto in der Zeitung deine Mutter in Panik versetzt hat. Das kann kein Zufall sein. Sie hat dir als kleines Kind eine Tätowierung stechen lassen, das hat mich stutzig gemacht. Und jetzt treffen wir auf eben diese Tätowierung bei dem einzigen nennenswerten Vorfall der letzten Tage, von dem sie vermutlich gelesen hat. Ich glaube, deine Mutter hat dir nicht die Wahrheit gesagt. Die 2 auf deinem Arm bedeutet nicht, dass du am 2. Juni geboren bist, sondern dass du die Zweite in irgendeiner Reihe bist, und dieser junge Mann war die Nummer 1.«

Er unterbrach sich, weil sein Handy klingelte.

Katja wurde kreidebleich. Bedeutete das, dass man nun hinter ihr her sei, nachdem man die Nummer 1 erledigt hatte? Und was hatte das Ganze überhaupt zu bedeuten? Was sollte das für eine Reihe sein, in der sie die Nummer 2 bildete?

Ihr wurde schwindelig. Hatten ihre Eltern etwas vor ihr verheimlicht?

Rique legte auf und sah Chen Lu von der Seite an. »Das war Andree«, sagte er, »der Tote hieß Luka Marone.«

»Scheiße!«, platzte es aus Chen Lu heraus. Sie schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad.

Katja tippte Rique auf die Schulter und sah ihn mit einem auffordernd fragenden Blick an. Sie hatte den Namen, den er Chen Lu nannte, mitlesen können und wollte wissen, warum dieser Name Chen Lu aufgeregt habe.

»Marone ist einer jener Clans, die große Teile der Hamburger Unterwelt kontrollieren: Schutzgeld, Drogenhandel, Prostitution«, erklärte er ihr. »Luka Marone wird ein Sohn, Neffe oder Enkel des Clan-Chefs Lorenzo Marone gewesen sein.« Katja hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.

»Katja, sei mir nicht böse, aber ich muss dich das fragen. Hatte deine Mutter früher einmal was mit diesem Milieu zu tun?«

Die junge Frau sah ihn empört an und schüttelte heftig den Kopf. Rique kratzte sich am Kinn. Er musste nachdenken.

 

Sie bogen in die Gerstäckerstraße ein. Es war eine kurze Sackgasse, die in einem Wendekreis mündete. Katja deutete auf ein achtstöckiges Haus. Als sie ausgestiegen waren und sich dem Haus näherten, verließ ein älterer Mann es gerade mit seinem Hund. Sie schlüpften zu dritt schnell an ihm vorbei ins Treppenhaus. Es gab zwar einen Aufzug, aber Rique wollte das Risiko nicht eingehen, plötzlich vor einem der Männer zu stehen, wenn sich gerade die Fahrstuhltür öffnete. Also nahmen sie die Treppen und gingen bis in den siebten Stock. Dort angekommen bemerkten sie nichts Ungewöhnliches. Ritas Wohnungstür sah unbeschädigt aus und war verschlossen. Rique lauschte und öffnete sie vorsichtig mit dem Dietrich aus seinem Gürtel.

»Du wartest wieder hier«, flüsterte er Chen Lu zu, »das hat ja eben wunderbar funktioniert.«

Die zierliche Frau mit den schnellen Händen nickte und ließ Rique mit Katja in die Wohnung. Die war komplett verwüstet. Schubladen waren heraus gerissen und ihr Inhalt auf dem Boden verstreut. Polster, Kissen und Matratzen waren aufgeschlitzt, Schranktüren standen offen. Aus dem Bücherregal im Wohnzimmer hatten sie alle Bücher entnommen, durchfächert und dann einfach fallen lassen.

