20
ZERBROCHEN
»Männer sind von Natur aus Krieger, aber Frauen, die in die Schlacht ziehen, sind wahrlich blutrünstig.«
Altes schottisches Sprichwort
Die Nacht umhüllte Bree und mich im behaglichen Innenraum ihres Wagens. Matts Zuhause, wo der Kreis stattfinden sollte, lag etwa fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt. Ich spürte sofort, als ich zu Bree in den Wagen stieg, dass sie einiges auf dem Herzen hatte. Genau wie ich. Nach meinem Traum in der vergangenen Nacht war ich richtig erleichtert, sie wohlauf, munter und, bis auf ihr Schweigen, normal zu sehen.
Ich dachte an die vielen vielen Stunden, die wir zusammen im Auto verbracht hatten, zuerst zusammen mit unseren Eltern oder Brees älterem Bruder Ty, wenn sie uns irgendwo hinfuhren, dann, in den letzten Jahren, während eine von uns selbst hinterm Steuer saß. Unsere besten Gespräche hatten wir im Auto geführt, wenn wir allein waren. Heute Abend war es anders.
»Warum hast du mir nicht von dem magischen Spruch erzählt, mit dem du Robbie verhext hast?«, fragte Bree.
»Ich habe mithilfe eines magischen Spruches eine Tinktur hergestellt, mehr nicht«, korrigierte ich sie. »Und ich habe niemandem davon erzählt. Ich dachte, das Ganze wäre sinnlos. Ich war mir sicher, es würde nicht funktionieren, und ich wollte nicht in eine peinliche Situation geraten.«
»Glaubst du etwa wirklich, dass es funktioniert hat?«, fragte sie. Ihre dunklen Augen waren auf die Straße gerichtet, wo Breezys Scheinwerfer die Nacht durchschnitten.
»Ich … ich glaube schon«, sagte ich. »Ich meine, hauptsächlich weil ich nicht weiß, was sonst passiert sein sollte. Am Montag hatte er schreckliche Haut und jetzt sieht er toll aus. Ich weiß nicht, was ich sonst denken soll.«
»Glaubst du, du bist eine Bluthexe?«, fragte sie. Allmählich hatte ich das Gefühl, einem Verhör unterzogen zu werden.
Ich lachte, um die Spannung zu lösen. »Oh, bitte. Ja, klar, ich bin eine Bluthexe. Hast du Sean und Mary Grace in letzter Zeit gesehen? Sie haben gerade ein neues Pentagramm gekauft, um es im Wohnzimmer über den Kaminsims zu hängen.«
Bree schwieg.
Ich spürte starke Wellen der Spannung und Wut von ihr ausgehen, konnte deren Quelle aber nicht ausmachen.
»Was?«, sagte ich. »Bree, was denkst du?«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte sie, und mir fiel auf, dass ihre Fingerknöchel an dem mit Leder umwickelten Lenkrad weiß hervortraten. Zu meiner Überraschung lenkte sie den Wagen auf den breiten Seitenstreifen der Wheeler Road. Sie machte den Motor aus und drehte sich zu mir.
»Es fällt mir schwer zu glauben, wie falsch du bist.«
Ich starrte sie an.
»Du sagst, du stehst nicht auf Cal. Es wäre okay, wenn ich mich an ihn ranmache. Aber ihr beiden unterhaltet euch dauernd, starrt einander mit einer Intensität an, als wäre sonst niemand im Zimmer.«
Ich öffnete den Mund, um zu antworten, doch sie fuhr unbeirrt fort.
»Mich sieht er nie so an«, fügte sie ruhig hinzu, und der Schmerz war ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Ich kapier dich einfach nicht«, fuhr sie fort. »Du kommst nicht zu den Kreisen, aber dann experimentierst du hinter unserem Rücken mit magischen Sprüchen! Denkst du, du wärst was Besseres? Glaubst du wirklich, du wärst so besonders?«
Ich war geschockt. »Ich komme doch heute Abend mit zum Kreis«, sagte ich dann. »Und du weißt genau, warum ich die letzten beiden Wochen nicht kommen konnte – du weißt, wie meine Eltern ausgeflippt sind. Dieser magische Spruch war nur ein Experiment, ich wollte es ausprobieren. Ich hatte keine Ahnung, was dabei herauskommen würde.«
»Du experimentierst mit Robbie?«, fragte Bree.
»Ja! Und das war falsch!« Ich brüllte sie praktisch an. »Aber ich habe dafür gesorgt, dass er jetzt tausendmal besser aussieht als vorher. Warum ist das so ein Verbrechen? Warum ist es kein Gefallen?«
Wir saßen schweigend da, Brees Zorn strahlte weiter in starken Wellen von ihr ab.
