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M
aigret schlief. Er lag in einem tiefen Brunnen, über dessen Rand sich ein lächelnder rothaariger Riese beugte, der eine große Zigarre – warum eine Zigarre? – rauchte, als ein heimtückisches, gehässiges Klingeln sein Gesicht sich krausen ließ wie eine Morgenbrise ein stilles Wasser. Dann drehte er sich mitsamt der Decke zweimal von einer Bettseite auf die andere, bis sich endlich ein Arm frei machte, der erst nach der Wasserflasche, dann nach dem Telefon langte, und eine Stimme »Hallo …« brummte.
Während er aufrecht im Bett saß, sehr unbequem, denn er hatte nicht die Zeit gehabt, sich das Kopfkissen hinter den Rücken zu stopfen, und er mußte außerdem das verdammte Telefon halten – während er so saß, kam ihm eine demütigende Erkenntnis:
Er hatte, trotz dem ohne Zweifel ironisch gemeinten Vortrag O’Briens über die harntreibende Wirkung des Whiskys, Kopfschmerzen.
»Ja, hier Maigret … wer ist dort … wie bitte?«
Es war MacGill, und gerade von diesem, ihm gar nicht sympathischen Mann geweckt zu werden, war kein guter Tagesanfang. Zumal da der andere, der an Maigrets Organ erkennen mochte, daß er noch im Bett war, die Frechheit hatte, ihm zuzurufen:
»Wohl spät in die Federn gekommen … hoffentlich hatten Sie wenigstens einen angenehmen Abend?«
Maigret konnte seine Uhr, die er gewöhnlich auf den Nachttisch legte, dort nicht finden. Eine elektrische Uhr, die in die Wand eingelassen war, ließ ihn aber zu seinem Schrecken erkennen, daß es schon elf Uhr war.
»Hören Sie, Herr Kommissar, ich rufe im Auftrag des Chefs an. Er würde sich sehr freuen, wenn Sie heute vormittag bei ihm vorbeikommen könnten. Ja, gleich – ich meine, sobald Sie angezogen sind. Auf gleich!
Sie erinnern sich, welches Stockwerk? Siebter Stock, ganz am Ende von Flur B … also, auf Wiedersehen.«
Maigret suchte nach einer Klingel, wie es das in Frankreich gab, um das Mädchen oder den Etagenkellner herbeizurufen, er suchte vergeblich und fühlte sich in dieser lächerlich großen Suite einen Augenblick ganz verloren. Schließlich fiel ihm das Telefon ein, und da man anscheinend sein schlechtes Englisch nicht verstehen konnte, mußte er dreimal wiederholen, daß ihm das Frühstück gebracht werden sollte.
»Fräulein, ich möchte mein Frühstück … Frühstück … ja … Wie bitte? … Verstehen Sie nicht? … Kaffee?« Sie sagte etwas Unverständliches. »Ich bitte Sie um mein Frühstück!« Er dachte, sie hätte aufgehängt, aber sie verband ihn mit einer neuen Stimme, die sagte: »Room-Service.«
Wenn man Bescheid wußte, war es vermutlich ganz einfach, aber er war erst mal ganz Amerika böse, daß niemand auf die Idee gekommen war, Hotelzimmer mit Klingelknöpfen zu versehen.
Zu allem Überfluß saß er gerade im Bad, als es klopfte. Er schrie zwar: »Herein«, aber das Klopfen hörte nicht auf. Er mußte also, naß, wie er war, seinen Morgenrock überstreifen und öffnen gehen, denn er hatte den Riegel vorgeschoben. Draußen stand ein Kellner mit einem Papier, das zu unterschreiben war. Was sonst noch? Weshalb wartete der Mann? Ach so, es war ein Trinkgeld fällig. Und seine Kleider lagen auf dem Boden! …
Schlechtgelaunt stand er eine halbe Stunde später an der Tür zu Little Johns Appartement. MacGill empfing ihn, elegant wie immer, aber der Kommissar hatte den Eindruck, daß auch er nicht viel geschlafen hatte.
