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D

as Schiff hatte die Quarantäne gegen vier Uhr morgens erreicht. Die meisten Passagiere schliefen noch. Einige hatte der Lärm der Ankerkette kurz aus ihren Träumen aufgescheucht, aber nur wenige hatten sich, ihren guten Vorsätzen zum Trotz, entschließen können, sich auf Deck zu begeben, um die Lichter von New York zu sehen.

Die letzten Stunden der Überfahrt waren besonders schlimm gewesen. Noch jetzt, obwohl das Schiff in die Flußmündung eingelaufen und nur noch einige Kabellängen von der Freiheitsstatue entfernt war, wurde es von der Brandung auf und nieder geschleudert. Es regnete. Vielmehr, es fiel ein feiner Sprühregen, der feuchte Kälte mit sich brachte, alles durchdrang, das Deck schwarz und glitschig werden ließ und die metallenen Wände und Schotten lackierte.

In dem Augenblick, in dem die Maschinen außer Gang gesetzt wurden, hatte Maigret seinen dicken Mantel über seinen Pyjama gestreift und war nach oben gegangen. Einige schattenhafte Gestalten liefen mit großen, unsicheren Schritten hin und her. Bald hatte man sie hoch oben, bald tief unten sehen können; sie folgten der schaukelnden Bewegung des Schiffes.

Maigret rauchte seine Pfeife und betrachtete die Lichter der Stadt und einiger anderer Schiffe, die die Ankunft der Beamten der Zoll- und Gesundheitsbehörden erwarteten.

Er hatte Jean Maura noch nicht gesehen. Seine Kabine war erleuchtet gewesen. Fast hätte Maigret angeklopft. Aber wozu eigentlich? Er ging in seine Kabine zurück und rasierte sich. Er hatte – daran erinnerte er sich nachher, wie man eben unwichtige Einzelheiten manchmal im Gedächtnis behält – einen Schluck Cognac aus einer Flasche getrunken, die ihm seine Frau heimlich mit eingepackt hatte.

Was war danach geschehen? Obwohl er schon sechsundfünfzig war, war dies seine erste Seereise, und es erstaunte ihn selbst, daß er so gar nicht neugierig war und die malerische Szenerie ihn so wenig berührte.

Nach und nach erwachte das Schiff zum Leben. Man hörte, wie die Stewards das Passagiergepäck durch die Gänge schleiften und ein Passagier nach dem andern klingelte.

Nachdem er sich fertiggemacht hatte, ging Maigret nach oben. Der nebelartige Regen nahm eine milchige Tönung an, die Lichter der Betonpyramide, als die ihm Manhattan erschien, verblaßten.

»Sie sind mir doch nicht böse, Kommissar?«

Der junge Maura hatte sich ihm unbemerkt genähert. Er war blaß, seine Augen waren müde, aber die anderen Passagiere, die jetzt das Deck zu füllen begannen, sahen nicht besser aus.

»Weshalb sollte ich Ihnen böse sein?«

»Sie wissen schon, Kommissar … Ich war zu nervös, zu angespannt … Und als die anderen mich einluden, mit ihnen zu trinken …«

Die meisten hatten zuviel getrunken. Es war der letzte Abend. Die Bar wollte eben schließen, und besonders die Amerikaner konnten sich nur schwer von den französischen Likören trennen.

Nur, Jean Maura war erst neunzehn Jahre alt. Er war überreizt, und seine Trunkenheit hatte rasch häßliche Formen angenommen. Bald hatte er geweint, bald Drohungen ausgestoßen.

Maigret hatte ihn schließlich um zwei Uhr morgens ins Bett gebracht, wobei er Gewalt anwenden mußte. Der Junge hatte protestiert und ihn angeschrien:

»Glauben Sie vielleicht, daß Sie, weil Sie der berühmte Kommissar Maigret sind, mich wie ein Kind behandeln können? … Dazu hat nur einer in der Welt das Recht, ein einziger, verstehen sie, mein Vater!« Und jetzt war ihm übel, es tat ihm leid, und er schämte sich, und Maigret mußte ihn wieder ins Lot bringen. – Er legte ihm seine schwere Pranke auf die Schulter und sagte:

»Sie sind nicht der erste, dem es so ergangen ist.«

»Ich war böse und ungerecht … Wissen Sie, ich mußte immerfort an meinen Vater denken …«

»Ist schon gut …«

»Ich freue mich so, ihn wiederzusehen und mich davon zu überzeugen, daß ihm nichts geschehen ist.«

Maigret rauchte im Nieselregen seine Pfeife und beobachtete ein graues Boot, das mit geschickten Manövern über die Wellenberge glitt und an die Schiffstreppe heranzukommen versuchte. Beamte kletterten wie Akrobaten an Bord und verschwanden in der Kapitänskajüte.

