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M
aigret ging hinter seinem Clown eine Treppe mit knarrenden Stufen hinauf. Dexter hielt es aus unerfindlichen Gründen für nötig, auf den Fußspitzen zu gehen, und der Kommissar überraschte sich dabei, daß er versuchte, es ihm nachzutun.
Der melancholische Detektiv hatte seinen Ginrausch ausgeschlafen, und wenn sein Blick auch noch verschleiert, die Zunge nicht recht beweglich war, so sprach er doch nicht mehr so weinerlich.
Er hatte dem Taxichauffeur eine Adresse in Greenwich Village genannt, und Maigret war überrascht, mitten in New York, in Wolkenkratzernähe, eine Kleinstadt zu finden, deren Häuser nicht höher waren als die von Bordeaux und Dijon, mit provinziellen Geschäften und ruhigen Straßen, in denen man gemächlich bummeln konnte, eine Kleinstadt, deren Bewohner sich um die Riesenstadt, die sie umgab, nicht zu kümmern schienen.
»Hier ist es«, sagte Dexter. Er sagte es mit einer verhaltenen Unsicherheit, die Maigret veranlaßte, ihn scharf anzusehen.
»Es ist doch wahr, daß Sie meinen Besuch angekündigt haben?«
»Ich habe gesagt, daß Sie vielleicht kommen würden.«
»Und was haben Sie gesagt, wer ich sei?« Das hatte er erwartet: der Clown wurde verwirrt. »Darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen … Ich wußte nicht recht, wie ich mich verhalten sollte … Germain ist ja menschenscheu und mißtrauisch geworden, und außerdem hat er mir, als ich ihn das erstemal besuchte, ein oder zwei Gläser zu trinken gegeben … Ich weiß also nicht mehr genau, was ich ihm erzählt habe … ich habe ihm wohl gesagt, Sie wären sehr reich und suchten einen Sohn, den Sie nie gesehen hätten … Seien Sie mir nicht böse … ich tat mein Bestes … er war jedenfalls sehr ergriffen, und deshalb glaube ich auch, daß er sich mit seinen Nachforschungen so beeilt hat.«
Es war die reine Idiotie! Zu was für Schwindelgeschichten noch mochte der Alkohol die Phantasie Dexters angeregt haben?
Je näher sie der Wohnung des einstigen komischen Augusts kamen, desto mehr schien er zu zögern. Hatte er vielleicht auch ihn, Maigret, belogen? Nein, dagegen sprachen die Papiere, die er gebracht hatte …
Unter einer Tür schimmerte ein Lichtstreifen. Man hörte ein leise geführtes Gespräch. Dexter stotterte:
»Sie müssen klopfen, es gibt keine Klingel.« Maigret klopfte. Erst Stille, dann ein Räuspern, dann das Geräusch einer Tasse, die man auf eine Untertasse stellte.
»Herein!«
Eine schmale, zerrissene Strohmatte bildete den Übergang in eine andere Welt, in eine entschwundene Zeit. Zwei Schritte von den Wolkenkratzern, die um diese Zeit ihre ganzen Lichter in den Himmel über Manhattan warfen, war man plötzlich nicht mehr in New York. War überhaupt die Elektrizität schon erfunden?
Man hätte darauf schwören können, daß eine Petroleumlampe das Zimmer beleuchtete, ein Eindruck, der daher kam, daß ein großer, gefältelter, rotseidener Lampenschirm eine Stehlampe krönte.
Es fiel nur ein kreisrunder Lichtschein in die Mitte der Stube, und in diesem Kreis saß ein alter Mann in einem Rollstuhl. Er mußte früher sehr dick gewesen sein und war immer noch umfangreich, füllte den Stuhl vollkommen aus; er war aber so schlaff und welk, daß man den Eindruck haben konnte, er sei schlecht aufgeblasen. Um seinen fast kahlen Schädel flatterten einige weiße Haare. Er beugte den Kopf vor, um die Besucher über die Brillengläser zu betrachten.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Maigret, hinter dem der Clown sich zu verstecken suchte.