»Bitte, nehmen Sie Platz. Ich will dem Chef nur Bescheid sagen.«
Er schien besorgt und nicht darauf aus zu sein, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Er behandelte Maigret mit einer gewissen Gleichgültigkeit und ließ, als er hinausging, die Tür weit offenstehen. Maigret sah in einen Salon, dann in ein sehr großes Zimmer. MacGill lief immer weiter und klopfte schließlich an die letzte Tür. Was sich dahinter verbarg, konnte der Kommissar nicht deutlich erkennen. Er hatte aber den verblüffenden Eindruck, daß sich an die Luxusräume ein ärmliches Zimmer anschloß. Der Gedanke beschäftigte ihn besonders, wenn er sich später bemühte, das Bild wieder heraufzubeschwören, das sich seinen Augen einen Moment geboten hatte. Er hätte darauf schwören können, daß der Raum, den der Sekretär betrat, mehr einem Dienerzimmer als einem Zimmer des Saint-Régis glich. Hatte Little John nicht an einem Tisch aus rohem Holz gesessen neben einem ganz gewöhnlichen Eisenbett?
Die beiden wechselten ein paar halblaute Worte und machten sich, einer hinter dem anderen, auf den Weg, Little John wieder nervös, und mit knappen Bewegungen, als wolle er seine überschüssige Energie zügeln.
Auch er zeigte sich, als er Maigret gegenüberstand, nicht gerade beflissen, er kam diesmal nicht auf die Idee, ihm eine seiner berühmten Zigarren anzubieten.
Er setzte sich auf MacGills Stuhl am Mahagonischreibtisch, und dieser ließ sich ungeniert auf einen Lehnstuhl nieder und schlug die Beine übereinander.
»Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, daß ich Sie bemüht habe, Herr Kommissar, aber ich meine, daß eine Unterhaltung zwischen uns nötig sei.«
Dabei richtete er seine Augen endlich auf Maigret, Augen, die weder Sympathie noch Antipathie noch Ungeduld ausdrückten. Seine feine, für einen Mann überraschend weiße Hand spielte mit einem Papiermesser aus Schildpatt.
Er trug einen marineblauen Anzug von englischem Schnitt, eine dunkle Krawatte, weiße Wäsche. Das hob seine feinen, scharfen Züge hervor. Es war schwer, sein Alter zu bestimmen. »Ich vermute, daß Sie keine Nachricht von meinem Sohn haben.«
Er fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort und sprach, als hätte er einen Untergebenen vor sich:
»Als Sie gestern zu mir kamen, war ich nicht aufgelegt, bestimmte Fragen an Sie zu richten. Wenn ich Sie recht verstanden habe, sind sie mit Jean aus Frankreich gekommen, und zwar, wie Sie mir zu verstehen gaben, auf Bitten meines Sohnes …«
MacGill folgte mit den Blicken ruhig dem zur Decke steigenden Rauch seiner Zigarette. Little John spielte weiter mit dem Papiermesser und sah Maigret an, ohne ihn zu sehen.
»Ich denke nicht, daß Sie, nachdem Sie Ihren Dienst verlassen haben, Privatdetektiv geworden sind. Andererseits kann ich, nach allem, was man von Ihnen und Ihrem Charakter weiß, nicht annehmen, daß Sie sich für nichts und wieder nichts auf eine solche Reise begeben. Sie verstehen mich, Herr Kommissar? Wir sind freie Menschen in einem freien Land. Gestern haben Sie sich hier Zutritt verschafft, um mir von meinem Sohn zu sprechen. Am Abend haben Sie die Verbindung mit einem Beamten der Bundespolizei aufgenommen, um sich über mich zu erkundigen …«
Mit anderen Worten, die beiden waren über sein Kommen und Gehen und über seine Begegnung mit O’Brien unterrichtet. Hatten Sie ihn beobachten lassen?
»Gestatten Sie, daß ich eine erste Frage an Sie richte: Mit welcher Begründung hat mein Sohn Ihre Hilfe erbeten?«
Und da Maigret die Antwort schuldig blieb, MacGill ironisch zu lächeln schien, fuhr Little John nervös und in scharfem Ton fort:
»Pensionierte Kommissare haben nicht die Gewohnheit, jungen Leuten als Reisebegleiter zu dienen. Ich wiederhole also meine Frage: Was hat Ihnen mein Sohn erzählt, um Sie zu bewegen, mit ihm den Ozean zu überqueren?« Vielleicht wählte er diesen verächtlichen Ton in der Absicht, Maigret aus der Fassung zu bringen. Aber das Gegenteil trat ein. Maigret gewann an Ruhe und Haltung, während der andere sprach. Auch an Hellsicht! Und das drückte sich so sehr in seinem Blick aus, daß die Hand, die das Papiermesser hielt, sehr unruhig wurde. MacGill, das Gesicht dem Kommissar zugewendet, vergaß seine Zigarette und wartete gespannt.