»Wonach sie suchen, muss wirklich wichtig sein«, murmelte Rique. In der Küche war das Chaos noch schlimmer. Die Türen der Hängeschränke standen offen. Pakete mit Nudeln, Reis und Mehl waren auf dem Küchenboden ausgekippt. Doch dann entdeckte Rique neben vielen Gewürzdosen die halbvolle Flasche mit Olivenöl, von der Rita gesprochen hatte. Sie war den Tätern nicht verdächtig vorgekommen. Rique griff sich die Flasche, Katja nahm eine Schüssel und stellte sie auf die Arbeitsplatte. Sie leerten die Flasche in dieser Schüssel aus, und heraus fiel auch ein kleiner Schlüssel mit der Nummer 371.

Die beiden tauschten einen vielsagenden Blick aus. Rique spülte den Schlüssel unter fließendem Wasser ab und steckte ihn sich dann in die Hosentasche. Katja hingegen strich ihm über den Unterarm, sah zu ihm auf und lächelte ihn entschlossen an. Sie war ebenso neugierig darauf, was sie in dem Schließfach vorfinden würden, wie er.

 

*

 

Im Hauptbahnhof steuerten sie auf die Halle mit den Schließfächern zu. Rique flüsterte Chen Lu zu, sie möge sich etwas abseits halten und sie decken. Die Chinesin drehte sich um und war plötzlich in einer Menschenmenge verschwunden. Katja sah ihr nach, konnte sie aber nicht mehr entdecken. Es erschien ihr, als könne Chen Lu sich tatsächlich unsichtbar machen. Dann standen sie vor dem Schließfach 371, und Rique übergab der jungen Frau den Schlüssel. Immerhin gehörte alles ihr, was sich in diesem Schließfach befand. Sie sah ihn zunächst etwas unsicher an, dann führte sie den Schlüssel mit leicht zitternden Händen ins Schloss und drehte ihn. Das Fach öffnete sich, und Katja entnahm ihm einen dünnen Umschlag, auf dem ihr Name stand. Sie erkannte die Handschrift ihrer Mutter und wollte den Umschlag an Ort und Stelle öffnen, aber Rique ergriff ihre Hand.

»Später! Wenn wir unbeobachtet sind.«

Er hatte es sich mittlerweile angewöhnt, ihr automatisch den Kopf zuzuwenden, wenn er mit ihr sprach. Sie verstand ihn mit den Augen.

Dann verließen sie den Bahnhof im Vertrauen darauf, dass Chen Lu ihnen folgen würde. Tatsächlich stieß sie am Auto zu ihnen.

»Was ist es?«, fragte sie neugierig.

Katja wies auf den Umschlag und zuckte mit den Schultern. Dann stiegen sie ein und fuhren los. Sowohl Chen Lu als auch Rique sahen sich öfter um und in die Spiegel, um zu prüfen, ob ihnen jemand folgte. Aber das war nicht der Fall.

Auf dem Rücksitz öffnete Katja vorsichtig den Umschlag und zog zwei Blatt Papier heraus. Auf ihnen standen einfach nur Dutzende Zahlenreihen, die alle mit einem L begannen:

 

L2873453

L12466352

L6623987

u.s.w.

 

Katja ahnte sofort, was sie zu bedeuten hatten, zeigte Rique die Blätter und mimte mit ihrer rechten Hand, dass sie etwas zum Schreiben bräuchte. Rique öffnete das Handschuhfach und reichte ihr einen Kugelschreiber. Katja schrieb ihm eine Adresse auf den Umschlag, die er sofort in das Navigationsgerät eingab. Es war jene Adresse, wo sie mit ihrer Mutter lebte.

Ein Reihenhaus in Gross Flottbek.

 

Beim Näherkommen fiel Rique ein silberner Mercedes mit zwei Männern darin auf, der unweit des Hauses stand. Offenbar warteten sie auf Katja.

»Fahr langsam weiter!«, raunte er Chen Lu zu und bedeutete Katja mit einer energischen Handbewegung, sich zu ducken und flach hinzulegen. Chen Lu fuhr ohne Hast an dem Mercedes vorbei und bog an der nächsten Kreuzung einfach rechts ab. Rique blickte nach hinten und registrierte beruhigt, dass die Männer nicht reagierten.