Im Zimmer befand sich noch eine andere Person vom gleichen Umfang wie Germain, mit lilafarbenem Gesicht und Haar von einem unwahrscheinlichen Blond. Sie lächelte mit schlecht gemaltem Mündchen. Hätten sich die Personen nicht bewegt, hätte der Tee auf einem Tischchen neben einem aufgeschnittenen Kuchen nicht gedampft, man hätte glauben können, in ein Wachsfigurenkabinett geraten zu sein.
»Ronald Dexter sagte mir, ich würde heute abend hier vielleicht gewisse Auskünfte bekommen können, nach denen ich suche.«
Die Wände waren nicht zu sehen, so sehr waren sie mit Plakaten und Fotografien bedeckt. Eine Stallmeisterpeitsche, deren Griff noch immer mit vielfarbigen Bändern umwunden war, nahm einen besonderen Platz ein.
»Wollen Sie den Herren einen Stuhl anbieten, Lucile?«
Die Stimme, mit der er die Clowns und dummen Auguste anzurufen pflegte, hatte ihren Manegenklang bewahrt; sie dröhnte seltsam in dem kleinen, überfüllten Raum. Lucile bemühte sich, zwei schwarze Stühle mit rotem Plüschsitz frei zu machen.
»Dieser junge Mann, der mich früher gekannt hat …« sagte der Greis. Diese Worte hatten etwas Unwirkliches. Dexter war in den Augen des alten Zirkusmannes zum jungen Mann geworden, der ihn gekannt, nicht, den er gekannt hatte …
»Der junge Mann hat mir ihre schwierige Lage geschildert. Wenn ihr Sohn der Welt des Zirkus angehört hätte, und wären es nur einige Wochen gewesen, so kann ich Ihnen schwören, Sie hätten mir nur zu sagen brauchen: ›Germain, es war in dem und dem Jahr, er gehörte zu der und der Nummer, er war so und so‹ – und Germain hätte es nicht nötig gehabt, in seinen Archiven zu stöbern.«
Er deutete mit einer Handbewegung auf die Papierstapel, die sich überall häuften, auf dem Fußboden, auf den Möbeln, selbst auf dem Bett, denn Lucile hatte sie, um die beiden Stühle frei zu machen, dorthin legen müssen.
»Germain hat das alles hier«, und er deutete auf seinen Schädel und klopfte mit dem Zeigefinger daran. »Aber wenn es sich ums Varieté handelt, dann sage ich Ihnen: Sie müssen sich an meine alte Freundin Lucile wenden. Sie ist hier … Sie hört Ihnen zu … Sprechen Sie mit ihr.«
Maigret hatte seine Pfeife ausgehen lassen, und doch bedurfte er ihrer mehr als je, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Er hielt sie mit Armsündermiene in der Hand, worauf ihm die dicke Dame mit einem Lächeln, das wegen ihrer naiven Gesichtsbemalung wie das einer Puppe aussah, sagte:
»Sie können rauchen … Auch Robson rauchte Pfeife … ich übrigens auch … nach seinem Tode … vielleicht verstehen Sie das nicht, aber es war eben doch ein Stück von ihm.«
»Ihre Numer muß sehr interessant gewesen sein«, murmelte der Kommissar aus Höflichkeit.
»Es war die beste ihrer Art. Das kann Ihnen jeder bestätigen … Robson war einmalig … seine stattliche Erscheinung unvergleichlich … Sie ahnen nicht, was die Erscheinung bei dieser Spezialität ausmacht … Er trug eng anliegende Kniehosen und schwarze Seidenstrümpfe … seine Waden waren unvergeßlich … bitte …«
Sie kramte, nicht in einer Handtasche, sondern in einem seidenen Strickbeutel mit Silberbügel. Ihm entnahm sie ein Bild, eine Reklamefotografie, die ihren Mann darstellte, mit schwarzer Halbmaske, gewichstem Schnurrbart, einen Zauberstab gegen ein unsichtbares Publikum erhebend.
»Und das bin ich, um die gleiche Zeit.«
Eine alterslose, dünne, traurige, durchsichtige Frau, das Kinn in die gefalteten Hände gestützt, den ausdruckslosen Blick ins Weite gerichtet. Die Stellung war so unnatürlich wie nur möglich.
