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wischen dem zweiten und dritten Stock befiel Maigret ein Gefühl der Erleichterung darüber, daß niemand, am allerwenigsten O’Brien, ihn jetzt bei seinem Tun beobachtete.

Selbst Leute, die jahrelang mit ihm gearbeitet hatten, wie sein Assistent Lucas, verstanden es nicht immer, wenn er in dieser Verfassung war.

Wußte er denn selbst genau, was er hier suchte? Einmal, als er auf einer Treppenstufe stehenblieb und mit großen ausdruckslosen Augen ins Leere starrte, wirkte er wie ein Herzkranker, der Luft holen muß und dabei eine harmlose Miene aufsetzt, um nicht das Mitgefühl der Vorübergehenden zu wecken …

Aus der Zahl der Kinder unter sieben Jahren zu schließen, die er auf der Treppe, in den Gängen, in offenstehenden Küchen und Stuben sah, mußte es hier, wenn die Schule aus war, von Kindern wimmeln. Überall lag Spielzeug, zerbrochene Roller lehnten an den Wänden, alte Seifenkisten mit ungeschickt montierten Rädern standen herum, Dinge, die für Erwachsene keinen Sinn hatten, für ihre Besitzer aber Schätze sein mochten.

Ein Portier wie in französischen Häusern war nicht vorhanden, was die Bemühungen des Kommissars erschwerte. Es gab nur Reihen von braungestrichenen Briefkästen im Erdgeschoß, die Nummern, Visitenkarten oder Metallstreifen mit eingeprägten Namen trugen.

Es war zehn Uhr morgens, die Zeit, in der die Mietskaserne zu vollem Leben erwacht war. Jede zweite oder dritte Tür stand offen. Frauen, die noch nicht frisiert waren, machten Ordnung, wuschen Kinder oder schüttelten zweifelhafte Teppiche aus den Fenstern.

»Entschuldigung …«

Ein mißtrauischer Blick war die Antwort. Man wußte nicht recht, wofür man den großen Herrn im dicken Mantel, der den Hut zog, wenn er eine Frau ansprach, zu halten hatte. Vielleicht war er ein Versicherungsagent? Vielleicht ein Reisender in Staubsaugern?

Dazu kam sein mangelhaftes Englisch, das aber nicht auffiel, da hier außer den erst vor kurzem eingewanderten Italienern anscheinend auch Polen und Tschechen lebten.

»Wissen Sie, ob es in diesem Haus Mieter gibt, die schon vor dreißig Jahren hier gewohnt haben?«

Man zog die Stirn in Falten, so unerwartet und so ungewöhnlich war die Frage. In Paris, zum Beispiel auf Montmartre oder in seinem Viertel, gab es gewiß kein Haus, in dem nicht eine alte Frau, ein alter Mann oder ein altes Ehepaar zu finden waren, die nicht schon seit dreißig oder vierzig Jahren in dem gleichen Haus wohnten.

Hier antwortete man ihm:

»Wir sind erst vor sechs Monaten eingezogen.«

Oder vor einem oder zwei Jahren. Die ältesten Bewohner konnten auf vier Jahre zurückblicken.

Zuweilen blieb er vor einer offenen Tür stehen und sah in eine armselige Küche mit einem Bett oder in ein Zimmer, in dem vier oder fünf Menschen hausten.

Nur wenige kannten ihre Mitbewohner auf den anderen Stockwerken. Drei Kinder hatten sich ihm angeschlossen. Das älteste, ein etwa achtjähriger Knabe, schien Mumps zu haben, denn er trug einen dicken Umschlag um den Kopf. Allmählich wurde der Junge zutraulich, und nun lief er voran und fragte, sobald jemand zu sehen war: »Der Herr möchte wissen, ob Sie schon vor dreißig Jahren hier gewohnt haben.«

Einige alte Leute saßen am Fenster oder neben einem Vogelbauer, vermutlich Eltern oder Großeltern, die man aus Europa hatte nachkommen lassen, nachdem man Arbeit gefunden hatte. Manche verstanden kein Wort Englisch.