Die Gepäckräume wurden geöffnet, die Schiffswinden waren schon in Gang gesetzt. Der Zustrom der Passagiere wuchs an. Einige versteiften sich darauf, im Dämmerlicht zu fotografieren. Andere tauschten ihre Adressen aus und versprachen, einander zu schreiben und sich wiederzusehen. Wieder andere schrieben in den Salons ihre Zollerklärungen.

Die Zollbeamten gingen von Bord, das graue Boot stieß ab. Es kamen zwei Schnellboote mit der Polizei und Vertretern der Sanitäts- und der Einwanderungsbehörde. Gleichzeitig wurde im Speisesaal das Frühstück serviert.

Wann geschah es, daß Maigret Jean Maura aus den Augen verlor? Das festzustellen hatte er hinterher die größte Mühe. Er hatte eine Tasse Kaffee getrunken und dann seine Trinkgelder ausgeteilt. Leute, die er kaum kannte, hatten ihm die Hand gedrückt. Dann war er im Salon der ersten Klasse mit den anderen angetreten, wo ein Arzt seinen Arm befühlt und seine Zunge besehen hatte, während seine Papiere geprüft wurden.

Auf Deck hatte es ein Gedränge gegeben. Es waren Scharen von Journalisten erschienen, um einen europäischen Minister und einen Filmstar zu fotografieren.

Ein kleiner Zwischenfall amüsierte ihn. Er hörte, oder glaubte zu hören, wie einer der Zeitungsleute, der mit dem Bordkommissar die Passagierlisten durchsah, sagte:

»Ach, das ist ja der Name des berühmten Pariser Kommissars.« (Allerdings stammten Maigrets Englischkenntnisse noch aus dem Gymnasium.)

Wo war Maura in diesem Augenblick? Das Schiff näherte sich, von zwei Schleppern gezogen, der Freiheitsstatue. Die Passagiere betrachteten sie, auf die Reling gestützt. Kleine, braune Boote, zum Bersten voll wie die Wagen der Métro, flitzten unaufhörlich vorbei. Vorstadtbewohner, Leute aus Hoboken oder Jersey-City, die zur Arbeit fuhren.

»Wollen Sie, bitte, hierher treten, Monsieur Maigret?«

Das Schiff machte am Quai der French Line fest, und die Passagiere gingen langsam im Gänsemarsch von Bord. Alle beherrschte der Gedanke, ob sie wohl ihr Gepäck in der Zollhalle finden würden.

Wo war Jean Maura? Er suchte ihn. Dann mußte er die Treppe hinab, denn wieder wurde sein Name aufgerufen. Er dachte sich, daß er den jungen Mann unten, beim Gepäck, treffen würde. Sie hatten ja beide die gleichen Anfangsbuchstaben. Es lag kein Drama, keinerlei Nervosität in der Luft. Maigret war von der Überfahrt ganz zerschlagen, und das Gefühl bedrückte ihn, daß es dumm gewesen war, sein Haus in Meung-sur-Loire zu verlassen.

Er kam sich völlig fehl am Platze vor, und in solchen Augenblicken wurde er leicht verstimmt. Es graute ihm vor der Menge und vor allen Formalitäten, und da er Mühe hatte, zu verstehen, was man ihm auf englisch sagte, wurde er immer brummiger.

Wo war Maura? Man fragte ihn nach seinen Schlüsseln, die er wie gewöhnlich unendlich lange in allen Taschen suchte, um sie schließlich da zu finden, wo sie logischerweise sein mußten. Er hatte nichts zu verzollen, aber nichtsdestoweniger mußte er alle die kleinen Päckchen öffnen, die Madame Maigret, die nie einen Zoll hatte passieren müssen, sorgsam verschnürt hatte.

