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IMMER TIEFER

»Der König und die Königin sehnten sich viele Jahre lang nach einem Kind und adoptierten schließlich ein kleines Mädchen. Doch zu ihrem Unglück war es dem Kind beschieden, zu einer Riesin heranzuwachsen und sie mit seinen stählernen Zähnen zu fressen.«

Aus einem russischen Märchen

 

»Wie kommt es, dass sie noch ein Blümchen mit dir zu zupfen haben?«, fragte Mary K. am nächsten Morgen.

Ich setzte Das Boot rückwärts aus der Einfahrt, zwei Müsliriegel zwischen den Zähnen.

Als Mary K. noch klein war, hatte sie einmal etwas angestellt, worauf meine Mutter ihr streng erklärt hatte, sie habe noch ein »Hühnchen mit ihr zu rupfen«. Mary K. hatte »Blümchen zu zupfen« verstanden und das ergab natürlich überhaupt keinen Sinn für sie. Doch seitdem sagten wir das immer so.

»Ich habe Bücher gelesen, von denen sie nicht wollten, dass ich sie lese«, murmelte ich und versuchte, beim Reden keine Krümel übers Armaturenbrett zu spucken.

Mary K. machte große Augen. »Etwa Pornografie?«, fragte sie aufgeregt. »Wo hast du die her?«

»Es war nichts Pornografisches«, erklärte ich ihr wütend. »Es war gar keine große Sache. Ich weiß echt nicht, warum sie so ausgeflippt sind.«

»Was war es denn?«, wollte sie wissen.

Ich verdrehte die Augen und schaltete in einen anderen Gang. »Ein paar Bücher über Wicca«, sagte ich. »Das ist eine uralte frauenzentrierte Religion, älter als Judentum und Christentum.« Ich hörte mich schon an wie ein Lehrbuch.

Meine Schwester dachte einen Augenblick darüber nach. »Das klingt aber ganz schön langweilig«, sagte sie schließlich. »Warum liest du keine Pornos oder was Interessantes, was ich mir ausleihen könnte?«

Ich lachte. »Vielleicht irgendwann mal.«

 

»Du machst Witze«, sagte Bree mit weit aufgerissenen Augen. »Das glaube ich nicht. Das ist ja schrecklich.«

»Es ist total blöd«, sagte ich. »Sie wollen, dass die Bücher aus dem Haus verschwinden.« Die Bank vor der Schule, auf der wir saßen, war kalt. Die Oktobersonne verlor mit jedem Tag an Kraft.

Robbie nickte mitfühlend. Seine Eltern waren viel strengere Katholiken als meine. Er hatte ihnen bestimmt nichts von seinem Interesse an Wicca erzählt.

»Du kannst sie zu mir bringen«, sagte Bree. »Meinem Vater ist das egal.«

Ich zog den Reißverschluss meines Parkas bis zum Hals hoch und vergrub mich darin. In wenigen Minuten fing die erste Stunde an, und unsere neue gemischte Clique war am östlichen Eingang zur Schule versammelt. Tamara und Janice kamen auf das Schulgebäude zu, die Köpfe beim Reden gesenkt. Ich vermisste sie. Ich hatte sie in letzter Zeit kaum gesehen.

Cal hockte auf der Bank uns gegenüber neben Beth. Er trug alte Cowboystiefel, deren Fersen ganz abgetreten waren. Er schwieg und sah uns nicht an, doch ich hatte das Gefühl, er lauschte auf jedes Wort unseres Gesprächs.

»Scheiß drauf«, sagte Raven. »Die können dir nicht vorschreiben, was du lesen darfst. Wir leben doch nicht in einem Polizeistaat.«

Bree schnaubte. »Ja. Lass mich dabei sein, wenn du Sean und Mary Grace sagst, sie sollen sich verpissen.«

Ich musste unwillkürlich lächeln.

»Sie sind deine Eltern«, brach Cal plötzlich sein Schweigen. »Natürlich liebst du sie und möchtest ihre Gefühle respektieren. An deiner Stelle würde ich mich auch mies fühlen.«

In diesem Augenblick verliebte ich mich noch mehr in ihn. Auf irgendeiner Ebene hatte ich wohl erwartet, er würde sich den anderen anschließen und meine Eltern als dumm und hysterisch abtun. Schließlich war er der leidenschaftlichste Anhänger von Wicca, und ich hatte eigentlich erwartet, die Reaktion meiner Eltern würde ihn am meisten verärgern.