»Ich kann sagen, wir haben die ganze Welt bereist … In einigen Ländern trug Robson ein rotes Seidencape … wenn er dann noch rot beleuchtet war, wirkte er in der Nummer ›Der magische Sarg‹ geradezu teuflisch … Sie glauben doch hoffentlich an Gedankenübertragung?«
Die Luft war zum Ersticken. Man lechzte nach einem frischen Atemzug, aber dicke Plüschvorhänge schlossen die Fenster hermetisch ab. Maigret kam der Gedanke, sie stammten vielleicht von einem alten Bühnenvorhang.
»Germain hat mir gesagt, Sie suchten einen Sohn oder einen Bruder.«
»Einen Bruder«, erwiderte er schnell. Denn es war ja nicht möglich, daß einer von den beiden J sein Sohn war.
»Das hatte ich mir doch gedacht … Ich hatte erst nicht richtig verstanden … Deshalb hatte ich einen älteren Herrn erwartet … Welcher von Ihnen war Ihr Bruder? Die Geige oder die Klarinette?«
»Ich weiß es nicht.«
»Das wissen Sie nicht?«
»Mein Bruder verschwand als kleines Kind. Erst jetzt haben wir durch Zufall seine Spur wiedergefunden.«
Es war lächerlich. Scheußlich. Aber es war unmöglich, den beiden, die sich an Künstlichkeit berauschten, die Wahrheit zu sagen. Es war fast ein Gebot christlicher Barmherzigkeit, ihnen diese romantische Erzählung zu versetzen. Das Schlimme war, daß dieser Dummkopf Dexter, der doch wußte, daß es ein Märchen war, darauf hereinzufallen schien und schon zu schnüffeln begann.
»Bitte, stellen Sie sich ins Licht, daß ich Sie besser sehen kann.«
»Ich glaube nicht, daß zwischen meinem Bruder und mir Ähnlichkeit besteht.«
»Das können Sie doch nicht wissen, wenn er als kleines Kind entführt worden ist.«
Auch noch entführt! … Aber nun mußte die Komödie zu Ende gespielt werden.
»Nach meiner Ansicht könnte es Joachim sein … nein … Die Stirnpartie deutet auf Joseph … Aber verwechsle ich die Namen nicht? … Ich konnte sie nie auseinanderhalten … Einer hatte langes blondes Mädchenhaar, etwa von der Farbe des meinen.«
»Das war wohl Joachim«,sagte Maigret. »Lassen Sie mich nachdenken … Wie können Sie das wissen? … der andere war mehr vierschrötig und trug eine Brille … Merkwürdig … wir waren fast ein Jahr beisammen, und so gut ich mich gewisser Dinge erinnere, so verblaßt ist manches, was in dieser Zeit geschah … Wir hatten Kontrakte für die Südstaaten, Louisiana, Mississippi, Texas … es war ziemlich schwierig … das Publikum bestand noch zum Teil aus Halbwilden, die zur Vorstellung geritten kamen … Einmal haben sie während unserer Nummer einen Neger totgeschlagen, ich weiß nicht, weshalb … Worüber ich jetzt nachdenke, ist, zu welchem von beiden Jessie gehörte … Hieß sie Jessie oder Bessie? … Wohl Jessie, denn ich sagte einmal, nun wären sie drei J: Joseph, Joachim und Jessie …«
Hätte Maigret nur wenigstens klare Fragen stellen und deshalb klare Antworten erwarten dürfen! Aber er war gezwungen, sie reden, die alte Frau, die wohl nie sehr vernünftig gewesen war, ihren verworrenen Gedankengängen folgen zu lassen.