Als er endlich damit fertig war, wandte er sich an den Bordkommissar:

»Haben Sie nicht den jungen Maura gesehen?«

»An Bord ist er nicht mehr, hier sehe ich ihn auch nicht. Wollen Sie, daß ich mich erkundige?«

Es war hier wie in einer Bahnhofshalle kurz vor Abgang eines Zuges. Gepäckträger stießen einem ihre Koffer in die Beine. Maura wurde überall gesucht.

»Er muß schon gegangen sein, Monsieur Maigret. Sicherlich ist er abgeholt worden.«

Wer sollte ihn abgeholt haben, da doch niemand von seiner Ankunft wußte?

Er mußte dem Träger folgen, der sich seines Gepäcks bemächtigt hatte. Er wußte nicht Bescheid mit all dem Kleingeld, das ihm der Barkeeper herausgegeben hatte, und wußte auch nicht, wieviel Trinkgeld er geben mußte. Man schob ihn förmlich in ein gelbes Taxi.

»Hotel Saint-Régis« – er mußte es vier- oder fünfmal sagen, bis man ihn verstand.

Die Sache war vollkommen idiotisch! Er hätte sich von diesem Jungen nicht beeindrucken lassen sollen. Schließlich war er noch ein Junge.

Und was den anderen, diesen Monsieur d’Hoquélus, betraf, konnte Maigret sich nicht der Frage erwehren, ob er wirklich vernünftiger war als dieser Junge.

Es regnete noch immer. Der Wagen fuhr durch ein schmutziges Viertel mit Häusern von geradezu ekelhafter Häßlichkeit. War das New York?

Vor zehn Tagen, nein, vor neun Tagen, hatte Maigret noch auf seinem Stammplatz im Café Cheval-Blanc in Meung gesessen. Es hatte übrigens auch geregnet. Es regnet überall, an den Ufern der Loire und in Amerika. Maigret spielte Karten. Es war fünf Uhr nachmittags.

War er nicht Beamter im Ruhestand? Genoß er nicht seine Freiheit, liebte er etwa nicht das Häuschen, das er liebevoll eingerichtet hatte? Das Häuschen, von dem er sein Leben lang geträumt hatte, eines jener ländlichen Häuser, die nach reifem Obst, nach Heu und Bohnerwachs rochen, zuweilen natürlich auch nach einem vor sich hin köchelnden Ragout – und was war Madame Maigret für eine Meisterin im Zubereiten von Ragouts!

Es geschah zuweilen, daß irgendein Dummkopf ihn mit einem kleinen Lächeln, das ihn in Wut versetzen konnte, fragte:

»Sehnen Sie sich nicht zurück, Maigret?«

Wonach?

Nach den eisigen Korridoren des Dienstgebäudes? Nach endlosen Vernehmungen? Nach tage- und nächtelangen Verfolgungen irgendeines Lumps?

Nein, danke. Ihm fehlte nichts zu seinem Glück.

Er las nicht einmal mehr die Unglücksfälle und Verbrechen in den Zeitungen. Und wenn Lucas ihn besuchte, der fünfzehn Jahre lang sein bevorzugter Inspektor gewesen, war es eine stillschweigende Abmachung, daß Fachsimpeln als Gesprächsstoff verboten war …

Er spielt also seine Partie und meldet Trumpf. Ausgerechnet in diesem Augenblick kommt der Kellner und ruft ihn ans Telefon. Er behält seine Karten in der Hand und geht hin.

»Bist du’s, Maigret?«

Seine Frau, sie hat sich niemals daran gewöhnen können, ihn anders als Maigret zu nennen.

»Es ist hier jemand aus Paris, der dich gern sprechen möchte.«

Natürlich folgt er dem Ruf. Vor seinem Haus steht ein nicht mehr modernes Auto, sehr gepflegt, mit einem Chauffeur in Livree. Maigret wirft einen Blick ins Innere des Wagens und hat den Eindruck, einen in eine Decke eingehüllten alten Herrn zu sehen.

Wie immer in solchen Fällen, erwartet ihn seine Frau an der Tür. Sie flüstert ihm zu:

»Ein junger Mann … er sitzt im Salon … im Auto wartet ein älterer Herr, vielleicht sein Vater … Ich wollte, daß er ihn hereinbittet, aber er meinte, es sei nicht nötig.«

Auf die Weise läßt man sich über den Ozean locken, statt bei seinem Kartenspiel zu bleiben! So dumm ist der Mensch!

