16

BLUTHEXE

»Man wird nicht vor die Wahl gestellt, Hexe zu sein. Entweder ist man eine oder nicht. Es liegt im Blut.«

Tim McClellan
alias Feargus der Kluge

 

Ich könnte heulen vor Frust. Sie kommt nicht zu mir. Ich kann sie nicht drängen. Bitte, Göttin, gib mir ein Zeichen.

 

Am Montag nach der Schule schwänzten Robbie und ich den Schachklub und fuhren zu Practical Magick. Es wurde mir langsam zur Gewohnheit. Ich kaufte ein Buch über den Gebrauch von Kräutern und anderen Pflanzen bei der Ausübung von Magie und dazu ein wunderschönes leeres Buch mit marmoriertem Umschlag und schweren cremefarbenen Seiten – mein Buch der Schatten. Ich wollte meine Gefühle über Wicca niederschreiben, mir Notizen über unsere Kreisrituale machen und meine Gedanken dazu aufschreiben.

Robbie kaufte eine schwarze Peniskerze, die er einfach saukomisch fand.

»Sehr witzig«, sagte ich. »Damit machst du dich bei den Mädels richtig beliebt.«

Robbie lachte.

Wir fuhren zu Bree und hingen in ihrem Zimmer herum. Ich legte mich auf ihr Bett und las mein Kräuterbuch, während Robbie an Brees Stereoanlage herumspielte und ihre neuesten CDs begutachtete. Bree hockte auf dem Boden, lackierte sich die Zehennägel und las mein Buch über die sieben großen Clans.

»Das ist ja cool. Hört mal«, sagte sie, als es unten gerade an der Tür klingelte. Einen Augenblick später hörten wir Jennas und Matts Stimmen lauter werden, während die beiden die Treppe heraufkamen.

»Hi!«, sagte Jenna strahlend und schwang ihr blassblondes Haar über ihre Schulter. »Puh, draußen ist es saukalt. Wo bleibt der Altweibersommer?«

»Kommt rein«, meinte Bree. Sie sah sich im Schlafzimmer um. »Vielleicht sollten wir runter ins Wohnzimmer gehen.«

»Ich würde lieber hier oben bleiben«, meinte Robbie.

»Ja. Es ist privater«, pflichtete ich ihm bei und setzte mich auf.

»Hört mal, Leute«, verkündete Bree. »Ich lese gerade dieses Buch über die sieben großen Wicca-Clans.«

»Oh«, sagte Jenna und tat, als fröstelte ihr.

»›Nachdem sie ihre Künste jahrhundertelang ausgeübt hatten, ergab es sich, dass jeder der sieben großen Clans sich auf ein bestimmtes Gebiet der Magie spezialisierte. An dem einen Ende des Spektrums steht der Woodbane-Clan, der bekannt wurde für seine finstere Magie und seine Neigung zum Bösen.‹«

Ein echtes Frösteln lief mir den Rücken hinunter, doch Matt zog nur die Augenbrauen hoch und Robbie kicherte diabolisch.

»Das klingt aber nicht nach Wicca«, meinte Jenna und zog ihre Jacke aus. »Wisst ihr noch? Alles, was man tut, kommt dreifach zu einem zurück. All das Zeug, das Cal letztes Wochenende vorgelesen hat. Bree, die Farbe da ist toll. Wie heißt sie?«

Bree musterte das Nagellackfläschchen. »Himmelblau.«

»Echt cool«, sagte Jenna.

»Danke«, meinte Bree. »Passt mal auf … das hier ist wirklich interessant. ›Am anderen Ende des magischen Spektrums steht der Rowanwand-Clan. Immer gut, immer friedlich, wurden die Rowanwands bekannt dafür, die Fundgrube sehr viel magischen Wissens zu sein. Sie verfassten das erste Buch der Schatten. Sie sammelten Zaubersprüche. Sie erkundeten die magischen Eigenschaften der sie umgebenden Welt.‹«

»Cool«, sagte Robbie. »Was ist aus ihnen geworden?«

Bree überflog die Seite. »Ähm, wollen mal sehen …«

»Sie sind ausgestorben«, drang Cals klangvolle Stimme von der Tür in Brees Zimmer.