»Also«, sagte ich nach einer Minute. »Obwohl es für Robbie gut ausgegangen ist, weiß ich, dass ich diesen magischen Spruch nicht hätte machen dürfen. Cal sagt, es ist verboten, und ich verstehe, warum. Es war ein dummer Fehler«, fuhr ich fort. »Ich war durcheinander und kopflos, und ich … ich wollte … ich wollte es einfach wissen.«
»Was wissen?«, fragte sie hitzig.
»Ob ich … anders bin. Ob ich eine besondere Gabe besitze.«
Sie blickte schweigend aus dem Fenster.
»Ich meine, ich sehe die Aura der Menschen. Mensch, Bree, ich habe Robbies Haut geheilt! Findest du nicht, dass das eine große Sache ist?«
Sie schüttelte den Kopf und biss die Zähne zusammen. »Du bist total verrückt«, murmelte sie.
So kannte ich Bree gar nicht. »Was ist denn los, Bree?«, fragte ich, und es kostete mich einiges an Beherrschung, nicht in Tränen auszubrechen. »Warum bist du so sauer auf mich?«
Sie zuckte abrupt die Achseln. »Ich habe das Gefühl, du bist nicht ehrlich zu mir«, sagte sie und richtete den Blick wieder aus dem Fenster. »Mir ist, als würde ich dich gar nicht mehr kennen.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Bree, ich habe es dir schon mal gesagt. Ich glaube, du und Cal würdet ein tolles Paar abgeben. Ich flirte nicht mit ihm. Ich rufe ihn nie an. Ich setze mich nie neben ihn.«
»Das brauchst du auch gar nicht. Er ist dir gegenüber unglaublich aufmerksam«, sagte sie. »Aber warum?«
»Weil er will, dass ich eine Hexe werde.«
»Und warum will er das?«, fragte Bree. »Wenn Robbie oder ich Hexen werden würden, wäre ihm das ziemlich egal. Warum spielt er Ratespielchen mit dir, trägt dich in den Pool, sagt dir, du besäßest eine Gabe für Magie? Warum probierst du magische Sprüche aus? Du bist nicht mal eine offizielle Hexenzirkelschülerin, geschweige denn eine Hexe.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich frustriert. »Es ist, als würde … als würde in mir etwas erwachen. Etwas, von dem ich bisher nicht wusste, dass es da war. Und ich will verstehen, was es ist … was ich bin.«
Bree schwieg einige Minuten. In der Dunkelheit drangen leise Geräusche an mein Ohr: das gedämpfte Ticken meiner Uhr, Brees Atemzüge, das metallische Klicken von Breezy, als der Motor abkühlte. Ein schwarzer Schatten schoss auf mich zu, schoss auf das Auto zu, und ich wappnete mich instinktiv. Dann schlug er ein.
»Ich will nicht, dass du heute Abend mitkommst«, sagte Bree.
Mir schnürte es die Kehle zu.
Bree zupfte einen Fussel von ihrer blauen Seidenhose und musterte ihre Fingernägel. »Ursprünglich dachte ich, ich wollte, dass wir das zusammen machen«, sagte sie. »Aber ich habe mich getäuscht. Was ich wirklich will, ist, dass Wicca etwas ist, was ich mache. Ich bin diejenige, die bei jedem Kreis dabei ist. Ich habe Practical Magick entdeckt. Ich will, dass Wicca etwas für mich und Cal ist. Aber wenn du in der Nähe bist, ist er abgelenkt. Besonders seit du so tust, als könntest du magische Sprüche wirken. Ich weiß nicht, wie du es gemacht hast. Aber Cal redet von nichts anderem mehr.«
»Das glaube ich jetzt nicht«, flüsterte ich. »Gott, Bree! Ist dir Cal wichtiger als ich? Wichtiger als unsere Freundschaft?« Heiße Tränen brannten in meinen Augen. Zornig wischte ich sie weg, ich wollte nicht vor ihr weinen.
Bree wirkte ziemlich ruhig. »Du würdest dasselbe tun, wenn du Cal lieben würdest«, erklärte sie mir.
»Schwachsinn!«, schrie ich, als sie den Motor wieder anwarf. »Das ist totaler Schwachsinn! Das würde ich nicht.«
Bree wendete mitten auf der Wheeler Road in einem Zug.
