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ie blieben noch eine Stunde beisammen. Das Zimmer füllte sich nach und nach mit dem Rauch der Pfeife und der Zigaretten wie das Büro am Quai d’Orfèvres.
Little John fing an:
»Ich muß Sie vor allem wegen unseres Verhaltens um Entschuldigung bitten. Mein Sohn und ich versuchten, Sie aus dem Spiel zu lassen.«
Er wirkte sehr müde, aber man merkte ihm an, daß er die Spannung überwunden hatte und sich unendlich erleichtert fühlte. Zum ersten Mal sah ihn Maigret anders als gespannt, verschlossen, seine Sprungbereitschaft anders als mit schmerzlicher Energie beherrschend. »Sechs Monate bin ich ihren Angriffen ausgesetzt gewesen und habe nur schrittweise nachgegeben. Sie waren vier gegen einen. Darunter zwei Sizilianer.«
»Dieser Teil der Affaire geht mich nichts an«, sagte Maigret.
»Ich weiß. Als Sie gestern ins Hotel kamen, hätte ich beinahe mit Ihnen gesprochen, aber Jos hat mich daran gehindert.«
Seine Augen wurden unmenschlicher denn je, aber welcher Schmerz hinter dieser grauenvollen Kälte lag, wußte Maigret nun.
»Können Sie sich vorstellen«, fuhr er mit leiser Stimme fort, »was es bedeutet, einen Sohn zu haben, dessen Mutter man ermordet hat, obwohl man nie aufgehört hat, sie zu lieben?«
MacGill hatte sich diskret in die äußerste Ecke zurückgezogen, in den Lehnstuhl, in dem vorher Parson gesessen hatte.
»Die Vergangenheit will ich nicht vor Ihnen ausbreiten, auch nicht Dinge anführen, die mich vielleicht rechtfertigen könnten. Ich will keine Entschuldigungen. Verstehen Sie das? Ich bin nicht Daumale! Ihn hätte ich umbringen sollen … Aber Sie müssen doch wissen.«
»Ich weiß.«
»Daß meine Liebe unendlich groß war und noch ist. Vor dem endgültigen Zusammenbruch habe ich … Nein, lassen wir das.«
Maigret wiederholte ernst:
»Lassen wir das.«
»Ich glaube, daß ich schwerer gelitten habe als durch jede mir von einem menschlichen Richter auferlegte Strafe. Sie haben vorhin Daumale daran gehindert, bis zum Ende zu gehen. Ich nehme an, daß Sie mir glauben, Herr Kommissar …«
Maigret nickte zweimal.
»Ich wollte mit ihr verschwinden … dann wollte ich mich stellen … Er hat alles getan, um mich davon abzubringen, aus Furcht, hineingezogen zu werden … Er war es, der den Reisekorb aus dem Zimmer holte. Er schlug vor, wir sollten ihn in den Fluß werfen … Ich habe nicht gekonnt … Es ist da etwas, was Sie unmöglich haben ahnen können … Angelino war gekommen. Er hatte alles gesehen. Er wußte. Er konnte mich anzeigen. Joseph wollte, daß wir sofort abreisen. Zwei Tage lang …«
»Ja. Sie haben Sie dabehalten.«
»Ja. Und Angelino schwieg. Und Joseph wurde halb wahnsinnig vor Wut … Mein Zustand war so, daß ich seine Nähe ertrug und ihm mein letztes Geld für das Nötige gab … Er kaufte einen kleinen Occasion-Lastwagen. Wir taten so, als ob wir umzögen und luden unsere Habseligkeiten darauf … Wir fuhren aufs Land, fünfzig Meilen weit, und ich war es, der in einem Wald an einem Fluß …«
»Schweig, Vater«, flehte die Stimme von MacGill.