»Darf ich Ihre Frage mit einer Gegenfrage beantworten: wissen Sie, wo sich Ihr Sohn befindet?«
»Nein, und das hat im Augenblick auch keine Bedeutung. Mein Sohn kann tun, was ihm beliebt. Verstehen Sie?«
»Mit anderen Worten: Sie wissen, wo er ist.«
Jetzt war es MacGill, der seine Erregung nicht verbergen konnte. Er wandte sich lebhaft zu Little John mit einem harten Ausdruck in den Augen.
»Ich wiederhole Ihnen, daß ich es nicht weiß und daß es Sie nichts angeht.«
»Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen.«
»Einen Augenblick …« Der kleine Mann war aufgesprungen und hatte sich, immer noch das Papiermesser in der Hand, zwischen Maigret und die Tür gestürzt.
»Sie scheinen zu vergessen, Herr Kommissar, daß Sie sich sozusagen auf meine Kosten hier befinden. Mein Sohn ist minderjährig. Ich kann nicht glauben, daß er Ihnen zugemutet hat, die Reise aus Ihrer eigenen Tasche zu bezahlen.«
Weshalb schien MacGill so wütend auf seinen Chef? Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, mißfiel ihm offensichtlich. Sie mißfiel ihm so, daß er sich nicht enthielt, zu bemerken:
»Ich glaube nicht, daß es darauf ankommt, und daß Sie Grund haben, den Kommissar zu verletzen.«
Die beiden wechselten einen Blick, den Maigret auf alle Fälle beobachtete, den er aber im Moment nicht deuten konnte. Er nahm sich jedoch vor, später noch dahinterzukommen.
»Es ist klar«, fuhr MacGill fort, der sich seinerseits erhoben hatte und das Zimmer mit ruhigeren Schritten durchmaß als Little John, »es ist klar, daß Ihr Sohn, aus Gründen, die wir nicht kennen, die Sie aber vielleicht kennen …«
Nanu? War das sein Chef, dem er mit so gewichtigen Andeutungen kam?
»… sich genötigt gesehen hat, sich an eine Persönlichkeit zu wenden, deren kriminalistischer Scharfblick bekannt ist.«
Maigret blieb sitzen. Es interessierte ihn, die beiden in ihrem Wesen so verschiedenen Männer zu beobachten. Bisweilen sah es fast so aus, als ob das Spiel zwischen ihnen und nicht mit Maigret ausgetragen wurde.
Der anfangs so scharfe Little John überließ das Wort dem um dreißig Jahre jüngeren Sekretär. Er schien es nicht gerne zu tun, sondern höchst widerstrebend und sichtlich gedemütigt.
»Da man mit der Tatsache rechnen muß, daß es für Ihren Sohn nur einen Menschen in der Welt gibt, der für ihn Bedeutung hat, seinen Vater, und daß er nach New York gekommen ist, ohne sich anzusagen … so nehme ich jedenfalls an …«
Das war unzweifelhaft ein Nadelstich …
»… hat man allen Grund, anzunehmen, daß er beunruhigende Nachrichten über Sie erhalten hat. Wer aber mag sie ihm gesandt haben? Hierin liegt, meiner Ansicht nach, das ganze Problem. Ist es nicht so, Herr Kommissar? Fassen wir möglichst klar zusammen. Sie machen sich Sorgen über das ziemlich unerklärliche Verschwinden eines jungen Mannes im Augenblick seiner Landung in New York. Als Laie in polizeilichen Dingen sagt mir mein gesunder Menschenverstand folgendes: Sobald wir wissen, wer Jean Maura nach New York hat kommen lassen, mit anderen Worten, wer ihm wer weiß was über die schlechte Lage seines Vaters telegrafiert hat – denn sonst besteht kein Grund, sich durch einen Polizisten, verzeihen Sie den Ausdruck, begleiten zu lassen – wenn das klar ist, wird es sicher nicht schwer sein herauszufinden, wer ihn hat verschwinden lassen.«
Little John war während dieser Rede ans Fenster getreten. Er schob den Vorhang zur Seite und blickte hinaus. Seine Umrisse waren so knapp wie seine Gesichtszüge. Maigret stellte sich, als er ihn so dastehen sah, unvermittelt die Frage: Klarinette oder Geige? Welches der beiden J mochte der Mann in der komischen Musiknummer von einst dargestellt haben?