Die geräumigen Treppenabsätze waren gewissermaßen Niemandsland und dienten vielfach als Abstellplatz für Dinge, die man nicht in der Wohnung brauchte. Im zweiten Stock stand eine magere Frau mit blondem Haar und wusch.

Hier, in einer dieser trostlosen Wohnhöhlen, hatten J and J nach ihrer Ankunft in New York gehaust, hatte Little John, der jetzt ein prunkvolles Appartement im Saint-Régis bewohnte, Monate, vielleicht Jahre zugebracht.

Man konnte sich kaum mehr Schicksale auf so engem Raum vorstellen, und trotzdem fehlte jede menschliche Wärme, fühlte man mehr als irgendwo sonst eine heillose Einsamkeit.

Das bewiesen schon die Milchflaschen. Im dritten Stock standen vor einer Tür acht ungebrauchte Milchflaschen. Maigret wollte gerade den Jungen, seinen freundlichen Führer, deswegen fragen, als ein etwa fünfzigjähriger Mann aus der benachbarten Türe trat.

»Wissen Sie, wer hier wohnt?«

Der Mann zuckte nur die Achseln, um anzudeuten, daß es ihn nichts anginge.

»Sie wissen nicht, ob jemand in der Wohnung ist?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Ist es ein Mann oder eine Frau?«

»Ich glaube, ein Mann.«

»Alt?«

»Was nennen Sie alt? Vielleicht meines Alters. Ich weiß nicht … Er ist erst vor einem Monat eingezogen.«

Niemand interessierte sich dafür, woher er kam, welcher Nationalität er war, und der Nachbar ging, ohne sich den Kopf über die Milchflaschen zu zerbrechen, die Treppe hinunter, beschäftigt mit seinen eigenen Angelegenheiten und ohne Verständnis für die Fragen des fremden Besuchers.

War der Mieter vielleicht verreist, ohne den Milchhändler benachrichtigt zu haben? Es war möglich. Aber die Bewohner dieser Mietskasernen sind arme Leute, die mit dem Pfennig rechnen. Vielleicht war er doch hinter dieser Tür? Lebendig oder tot, krank oder sterbend – er konnte lange bleiben, ohne daß sich jemand um ihn Sorgen machte.

Und hätte er mit letzter Kraft gerufen und um Hilfe gebeten, wer weiß, ob sich jemand die Mühe gemacht hätte, dem Ruf zu folgen!

Irgendwo lernte ein kleiner Junge Geige, immer wieder wimmerten dieselben Takte, die Kinderhand, die den Bogen führte, vermochte dem Instrument nur jämmerliche Töne zu entlocken.

Oberster Stock. »Entschuldigen Sie, kennen Sie jemanden im Hause, der …«

Man sprach von einer alten Frau. Niemand hatte sie näher gekannt, aber von ihr hieß es, sie habe sehr lange in dem Haus gewohnt. Sie war vor zwei Monaten gestorben, auf der Treppe, als sie vom Einkauf heimkehrte. Aber ob sie dreißig Jahre da gewohnt hatte, das war nicht mit Sicherheit zu sagen. Die Begleitung dieses Jungen, der gewiß den besten Willen hatte, wurde auf die Dauer lästig. Der Junge wandte seine Augen nicht von Maigret ab, als ob er zu erraten versuchte, wer der geheimnisvolle Fremdling wohl sein mochte, der plötzlich seine Bahn kreuzte.

Ehe Maigret sich zum Rückzug anschickte, blieb er stehen, um seine Pfeife anzustecken und die Atmosphäre noch einmal in sich aufzunehmen. Dabei hatte er die Vision eines jungen Mannes, blond und schmal, der, einen Geigenkasten unterm Arm, die Treppe heraufkam, während ein anderer mit bereits schütterem Haar am Fenster stand und Läufe auf der Klarinette übte …

»Hallo!«

Er fuhr zusammen und machte ein Gesicht, das sehr komisch aussehen mußte, denn der Mann, der ihn angerufen hatte, reagierte nicht mit dem ausdrucksvollen Lächeln eines Rothaarigen, sondern brach in schallendes Gelächter aus.