Wir fuhren zusammen – niemand hatte das Läuten an der Tür gehört oder seine Schritte auf der Treppe.

Nach einem Augenblick der Überraschung schenkte Bree ihm ein strahlendes Lächeln.

»Komm rein«, sagte sie und räumte ihre Nagelpflegeutensilien weg.

»Hey, Cal«, sagte Jenna lächelnd.

»Hey«, sagte er und hängte seine Jacke an den Türknauf.

»Was meinst du damit, sie sind ausgestorben?«, fragte Robbie.

Cal kam herüber und setzte sich neben mich aufs Bett. Bree drehte sich um, und ihre Augen blitzten auf, als sie uns nebeneinandersitzen sah.

»Also, es gab sieben große Clans«, wiederholte Cal. »Die Woodbanes, die als böse galten, und die Rowanwands, die als gut angesehen wurden, und fünf weitere Clans dazwischen, die mehr oder weniger gut oder böse waren.«

»Ist das eine wahre Geschichte?«, fragte Jenna und warf ihren Kaugummi in den Papierkorb.

Cal nickte. »Soweit wir wissen. Wie auch immer, die Woodbanes und die Rowanwands bekämpften einander quasi über Tausende von Jahren, und die anderen fünf Clans waren während dieser Zeit mal mit dem einen, mal mit dem anderen verbündet.«

»Wer waren die anderen fünf Clans?«, fragte Robbie. »Warte, das habe ich hier irgendwo gelesen«, sagte Bree und fuhr mit dem Finger über eine Seite.

»Die Woodbanes, die Rowanwands, die Vikroths, die Brightendales, die Burnhides, die Wyndenkells und die Leapvaughns«, rezitierte ich aus der Erinnerung. Alle sahen mich überrascht an, außer Cal, der in sich hinein lächelte.

»Ich habe das Buch gerade gelesen«, sagte ich.

Bree nickte langsam. »Ja, Morgan hat recht. Hier steht, dass die Vikroths kriegerische Typen waren. Die Brightendales haben hauptsächlich mit Pflanzen gearbeitet und waren so was wie Heiler. Die Burnhides waren auf Magie mit Edelsteinen, Kristallen und Metallen spezialisiert, und die Wyndenkells waren ausgezeichnete Zaubersprücheschreiber. Die Leapvaughns waren schelmisch, humorvoll und manchmal ziemlich schrecklich.«

»Die Vikroths waren mit den Wikingern verwandt«, sagte Cal. »Und das irische Wort für Kobold – leprechaun – ist verwandt mit Leapvaughn. «

»Cool«, meinte Matt. Jenna setzte sich auf den Boden vor ihn, sodass sie sich an seine Beine lehnen konnte. Seine Finger spielten geistesabwesend mit ihrem Haar.

»Und wie kam es, dass sie ausgestorben sind?«, fragte Robbie.

»Sie haben einander über Tausende von Jahren bekämpft«, wiederholte Cal. Eine Haarsträhne warf einen Schatten auf seine Wange. »Langsam schwand ihre Zahl. Die Woodbanes und ihre Verbündeten haben ihre Feinde einfach getötet, entweder durch offenen Krieg oder durch schwarze Magie. Die Rowanwands verletzten ihre Feinde ebenfalls, nicht so sehr durch schwarze Magie als dadurch, dass sie Wissen horteten. Das tradierte Wissen der anderen Clans ist ausgestorben, und sie haben sich geweigert, ihren Reichtum zu teilen. Also, wenn ein Mitglied der Vikroths krank wurde, und die Rowanwands hätten es mit einem magischen Spruch heilen können, dann haben sie dies einfach unterlassen. Und so sind ihre Feinde nach und nach ausgestorben.«

»Was für Scheißkerle«, bemerkte Robbie, und Bree kicherte. Ein winziger Funke Verärgerung ließ mich die Stirn runzeln.