Die übliche Einleitung, mit nervösen Handbewegungen und unruhigen Augen.

»Ich kenne fast alle Ihre Untersuchungen … ich weiß, daß Sie der einzige sind, der …« und so weiter und so weiter.

Die Leute sind unweigerlich davon überzeugt, daß sie ein Drama ganz besonderer Art erleben.

»Ich bin ja noch sehr jung … vielleicht nehmen Sie mich gar nicht ernst …«

Auch davon sind sie durchdrungen, daß man sie nicht ernst nimmt, weil ihr Fall so außergewöhnlich ist, daß niemand ihn verstehen kann.

»Mein Name ist Jean Maura … ich studiere Jura … John Maura ist mein Vater …«

Na und? Der Junge sagt das, als spräche er einen weltbekannten Namen aus.

»John Maura, New York.«

Maigret brummt etwas Unverständliches, während er seine Pfeife raucht.

»Man nennt ihn öfter in den Zeitungen … er ist sehr reich und in Amerika sehr bekannt … verzeihen Sie, daß ich es sage … es ist nötig, weil Sie sonst vielleicht nicht verstehen …«

Und dann folgt eine verwickelte Geschichte, die Maigret zum Gähnen bringt, weil sie ihn nicht im mindesten interessiert. Er denkt an die unterbrochene Partie und schenkt sich mechanisch ein Glas Weinbrand ein. In der Küche hört man Madame Maigret hin- und hergehen. Die Katze schnurrt, während sie zärtlich seine Beine umstreicht. Durch einen Spalt im Vorhang sieht er einen alten Herrn, der im Auto vor sich hindöst.

»Das Verhältnis zwischen meinem Vater und mir ist, müssen Sie wissen, von ganz besonderer Art … Er hat nur mich in der Welt und niemand sonst, der für ihn etwas bedeutet … Er hat sehr viel zu tun, aber er schreibt mir doch jede Woche einen langen Brief … Und in den Ferien sind wir immer beisammen und verbringen jedes Jahr zwei oder drei Monate in Italien, in Griechenland, in Ägypten, in Indien, irgendwo, wohin es uns gerade zieht … Ich habe Ihnen seine letzten Briefe mitgebracht … Sie sind mit der Maschine geschrieben, doch nicht etwa diktiert … Mein Vater hat die Gewohnheit, seine Privatkorrespondenz auf einer kleinen Reiseschreibmaschine selbst zu schreiben.«

»Mein Liebling …«

Der Ton ist fast so, als wären die Briefe an eine Geliebte gerichtet. Der Papa in Amerika macht sich Gedanken über alles, über die Gesundheit seines Sohnes, über seinen Schlaf, seine Träume, seine Stimmung, seine Ausgänge. Er freut sich auf die nächsten Ferien. Wohin sollen sie diesmal reisen?

Der Ton ist sehr liebevoll, mütterlich und zärtlich zugleich.

»Ich möchte Sie gern davon überzeugen, daß ich kein überspannter Junge bin, der sich irgend etwas ausgedacht hat … Aber seit sechs Monaten geht irgend etwas Ernstes vor … Ich weiß nicht, was, aber ich bin dessen sicher … Man spürt, daß mein Vater Angst hat, er ist nicht mehr derselbe, er ahnt irgendeine Gefahr …

Er hat auch sein Leben ganz umgestellt. In den letzten Monaten ist er unablässig auf Reisen gewesen, bald in Kalifornien, bald in Kanada, bald in Mexiko, und immer in einem Tempo, als jage ihn ein Alpdruck …

Ich dachte schon, daß Sie mir nicht glauben würden. Ich habe die Stellen in seinen Briefen unterstrichen, aus denen eine unbestimmte Angst vor der Zukunft spricht … Sie werden sehen, daß die Worte, die er früher nie geäußert hat, sich wiederholen: ›Wenn es geschehen sollte, daß Du allein bleibst … wenn ich Dir fehlen sollte … wenn Du allein bist … wenn ich einmal nicht mehr da bin …‹

Diese Aussagen häufen sich, und dabei weiß ich, daß mein Vater kerngesund ist. Ich habe an seinen Arzt telegrafiert, um mich zu beruhigen. Der Arzt macht sich über mich lustig und schreibt, mein Vater habe, wenn er nicht einen Unfall erleide, noch dreißig Jahre zu leben … Verstehen Sie?«

Das fragen alle: Verstehen Sie?