Katja richtete sich auf. Ihr Plan war es, den Gedichtband aus dem Haus zu holen, um damit die Nachricht ihrer Mutter entziffern zu können. Aber sie könnten sich genauso gut ein Exemplar in einer Buchhandlung besorgen, dachte sie, und schrieb für Rique das Wort »Buchhandlung« auf den Umschlag.

 

Eine halbe Stunde später parkte Rique den Wagen wieder in jener Garage, aus der sie nach ihrer Flucht über die Dächer aufgebrochen waren. Die drei stiegen aus. In Katjas Händen befanden sich zwei dünne, hellblaue Bücher und der Umschlag aus dem Schließfach. Sie und Chen Lu folgten Rique in ein benachbartes Geschäft. Über eine vier Meter lange Schaufensterfront stand geschrieben: Neptun Meeresaquaristik. Im Inneren stand eine Verkaufstheke aus blau-weißem Paneelholz an der rechten Seite. Eine junge Verkäuferin in Jeans und mit kurzen Haaren begrüßte sie mit einem Lächeln. Überall war maritime Dekoration zu sehen, und gegenüber der Theke stand ein in Betrieb befindliches Aquarium, in dem sich mehrere Clownfische tummelten.

Chen Lu winkte ihnen zu: »Huhu Nemos.«

Rique führte die beiden Frauen durch einen größeren Raum mit dreistöckig angelegten Aquarien, in denen sich Doktorfische, bunte Korallen und ein ganzer Schwarm Fahnenbarsche befanden. Dahinter folgte ein Büro, das unaufgeräumt aussah. Auf dem Schreibtisch türmten sich Belege und Unterlagen. Aktenordner und Fachbücher lagen kunterbunt durcheinander auf einem Seitentisch. In einer Ecke schlief ein großer brauner Hund auf seiner Wolldecke.

Rique begab sich vor eine Stahltür in der Wand und legte seine rechte Hand auf eine Sensorfläche daneben. Es war nur ein leises Klicken zu hören, dann öffnete Rique die Tür. Sie gingen durch einen kurzen, spärlich beleuchteten Gang, der zu einem großen Raum ohne Fenster führte. Beherrscht wurde der Raum im Zentrum von einer riesigen Schreibtisch-Konstellation in Hufeisenform. An jeder Seite saß ein Mann hinter vier Monitoren und war beschäftigt. Der Raum wurde von Leuchten an der Decke erhellt, die ein Licht erzeugten, das dem Tageslicht ähnlich war. An den Wänden standen mehrere Stahlschränke, in einer Ecke befand sich eine kleine Küchenzeile, auf der eine Kaffeemaschine blubberte.  Als die Männer Rique bemerkten, sagte einer von ihnen:

»Captain auf Brücke!«

Das war Andree, der an der Kopfseite saß.

Ein untersetzter kleiner Computerfreak von Mitte vierzig mit einem langen, schwarzen Vollbart und einer Hornbrille mit dicken Gläsern.

»Hat es dich erwischt?«, fragte er, als er die Armschlinge um Riques Schulter sah. Aber Rique winkte nur ab, es sei nicht der Rede wert.

»Ist das die Verschleppte?«, fragte Andree dann und zeigte mit dem Finger auf Katja. »Hallo Chen Lu«, fügte er hinzu und hob entschuldigend die Hände. Rique legte Katja die Hand auf die Schulter und erwiderte:

»Meine Vermutung war falsch. Sie wurde nicht hierher gelockt. Sie ist Deutsche, aber sie hat ein Problem mit Marone. Warum wissen wir noch nicht, aber wir werden es heraus bekommen.«

Dann ging er zu einem der beiden anderen Männer, die im Gegensatz zu Andree jung und durchtrainiert aussahen. »Was Neues in Sachen Jasmin?«, fragte er ihn. »Ich bin dicht dran«, kam es von dem Mann zurück. »Morgen treffe ich einen vielversprechenden Informanten, könnte uns allerdings einiges kosten.«

Dann winkte Rique die beiden jungen Frauen in einen Nachbarraum mit einem Konferenztisch, der für Lagebesprechungen genutzt wurde. Katja folgte nur zögernd. Mit aufgerissenen Augen sah sie sich um und bestaunte die hochmoderne Kommandozentrale. Rique holte zwei Schreibblöcke und eine Handvoll Stifte aus einem Seitenschrank und legte alles auf den Tisch. Nachdem auch Katja endlich im Konferenzraum war, setzten sie sich zu dritt an den Tisch. Rique schob ihr einen der Blöcke hin, wies auf die Stifte und bat sie, aufzuschreiben, was sie denke und was sie vorhabe.