Maigret geriet in Verlegenheit, weil er sich irgendwie schämte, und brummte unbeholfen:

»Ich dachte, es interessiere Sie nicht, daß ich mich damit befasse?«

»Wollen Sie behaupten, Sie machen einen Familienbesuch?«

»Das wäre gar nicht unmöglich. Jeder von uns hat alle möglichen Verwandten.«

O’Brien war in bester Laune. Hatte er durchschaut, was Maigret in diesem Haus suchte? Er merkte jedenfalls, daß sein französischer Kollege sich in einer gewissen Gemütsbewegung befand, und konnte sich eines Gefühls der Rührung nicht erwehren. Der Blick, den er auf ihn richtete, war von größerer Herzlichkeit als sonst.

»Ich will Ihnen nichts vormachen. Sie sind es, den ich hier zu finden hoffte. Kommen Sie, gehen wir!«

Maigret war schon ein Stockwerk hinuntergestiegen, kam aber noch einmal ein paar Stufen hoch, um dem Jungen eine Silbermünze zu geben. Der Junge schaute sie an und dachte nicht ans Danken.

»Fangen Sie an, New York zu verstehen? Ich wette, daß Sie heute vormittag mehr gelernt haben, als Sie in einem Monat im Waldorf oder im Saint-Régis hätten lernen können.«

Sie waren unten vor der Tür stehengeblieben. Ihnen gegenüber befand sich die Schneiderwerkstatt. Der Sohn Angelinos hantierte an der Bügelmaschine …

Die Armen haben keine Zeit, sich ihrem Schmerz hinzugeben …

Ein Auto mit Polizeistandarte stand in der Nähe.

»Ich war in Ihrem Hotel. Als ich hörte, daß Sie es zeitig verlassen hatten, wurde mir klar, daß ich sie hier finden würde. Was ich nicht wußte, war, daß ich bis in den vierten Stock würde hinaufklettern müssen.«

Ein ganz kleiner Anflug von Ironie, eine Anspielung auf eine gewisse Sensibilität, vielleicht Sentimentalität, die er bei diesem dicken französischen Kommissar entdeckte.

»Sind Sie sicher, daß Sie nicht trotzdem hinaufgekraxelt wären?«

Sie stiegen ins Auto. »Wohin?«

»Wohin Sie wollen. Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Ich bringe Sie jedenfalls in ein zentraler gelegenes Viertel, das Ihnen das Gemüt nicht so sehr belastet.«

Er zündete sich eine Pfeife an. Ein Chauffeur fuhr sie.

»Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie, mein Lieber.«

Warum sagte er das mit einer vor Genugtuung ganz sanften Stimme?

»Jean Maura ist gefunden.«

Mit gerunzelten Brauen wandte sich Maigret ihm zu und sah ihn durchdringend an.

»Soll das heißen, daß Ihre Leute …«

»Nicht eifersüchtig sein!«

»Ich bin nicht die Spur eifersüchtig. Ich meine nur …«

»Was?«

»Daß dann etwas nicht stimmt. Dann hinkt die ganze Sache.«

»Nanu?«

»Was erstaunt Sie da?«

»Nichts. Lassen Sie hören, was Sie meinen.«

»Ich meine gar nichts. Wenn aber Jean Maura aufgetaucht, wenn er am Leben ist …«

O’Brien nickte.

»Dann hat man ihn wohl ganz einfach im Saint-Régis bei seinem Vater gefunden?«

»Bravo, Maigret. Genauso war es. Trotz unserer persönlichen Freiheit, die ich vielleicht ein klein wenig übertrieben habe, um Sie zu necken, haben wir doch in gewissen Fällen die Möglichkeit, Erhebungen anzustellen, besonders in einem Hotel wie dem Saint-Régis. Und so haben wir erfahren, daß man heute drei Frühstücke für Little John serviert hat. Jean Maura war da. Man hatte ihn in dem großen Schlafzimmer neben dem Büro seines Vaters untergebracht.«