»Herr Kommissar, soll ich Ihr Schweigen so auffassen, daß Sie es ablehnen zu antworten?«
Darauf Maigret aufs Geratewohl: »Ich möchte mit Monsieur Maura unter vier Augen sprechen.«
Little John zuckte zusammen. Sein erster Blick galt dem Sekretär, dessen Blick nur Gleichgültigkeit ausdrückte.
»Ich habe Ihnen, glaube ich, deutlich genug zu verstehen gegeben, daß Sie vor MacGill sprechen können.«
»Dann, verzeihen Sie, habe ich Ihnen nichts zu sagen.«
MacGill machte nicht den Vorschlag, sich zurückziehen zu wollen. Er blieb seiner sicher, wie ein Mann, der sich an seinem Platze weiß. Würde der kleine Mann nun seine Selbstbeherrschung verlieren? Es lag etwas wie Wut in seinen kalten Augen, aber auch noch etwas anderes.
»Wir müssen zum Schluß kommen, Monsieur Maigret, und zwar so schnell wie möglich … Sie können reden oder nicht reden, das hat keine Bedeutung, denn was Sie mir sagen könnten, interessiert mich nicht weiter … Ein Junge, den irgendwas beunruhigt hat, ich weiß nicht was, hat sich an Sie gewandt, und Sie haben sich Hals über Kopf in ein Abenteuer locken lassen, an dem Sie in keiner Weise beteiligt sind … Der Junge ist mein Sohn … Er ist minderjährig. Wenn er verschwunden ist, geht es nur mich an. Bedarf ich der Hilfe, um ihn zu finden, so wende ich mich an die Polizei dieses Landes … Klar? … Wir sind nicht in Frankreich, und ich kann noch tun und lassen, was ich will … Ich räume also niemandem das Recht ein, sich mit mir zu beschäftigen, und bin entschlossen, meiner persönlichen Freiheit Respekt zu verschaffen … Ich weiß nicht, ob Sie von meinem Sohn das, was man Provision nennt, erhalten haben. Falls nicht, sagen Sie es mir, und mein Sekretär wird Ihnen einen Scheck geben, mit dem Sie die Kosten der Rückreise decken können.«.
Weshalb schielte er plötzlich zu MacGill hin, als wolle er sich seines Einverständnisses versichern?
»Ich erwarte Ihre Antwort.«
»Worauf?«
»Auf mein Angebot.«
»Danke.«
»Noch ein letztes Wort, wenn Sie gestatten. Sie haben natürlich das Recht, in diesem Hotel, in dem auch ich nur Gast bin, zu bleiben, solange Sie wollen. Aber ich muß Ihnen sagen, daß es mir äußerst unangenehm wäre, Ihnen auf Schritt und Tritt zu begegnen, wo es auch sei … im Lift, in den Korridoren oder in der Halle … womit ich die Ehre habe, mich zu empfehlen …«
Maigret saß immer noch und klopfte seine Pfeife in einem Aschenbecher aus, der sich auf einem Tischchen in Reichweite seiner Hand befand. Dann ließ er sich die Zeit, eine neue, kalte Pfeife zu stopfen, die er aus seiner Tasche holte, und sie anzuzünden. Danach erst erhob er sich und entfaltete sich zu seiner vollen Statur. Er wirkte plötzlich größer und breiter als sonst. »Adieu«, sagte er, und er sagte es mit so überraschender Stimme, daß Little John das Papiermesser, mit dem er spielte, zerbrach. Er hatte den Eindruck, daß MacGill noch etwas sagen, sein brüskes Verschwinden verhindern wollte, aber er drehte ihm ruhig den Rücken, ging zur Tür und entfernte sich. Erst im Lift fiel ihm ein, daß er Kopfschmerzen hatte und daß der Whisky vom Abend vorher sich damit an ihm rächte, daß ihm übel war.