Ich bin mir ziemlich sicher, was meine Mutter hier gemacht hat, schrieb sie und Rique nickte. Diese Zahlenreihen beginnen alle mit einem L. Dahinter folgen sieben oder acht Ziffern. Sie legte die beiden Blätter aus dem Umschlag auf den Tisch und deutete mit der Spitze ihres Kugelschreibers auf die mit einem L beginnenden Zahlenreihen. Ich glaube, schrieb sie weiter, dass das L und die erste, beziehungsweise die ersten beiden Ziffern ein bestimmtes Gedicht in meinem Buch bezeichnen. Die letzten sechs Ziffern in jeder Zeile markieren Buchstaben in dem jeweiligen Gedicht.

Sie hob einen Zeigefinger, um ihm verständlich zu machen, dass sie ihm vorführen wolle, was sie meinte. Rique nickte ihr auffordernd zu. Sie wies auf die erste Zahlenreihe.

 

L2873453

 

Dann trennte sie mit einem Bleistiftstrich die letzten sechs Ziffern vom Rest der Zeile.

 

L2/873453

 

Sie zeigte mit dem Finger auf den ersten Teil „L2“, schlug eines der beiden mitgebrachten Bücher auf und blätterte bis zum dreizehnten Gedicht darin. »Stop!«, unterbrach Rique sie und legte seine Hand auf die ihre. »Wenn ich eure Kennung richtig in Erinnerung habe, müsste L2 das zweite Gedicht bedeuten oder nicht?«

Katja nickte lächelnd. Dann schrieb sie in den Block: Die Kennung bezeichnet das zweite Gedicht, das ich geschrieben habe, aber der Verlag hat sie in einer anderen Reihenfolge in das Buch gedruckt. Im Buch ist es das dreizehnte.

Rique formte mit seinen Lippen ein stilles und anerkennendes Wow. Katjas Mutter hatte ihre Botschaft absolut wasserdicht gemacht, sollten ihre Feinde doch das Schließfach ermitteln und die Zahlenreihen darin finden. Katja wandte sich wieder dem Gedicht zu, das sie aufgeschlagen hatte. Dann schaute sie noch einmal auf die sechs Ziffern in der Botschaft ihrer Mutter: 873453

Sie zählte bis zur achten Zeile und in dieser bis zum siebten Buchstaben. Ein »W«. Dann dritte Zeile, vierter Buchstabe. Ein »A«. Und zuletzt fünfte Zeile, dritter Buchstabe, ein »R«.

 

War

 

Rique und Katja sahen sich in die Augen. »Du könntest Recht haben. Also dann, lass es uns versuchen«, sagte er.

Katja griff sich den zweiten Gedichtband und kennzeichnete für Rique alle 24 Gedichte mit der richtigen, der ureigenen Kennung von L1 bis L24, wie sie sich aus der Chronologie ihres Entstehens ergab. Dann schob sie es Rique zusammen mit dem zweiten Blatt ihrer Mutter hin, während sie sich das erste vornahm.

Das Ganze würde etwas Zeit in Anspruch nehmen, dachte sich Chen Lu. Sie stand auf, trat an Katja heran und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Dann drückte sie ihr einen Kuss auf die Wange und reckte anerkennend einen Daumen nach oben. Katja fühlte sich geschmeichelt und lächelte sie an. Dann war die Chinesin auch schon auf dem Weg zu den Männern im Nebenraum.

»Na, Dicker? Schon ne Freundin gefunden?«, rief sie Andree entgegen, als sie den Besprechungsraum verließ.