»Hat man ihn nicht vernommen?«

»Sie vergessen, daß dazu kein Anlaß bestand. Es gibt kein Gesetz, das einen Schiffspassagier zwingen könnte, Hals über Kopf in die väterlichen Arme zu eilen. Und dieser Vater hatte weder eine Anzeige erstattet noch auch das Verschwinden seines Sohnes der Polizei mitgeteilt.«

»Eine Frage …«

»Vorausgesetzt, daß sie diskret ist …«

»Aus welchem Grund mag Little John, der sich eine Suite von vier oder fünf Räumen im Saint-Régis leistet, sich selbst mit einem Mädchenzimmer zufriedengeben? Während sein Sekretär an einem fürstlichen Mahagonischreibtisch thront, begnügt sich der Chef mit einem Küchentisch aus rohem Holz …«

»Erstaunt Sie das wirklich?«

»Ein wenig.«

»Hier erstaunt es niemand. Ebensowenig wie es jemand erstaunen würde, wenn ein Millionärssohn in Bronx wohnen bliebe, dem Viertel, das wir soeben verlassen haben, und mit der Untergrundbahn ins Büro führe, obwohl er sich ein Geschwader von Luxusautos leisten könnte. Dieses Detail aus Little Johns Leben ist bekannt. Es gehört zu seiner Legende. Alle Emporkömmlinge haben ihre Legende. Und der rohe Küchentisch macht sich darin nicht übel, wie es die Artikel der Wochenblätter beweisen. Da ist die Rede von dem zu Reichtum und Macht gelangten Mann, der im Saint-Régis das Zimmer seiner Anfänge aufgebaut hat und darin, den Luxus der übrigen Räume verachtend, aufs einfachste lebt. Wobei die Frage offenbleibt, ob Little John es ehrlich meint oder ob Reklamegründe für ihn maßgebend sind.«

Zu seiner eigenen Überraschung erwiderte Maigret:

»Er meint es ehrlich.«

»Ach?«

Nach längerem Schweigen fuhr O’Brien fort:

»Vielleicht interessiert es Sie, einiges über die Herkunft MacGills zu erfahren, wenn er Ihnen auch nicht sympathisch ist. Es sind Dinge, die man mir zufällig erzählt hat, die also nicht auf dienstlichen Ermittlungen beruhen. Bitte, das nicht zu vergessen.«

Diese ständige Zweispurigkeit, auch wenn sie mehr scherzend gemeint war, ärgerte den Kommissar. So sagte er nur:

»Ich höre.«

»Er ist achtundzwanzig Jahre alt, in New York, wahrscheinlich in der Bronx, geboren. Vater und Mutter unbekannt. Während einiger Monate, ich weiß nicht genau, wie vieler, ist er in der Obhut eines Fürsorgeheims für Kinder in einer Vorstadt. Dann nimmt sich seiner ein Herr an, der die in solchen Fällen verlangten moralischen und finanziellen Garantien zu leisten vermag …«

»Little John …«

»Den man noch nicht so nannte und der eben ein bescheidenes Geschäft mit Gebrauchtplattenspielern gestartet hat. Das Kind wurde einer Schottin anvertraut, einer Mrs. MacGill, Witwe eines Angestellten eines Beerdigungsinstitutes. Sie verließ das Haus und zog mit ihrem Pflegekind nach Saint-Jérôme in Kanada. MacGill besuchte die Highschool in Montreal, woraus sich erklärt, daß er Französisch und Englisch spricht. Dann verschwand er, etwa zwanzig Jahre alt, von der Bildfläche und tauchte vor sechs Monaten hier auf. Als Privatsekretär Little Johns. Das ist alles, was ich weiß. Irrtum vorbehalten … Und was gedenken Sie jetzt zu tun?«

Dabei lächelte er unschuldig und ohne Spur eines Ausdrucks in seinem Schafsgesicht.

»Werden Sie jetzt den jungen Maura besuchen, der ja schließlich Ihr Auftraggeber ist?«

»Ich weiß es nicht.«

Maigret war wütend. Denn im Grunde galt ja sein Interesse gar nicht mehr dem Sohn und seinen Ängsten. Es galt dem Vater, einem Haus in der 169. Straße, einem bestimmten Varietéprogramm und schließlich einem alten Italiener namens Angelino Giacomi, den man totgefahren hatte wie einen Hund.