Cal warf Robbie einen höhnischen Blick zu.

»Weiter, Cal«, sagte Bree. »Lass dich durch ihn nicht stören.«

Draußen war es schon seit einer Weile dunkel, und jetzt setzte ein anhaltender Regen ein, der gegen die Fensterscheiben prasselte. Der Gedanke, zu Mary K.s Hamburgern und Pommes frites nach Hause fahren zu müssen, war nicht gerade verlockend.

»Also, vor rund dreihundert Jahren«, fuhr Cal fort, »im Vorfeld der Hexenprozesse von Salem hier in diesem Land, kam es unter den Stämmen zu einer gewaltigen Katastrophe. Niemand weiß genau, warum es gerade zu dieser Zeit geschah, doch die Clans hatten sich ein wenig ausgebreitet und plötzlich wurden überall in der Welt Hexen dezimiert. Im Verlauf von hundert Jahren, so schätzen Historiker, wurden neunzig bis neunundneunzig Prozent aller Hexen umgebracht – entweder durch die Hand anderer Hexen oder von den menschlichen Behörden, die sich in den Konflikt einmischten.«

»Willst du damit sagen, die Hexenprozesse von Salem wurden von anderen Hexen organisiert, um ihre Rivalen zu zerstören?«, fragte Bree ungläubig.

»Ich sage nur, dass man es nicht genau weiß«, antwortete Cal. »Es ist möglich.«

Meine Haut fühlte sich warm an, und ich fühlte mich getröstet durch Cals Gegenwart und seine Stimme. Doch innerlich war mir kalt bis in die Knochen. Ich fand es schier unerträglich zu hören, dass Hexen verfolgt und getötet worden waren.

»Danach«, fuhr Cal fort, »begann für alle Hexen eine finstere Zeit. Die Clans verloren ihren Zusammenhalt, Hexen aus verschiedenen Clans heirateten entweder untereinander und bekamen Kinder, die nirgendwo richtig dazugehörten, oder sie heirateten Menschen und konnten keine Kinder bekommen. «

Ich erinnerte mich, dass ich gelesen hatte, dass die Menschen davon ausgingen, die sieben Clans hätten so lange unter ihresgleichen gelebt, dass sie sich genetisch von anderen Menschen unterschieden und deshalb mit ihnen keine Kinder zeugen könnten.

»Du weißt so viel darüber«, sagte Jenna.

»Ich studiere Wicca ja auch schon sehr lange«, erklärte Cal.

Bree streckte die Hand aus und berührte Cals Knie. »Was ist dann passiert? Zu dem Teil bin ich noch nicht gekommen.«

»Die alten Bräuche waren ebenso vergessen wie die alten Feindseeligkeiten«, sagte Cal. »Und das Wissen über Magie wäre beinahe für immer verloren gegangen. Dann, vor rund einhundert Jahren, gelang es einer kleinen Gruppe von Hexen – Vertretern aller sieben Clans oder was noch davon übrig war –, die finstere Zeit zu überwinden und eine Renaissance des Wicca-Kults in Gang zu bringen.« Er setzte sich anders hin und Brees Hand fiel von seinem Knie herunter. Matt flocht einen kleinen Zopf in Jennas Haar und Robbie hatten sich auf dem Teppich ausgestreckt und stützte den Kopf mit einer Hand.