»Klappe, Schlitzauge«, hallte es zurück.

 

Rique blätterte und blätterte, zählte Zeilen und Buchstaben, schrieb einen nach dem anderen auf und kontrollierte sie permanent auf ihre innere Logik und Schlüssigkeit. Katja tat mit ihrem Teil der Botschaft das Gleiche und war dabei sehr konzentriert, um keinen Fehler zu machen. Und obwohl die ermittelten Buchstaben in sich schlüssige Wörter ergaben, wurde sie aus ihnen noch nicht schlau.

Rique war etwas langsamer als Katja, weil er sich hin und wieder verführen ließ, einige Gedichte zu lesen. »L11« beispielsweise lautete:

 

Sehnsucht

 

Flieg Gedanke flieg

Überbrück den langen Weg

Überwinde Zeit und Raum

Erzähl von meinem Traum

Überbringe Sehnsucht, Liebe, Lust

Und leg mein Herz an seine Brust

 

Er fühlte, dass dieses Gedicht aus Katjas Feder stammte. Als er endlich fertig war, trugen sie ihre Ergebnisse zusammen und fügten diesen noch die vermuteten Kommata hinzu.

Die Botschaft Ramonas bestand aus einer Reihe unzusammenhängender Worte, gefolgt von einem neuen Gedicht:

 

Warburg, Morgentau, Berührung, Sehnsucht, Winterzeit, Horizont, Ophelia

 

Die Lüge war's, die traurig mich gemacht

Doch leichter wog sie über jenem Schmerz

Verschlossen tief in dunklem Schacht

Der Wahrheit Gift, mein stummes Herz

 

Hab mit Schwüren und mit Schweigen

Dein eigen Blut von uns getrennt

Aus meinem Grabe wird nun steigen

Des Erbes Feuer, das Hecht und Stör verbrennt

 

In Deiner Kehle nur der Schlüssel steckt

Ans Licht zu holen, was Dir glich

Ein Gift, das süß nach Rache schmeckt

Vergib mir laut, ich liebe Dich

 

Katja liefen Tränen über die Wangen. Die Erkenntnis, ihre Mutter endgültig verloren zu haben, drängte sich plötzlich mit aller Macht in ihr Bewusstsein. Rique nahm sie in den Arm und hielt sie stumm fest. Chen Lu kam zurück. Als sie die weinende Katja in Riques Armen sah, ging sie zum Tisch, nahm den Bogen mit der Lösung und las.

»Oh Mann«, sagte sie und schluckte. Dann legte sie den Bogen zurück, setzte sich davor und strich mit ihrem Finger über einzelne Zeilen des Gedichtes. »So, wie es aussieht, hat Katjas Mutter etwas Bedeutendes vor ihr verheimlicht. Dieses Gedicht klingt wie eine Beichte«, sagte sie.

Katja wischte sich die Tränen weg und löste sich aus Riques Umarmung. Dann setzten sich die beiden zu Chen Lu. Rique lehnte sich zurück und ergriff einen Laptop, der hinter ihm auf einem Sideboard lag und startete ihn. Er tippte die Zeilen, die sie zusammen getragen hatten, sauber ab und drehte sich dann zu Katja.

»Hast du was dagegen, wenn ich es sechsmal ausdrucke und die Jungs vorne mitdenken lasse?«

Katja schüttelte den Kopf als Zeichen ihres Einverständnisses. Schnell kamen sechs Kopien aus dem Drucker und wurden verteilt. Katja schrieb auf einen Zettel: Das sind Titel einiger Gedichte und deutete auf die voran gestellte Wörterreihe.

»Das war mir auch aufgefallen«, meinte Rique.

Aber Warburg nicht, ergänzte sie schriftlich.

»Warburg liegt in Nordrhein-Westfalen«, stellte Rique fest. »Möglicherweise...«, spekulierte er, »...bekommen wir eine Telefonnummer in Warburg, wenn wir die Kennungen dieser Gedichte aneinander reihen?«

Katja erstrahlte. Das erschien vielversprechend. Erneut ergriff sie einen Stift und notierte die mutmaßliche Telefonnummer, denn sie kannte die Kennungen aller Gedichte auswendig.