Natürlich würde er, wohl oder übel, ins Saint-Régis gehen müssen, wo man ihm sicherlich abermals sagen würde, man bedürfe seiner nicht. Das Ende vom Lied würde ein Scheck und ein Schiffsbillett nach Frankreich sein.

Das Klügste, was er tun konnte, war, unverrichteterdinge dorthin zurückzukehren und in Zukunft auf die Klagelieder aller jungen Männer und Hoquélus der Welt zu pfeifen.

»Soll ich Sie dort absetzen?«

»Wo?«

»Im Saint-Régis.«

»Bitte.«

»Sehe ich Sie heute abend? Ich bin frei zum Essen. Wenn Sie es auch sind, rufen Sie mich an, und ich hole Sie ab. Heute ist Feiertag, denn ich habe einen Amtswagen zur Verfügung. Wird es ein Abschiedsabend?«

Seine Augen drückten Zweifel aus. Er hatte Maigret nur allzugut verstanden. Aber es war ihm ein Bedürfnis, jeder Gemütsbewegung durch irgendein heiteres Wort auszuweichen. »Viel Glück!«

Maigret machte sich über das, was ihm nun bevorstand, keine Illusionen. Es war ein in jeder Beziehung unerfreulicher Gang, eine wahre Strafe. Maigret hätte das Kommende fast haargenau voraussagen können. Es war ein Gang ohne Interesse, ohne alle unerwarteten Möglichkeiten, aber Maigret fühlte sich nicht berechtigt, ihm auszuweichen.

Am Empfang sagte er: »Melden Sie mich bitte Mr. Jean Maura.«

Der Angestellte schien Bescheid zu wissen, denn er griff ohne weiteres nach dem Telefon. »Mr. MacGill? Es ist ein Herr, der Mr. Jean Maura zu sprechen wünscht … Ja, ich glaube, aber ich will doch lieber fragen … Wen darf ich melden?«

Als der Kommissar seinen Namen genannt hatte, sagte er nur: »So ist es. Gut. Ich lasse den Herrn auffahren.«

MacGill war sich also sofort im klaren gewesen, daß er der Besucher war. Ein Boy geleitete ihn wieder einmal.

Maigret erkannte Stockwerk, Korridor und Appartement wieder.

»Herein!«

MacGill kam ihm entgegen. Lächelnd, freundlich, nicht die Spur verärgert, aller Sorgen ledig.

Wieder streckte er Maigret die Hand entgegen und sagte nur, als dieser sie von neuem übersah:

»Noch immer beleidigt, mein lieber Kommissar?«

Bisher hatte er ihn mit Herr Kommissar angeredet. Ob diese Wendung ins Familiäre wohl ihre Bedeutung hatte?

»Sie sehen, der Chef und ich, wir hatten recht, sie hatten unrecht … Vor allem aber meinen Glückwunsch zu Ihrer polizeilichen Verbindung. Sie sind verblüffend schnell von der Heimkehr des verlorenen Sohnes unterrichtet worden.«

Er öffnete die Tür zum Nebenzimmer, wo sich Jean und sein Vater befanden. Als der Junge den Kommissar sah, errötete er.

»Ihr Freund Maigret möchte gern mit Ihnen sprechen«, sagte MacGill. »Sie haben wohl nichts dagegen, Chef?«

Little John begnügte sich mit einem leichten Nicken. Jean Maura ging auf den Kommissar zu und drückte ihm verlegen die Hand, wobei er, zur Seite blickend, stammelte:

»Ich bitte Sie um Verzeihung.«

Im Gegensatz zu MacGills betont guter Stimmung zeigte Little John eine müde, sorgenvolle Miene. Er schien nicht geschlafen zu haben. Sein Blick war zum ersten Mal unstet, und um sich etwas Haltung zu geben, empfand er das Bedürfnis, sich eine jener dicken Zigarren mit Monogramm anzuzünden, die eigens für ihn hergestellt wurden.