»Das ist alles. Ich habe bezahlt, bezahlt auf jede nur erdenkliche Weise …
Sogar durch Zweifel. Und das war das Schlimmste. Monatelang habe ich mich gefragt, ob ich wirklich der Vater des Kindes sei, ob Jessie mir nicht die Unwahrheit gesagt habe … Ich habe es einer Frau, die ich kannte, übergeben, aber sehen wollte ich es nicht … Auch später nicht. Ich sprach mir das Recht ab, das Kind einer … Konnte ich Ihnen das alles sagen, als Jean Sie nach New York brachte? … Auch er ist mein Sohn, doch Jessie ist nicht seine Mutter … Ich gestehe Ihnen, und Jos kann es Ihnen bestätigen, daß ich nach einigen Jahren die Hoffnung hatte, wieder ein Mensch zu werden, statt eines Automaten … Ich habe mich verheiratet … nicht aus Liebe, sondern allein in der Hoffnung zu genesen … Wir hatten ein Kind … Ich habe mit der Mutter nie leben können. Sie lebt noch. Sie ließ sich von mir scheiden. Sie lebt irgendwo in Südamerika, wo sie sich eine neue Existenz aufgebaut hat. Sie wissen, daß Jos verschwand, als er etwa zwanzig Jahre alt war. In Montreal war er in die schlechteste Gesellschaft geraten. Er verkehrte in einem Kreis von der gleichen Art wie der, zu dem Parson hier gehörte … Die alte Frau MacGill ist tot. Ich hatte von Jos jede Spur verloren und ahnte nicht, daß er sich hier in nächster Nähe befand als Mitglied des Ihnen bekannten Kreises … Mein anderer Sohn, Jean, hat Ihnen, wie er mir gestand, meine Briefe gezeigt, Sie müssen überrascht gewesen sein … Ich dachte eben immer nur an den anderen, an Jessies Sohn … ich zwang mich, Jean zu lieben – mit einer Art von Wut … Ich wollte ihm um jeden Preis eine Liebe geben, die doch dem anderen gehörte, der verschwunden war …
Und eines Tages, vor sechs Monaten, tauchte dieser Junge hier plötzlich auf.« Welch unendliche Zärtlichkeit in dem Wort »Junge« nur in der begleitenden Handbewegung lag! »Von Parson und seinen Kumpanen hatte er die Wahrheit erfahren, und das erste, was er mir sagte, als wir allein waren, war: ›Mein Herr, Sie sind mein Vater.‹«
MacGill unterbrach ihn: »Ich bitte dich, Papa …«
»Ja, ich sage nur noch das Wesentlichste … Seit dem Tage also leben und arbeiten wir zusammen, bemüht, zu retten, was zu retten ist, was Ihnen die von Monsieur d’Hoquélus erwähnten Transaktionen erklären wird …
Ich sah den Ruin voraus … Unsere Feinde, Jos’ frühere Freunde, gingen mit größter Ungeniertheit vor … Einer von ihnen, Bill, hat eine wahre Komödie aufgeführt, um Sie aufs Glatteis zu locken. Sie glaubten, Bill stünde in unseren Diensten, während er es doch war, der uns seine Befehle erteilte … Wir haben umsonst versucht, sie zum Abfahren zu bewegen … Ihretwegen haben sie Angelino aus dem Wege geräumt … sie merkten, daß Sie auf der richtigen Fährte waren, und fürchteten, Sie würden ihnen ihr bestes Geschäft zerstören … Ich bin ein Mann von drei Millionen … In sechs Monaten haben sie eine halbe Million von mir erpreßt, aber sie gehen aufs Ganze … Versuchen Sie einmal, das der offiziellen Polizei zu erklären!«
Warum mußte Maigret gerade jetzt an seinen traurigen Clown denken? Er wurde plötzlich für ihn eine symbolische Figur, seltsamerweise auch Parson, der sich dem Kugelhagel aussetzte im selben Augenblick, in dem er in den Besitz beinahe rechtmäßig erworbener zweitausend Dollar gelangt war.
Und Ronald Dexter war das Sinnbild allen Pechs und Unglücks, mit dem ein einzelner überhäuft werden kann. Dexter, der damit, daß er Maigret verriet, ein kleines Vermögen verdient und es auf den Tisch gelegt hatte, auf dem jetzt Bierflaschen, Whiskygläser und von niemandem angerührte belegte Brote standen.
»Vielleicht können Sie ins Ausland gehen?« schlug Maigret vor, ohne selbst recht davon überzeugt zu sein.
»Nein, Kommissar … ich habe dreißig Jahre lang ganz allein gekämpft, gegen meinen ärgsten Feind: mich selbst und meinen Kummer. Hundertmal habe ich mir gewünscht, alles möge zusammenbrechen und die Stunde der Rechenschaft möge kommen …«
»Weshalb?«
Und nun, da er seinen Nerven gestattete, sich zu entspannen, sprach er aus, was ihn zutiefst bewegte:
»Um mich auszuruhen.«
»Hallo … Leutnant Lewis …«
Um fünf Uhr früh hatte Maigret, nun allein, den amerikanischen Kollegen in dessen Wohnung angerufen.