»Arme kleine Jessie … sie war rührend … ich hatte sie unter meine Fittiche genommen … denn sie befand sich wirklich in einer heiklen Lage.«
Welche Art heikler Lage? Vielleicht würde er es noch erfahren. »Sie war so fein und zart … ich war es auch, zart und zerbrechlich wie eine Blüte … man nannte mich den Engel …«
»Ich weiß …«
»Robson hatte mir den Namen gegeben … er sagte nicht, mein Engel, was banal gewesen wäre, sondern ›der Engel‹ … Ich weiß nicht, ob Sie den Unterschied verstehen … Bessie, nein, Jessie war ganz jung … war sie schon achtzehn? … Kaum … und man fühlte, daß sie unglücklich gewesen war … Ich habe nie gewußt, wo sie sie gefunden haben … ich sage ›sie‹, weil ich mich nicht erinnere, ob es Joseph oder Joachim war … Da sie immer zusammen waren, mußte man sich diese Frage stellen.«
»Welche Rolle spielte sie auf der Tournee?«
»Überhaupt keine … sie war nicht vom Fach … sie muß eine Waise gewesen sein, denn sie schrieb niemals Briefe. Sie haben sie wohl vom Totenbett ihrer Mutter zu sich genommen.«
»Und sie reiste mit der Truppe?«
»Sie folgte uns überallhin … Das war sehr anstrengend … Der Impresario war eine Kanaille … Haben Sie ihn gekannt, Germain?«
»Sein Bruder ist noch in New York … Programmverkäufer im Madison … Man hat es mir erst kürzlich erzählt.«
»Er behandelte uns wie Hunde … nur Robson konnte mit ihm fertig werden … wenn er nicht gewesen wäre, hätten wir Viehfutter bekommen, so schäbig war er … Wir hausten in verwanzten Löchern … Zuletzt hat er uns sitzenlassen, fünfzig Meilen von New Orleans … er verduftete mit der Kasse … und wieder mußte Robson …«
Zum Glück kam ihr plötzlich die Idee, ein Stück Kuchen zu essen. So entstand eine Pause. Aber die war leider nicht lang. Sie tupfte sich die Lippen mit einem Spitzentüchlein ab und fuhr fort:
»J and J … entschuldigen Sie, daß ich es sage, denn der eine ist ja Ihr Bruder … ich wette, daß es Joseph ist … J and J waren nicht Artisten von unserer Klasse, keine Sterne also … sie standen auf dem Programm an letzter Stelle, was keine Schande ist … habe ich Sie gekränkt? Dann verzeihen Sie’s bitte.«
»Nicht im mindesten.«
»Sie verdienten wenig, fast nichts … sie hatten Reisen und Verpflegung frei, wenn man das Verpflegung nennen konnte … für Jessie aber mußten sie die Eisenbahnbillets bezahlen … nicht immer das Essen … ich erinnere mich zum Beispiel … ich wette, daß ich jetzt in Verbindung mit Robson bin …«
Ihr gewaltiger Busen wogte auf und nieder, und ihre Wurstfinger zappelten.
»Verzeihen Sie, mein Herr, Sie glauben doch an ein Leben im Jenseits? Wenn nicht, würden Sie nicht Ihren Bruder suchen, der vielleicht schon tot ist … Ich fühle, daß Robson die Verbindung mit mir aufgenommen hat … ich weiß es, bin ganz sicher … ich will mich nur konzentrieren und erfahre dann von ihm, was Sie zu wissen wünschen.«
Der Clown stöhnte vor Begeisterung. Oder galt das dem Anblick des Kuchens, von dem niemand daran dachte, ihm ein Stück anzubieten?
Maigret sah starr zu Boden und fragte sich, wie lange er noch die Fassung bewahren könne. »Ja, Robson … ich höre … wollen Sie nicht das Licht dämpfen, Germain?«
Diese spiritistischen Sitzungen mit allem, was dazu gehörte, schienen ihnen geläufig zu sein. Jedenfalls reagierte Germain sofort. Er streckte den Arm aus und zog an einer Kette, worauf die eine Lampe unter dem roten Seidenschirm erlosch.