»Hallo, Inspektor O’Brien … hier Maigret.«
Er mußte lächeln, er rauchte seine Pfeife in kurzen Zügen, während er das etwas verblaßte Blumenmuster der Tapete betrachtete. »Nein, ich wohne nicht mehr im Saint-Régis. Warum? … Aus verschiedenen Gründen … vor allem fühlte ich mich dort nicht recht wohl. Sie verstehen das? Um so besser … Ich wohne im Berwick … Kennen Sie nicht? … Welche Straße? … Ich habe ein elendes Zahlengedächtnis, und hier gibt es ja nur Nummern … als ob es hier nicht ebensogut eine Rue Pigalle, Rue Victor Hugo oder Rue du Président Soundso geben könnte …
Broadway? Ganz richtig … Ich weiß nicht, an welcher Stelle das Kino namens Capitol steht. Von dort ist es die erste oder zweite Straße links … Ein kleines Hotel, das nach nichts aussieht und in dem man vermutlich Zimmer nicht nur für die Nacht vermietet … Ist hier verboten? Um so schlimmer!«
Er war, er wußte selbst nicht, warum, in guter, ja geradezu sonniger Laune. Vielleicht, weil die Atmosphäre, die ihn jetzt umgab, ihm mehr vertraut war. Erstens war ihm diese lärmende, etwas vulgäre Gegend des Broadway sympathisch, weil sie ihn gleichzeitig an Montmartre und die Boulevards erinnerte. Dann war das Hotelbüro beinahe schäbig, es gab nur einen Lift, und der Empfangschef war ein kleiner Mann, der hinkte!
Vom Fenster sah man das Spiel der Leuchtreklamen.
»Hallo, O’Brien, stellen Sie sich vor, daß ich wieder auf Ihre Hilfe angewiesen bin … Keine Angst, ich respektiere alle Freiheiten dieses freien Landes … Was sagen Sie? Keine Spur … Ich versichere Ihnen, daß ich zu Ironie völlig unfähig bin. Aber stellen Sie sich vor, daß auch ich einen Privatdetektiv zu meiner Verfügung haben muß …«
O’Brien war sich nicht klar darüber, ob das ein Scherz war, und nachdem er etwas Unverständliches gebrummt hatte, brach er in schallendes Gelächter aus.
»Lachen Sie nicht … ich meine es wirklich ernst … Einen Detektiv habe ich nämlich bereits seit dem Mittag, und zwar auf den Fersen … Nein, mein Lieber, ich spreche nicht von der offiziellen Polizei, seien Sie doch nicht so kribbelig … ich spreche von dem Mann mit Vornamen Bill, Boxertyp mit Narbe am Kinn, der gestern MacGill und mich begleitet hat … Und diesen Herrn habe ich immer in meiner Nähe, nur, daß er jetzt, wie die Lakaien in der guten alten Zeit, mir mit zehn Metern Abstand folgt … Wenn ich mich jetzt aus dem Fenster beugte, würde ich ihn wahrscheinlich am Hoteleingang sehen … Nein, verstecken tut er sich nicht, er begnügt sich damit, hinter mir herzusein …
Manchmal habe ich sogar den Eindruck, daß es ihm etwas peinlich ist und daß er mich gerne grüßen möchte … Wie? Wozu ich einen solchen Mann brauche? … Lachen Sie nur, ich gebe zu, es ist recht komisch, aber in Ihrem verteufelten Land, in dem ich alles fünfmal sagen und mit Gesten erläutern muß, damit mich die Leute verstehen, bin ich für einige Recherchen, die ich zu unternehmen gedenke, auf einen verläßlichen Mann angewiesen … Hauptsächlich muß er um Gotteswillen Französisch verstehen … So einen haben Sie? … Sie rufen mich an? … Ja, am liebsten heute abend … Ich bin wieder frisch und munter, nach Ihren Whiskys … Allerdings habe ich mein neues Zimmer im Berwick mit einer beinahe zweistündigen Siesta eingeweiht … In welchem Milieu ich die Recherchen anstellen will? … Sie ahnen es gewiß … Richtig! … Also, bis nachher. Ich erwarte Ihren Anruf.«
Er öffnete das Fenster und sah, wie er vermutet hatte, Bill, der zwanzig Meter weiter seinen Kaugummi kaute und sich nicht gerade zu amüsieren schien.
Das Zimmer war so alltäglich wie möglich. Es enthielt all den üblichen Trödelkram, dieselben zweifelhaften Teppiche, die man in jedem möblierten Zimmer jeder Stadt in der Welt findet.
Es waren keine zehn Minuten vergangen, als das Telefon klingelte. O’Brien teilte Maigret mit, er habe seinen Mann, einen gewissen Ronald Dexter, gefunden, er empfehle ihm nur, ihn nicht zu viel trinken zu lassen.