Die Hand, die das Streichholz anstrich, zitterte etwas. Es eilte sicherlich auch ihm, diese unvermeidliche Komödie hinter sich zu bringen.

»Weshalb entschuldigen Sie sich?« fragte Maigret, der wußte, daß man diese Frage erwartete.

»Weil ich Sie so versetzt habe. Aber Sie müssen wissen, einen der Journalisten, die an Bord kamen, hatte ich letztes Jahr kennengelernt. Er hatte eine Flasche Whisky bei sich und wollte absolut meine Ankunft begießen.«

Maigret fragte nicht, an welcher Stelle sich diese Szene abgespielt habe, denn er wußte, daß sie purer Schwindel und von Little John oder MacGill erfunden war. Wohl eher durch letzteren, denn er gab sich während der Rezitation seines Schülers allzu gleichgültig und gelassen – wie ein Lehrer, der es sich versagt, seinem Lieblingsschüler einzuflüstern.

»Er hatte Freundinnen im Taxi.«

Wie einleuchtend das war, daß sich ein Journalist morgens an die Arbeit begab und sich dazu Damengesellschaft einlud! Man gab sich nicht einmal die Mühe, der Geschichte einen Anstrich von Wahrscheinlichkeit zu geben. Man warf ihm irgendeine idiotische Erklärung hin und fragte sich nicht, ob er den Brocken schlucken würde. Wozu auch? War er nicht schon matt gesetzt?

Seltsam war übrigens, daß Jean Maura einen viel frischeren Eindruck machte als sein Vater. Er war offenbar gut ausgeruht und wirkte eher verlegen als unruhig.

»Ich hätte es Ihnen sagen müssen … Ich habe Sie auf Deck gesucht.«

»Nein!« Warum hatte Maigret das nur gesagt?

»Es stimmt, ich habe Sie nicht gesucht … Ich war schon zu lange brav gewesen. Vor Ihnen nahm ich mich zusammen und wagte nicht zu trinken, außer in der letzten Nacht … erinnern sie sich? Ich habe nicht einmal um Entschuldigung gebeten.«

Little John war wieder ans Fenster getreten und hatte den Vorhang etwas weggeschoben, wie er es schon am Vortag getan hatte und wie es offenbar seine Gewohnheit war.

MacGill ging hin und her, als ob ihn die Unterhaltung nicht besonders interessierte. Er leistete sich sogar den Luxus, ein nichtssagendes Telefongespräch zu führen.

»Einen Cocktail, Kommissar?«

»Nein, danke.«

»Wie Sie wünschen.«

Jean Maura fuhr fort:

»Was dann geschah, weiß ich nicht, es war das erstemal, daß ich völlig betrunken war. Wir sind in viele Lokale gegangen und haben an vielen Tischen gesessen mit Leuten, die ich nicht wiedererkennen würde.«

»Auch in der Donkey-Bar?« fragte Maigret mit einem ironischen Seitenblick auf MacGill. »Möglich, aber ich weiß es nicht … Es gab eine Party bei Leuten, die der Journalist kannte.«

»Auf dem Lande?«

Der junge Mann sah den Sekretär rasch an, doch da dieser ihm gerade den Rücken drehte, war er genötigt, sich auf seine eigene Erfindungsgabe zu verlassen.

»Ja, auf dem Lande«, sagte er. »Wir sind mit dem Auto hingefahren.«

»Und Sie sind erst gestern abend zurückgekommen?«

»Ja.«

»Man hat Sie gebracht?«

»Ja … nein … das heißt, man hat mich bis zur Stadt gebracht.«

»Nicht bis zum Hotel?« Noch ein Blick zu MacGill.

»Nein … ich wollte es nicht … ich schämte mich.«

»Ich vermute, daß Sie meiner nicht mehr bedürften.«

Jetzt galt der fragende Blick dem Vater. Little John, sonst so energiesprühend, hielt sich abseits, als habe er überhaupt nicht teil an diesem Gespräch. Und doch drehte es sich um seinen Sohn, dem er die zärtlichsten Briefe schrieb.