»Ich habe meinen Notar aufgesucht, Monsieur d’Hoquélus, dessen Name Ihnen gewiß nicht fremd ist. Er ist ein alter Herr, der das Leben kennt. Ich habe ihm die letzten Briefe gezeigt … Er fand sie beinahe ebenso beunruhigend wie ich … Und gestern hat er mir anvertraut, daß mein Vater ihn beauftragt habe, Finanzoperationen für ihn durchzuführen, die auch ihm seltsam erscheinen …

Monsieur d’Hoquélus ist meines Vaters Vertrauensmann in Frankreich. Er ist beauftragt, mir so viel Geld zu geben, wie ich brauche … und nun hat mein Vater ihn beauftragt, an verschiedene Personen größere Schenkungen vorzunehmen … Nicht etwa, um mich zu enterben, denn laut Privatvertrag sollen diese Beträge mir später ausgehändigt werden … Weshalb das, wo ich doch sein einziger Erbe bin? Doch wohl, weil er fürchtet, daß mir sein Vermögen nicht auf ordentlichem Weg übereignet werden kann … Ich habe Monsieur d’Hoquélus mitgebracht, er sitzt draußen im Wagen. Falls Sie ihn sprechen möchten …?«

Der alte Notar spricht mit eindrucksvollem Ernst und wägt seine Worte. Er sagt dasselbe wie der junge Mann.

»Ich bin überzeugt, daß sich im Leben Joachim Mauras etwas Wichtiges zugetragen hat.«

»Warum nennen Sie ihn Joachim?«

»Das ist sein eigentlicher Vorname, den er in den USA gegen den geläufigeren Namen John vertauscht hat … Auch ich bin überzeugt, daß er sich von einer ernsthaften Gefahr bedroht sieht. Deshalb habe ich Jean nicht abgeraten, als er den Wunsch geäußert hat, zu seinem Vater zu fahren. Ich habe ihm nur geraten, sich von jemand Erfahrenem begleiten zu lassen.«

»Weshalb nicht durch Sie selbst?«

»Erstens bin ich zu alt, sodann aber auch aus Gründen, die Sie vielleicht später verstehen werden. Ich bin der Überzeugung, daß ein in polizeilichen Dingen versierter Mann in New York nötig ist … Ich habe den Auftrag, Jean Maura nie vergebens um Geld bitten zu lassen, und unter den gegebenen Umständen kann ich seinen Wunsch nur billigen.«

Die halblaut geführte Unterhaltung hatte zwei Stunden gedauert. Monsieur d’Hoquélus hatte sich Maigrets Weinbrand gegenüber nicht abgeneigt gezeigt. Von Zeit zu Zeit hatte Maigret seine Frau an der Tür gehört. Sie lauschte aber nicht etwa aus Neugierde, sondern weil sie wissen wollte, ob sie endlich den Tisch decken könnte.

Sie war nicht wenig erstaunt, als Maigret ihr, nicht gerade stolz darauf, daß er sich hatte überreden lassen, nachdem das Auto abgefahren war, die Eröffnung machte, er werde nach Amerika fahren.

»Wie bitte?«

Und nun brachte ihn ein gelbes Taxi durch Straßen, die ihm fremd waren und in dem dünnen Regen unsäglich traurig wirkten.

Weshalb war Jean Maura im gleichen Augenblick verschwunden, in dem sie das Ziel ihrer Reise erreicht hatten? Sollte man annehmen, daß er eine unerwartete Begegnung hatte? Oder hatte er, um das Wiedersehen mit seinem Vater zu beschleunigen, seinen Reisegefährten rücksichtslos sitzengelassen? Die Straßen wurden eleganter. Der Wagen hielt an der Ecke einer Avenue. Maigret wußte natürlich noch nicht, daß es die berühmte Fifth Avenue war. Ein Hotelportier stürzte ihm entgegen.

Neue Verlegenheit beim Bezahlen des Chauffeurs mit all den fremden Geldstücken. Dann die Halle des Hotels Saint-Régis, schließlich der Empfang, und hier fand er endlich einen Angestellten, der Französisch sprach.