»Weil er Whisky nicht vertragen kann?« Worauf O’Brien, sanft wie ein Engel:
»Nein, weil er weint.«
Das war kein Witz. Dexter machte, selbst wenn er nicht getrunken hatte, den Eindruck eines Mannes, den ein unermeßlicher Kummer drückt. Er kam abends um sieben ins Hotel. Maigret begegnete ihm in der Halle, als er gerade nach ihm fragte.
»Ronald Dexter?«
»Ja, das bin ich.« Er sagte es mit einer Miene, als wolle er hinzufügen: »Leider.«
»Mein Freund O’Brien hat Sie unterrichtet?«
»Pst!«
»Bitte?«
»Keine Namen, wenn ich bitten darf. Ich stehe zur Verfügung. Wohin wollen wir gehen?«
»Zunächst einmal hinaus … Kennen Sie diesen Herrn, der sich lebhaft für alle Vorübergehenden zu interessieren scheint und Kaugummi kaut? … Bill … Nachname unbekannt … Ich weiß von ihm nur seinen Vornamen und allerdings, daß er ein Kollege von Ihnen ist, der den Auftrag hat, mir zu folgen … Ich erwähne es, damit seine Tätigkeit Sie nicht beunruhigt … Es ist ohne jede Bedeutung, verstehen Sie? … Er mag uns folgen, wohin er will …«
Ob Dexter verstand oder nicht, war nicht ersichtlich. Er machte jedenfalls ein resigniertes Gesicht, als wolle er sagen: »Alles ganz egal.«
Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Sein grauer Anzug und sein schäbiger Regenmantel deuteten nicht auf Wohlstand.
Die beiden gingen auf den kaum hundert Meter entfernten Broadway zu, gefolgt von Bill, der sich unerschütterlich an ihre Fersen heftete.
»Kennen Sie das Theatermilieu?«
»Ein wenig.«
»Oder, um es deutlicher zu sagen, das Milieu der Konzertcafés und der kleinen Varietés?« Die Antwort war ein Beweis für O’Briens Humor sowohl als für seinen praktischen Sinn. Denn der Privatdetektiv erwiderte seufzend: »Ich meine, ja. Ich war Clown. Zwanzig Jahre lang.«
»Ohne Zweifel ein tragischer Clown … Wollen wir in eine Bar gehen? Was meinen Sie?«
»Ja, gern.« Und dann, mit entwaffnender Ehrlichkeit:
»Ich glaubte, Sie wären unterrichtet?«
»Wovon?«
»Daß ich nicht viel vertrage … Also, nur ein Glas, nicht wahr?«
Sie setzten sich in eine Ecke, während Bill ebenfalls eintrat und sich an die Theke stellte.
Maigret erklärte:
»Wären wir in Paris, könnte ich mir sofort die Auskunft verschaffen, die mich interessiert. Es gibt nämlich in der Nähe der Porte Saint-Martin bestimmte Läden, die aus vergangenen Zeiten stammen … In dem einen verkauft man populäre Chansons aus den Jahren 1900–1910. In einem anderen Laden, den ich gut kenne, handelt ein Haarkünstler mit Bärten und Perücken, wie sie die Schauspieler seit undenklichen Zeiten tragen … Und dann gibt es schäbige Ecken mit kleinen Büros, in denen unwahrscheinliche Impresarios Gastspiele in Provinznestern vermitteln …«
Ronald Dexters tief melancholischer Blick galt seinem Glas.
»Sie verstehen mich?«
»Ja.«
»Die Wände dieser Büros sind mit Plakaten bedeckt, auf denen man die Namen einstiger Größen der Bühne und des Varietés finden kann. Und auf den Stühlen der Wartezimmer sitzen ehemalige Kokotten und Schmierenschauspieler …«
Er unterbrach sich und sagte:
»Entschuldigung.«
»Bitte.«
»Ich meine Schauspieler, Sänger, Sängerinnen und Artisten, die schon siebzig und älter sind, suchen hier noch ein Engagement. Diese Leute haben ein phänomenales Gedächtnis für die Zeit ihrer Triumphe … Und nun, Mister Dexter …«
»Alle nennen mich Ronald …«
»… nun frage ich mich, ob es in New York etwas Ähnliches gibt.«
Der ehemalige Clown dachte, die Augen auf das noch unberührte Glas geheftet, nach. Dann fragte er in tiefem Ernst:
»Müssen sie sehr alt sein?«
»Was meinen Sie?«
»Müssen es wirklich sehr alte Schauspieler sein? Sie sprachen von Siebzigjährigen. Das ist hier ein sehr hohes Alter. Hier pflegt man nämlich früher zu sterben.«
Er griff nach dem Glas, zog die Hand zurück, streckte sie wieder vor, und trank den Alkohol in einem Zuge aus.