»Ja, ich sehe sie … an einem breiten Strom, an dem sich überall Baumwollpflanzungen befinden … Hilf weiter, Robson, hilf mir, Liebling, wie du es früher tatest … Ein großer Tisch, an dem wir alle sitzen … du auf dem Ehrenplatz … J and J … Sie sitzt zwischen uns. Eine dicke Negerin bedient uns …«
Der Clown stöhnte von neuem. Sie aber fuhr mit derselben monotonen Stimme, deren sie sich gewiß als Hellseherin bedient hatte, fort:
»Jessie ist sehr blaß … wir haben eine lange Reise hinter uns … der Zug ist auf freiem Felde stehengeblieben … alle sind erschöpft … der Impresario ist im Begriff, Plakate zu kleben … J and J schneiden beide von ihrem Fleisch etwas ab, um es ihr zu geben.«
Es wäre sicherlich viel leichter für sie gewesen, die Dinge ohne diesen mystisch-theatralischen Wortschwall zu erzählen. Maigret war nahe daran, ihr zuzurufen:
»Tatsachen, bitte … und reden Sie doch endlich, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist!« Wenn aber Lucile wirklich so geredet, wenn Germain seine Erinnerungen mit nüchternen Augen betrachtet hätte, hätten sie dann die Kraft besessen, dieses Leben fortzusetzen? – »Und überall, wo ich sie sehe, es ist stets das gleiche Bild … sie teilen ihre Mahlzeit mit ihr, weil sie nicht das Geld haben, ihr eine zu bezahlen.«
»Sie sagten, die Tournee habe ein Jahr gedauert?«
Sie tat, als erwache sie, öffnete mühsam die Augen und stammelte: »Habe ich etwas gesagt? … Entschuldigung! Ich war bei Robson.«
»Ich fragte Sie, wie lange die Tournee gedauert hat.«
»Länger als ein Jahr … Drei, vier Monate waren vorgesehen … Aber es gab … so geht es immer … unvorhergesehene Schwierigkeiten … und es fehlt immer an Geld für die Rückreise … und so geht man immer weiter, von einer Stadt zur anderen, bis in die Dörfer …«
»Sie wissen nicht, welcher von beiden in Jessie verliebt war?«
»Vielleicht Joachim … Das ist Ihr Bruder, nicht wahr? … Ich bin überzeugt, daß Sie ihm ähnlich sind … Er war mein Liebling … Er spielte ganz wunderbar Geige … Nicht in seiner Nummer, denn da machten sie ja nur Unsinn … Aber wenn wir durch Zufall einmal einen oder zwei Tage im selben Hotel blieben …«
Er sah sie, in irgendeiner Bretterbude in Texas oder Louisiana, wie sie die schwarzseidenen Strümpfe ihres Mannes stopfte.
Und diese Jessie, die bei den Mahlzeiten demütig etwas von der Portion der beiden Männer knabberte.
»Sie haben nie erfahren, was aus ihnen geworden ist?«
»Wie ich Ihnen sagte, hat sich die Truppe in New Orleans aufgelöst, weil uns der Impresario im Stich gelassen hatte. Robson und ich haben sofort ein anderes Engagement bekommen, denn unsere Nummer war bekannt … Wie die anderen das Geld für die Rückreise verdienten, weiß ich nicht.«
»Und Sie sind dann gleich nach New York zurückgekehrt?«
»Ich glaube … den einen der beiden J habe ich einmal bei einem Impresario am Broadway getroffen … Es kann nicht sehr lange danach gewesen sein, denn ich erinnere mich, ich hatte ein Kleid an, das ich auf jener Tournee getragen hatte … Welcher von beiden es war? … Jedenfalls war ich überrascht, einen allein zu sehen … Sie waren sonst immer zusammen.« Maigret sprang, unvermittelt und ohne ein Wort der Erklärung, auf. Er hatte das Gefühl, daß er es nicht eine Minute länger in dieser beklemmenden Atmosphäre aushalten könne.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe«, sagte er zu Germain.
»Ja, hätte es sich um Zirkusartisten gehandelt, nicht um eine Varieténummer …« leierte er die alte Walze von neuem ab.
Und sie:
»Hier ist meine Adresse … ich gebe noch immer Privatkonsultationen … Meine Kundschaft ist nicht groß, aber sehr distinguiert … Um die Wahrheit zu sagen: Robson hilft mir … Ich verrate das nicht immer, weil es Leute gibt, die Angst vor Geistern haben …« Dabei gab sie ihm eine Karte, die er in die Tasche schob. Der Clown warf einen letzten Blick auf den Kuchen und nahm seinen Hut. »Nochmals meinen besten Dank!«
Uff! Nie war er eine Treppe so schnell hinuntergegangen, und auf der Straße holte er zunächst einmal tief Luft. Er kam sich wie zur Erde zurückgekehrt vor, die Straßenlaternen waren wie Freunde, die man nach langer Abwesenheit wiedersieht. Es gab erleuchtete Läden, Passanten, einen Jungen aus Fleisch und Blut, der auf der Randsteinkante hopste.