»Ich hatte eine lange Unterhaltung mit meinem Vater …«

»Und mit Herrn MacGill?«

Er antwortete weder mit ja noch nein. Er sagte nur:

»Ich bin beschämt, daß ich Ihnen meiner kindlichen Befürchtungen wegen so große Mühe zugemutet, so viel Sorgen verursacht habe … Ich frage mich, ob Sie mir je verzeihen werden, daß ich Sie so im unklaren gelassen habe.«

Auch er schien sich über die Haltung seines Vaters zu wundern, auf dessen Hilfe er vergebens wartete. Wieder war es MacGill, der die Sache in die Hand nahm.

»Glauben Sie nicht, Chef, daß es an der Zeit ist, die noch schwebenden Fragen mit dem Kommissar zu regeln?«

Little John drehte sich um, strich mit dem kleinen Finger die Asche von der Zigarre und ging auf den Schreibtisch zu.

»Ich glaube, es gibt da nicht viel zu regeln. Ich bitte um Entschuldigung, Herr Kommissar, daß ich Sie nicht mit der wünschenswerten Herzlichkeit empfangen habe. Ich danke Ihnen für die Gewissenhaftigkeit, mit der Sie sich meines Sohnes angenommen haben, und ich bitte Sie, den Scheck entgegenzunehmen, den mein Sekretär Ihnen übergeben wird. Es ist nur eine kleine Entschädigung für all die Mühe, die Sie durch meinen Sohn und mich hatten.«

Er zögerte einen Augenblick, weil er sich wohl fragte, ob er dem Kommissar die Hand geben solle. Aber schließlich machte er nur eine Verbeugung, winkte Jean, ihm zu folgen, und ging zur Tür.

»Auf Wiedersehen, Herr Kommissar«, sagte der junge Mann und fügte, mit scheinbarer Aufrichtigkeit, hinzu: »Ich habe keine Angst mehr, wissen Sie.«

Er lächelte etwas blaß, wie ein Genesender, und verschwand mit dem Vater im Nebenzimmer.

Der Scheck lag, ausgefüllt und unterschrieben, im Scheckheft auf dem Schreibtisch. MacGill löste ihn heraus und reichte ihn Maigret, vielleicht in der Erwartung, eine Ablehnung zu hören.

Maigret aber las ruhig die Zahl, die darauf stand: Zweitausend Dollar. Dann faltete er das Papier, steckte es in die Brieftasche und sagte:

»Ich danke.«

Das war alles. Die Sache war überstanden. Er ging seiner Wege, ohne ein weiteres Wort an MacGill zu richten, der ihn begleitete und die Tür hinter ihm schloß.

Obwohl er eine Abscheu vor Cocktails und Luxuslokalen hatte, goß Maigret zwei Manhattans in der Hotelbar herunter.

Dann begab er sich zu Fuß in sein Hotel und ertappte sich dabei, daß er, wie jemand in einem langen Selbstgespräch, den Kopf schüttelte und die Lippen bewegte.

Der Clown hatte ihm versprochen, ihn zur gleichen Zeit wieder im Berwick aufzusuchen, und der Kommissar stellte fest, daß er sein Versprechen gehalten hatte. Er saß wieder auf dem Bänkchen. Sein trauriges Gesicht, der zerknirschte Ausdruck, den es zeigte, ließ erkennen, daß er getrunken hatte.

»Sie werden mich für einen erbärmlichen Gesellen halten«, sagte er, »und Sie haben recht. Ich bin ein erbärmlicher Geselle. Ich wußte, was geschehen würde, und konnte mich doch nicht beherrschen.«