»Irgendwann merkst du, wie blöd du dich benimmst«, sagte ich bitter. »Wenn es um Jungen geht, hast du die Aufmerksamkeitsspanne einer Stechmücke. Cal ist doch nur einer in einer langen Reihe. Wenn du ihn satthast und ihn fallen lässt, wirst du mich vermissen. Und dann bin ich nicht da.«
Diese Vorstellung ließ Bree innehalten. Dann nickte sie entschieden. »Du wirst darüber hinwegkommen«, sagte sie. »Sobald Cal und ich richtig zusammen sind und sich alles beruhigt, ist die Sachlage eine ganz andere.«
Ich starrte sie an. »Du bist doch wahnsinnig«, fuhr ich sie hitzig an. »Wo fahren wir hin?«
»Ich bringe dich nach Hause.«
»Zum Teufel damit«, sagte ich und öffnete die Beifahrertür. Bree stieg perplex auf die Bremse, und ich machte einen Satz nach vorn und schlug beinahe mit dem Kopf auf dem Armaturenbrett auf. Schnell löste ich meinen Sicherheitsgurt und sprang aus dem Auto. »Vielen Dank fürs Mitnehmen, Bree.« Ich knallte die Tür so fest wie möglich zu. Bree bretterte davon, wendete zwanzig Meter weiter mit quietschenden Reifen und sauste auf dem Weg zu Matt an mir vorbei. Ich stand allein am Straßenrand, verletzt und zitternd vor Wut.
In den elf Jahren, seit Bree und ich beste Freundinnen waren, hatten wir unsere Aufs und Abs gehabt. In der ersten Klasse hatte sie drei Schokoladenplätzchen in ihrem Lunchpaket gehabt und ich zwei Müsliriegel. Sie hatte ihre Schokoladenkekse nicht gegen meine Müsliriegel eintauschen wollen und ich hatte sie mir einfach geschnappt und in den Mund gestopft. Ich wusste nicht, wer entsetzter gewesen war, sie oder ich. Wir hatten eine ganze quälend lange Woche nicht miteinander geredet, uns aber wieder vertragen, als ich ihr sechs Bögen selbst gemachten Briefpapiers schenkte, die ich alle eigenhändig mit dem Monogramm B in verschiedenen Farben verschönert hatte.
In der sechsten Klasse wollte sie in der Mathearbeit bei mir abschreiben und ich ließ sie nicht. Dieses Mal sprachen wir zwei Tage nicht miteinander. Sie schrieb bei Robbie ab und die Sache wurde nie wieder erwähnt.
Letztes Jahr, in der zehnten Klasse, hatten wir den größten Streit aller Zeiten darüber, ob Fotografie wirklich eine Kunst war oder ob jeder Idiot mit einer Kamera ab und zu ein fantastisches Foto schießen könnte. Wer welche Position vertrat, spielte keine Rolle, es endete auf jeden Fall in einem schrecklichen, lautstarken Streit im Garten hinter unserem Haus, bis meine Mutter herauskam und uns anfuhr, wir sollten endlich aufhören.
Nach diesem Streit sprachen wir zweieinhalb Wochen nicht miteinander, bis wir schließlich ein Dokument unterzeichneten, dass wir uns bei diesem Thema einig waren, uns uneins zu sein. Ich hatte mein Exemplar unseres Versprechens immer noch.
Es war kalt. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Kinn hoch und streifte die Kapuze über. Zuerst schlug ich Matts Richtung ein, doch dann wurde mir rasch klar, dass es viel zu weit war. Tränen liefen mir übers Gesicht, die ich jetzt nicht mehr aufhalten konnte. Warum tat Bree mir so etwas an? Frustriert drehte ich mich um und machte mich auf den langen Fußweg nach Hause.
Der scharfkantige Mond war so nah, dass ich seine Krater erkennen konnte. Ich lauschte auf die Geräusche der Nacht: Insekten, Tiere, Vögel. Meine Augen und Ohren stellten sich immer feiner darauf ein und ich ließ es geschehen. Im Dunkeln konnte ich Insekten ausmachen, die sechs Meter weg auf Bäumen hockten. Ich sah Vogelnester weit oben auf Ästen, über deren Rand die weichen, runden Köpfchen von Vogeljungen lugten. Ich spürte das schnelle, flattrige Klopfen der winzigen Vogelherzen, im synkopischen Rhythmus mit dem viel langsameren, schwereren Pochen meines Herzens.
Ich drehte die Lautstärke meiner Sinne herunter und kniff die Augen zu, doch die Tränen strömten unbeirrt weiter meine Wangen hinunter. Ich wusste nicht, wie Bree und ich uns hiervon je erholen wollten, und weinte deswegen. Ich weinte, weil ich wusste, dass das hieß, dass sie und Cal tatsächlich zusammenkommen würden – dafür würde sie sorgen. Und ich weinte – und dabei bekam ich richtig Bauchschmerzen –, weil ich dachte, dies hieße, dass ich all die Türen in meinem Innern wieder verschließen musste, die ich doch gerade erst geöffnet hatte.