Blieb allerdings noch der andere, der Clown, der Gelegenheit fand, mit Jammerstimme zu murmeln:
»Ich habe getan, was ich konnte.«
Mit anderen Worten: wieder fünf Dollar!
Sie aßen wieder zu zweit in einem französischen Restaurant. Im Berwick hatte man Maigret mitgeteilt, daß O’Brien seinen Anruf erwarte.
»Ich habe, wie Sie wissen, meinen freien Abend. Wenn sie auch frei sind, können wir zusammen essen und ein bißchen plaudern.«
Und nun saßen sie einander schon eine Viertelstunde gegenüber, und O’Brien schwieg. Er bestellte, was er gewählt hatte, und sah dabei Maigret mit seinem etwas ironischen Lächeln an.
Endlich sagte er, während er ein prächtiges Chateaubriand anschnitt:
»Haben Sie nicht gemerkt, daß man Sie wieder verfolgt hat?«
Der Kommissar zog mißmutig die Stirn in Falten. Nicht aus Unruhe, sondern aus Ärger darüber, daß er nicht aufgepaßt hatte.
»Ich habe es gleich gesehen, als ich ins Hotel kam, um Sie abzuholen … Es handelt sich nicht mehr um Bill, sondern um den Kerl, der den alten Angelino totgefahren hat … Ich wette mit Ihnen, daß er vor der Tür ist.«
»Dann werden wir ihn ja sehen, wenn wir hinausgehen.«
»Ich weiß nicht, wann er seinen Posten bezogen hat. Haben Sie nachmittags das Hotel verlassen?«
Diesmal hob Maigret den Kopf und ließ eine gewisse Unruhe erkennen.
Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch und stieß ein Kraftwort aus, das sein Gegenüber zum Lachen zwang.
»Haben Sie sehr kompromittierende Schritte unternommen?«
»Der Mann ist brünett, augenscheinlich ein Sizilianer, der einen hellgrauen Hut trägt … stimmt’s?«
»Richtig.«
»Dann war er in der Halle, als ich nachmittags gegen fünf mit dem Clown das Hotel verließ. Wir sind aneinandergestoßen, weil wir gleichzeitig zur Tür gingen.«
»Solange war er also hinter Ihnen her.«
»Und in diesem Fall …« Würde es diesmal wieder so gehen wie mit dem armen Angelino?
»Ihr von der Bundespolizei könnt nichts tun, um eure Bürger zu schützen?« fragte er ärgerlich.
»Das hängt vielleicht davon ab, welcher Drohung sie ausgesetzt sind.«
»Würden Sie den alten Schneider unter Ihren Schutz genommen haben?«
»Ja, wenn ich gewußt hätte, was ich jetzt weiß.«
»Jetzt sind zwei andere schutzbedürftig, und ich glaube, es wäre gut, wenn Sie das Nötige veranlaßten, ehe Sie Ihr Chateaubriand aufessen.«
Er gab ihm die Adresse Germains und reichte ihm die Karte der Hellseherin, die er noch in der Tasche hatte.
»Darf ich mal telefonieren?«
Sieh an! Der rote O’Brien mit dem Schafsprofil schien plötzlich sein ironisches Lächeln verlernt und die persönliche Freiheit vergessen zu haben! Er blieb sehr lange weg, und Maigret nutzte die Zeit, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Richtig: drüben auf der anderen Seite war der hellgraue Hut zu erkennen, der ihm in der Halle des Berwick aufgefallen war. Er setzte sich und trank rasch hintereinander zwei große Gläser Wein.
Als O’Brien endlich zurückkehrte, enthielt er sich – war es Höflichkeit oder Bosheit? – jeder weiteren Frage. Er tat, als wäre nichts geschehen, und aß weiter.