»Was gibt es Neues?« fragte dieser.
»In der Nacht ist, ganz in Ihrer Nähe, ein Verbrechen verübt worden, auf offener Straße, und ich könnte mir denken …«
»Parson?«
»Ah, Sie wissen?«
»Ja, aber ich lege der Sache weiter keine Bedeutung bei.«
»Was sagen Sie?«
»Daß die Sache bedeutungslos ist. In spätestens zwei Jahren wäre er sowieso an Leberschrumpfung zugrunde gegangen, und er hätte sich bis dahin sehr quälen müssen.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Das ist auch gleich … Ich rufe Sie an, weil ich die Absicht habe, morgen mit einem englischen Schiff die Heimfahrt anzutreten.«
»Wissen Sie, daß es nicht möglich ist, etwas über den Tod der jungen Frau zu ermitteln?«
»Das kann ich mir denken.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nichts. Alles in allem liegen also zwei Verbrechen vor, deren Opfer Angelino und Parson sind, zwei Milieudramen, wie man sagt.«
»Welches Milieu?«
»Dasjenige der Leute, denen Menschenleben nichts bedeuten … Ich will mich nun von Ihnen verabschieden und in mein kleines Haus in Meung-sur-Loire zurückkehren, wo Sie herzlich willkommen sein sollen, wenn Sie einmal unser altes Frankreich besuchen.«
»Sie geben auf?«
»Ja.«
»Entmutigt?«
»Nein.«
»Ich will Sie nicht ärgern.«
»Das weiß ich.«
»Aber wir werden sie kriegen.«
»Davon bin ich überzeugt.«
Es war übrigens kein falsches Versprechen, denn drei Tage später hörte Maigret auf hoher See die Radiomeldung, vier gefährliche Gangster, darunter zwei Sizilianer, seien unter dem Verdacht, die Mörder Angelinos und Parsons zu sein, verhaftet worden. Ihr Anwalt streite das Verbrechen ab. Als das Schiff im Begriff war, in See zu stechen, befanden sich einige Personen auf dem Quai, die alle so taten, als kennten Sie einander nicht, die aber sämtlich in Maigrets Richtung blickten.
Little John im blauen Anzug und dunklen Mantel, MacGill, der nervös Zigaretten mit Korkmundstück rauchte, eine etwas finstere Erscheinung, die versuchte, sich an Bord zu schmuggeln, von den Stewards aber mit Verachtung abgewiesen wurde: Ronald Dexter; ein Rothaariger, mit Schafsprofil, der bis zum letzten Moment an Bord blieb und von der Polizei sehr zuvorkommend behandelt wurde: O’Brien, der mit Maigret an der Schiffsbar ein letztes Glas leerte und wie Lewis fragte: »Also, geben Sie auf?«
Er zeigte seine unschuldigste Miene, nur Maigret machte sie, so gut er konnte, nach:
»Ganz recht, ich gebe auf.«
»Und das in dem Augenblick, da …«
»… da man Leute zum Sprechen bringen könnte, die nichts Interessantes zu sagen haben, während man im Loiretal darangehen muß, die Melonensetzlinge zu versetzen … Ich bin nämlich jetzt Gärtner geworden …«
»Zufrieden?«
»Nein.«
»Enttäuscht?«
»Auch nicht.«
»Geschlagen?«
»Das weiß ich nicht.«
Das hing in diesem Augenblick nur noch von den Sizilianern ab. Würden sie sprechen, würden sie schweigen? Sie hielten es für klüger und wohl für lohnender, nichts zu sagen …
Zehn Tage später fragte Madame Maigret den heimgekehrten Gatten:
»Was hast du eigentlich in Amerika zu tun gehabt?«
»Nichts.«
»Du hast dir nicht mal eine Pfeife gekauft, wie ich dir doch geschrieben hatte.«
Worauf er mit der harmlosesten Miene antwortete:
»Sie sind so teuer dort und nicht einmal besonders haltbar.«
»Mir hättest du aber wenigstens etwas mitbringen können, ein Andenken oder so etwas …«
Worauf er sich die Freiheit nahm, an Little John zu telegrafieren:
»Wäre dankbar für ein gutes Grammophon.« Das Grammophon war, außer einigen Nickel- und Kupfermünzen, das einzige, was er von seiner Reise in die Staaten aufbewahrte.