»Ich möchte Mr. John Maura sprechen.«

»Einen Moment, bitte.«

»Können Sie mir sagen, ob sein Sohn angekommen ist?«

»Heute morgen hat noch niemand nach Mr. Maura gefragt.«

»Ist er da?«

Mit kühler Höflichkeit antwortete ihm der Angestellte, indem er den Hörer ans Ohr hielt:

»Ich werde seinen Sekretär fragen.«

Dann, am Apparat:

»Hallo … Mr. MacGill … hier Empfang … es fragt jemand nach Mr. Maura … Wie, bitte? … Ich werde ihn fragen … Wie ist Ihr Name?«

»Maigret.«

»Hallo … Monsieur Maigret … Jawohl … Einen Augenblick.«

Dann, den Hörer wieder auflegend:

»Mr. MacGill läßt sagen, Mr. Maura empfange nur nach vorheriger Verabredung. Wenn Sie ihm schreiben und ihm Ihre Adresse geben, werde er Ihnen antworten.«

»Seien sie so freundlich, diesem Mr. MacGill mitzuteilen, ich käme aus Frankreich, um Mr. Maura zu sehen, und hätte ihm wichtige Dinge zu sagen.«

»Bedaure … Die Herren würden es mir nicht verzeihen, wenn ich sie wieder störte. Wenn Sie sich aber die Mühe machen wollen, ein Wort zu schreiben, hier, im Salon, werde ich es durch einen Boy hinaufbringen lassen.«

Maigret war wütend. Mehr noch auf sich als auf MacGill, den er nicht kannte, den er aber schon zu hassen begann, wie er bereits alles verabscheute, was ihn hier umgab: die mit Gold überladene Halle, die Boys, die ihn mit unverhohlener Ironie musterten, die hübschen Damen, die kamen und gingen, die allzu selbstsicheren Herren, die ihn anstießen, ohne sich zu entschuldigen.

»Monsieur

ich komme aus Frankreich in einer Sache von großer Wichtigkeit, mit der Ihr Sohn und Monsieur d’Hoquélus mich betraut haben. Da meine Zeit ebenso kostbar ist wie die Ihre, würde ich Ihnen verbunden sein, wenn sie mich unverzüglich empfingen.

Gruß Maigret.«

Man ließ ihn eine gute Viertelstunde warten. Aus Wut rauchte er Pfeife, obwohl er nicht daran zweifelte, daß das hier fehl am Platze war. Schließlich bat ihn ein Boy, ihm in den Lift zu folgen. Er führte ihn dann einen Korridor entlang, klopfte an einer Tür und ließ ihn allein.

»Herein!«

Weshalb hatte er sich MacGill als einen älteren, unwirschen Herrn vorgestellt? Es kam ihm ein großer, eleganter junger Mann entgegen, der ihm die Hand entgegenstreckte.

»Sie müssen entschuldigen, aber Mr. Maura ist so in Anspruch genommen und so überlastet mit Besuchen, daß wir gezwungen sind, einen Wall um ihn zu errichten … Sie kommen aus Frankreich, sagen Sie … So habe ich wohl das Vergnügen mit dem früheren K…, ich meine …?«

»Ja, Kommissar Maigret.«

»Bitte, nehmen Sie Platz. Zigarre?«

Es standen verschiedene Kisten in Reichweite. Das Zimmer war sehr groß, ein Salon, in dem ein riesiger Mahagonischreibtisch die Harmonie etwas störte, ohne ihm jedoch den Charakter eines Büros zu geben.

Maigret lehnte die ihm angebotene Havanna ab. Während er wieder seine Pfeife stopfte, betrachtete er sein Gegenüber ohne Wohlwollen.

»Sie bringen uns Nachrichten von Mr. Jean?«

»Darüber werde ich mit Mr. Maura sprechen, wenn Sie die Freundlichkeit haben wollen, mich zu ihm zu führen.«

MacGill reagierte mit einem Lächeln, das seine prächtigen Zähne sehen ließ.

»Man merkt, Herr Kommissar, daß Sie aus Europa kommen. Sonst würden Sie wissen, daß John Maura einer der meistbeschäftigten Männer von New York ist. Ich selbst ahne nicht einmal, wo er sich im Augenblick befindet, obwohl ich sein engster Vertrauensmann, auch in persönlichen Dingen, bin. Sie können also ohne Scheu mit mir sprechen …«

»Ich warte, bis es Mr. Maura gefallen wird, mich zu empfangen.«

»Er weiß ja nicht einmal, worum es sich handelt.«

»Wie ich schon sagte, es handelt sich um seinen Sohn.«

»Hat er, worauf Ihre Stellung schließen lassen könnte, etwa Dummheiten gemacht?«

Maigret rührte sich nicht, antwortete nicht und fuhr fort, den jungen Mann mit eiskalten Blicken zu mustern.