Bree sah mich an, und ich betete, dass meine Gefühle mir nicht ins Gesicht geschrieben standen. Im Märchen war es immer so, dass zwei Menschen füreinander bestimmt waren und sich fanden und fortan immerdar glücklich miteinander waren. Für mich war Cal dieser Mensch. Ich konnte mir niemanden vorstellen, der besser zu mir passte. Doch was für ein krankes Märchen wäre das, wenn er für mich der Richtige wäre und ich nicht die Richtige für ihn?

»Eine schwere Entscheidung«, fuhr Cal fort. Wir hörten ihm alle zu, fast als wäre er ein Apostel, der uns lehrte. »Ich habe Glück, denn Wicca ist die Religion meiner Familie.« Er dachte einen Moment darüber nach, eine Hand an der Wange. »Wenn ich meiner Mutter erzählen würde, ich möchte Katholik werden, würde sie total ausflippen. Ich weiß nicht, ob ich das könnte.« Er lächelte mich an.

Robbie und Beth lachten.

»Wie auch immer«, sagte Cal, jetzt wieder ernst. »Jeder muss seinen oder ihren Weg wählen. Du musst entscheiden, was du willst. Ich hoffe, du bist immer noch begierig, Wicca zu erkunden, Morgan. Ich glaube, du besitzt eine Gabe dafür. Aber ich würde es verstehen, wenn du das nicht kannst.«

In dem Moment schwang polternd die Schultür auf, und Chris Holly kam heraus, gefolgt von Trey Heywood.

»Oh«, höhnte Chris. »’tschuldigung. Wollte euch Hexen nicht stören.«

»Verpiss dich«, sagte Raven gelangweilt.

Chris ignorierte sie. »Sprecht ihr hier Verwünschungen aus? Ist das auf dem Schulhof überhaupt erlaubt?«

»Chris, bitte«, sagte Bree und rieb sich die Schläfe. »Tu das nicht.«

Er drehte sich zu ihr um. »Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe«, sagte er. »Du bist nicht mehr meine Freundin. Richtig?«

»Richtig«, sagte Bree und sah ihn wütend an. »Und das ist einer der Gründe dafür.«

»Ja, also …«, setzte Chris an, wurde aber von der Schulglocke und von Trainer Ambrose, der gerade näherkam, unterbrochen.

»Geht in eure Klassen, Leute«, sagte er automatisch und zog die Tür auf. Chris bedachte Bree mit einem verächtlichen Blick und folgte dem Trainer ins Gebäude.

Ich nahm meinen Rucksack und ging zur Tür, gefolgt von Robbie. Bree blieb noch einen Moment sitzen, und als ich einen kurzen Blick zurückwarf, sah ich, dass sie mit Cal sprach, die Hand auf seinem Arm. Raven beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen.

Benommen fand ich meinen Weg ins Klassenzimmer – wie eine Kuh, die in den Stall zurückkehrt. Mein Leben kam mir gerade sehr kompliziert vor.

 

Am Nachmittag steckte ich meine Bücher über Wicca in eine Papiertüte und brachte sie zu Bree. Sie hatte mir versprochen, ich könnte rüberkommen und sie lesen, wann immer ich wollte.

»Ich verwahre sie sicher für dich«, sagte sie.

»Danke.« Ich schob mir die Haare über die Schultern und lehnte den Kopf an ihre Tür. »Vielleicht könnte ich heute Abend nach dem Abendessen vorbeikommen? Die Geschichte der Hexerei habe ich halb durch, und es ist total faszinierend.«

»Klar«, sagte sie mitfühlend. »Armer Schatz.« Sie tätschelte mir die Schulter. »Halt dich einfach eine Weile bedeckt und lass den Sturm vorüberziehen. Du weiß, dass du jederzeit herkommen kannst, wenn du sie lesen willst oder auch nur abhängen. Okay?«

»Okay«, sagte ich und umarmte sie. »Wie läuft’s mit Cal?« Es tat weh zu fragen, doch ich wusste, dass sie darüber reden wollte.

Bree verzog das Gesicht. »Vor zwei Tagen hat er sich fast eine Stunde am Telefon mit mir unterhalten, aber als ich ihn gestern gefragt habe, ob er mit mir raus zu Wiggott’s Farm fahren will, hat er abgelehnt. Wenn er nicht bald nachgibt, muss ich noch anfangen, ihm nachzustellen.«

»Er wird nachgeben. Das tun sie doch immer.«

»Stimmt«, pflichtete Bree mir bei, ein versonnenes Leuchten in den Augen.