»Haben Sie gefrühstückt?«

»Noch nicht. Aber ich habe keinen Hunger … Es klingt unwahrscheinlich, doch es ist so … Ich schäme mich so, daß mir der Hunger vergangen ist … Ich hätte mich eigentlich gar nicht vor Ihnen zeigen sollen … Dabei habe ich doch nur zwei kleine Gläser getrunken … Gin … Ich habe absichtlich Gin gewählt, weil er nicht so stark ist … Sonst hätte ich Whisky vorgezogen … Ich war so müde und meinte, ein Gin könnte helfen … Aber leider habe ich drei getrunken … sagte ich drei? … Ich weiß nicht mehr … Ich bin mir selbst zum Ekel … Das schlimmste ist, daß ich es mit Ihrem Geld getan habe … Bitte, jagen Sie mich fort … Oder nein, warten Sie noch ein wenig, denn ich habe etwas für Sie … Einen Augenblick … Es ist etwas Wichtiges … es wird mir schon wieder einfallen … Wollen wir nicht lieber an die Luft gehen?«

Er schniefte und schneuzte sich.

»Ich werde doch einen Happen essen … aber erst will ich Ihnen berichten. Einen Augenblick. Ja. Gestern abend habe ich meinen Freund wiedergesehen. Germain. Erinnern Sie sich? … Armer Germain! … Ein Mann, der die Welt bereist hat und nun an einen Rollstuhl gefesselt ist … Besser tot, nicht wahr? … Verstehen Sie mich richtig … ich wünsche ihm nicht den Tod … Aber wenn mir das zustoßen würde, wäre ich lieber tot. Ich hatte recht, als ich sagte, Germain werde alles für mich tun … er ist einer von denen, die sich für andere in Stücke reißen … dabei könnte man ihn, wenn man ihn nicht kennt, seinem Wesen nach für einen alten Egoisten halten … Stundenlang hat er seine Akten durchsucht, um J and J auf die Spur zu kommen … und er hat mir noch etwas gegeben.«

Er erbleichte, wurde grün, suchte angstvoll in seinen Taschen und schien in Schluchzen ausbrechen zu wollen.

»Ich verdiente …«

Doch nein, er verdiente nichts Böses, denn er fand endlich unter seinem Taschentuch, was er suchte.

»Es ist etwas schmutzig, aber es sagt doch einiges.«

Es war das dreißig Jahre alte Programm einer amerikanischen Provinztournee. Auf der Außenseite das Bild des Stars, dessen Name fett gedruckt war, andere minder auffällige Namen, Parterreakrobaten, ein Humorist, Robson, Lucile, die Hellseherin, und endlich, ganz unten, J and J, musikalische Clowns. »Lesen Sie die Namen! … Robson ist vor zehn oder fünfzehn Jahren bei einem Eisenbahnunfall ums Leben gekommen … Sie erinnern sich, ich habe von einer alten Freundin gesprochen, die Germain an jedem Mittwoch besucht … Ist es nicht rührend? … Dabei haben die beiden niemals etwas miteinander gehabt …«

Wieder war er den Tränen nahe.

»Ich habe sie früher nie gesehen … sie soll damals so dünn und so blaß gewesen sein, daß man sie den Engel nannte … und jetzt ist sie so dick, daß … Wir gehen essen, nicht wahr? … Ich weiß nicht, ob es vom Gin kommt, aber ich habe Krämpfe … Es ist ekelhaft, daß ich wieder Geld von Ihnen haben muß … wovon sprach ich? … Lucile, der Engel … heute ist Mittwoch … gegen fünf Uhr ist sie sicher bei ihm … sie bringt ihm immer Gebäck mit … ich schwöre Ihnen, ich rühre es nicht an, wenn wir hingehen … denn die alte Frau, die man den Engel nannte und die Germain immer Kuchen mitbringt …«

»Weiß Ihr Freund, daß wir kommen?«

»Vielleicht habe ich es ihm gesagt … Ich hole Sie um halb fünf ab … Es ist ziemlich weit, besonders mit der Untergrundbahn, denn es liegt nicht an einer direkten Linie.«

»Kommen Sie!«

Maigret war entschlossen, seinen Clown nicht aus den Augen zu lassen. Nachdem er ihn gefüttert hatte, nahm er ihn mit in sein Hotel, wo er auf dem grünen Plüschdivan ausschlafen konnte.

Unterdessen schrieb er wieder einen langen Brief an seine Frau.