Maigret, der ohne Appetit aß, bemerkte nachdenklich: »Im Grunde bin ich schuld daran, daß sie Angelino umgebracht haben.«
Er hoffte auf einen Protest, ja erwartete ihn geradezu.
Aber O’Brien sagte nur, während er weiterkaute:
»Das ist sehr wahrscheinlich.«
»Sollten nun andere Unfälle dieser oder ähnlicher Art geschehen …«
»So wären Sie ihr Urheber, nicht wahr? Das denken Sie doch? Und das dachte ich von Anfang an. Erinnern Sie sich unseres Gesprächs am ersten Abend?«
»Meinen Sie, ich solle die Leute lieber ungeschoren lassen?«
»Jetzt ist es zu spät.«
»Inwiefern?«
»Es ist zu spät, weil nun auch wir die Hand im Spiel haben. Angenommen, Sie gäben auf und schifften sich morgen nach Frankreich ein, so würden sie sich doch weiter bedroht fühlen.«
»Little John?«
»Ich weiß nichts.«
»MacGill?«
»Keine Ahnung. Ich möchte, um jeden Irrtum zu vermeiden, gleich erklären, daß ich mich nicht mit der Sache beschäftige. Morgen oder übermorgen, sobald mein Kollege den Wunsch äußert, werde ich Sie ihm vorstellen. Er allein hat die Entscheidung, ich bin nur Zuschauer. Übrigens ein ausgezeichneter Kerl!«
»Ihnen ähnlich?«
»Im Gegenteil. Deshalb sage ich: ein ausgezeichneter Kerl. Ich habe mit ihm gesprochen. Er möchte von mir gern Näheres hören über die zwei, die er unter seinen Schutz nehmen soll.«
»Eine Geschichte aus dem Irrenhaus«, knurrte Maigret.
»Wieso?«
»Die beiden sind zwar keine richtigen Irren, aber bestimmt zwei arme Narren, die mit dem, was sie mir erzählt haben, ihr Leben aufs Spiel setzen, nachdem ich, des weinenden Clowns wegen, um sie zu rühren, in die sentimentalen Saiten gegriffen hatte.«
O’Brien wunderte sich, Maigret so nervös zu sehen, einen Maigret, der im Staccato sprach und seine Bissen mit einer Art von Wut kaute.
»Wahrscheinlich werden Sie mir sagen, die ganze Geschichte sei den Aufwand nicht wert … Aber wir haben vielleicht nicht ganz die gleiche Vorstellung von polizeilichen Ermittlungen.«
Das süßliche Lächeln seines Gegenübers brachte ihn außer sich.
»Mein Besuch heute früh im Hause der 169. Straße hat Sie gewiß amüsiert.
Wahrscheinlich hätten Sie laut gelacht, wenn Sie gesehen hätten, wie ich, unter Führung eines kleinen Jungen, in allen Winkeln und hinter allen Türen schnüffelte … Dennoch möchte ich behaupten, daß ich in den wenigen Tagen, die ich hier bin, mehr über Little John und den anderen J erfahren habe als Sie …
Das Ganze ist eine Frage des Temperaments. Sie arbeiten mit Tatsachen, mit genauen, unumstößlichen Fakten, während ich …«
Er verstummte, als er sah, daß sein Kollege dicht daran war, laut aufzulachen, und zog es darum vor, ebenfalls zu lachen.