 

671124312

 

»Das ist aber eine ungewöhnlich lange Nummer für das kleine Städtchen Warburg«, sagte Rique nachdenklich. Er nahm den Zettel mit der Nummer und brachte ihn zu Andree. Dieser solle prüfen, ob es diese Telefonnummer in Warburg gäbe und wenn ja, wem sie gehöre. Die beiden jungen Frauen stellten sich erwartungsvoll in den Türrahmen und sahen zu, wie der bärtige Mann durch die dicken Gläser seiner Brille hindurch auf einen der Monitore starrte. Er klickte mit der Maus und gab etwas über die Tastatur ein.

Entschuldigend schüttelte er den Kopf.

»Die längste Nummer in Warburg hat nur fünf Stellen«, sagte er. »Es ist auch keine Durchwahl, denn es gibt weder 671-0 noch 6711-0.«

»Warburg ist aber nicht nur eine Stadt«, warf einer der beiden sportlichen Mitarbeiter ein, der Maik genannt wurde. »Warburg ist auch eine noble Privatbank, die hier in Hamburg eine Filiale unterhält.«

Rique nahm sich das Stück Papier und betrachtete noch einmal die lange Nummer.

»Dann ist das hier vielleicht eine Kontonummer oder auch ein Bankschließfach bei dieser Bank«, mutmaßte er. Die beiden Frauen im Türrahmen schauten zuerst sich, dann wieder Rique an.

»Maik, kläre bitte mal ab, ob bei Warburg die Kenntnis einer Schließfachnummer ausreicht, um Zugriff darauf zu haben. Andree? Wo hat diese Warburg-Bank ihre Hamburger Filiale?«

»Habe gerade nachgesehen«, erwiderte der wie aus der Pistole geschossen. »Es ist die M.M.Warburg & Co in der Ferdinandstraße 75.«

Im Raum war es ganz still, während Maik mit der Bank telefonierte. Als er aufgelegt hatte, drehte er sich zu den anderen um und sagte:

»Die Nummer reicht nicht. Man muss sich zusätzlich als Schließfachinhaber ausweisen.«

Gerade als er sich wieder zu seinen Monitoren drehen wollte, schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ach, Mist! Jetzt habe ich vergessen zu fragen, wie lang deren Kontonummern sind«, fluchte er.

»Brauchst Du nicht«, beruhigte ihn sein Boss, »es ist keine Kontonummer, es ist ein Tresor.«

»Und woher willst du das so genau wissen, Miss Marple?«, mischte sich jetzt Chen Lu ein. Rique überging die Miss Marple, nahm einen der Ausdrucke mit dem Gedicht und sagte: »Weil es hier steht, Dr. Watson - verschlossen tief in dunklem Schacht – es ist ein Banksafe, ganz sicher!«

Chen Lu trat an ihn heran und schaute auf die Zeilen in seiner Hand: »Wow! Du hast ja doch mehr drauf, als mit umher fliegenden Kugeln  Torwart zu spielen, Sherlock«, rief sie heraus.

»Hier steht außerdem«, setzte Rique seine Kombinationen für alle hörbar fort, »dass Ramona ihre Tochter zu etwas auffordert. Es ist also nicht nur eine Beichte, Inspektor Craddock.«

Bei diesen Worten strubbelte er der ganz nah bei ihm stehenden kleinen Chinesin mit der Hand durch die Haare. Die schüttelte mit ihrem ganzen Körper diese kompromittierende Geste ab, trat einen Schritt zur Seite und strafte ihr großes Vorbild mit einem Blick, in den sie den Ausdruck einer kunstvoll arrangierten Wut legte.

»In Deiner Kehle nur der Schlüssel steckt. Ans Licht zu holen, was Dir glich«, zitierte er laut aus dem hinterlassenen Gedicht. Er drehte sich zu Katja um, die immer noch im Türrahmen zwischen den beiden Räumen stand. Sie hatte alles verfolgt und war vor Aufregung kaum imstande, sich zu bewegen.