»Verzeihen Sie meine Hartnäckigkeit, Herr Kommissar … so redet man Sie wohl immer noch an, obwohl Sie, wie ich in den Zeitungen las, in den Ruhestand getreten sind … verzeihen Sie also, Herr Kommissar, daß ich meine Bemerkung wiederhole. Wir sind in Amerika, nicht in Frankreich, die Minuten des Mr. Maura sind gezählt … Jean ist ein lieber Junge, vielleicht etwas zu empfindsam … aber ich frage mich, was in aller Welt kann er …?«

Maigret stand gelassen auf und griff nach seinem Hut, den er neben sich auf den Teppich gelegt hatte.

»Ich nehme ein Zimmer im Hotel … Wenn sich Mr. Maura entschließen wird, mich zu empfangen …«

»Er kommt frühestens in vierzehn Tagen zurück.«

»Können Sie mir sagen, wo er jetzt gerade ist?«

»Schwer zu sagen. Er reist im Flugzeug. Vorgestern war er in Panama. Heute kann er in Rio gelandet sein oder in Venezuela.«

»Danke.«

»Haben Sie hier Freunde, Herr Kommissar?«

»Niemanden, außer ein paar Kollegen, mit denen ich früher zusammengearbeitet habe.«

»Darf ich mir erlauben, Sie zum Mittagessen einzuladen?«

»Vielen Dank, aber ich werde wohl mit einem meiner Bekannten essen.«

»Wenn ich nun sehr bäte? Ich bin keineswegs froh über die Rolle, die zu spielen ich verpflichtet bin, und ich möchte, daß Sie sie mir nicht verargen. Ich bin etwas älter als Jean und mag ihn von Herzen gern. Sie haben mir nicht einmal gesagt, wie es ihm geht.«

»Darf ich fragen, wie lange Sie schon Mr. Mauras Privatsekretär sind?«

»Seit etwa sechs Monaten. Das heißt, so lange bin ich hier, aber ich kenne ihn viel länger, um nicht zu sagen, seit jeher.«

Im Nebenzimmer waren Schritte zu hören. Maigret merkte, daß MacGill sich verfärbte, während er ängstlich lauschte und auf den vergoldeten Türknauf starrte, der sich langsam drehte. Die Tür ging auf.

»Komm einen Augenblick, Jos!«

Ein mageres, nervöses Gesicht, blondes, von weißen Fäden durchzogenes Haar. Zwei Augen, die sich auf Maigret hefteten, eine Stirn, die sich runzelte. Der Sekretär sprang auf, der andere aber kam, Maigret fixierend, näher.

»Mir scheint …« begann er, als strenge er sein Gedächtnis an.

»Kommissar Maigret von der Pariser Kriminalpolizei, genauer: Ex-Kommissar Maigret, denn ich bin seit einem Jahr im Ruhestand.«

John Maura war klein, unter Mittelgröße, sehr dünn, aber anscheinend ungewöhnlich energiegeladen.

»Bin ich es, den Sie sprechen wollen?«

Ohne die Antwort abzuwarten, drehte er sich zu MacGill um. »Worum handelt es sich, Jos?«

»Ich weiß es nicht, Chef. Der Kommissar …«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich Sie allein sprechen, Mr. Maura. Es handelt sich um Ihren Sohn …«

Das Gesicht des Mannes, der so zärtliche Briefe schrieb, blieb unbeweglich.