»In dem Buch steht, dass ihnen klar wurde, dass das starke Stammesbewusstsein mit zu der Katastrophe beigetragen hatte«, warf ich ein. »Also beschlossen sie, nur noch einen großen Clan zu bilden und keine Unterschiede mehr zu haben.«

»Einheit in Verschiedenheit«, pflichtete Cal mir bei. »Sie sprachen sich für Ehen zwischen den Clans und bessere Beziehungen zwischen Hexen und Menschen aus. Diese kleine Gruppe erleuchteter Hexen ernannte sich selbst zum Hohen Rat; den gibt es heute noch. Fast alle modernen Hexenzirkel existieren, weil es ihn gibt und weil er sein Wissen weitergibt. Heute wächst Wicca schnell, doch die alten Clans sind nur noch Erinnerung. Viele Menschen nehmen sie nicht mehr ernst.«

Ich dachte daran, dass der Verkäufer bei Practical Magick mich gefragt hatte, welchem Clan ich angehörte. Und noch etwas fiel mir ein, was er gesagt hatte. »Was ist eine Bluthexe?«, fragte ich. »Im Gegensatz zu einer einfachen Hexe?«

Cal sah mir in die Augen, und ich spürte, wie in mir eine Welle aufstieg und wuchs. »So nennt man eine Hexe, deren oder dessen Stammbaum verlässlich auf einen der sieben Clans zurückverfolgt werden kann«, erklärte er. »Eine Hexe ist jemand, der Wicca praktiziert und nach seinen Grundsätzen lebt. Sie oder er bezieht seine magische Energie aus den Lebenskräften, die uns überall umgeben. Eine Bluthexe ist in der Regel ein sehr viel stärkerer Kanal für diese Energie und besitzt sehr viel stärkere magische Kräfte.«

»Dann werden wir wohl alle einfache Hexen werden«, sagte Jenna mit einem Lächeln, zog die Knie hoch und schlang die Arme darum. Sie sah katzenhaft und feminin aus.

Robbie nickte ihr zu. »Und wir haben noch fast ein ganzes Jahr vor uns«, sagte er und schob seine Brille die Nase hoch. Sein Gesicht war rau und entzündet und sah aus, als würde es wehtun.

»Außer mir«, sagte Cal gelassen. »Ich bin eine Bluthexe. «

»Du bist eine Bluthexe?«, fragte Bree mit weit aufgerissenen Augen.

»Klar.« Cal zuckte die Achseln. »Meine Mutter ist eine, mein Vater war eine, also bin ich auch eine. Es gibt mehr von uns, als man denkt. Meine Mutter kennt einige.«

»Wow«, sagte Matt und hielt die Hände still, während er Cal anstarrte. »Und welchem Clan gehörst du an?«

Cal grinste. »Ich weiß es nicht. Das Wissen darüber ist verlorengegangen, als die Familien meiner Eltern nach Amerika ausgewandert sind. Die Familie meiner Mutter stammte aus Irland und die meines Vaters aus Schottland, also haben sie sicher verschiedenen Clans angehört. Vielleicht Woodbane«, sagte er und lachte.

»Das ist ja beeindruckend«, sagte Jenna. »Es macht das Ganze viel realer.«

»Ich bin nicht so mächtig wie viele andere Hexen«, sagte Cal sachlich.

In Gedanken tastete ich sein Profil ab – glatte Stirn, gerade Nase, geschwungene Lippen – und der Rest des Raums verblasste aus meinem Gesichtsfeld. Es ist sechs Uhr, dachte ich vage, und dann hörte ich von unten das gedämpfte Schlagen der Uhr.

»Ich muss nach Hause«, hörte ich mich wie aus großer Entfernung sagen. Ich steckte das Buch unter meinen Pullover, um es trotz allem mit nach Hause zu nehmen. Ich würde es irgendwo verstecken müssen. Dann wandte ich den Blick abrupt von Cals Gesicht ab und verließ das Zimmer, und ich fühlte mich bei jedem Schritt, als würde ich knietief durch einen Schwamm waten.

Auf dem Weg nach unten hielt ich mich gut am Geländer fest. Draußen lief mir der Regen übers Gesicht. Ich blinzelte und eilte zu Das Boot. In meinem Auto war es eiskalt, die Vinylsitze und das Lenkrad fühlten sich wie Eis an. Meine nassen, kalten Hände drehten den Schlüssel im Zündschloss.

Ein Wort pochte immer wieder in meinem Kopf: Bluthexe. Bluthexe. Bluthexe.