»Ich bin mir sicher, dass dir deine Mutter etwas in einem Bankschließfach hinterlassen hat, das nur du bekommen sollst.«

»Etwas, das eine Rache ermöglicht«, ergänzte Jérome leise, der zweite der beiden anderen Mitarbeiter, während er seine Augen über die Zeilen seiner eigenen Kopie wandern ließ. »Etwas, das Hecht und Stör verbrennt«, fügte er noch nachdenklich hinzu.

Rique nickte bestätigend. Er sei sich ganz sicher, erklärte er Katja, dass sie, ohne es selbst zu wissen, Mitinhaberin dieses Schließfaches sei. Aber um an den Inhalt zu kommen, bräuchten sie Katjas Ausweis, wie sie soeben von der Bank erfahren hatten.

Katja formte mit ihren Händen ein Dach, um Rique zu sagen, dass der sich zu Hause befände.

»Dein Zuhause wird bewacht«, sagte er.

Katja nickte mit zusammen gekniffenen Lippen.

»Wer oder was sollen Hecht und Stör sein?«, fragte Maik und rieb sich das Kinn.

»Ich kenne nur Stör & Stör, das berühmte Architekturbüro«, warf Andree ein.

»Ich glaube nicht, dass das damit gemeint ist«, sagte Rique, »ich glaube, dass wir es mit Marone zu tun haben. Vielleicht ist Hecht und Stör eine Metapher für Kaviar und das wiederum eine Metapher für die reiche Mafia.«

»Das erscheint mir ein wenig zu weit um die Ecke gedacht«, gab Andree zu bedenken.

»Es gibt keinen Hechtkaviar, es gibt echten vom Stör und Lachskaviar sowie Forellenkaviar als preiswerte und rötliche Alternative.« Die tiefe Stimme von Jérome ließ Chen Lu zu ihm hinsehen. »Das kann es also nicht bedeuten«, schlussfolgerte er in ihre Richtung.

»Ist auch egal«, parierte Rique aufgebracht, »lass uns ihren Ausweis aus ihrem Haus holen und einfach bei Warburg heraus finden, was es bedeutet.«, schlug er vor, wohl wissend, dass er für dieses Unterfangen die Unterstützung seiner Männer brauchen würde. Doch das musste bis zum nächsten Tag warten. Der heutige neigte sich bereits dem Ende zu. Die Bank werde sowieso in Kürze schließen. Außerdem hoffte Rique, Marones Männer könnten ihre Überwachung des Hauses vielleicht am Morgen schon aufgegeben haben.

Maik holte bei einem nahegelegenen Italiener Pizza für alle. Nachdem sie gegessen hatten, war es an der Zeit, den Tag zu beenden. Jérome brachte Chen Lu auf dem Weg in den Feierabend nach Hause. In der Talstraße angekommen, parkte er kurz in zweiter Reihe und ging die letzten Meter ruhig neben ihr her. Obwohl er über einen Kopf größer war als die zierliche Chinesin, passte er seinen Schritt dem ihren an. An ihrer Haustüre angekommen, sagte er leise: »Schlaf gut, Chen Lu, bis morgen dann.« Er drehte sich um und ging zurück zu seinem Wagen. Chen Lu wusste nicht, ob er ihr »Schlaf auch gut, Jérome« überhaupt noch hörte.

Rique ging mit Katja in sein Penthouse. In selbstverständlicher Übereinkunft nahm er unterwegs ihre Hand. In seiner Wohnung angekommen, zeigte er auf sein Bett im Schlafraum und bedeutete ihr, dass sie es benutzen solle. Er zeigte auf sich und das Sofa. Lächelnd nickte Katja ihm zu. Als sie sich auf das Bett setzte, stand Rique in der Türe und sah sie an. Bemüht deutlich sagte er: »Schlaf gut, Katja. Keine Angst, morgen lösen wir es auf.«