»Sie können vor meinem Sekretär sprechen.«

»Wie Sie wollen … Ihr Sohn ist in New York.«

Maigret hörte nicht auf, die beiden zu fixieren. Täuschte er sich? Er hatte den Eindruck, daß MacGill überrascht war, während Maura unbewegt in gleichgültigem Ton sagte:

»Aha.«

»Das scheint Sie nicht zu erstaunen.«

»Sie wissen wohl, daß mein Sohn tun und lassen kann, was ihm beliebt.«

»Wundert es Sie nicht zumindest, daß er noch nicht zu Ihnen gekommen ist?«

»Ich weiß ja nicht, seit wann er hier ist.«

»Er ist heute morgen mit mir zusammen angekommen.«

»Dann müssen Sie doch wissen …«

»Nichts weiß ich. Ich habe ihn im Gedränge der Landung und der Formalitäten aus den Augen verloren. Als ich ihn zuletzt sah und mit ihm sprach, lag das Schiff an der Quarantänestation.«

»Wahrscheinlich hat er Freunde getroffen.«

Dabei steckte sich John Maura gemächlich eine lange Zigarre an, deren Bauchbinde seine Initialen trug.

»Es tut mir leid, Herr Kommissar, aber ich weiß nicht, inwiefern die Ankunft meines Sohnes …«

»Etwas mit meinem Besuch zu tun hat?«

»Das eben wollte ich sagen. Ich bin heute morgen sehr beschäftigt und muß mich leider zurückziehen … Sie können sich in aller Offenheit mit meinem Sekretär unterhalten … Entschuldigen Sie bitte, Herr Kommissar.«

Ein kurzes Nicken. Dann war er verschwunden. Nach einigem Zögern sagte auch MacGill: »Verzeihen Sie!« und schloß, seinem Chef auf den Fersen folgend, die Tür. Maigret blieb in dem Raum ganz allein zurück. Es war ihm nicht gerade wohl zumute.

Er hörte die beiden im Nebenzimmer flüstern und wollte gerade wütend fortgehen, als der Sekretär lächelnd zurückkehrte.

»Sie sehen, daß Sie keinen Grund hatten, mir zu mißtrauen.«

»Ich dachte, Mr. Maura wäre in Rio oder Venezuela …«

»Ist es Ihnen am Quai des Orfèvres niemals passiert«, sagte der andere lachend, »daß Sie sich einer Notlüge bedienen mußten, um einen Besucher loszuwerden?«

»Herzlichen Dank, daß Sie es mir zurückzahlen!«

»Sie sind mir doch hoffentlich nicht böse? … Wie spät ist es? Halb zwölf … Wenn es Ihnen recht ist, werde ich ein Zimmer für Sie bestellen … Sie hätten sonst Mühe, eines zu bekommen … Das Saint-Régis ist eines der beliebtesten Hotels in New York … Ich lasse Ihnen Zeit, ein Bad zu nehmen und sich umzuziehen, und wir treffen uns um eins in der Bar und gehen dann zusammen essen.«

Maigret hätte am liebsten gedankt und sich seitwärts in die Büsche geschlagen. Wäre an dem gleichen Abend ein Schiff nach Europa gefahren, wäre er imstande gewesen, die Heimreise anzutreten, ohne die Stadt näher kennenzulernen, die ihm einen so unfreundlichen Empfang bereitet hatte.

»Hallo! Hier MacGill … bitte, Salon und Schlafzimmer für Mr. Mauras Freund zu reservieren … Monsieur Maigret … In Ordnung? Danke.«

Dann, zum Kommissar gewandt:

»Sprechen Sie etwas Englisch?«

»So wie alle, die es in der Schule gelernt und dann vergessen haben.«

»Dann werden Sie anfangs vielleicht Schwierigkeiten haben. Sind Sie zum erstenmal in den Staaten? … Ich stehe Ihnen, soweit es mir nur möglich ist, gern zur Verfügung.«

Jemand bewegte sich hinter der Tür. Wahrscheinlich John Maura. MacGill bemerkte es auch, doch es schien ihn nicht zu stören.

»Bitte, folgen Sie nur dem Boy … Auf Wiedersehen, Herr Kommissar. Ich lasse Ihr Gepäck hinaufbringen … Sicherlich kommt Jean Maura rechtzeitig, so daß wir zu dritt essen können.«

Mit dem Lift ging’s nach oben. Salon, Schlafzimmer, Bad. Ein Träger, der auf sein Trinkgeld wartete, und den Maigret verständnislos ansah, weil er sich so verwirrt, ja gedemütigt fühlte wie noch selten in seinem Leben.

Er mußte wieder daran denken, daß er vor zehn Tagen friedlich mit dem Bürgermeister, dem Arzt und dem Händler in Düngemitteln im gemütlichen und immer ein wenig düsteren Cheval-Blanc Karten gespielt hatte.