»Es gibt hier so was, ich werde es Ihnen zeigen.«
»Wir brauchten nicht länger als dreißig Jahre zurückzugehen. In dieser Zeit gab es eine Musiknummer von zwei Franzosen, J and J, die in kleineren Varietés und Tingeltangeln auftraten.«
»Vor dreißig Jahren, sagen Sie? Das wird möglich sein. Was wollen Sie wissen?«
»Alles, was Sie über die beiden erfahren können. Vielleicht läßt sich auch ein Bild auf treiben. Artisten lassen sich ja gern fotografieren. Ihr Bild erscheint auf den Programmen und Plakaten.«
»Haben Sie die Absicht, mich zu begleiten?«
»Nicht heute, jedenfalls nicht gleich.«
»Das ist viel besser. Denn, nicht wahr, die Leute kriegen es vielleicht mit der Angst zu tun. Sie sind sehr mißtrauisch. Ich komme morgen ins Hotel oder rufe Sie an, wie Sie wollen. Ist es sehr eilig? … Ich könnte mich gleich auf den Weg machen, nur …«
Er zögerte, ehe er mit leiser Stimme fortfuhr:
»… möchte ich um einen kleinen Vorschuß bitten für einige Gänge und Eintritte.«
Maigret zog seine Brieftasche.
»Zehn Dollar sind genug. Wenn Sie mir mehr geben, gebe ich es ja doch aus, und wenn ich dann mit der Arbeit fertig bin, habe ich nichts mehr. Brauchen Sie mich jetzt noch?«
Der Kommissar schüttelte den Kopf. Er hatte zwar einen Augenblick daran gedacht, seinen Clown zum Essen einzuladen, aber dieser erwies sich denn doch als allzu traurig.
»Stört es Sie nicht, daß der Kerl dort Ihnen folgt?«
»Was täten Sie, wenn es mich störte?«
»Man könnte seine Auftraggeber überbieten …«
»Lassen Sie ihn mir ruhig folgen.«
Es störte Maigret wirklich nicht. Es amüsierte ihn eher, diesen ehemaligen Boxer auf den Fersen zu haben. Er aß vorzügliche Würstchen in einer hell erleuchteten Cafeteria am Broadway, wo er aber zu seinem Verdruß auf Bier verzichten und sich mit Coca-Cola begnügen mußte.
Gegen 21 Uhr hielt er ein Taxi an.
»Ecke Findlay und 169. Straße.«
Der Chauffeur seufzte und setzte den Fahrpreisanzeiger mit resignierter Miene in Gang. Der Grund wurde Maigret erst klar, als der Wagen die in Licht gebadeten Viertel verließ und in eine andere Welt eindrang. Bald waren in den schnurgeraden Straßen nur noch Farbige zu sehen. Sie fuhren durch Harlem, wo ein Haus dem andern, ein Backsteinwürfel dem andern glich, wo die eisernen Treppen, die außen an den Häusern hochkletterten, an Feuersgefahr erinnerten und das düstere Bild noch mehr verdüsterten.
Sie fuhren über eine Brücke, kamen noch viel später an Lagerhäusern oder Fabriken vorüber – die Dunkelheit ließ es nicht genau erkennen – und bogen in die traurigen Straßen der Bronx ein. Hie und da leuchtete ein gelbes, rotes oder violettes Licht vor einem Vorstadtkino, sah man die Schaufenster eines Warenhauses, vollgestopft mit wächsernen Kleiderpuppen in erstarrten Posen.
Sie fuhren nun schon eine halbe Stunde, und die Straßen wurden immer düsterer und einsamer. Der Chauffeur hielt den Wagen an, wandte den Kopf und ließ in verächtlichem Ton fallen: »Findlay.«
Die 169. Straße lag zur Rechten. Maigret mußte lange mit dem Chauffeur verhandeln, bis dieser bereit war zu warten. Aber er blieb nicht an der Ecke stehen, sondern fuhr langsam hinter seinem Fahrgast her. Ein zweites Taxi folgte ebenso langsam, zweifelsohne das Auto Bills, des Boxer-Detektivs, der sich nicht die Mühe machte, auszusteigen. In der nachtschwarzen Perspektive zeichneten sich die Rechtecke einiger erleuchteter Läden ab, wie man sie in den Armenvierteln von Paris und in jeder anderen Großstadt findet.