»Also, ich ruf dich nachher an«, sagte ich, plötzlich begierig darauf, dieses Gespräch zu beenden.

»Halt die Ohren steif, ja?«, rief sie hinter mir her, als ich floh.

 

In der nächsten Woche achtete ich darauf, wieder öfter Zeit mit Tamara, Janice und Ben zu verbringen. Ich ging regelmäßig zum Matheclub und versuchte wirklich, mich für Funktionen zu begeistern, aber tief im Herzen sehnte ich mich danach, mehr über Wicca zu lernen und besonders Cal nah zu sein.

Als ich meiner Mutter sagte, die Bücher wären weg, wirkte sie ein wenig verlegen, aber hauptsächlich erleichtert. Einen Augenblick lang hatte ich Schuldgefühle, weil ich ihr verschwieg, dass die Bücher nur bei Bree waren und ich abends immer noch darin las, aber ich verscheuchte sie. Ich respektierte meine Eltern, aber ich war nicht einer Meinung mit ihnen.

»Danke«, sagte sie ruhig und sah so aus, als wollte sie noch mehr sagen, ließ es dann jedoch. Im Laufe der Woche ertappte ich sie mehrmals dabei, dass sie mich beobachtete, und das Komische war, dass es mich an den gruseligen Verkäufer bei Practical Magick erinnerte. Sie beäugte mich mit einem Hauch von Erwartung, als könnten mir jeden Augenblick Hörner wachsen oder so.

Die ganze Woche über rückte der Herbst langsam vor, kam den Hudson River herauf nach Widow’s Vale. Die Tage wurden merklich kürzer, der Wind frischte auf. Überall um mich herum war ein Gefühl von Vorahnung – im Herbstlaub, im Wind, im Sonnenschein. Ich hatte das Gefühl, als rückte etwas Großes näher, auch wenn ich nicht wusste, was es war.

Am Samstagnachmittag klingelte das Telefon, während ich Hausaufgaben machte. Cal, dachte ich, bevor ich am Apparat im ersten Stock nach dem Hörer griff.

»Hey«, sagte er, und der Klang seiner Stimme verschlug mir schier den Atem.

»Hey«, antwortete ich.

»Kommst du heute Abend zum Kreis?«, fragte er ohne Umschweife. »Diesmal treffen wir uns bei Matt.«

Ich hatte seit Tagen mit der Frage gerungen. Zugegeben, indirekt widersetzte ich mich den Anordnungen meiner Eltern, indem ich weiter in meinen Büchern über Wicca las, aber zu einem Kreis zu gehen kam mir doch viel größer vor. Alles über Wicca zu lernen war eine Sache, es zu praktizieren etwas ganz anderes. »Ich kann nicht«, sagte ich schließlich und hätte am liebsten geweint.

Cal schwieg einen Moment. »Ich verspreche dir, dass alle ihre Kleider anlassen.« Ich hörte den Schalk in seiner Stimme und musste unwillkürlich lächeln. Er schwieg wieder. »Ich verspreche dir auch, dich nicht ins Wasser zu tragen«, fuhr er so leise fort, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es wirklich gehört hatte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich spürte das Blut durch meine Adern rauschen.

»Außer du willst es«, fügte er genauso leise hinzu.

Bree, deine beste Freundin, ist in ihn verliebt, ermahnte ich mich, denn ich musste den Zauber brechen. Sie hat eine Chance. Du nicht.

»Es ist … Ich kann wirklich nicht«, stammelte ich schwach. Ich hörte, dass meine Mutter unten herumging, huschte in mein Zimmer und schloss die Tür.

»Okay«, sagte er einfach und ließ zu, dass sich zwischen uns Schweigen ausbreitete, eine intime Art Schweigen. Ich lag auf dem Bett und betrachtete das flammenfarbene Laub des Baums vor meinem Fenster. Mir wurde bewusst, dass ich den Rest meines Lebens darum gäbe, wenn Cal in diesem Augenblick bei mir liegen würde. Ich schloss die Augen und Tränen quollen daraus hervor und liefen mir übers Gesicht.

»Vielleicht ein andermal«, sagte er freundlich.

»Vielleicht«, sagte ich, um eine ruhige Stimme bemüht. Vielleicht auch nicht, dachte ich traurig.

»Morgan …«

»Ja?«

Schweigen.

»Nichts. Wir sehen uns dann am Montag in der Schule. Wir werden dich heute Abend vermissen.«

Wir werden dich vermissen. Nicht: Ich werde dich vermissen.

»Danke.« Ich legte auf, vergrub das Gesicht in den Kissen und weinte.