Was wollte Maigret hier eigentlich? Nichts Besonderes. Wußte er denn, wozu er überhaupt in New York war? Er wußte nur, daß er sich seit einigen Stunden, eigentlich seit er das Saint-Régis verlassen hatte, nicht mehr so entwurzelt fühlte. Schon das Berwick hatte ihn mit Amerika versöhnt, vielleicht, weil es so nach Menschheit roch, und jetzt witterte er gleichsam die in den Höhlen dieser Elendshäuser verborgenen Schicksale, sah die Szenen vor sich, die sich hinter den geschlossenen Fenstervorhängen abspielen mochten.
Little John hatte ihn nicht gerade beeindruckt, aber er hatte ihn doch als eine Einheit empfunden, jedenfalls als etwas Künstliches, Gemachtes. Ebenso MacGill, vielleicht sogar in noch höherem Grade. Sogar den jungen Jean Maura mit seiner Angst und der Billigung des alten Monsieur d’Hoquélus. Auch das Verschwinden im Augenblick, da das Schiff endlich in New York anlegte … Das alles hatte vielleicht keine Bedeutung, wie Maigret zu O’Brien gesagt hätte, wenn dieser jetzt an seiner Seite gewesen wäre mit seinem vieldeutigen Lächeln in dem pockennarbigen Gesicht eines Rothaarigen.
Weshalb, fragte er sich plötzlich, während er, die Hände in den Taschen, die Pfeife zwischen den Zähnen, weiterging, weshalb sind es fast immer die Rothaarigen, die diese Narben tragen, und weshalb sind sie fast immer so sympathisch?
Er schnupperte die Luft, die irgendwie nach Petroleum und nach Schäbigkeit roch. Ob wohl zwei neue J and J in einer dieser Höhlen auf dem Sprunge sein mochten? Bestimmt! Junge Menschen, die erst vor wenigen Wochen hier gelandet waren und mit zusammengebissenen Zähnen auf die glorreiche Stunde des Saint-Régis warteten.
Während er eine Schneiderwerkstatt suchte, folgten ihm zwei Taxis wie eine Prozession, und er war sich der Komik dieser Szene durchaus bewußt …
Zwei junge Leute hatten einst in dieser Straße gewohnt, einer Schneiderwerkstatt gegenüber, zu einer Zeit, in der man noch falsche steife Kragen und zylinderförmige Manschetten trug. Maigrets waren abwaschbar gewesen, aus Gummi oder gummiertem Stoff, wie er sich deutlich erinnerte.
Und ein anderer junger Mann hatte vor ein paar Tagen Angst um das Leben seines Vaters gehabt, und er war verschwunden, wenige Minuten, nachdem Maigret auf dem Schiffsdeck mit ihm gesprochen hatte …
Wo war die Schneiderwerkstatt? Der Kommissar musterte die Fenster, die von den abscheulichen, bis zur Höhe des Erdgeschosses hinunterführenden Eisentreppen oft wie vergittert waren.
Eine Klarinette und eine Geige …
Weshalb drückte er nun plötzlich die Nase wie seinerzeit als Junge an das Schaufenster eines jener Läden, in denen es alles gab, Gemüse, Kolonialwaren, Bonbons? Dicht daneben befand sich ein anderer Laden, der nicht erleuchtet war, aber auch keine Rolläden hatte, und durch dessen Schaufenster im Schein einer Straßenlaterne eine Bügelmaschine und auf Bügeln hängende Anzüge zu erkennen waren.
»Arturo Giacomi.«
Die beiden Taxis hielten wenige Meter entfernt. Aber weder die beiden Chauffeure noch der klobige Bill ahnten etwas von der Verbindung, die der Mann im dicken Mantel mit der Pfeife zwischen den Zähnen, als er sich zum gegenüberliegenden Haus umwandte, mit zwei zwanzigjährigen Franzosen aufnahm, die einst, der eine mit einer Geige, der andere mit einer Klarinette, nach Amerika gekommen waren.