»Verzeihen Sie! … Ich habe vorhin die idiotischsten Minuten meines Lebens durchgemacht … Hören Sie weiter!«
Er berichtete von seinem Besuch bei Germain, und nachdem er Luciles künstlichen Trancezustand geschildert hatte, schloß er:
»Verstehen Sie, warum ich für ihr Leben fürchte? … Angelino wußte etwas, und darum mußte er verschwinden … Wußte er mehr als die anderen? Vielleicht. Aber ich bin eine ganze Stunde bei den beiden gewesen.«
»Trotzdem glaube ich nicht, daß sie ebenso gefährdet sind.«
»Weil Sie wie ich der Meinung sind, daß die Leute in der 169. Straße die Gefahr, die sie bedroht, wittern?« O’Brien nickte bejahend. »Was man jetzt vor allem wissen müßte, ist, ob diese Jessie auch dort gewohnt hat. Ist es möglich, in den Archiven der Polizei die Spuren eines Dramas oder eines Unfalls zu finden, der sich vor dreißig Jahren in dem Haus vielleicht ereignet hat?«
»Es ist schwieriger als bei Ihnen, zumal wenn das Drama so verlaufen ist, daß besondere Erhebungen nicht nötig schienen … In einem französischen Kommissariat würde man, wie ich mich erinnere, die Spur all jener Mieter finden, die dort einmal gewohnt haben, und, wenn sie in dem Haus gestorben sind, das Datum ihres Todes.«
»So sind Sie auch der Meinung …«
»Ich habe keine Meinung und habe, wie ich schon sagte, nichts mit der Sache zu tun … Ich muß mich mit einem ganz anderen Fall befassen, der mich noch Wochen oder Monate in Anspruch nimmt … Nachher, nach dem Cognac, werde ich meinen Kollegen anrufen, der, soviel ich weiß, Ermittlungen bei der Einwanderungsbehörde angestellt hat … Dort sind alle Personen registriert, die hier eingewandert sind … Ich habe mir einiges auf ein Stück Papier notiert …«
Immer wieder dieselben Gesten, wie um alles, was er tat, zu bagatellisieren. Vielleicht geschah es mehr aus einer Art von Scham vor Maigret als aus beamtenhafter Vorsicht?
»Hier das Datum der Ankunft Mauras in den Staaten … Joachim Jean-Marie Maura, geboren in Bayonne, 22 Jahre alt, Geiger … Das Schiff war die Aquitania, die längst nicht mehr existiert … Beim zweiten konnte es sich nur um Joseph Ernest Dominique Daumale, 24 Jahre alt, ebenfalls in Bayonne geboren, handeln … Er hat sich aber nicht als Klarinettist, sondern als Komponist bezeichnet … Ein Unterschied, nicht wahr? … Etwas anderes, vielleicht nicht wichtig, aber doch unter Umständen von einiger Bedeutung: Zweieinhalb Jahre nach seiner Einwanderung hat sich Joachim Maura, der schon den Namen John angenommen hatte, nach Europa begeben, wo er etwa zehn Monate geblieben ist … Seine Adresse war damals das Ihnen bekannte Haus in der 169. Straße … Er ist dann an Bord eines englischen Schiffs, der Mooltan, zurückgekehrt … Ich glaube nicht, daß sich mein Kollege die Mühe macht, deswegen nach Frankreich zu kabeln … Aber, wie ich Sie kenne …«
Im Augenblick, da O’Brien von Bayonne gesprochen hatte, war Maigret der Gedanke gekommen. Er hatte sogar schon den Wortlaut des Telegramms im Kopf: »Erbitte dringend alle erlangbaren Auskünfte über Joachim Jean-Marie Maura und Joseph Ernest Dominique Daumale, die Frankreich am … verlassen haben.«
Der Amerikaner hatte die Idee, zwei alte Armagnacs zu bestellen. Er war auch der erste, der seine Pfeife anzündete.
»Woran denken Sie?« fragte er, als Maigret träumerisch sein Glas an die Nase hielt.
»An Jessie.«
»Und Sie fragen sich?«
Es war wie ein Spiel, das sie miteinander spielten, der eine mit seinem ewigen Lächeln, das wie ausgewischt schien, um diskreter zu wirken, der andere scheinbar barsch.
»Ich frage mich, wessen Mutter sie ist.«
Das Lächeln verschwand, und während er einen Schluck trank, murmelte der Rothaarige: »Das hängt von der Todesurkunde ab, nicht wahr?«
Sie verstanden sich. Keiner von ihnen hatte den Wunsch, sich deutlicher auszudrücken. Maigret konnte sich aber nicht enthalten, zu brummen:
»Vorausgesetzt, daß sie sich finden läßt! Was bei Ihrer verdammten persönlichen Freiheit, die es verbietet, über Leben und Tod Buch zu führen, nicht sicher ist …« Dabei täuschte er eine schlechte Laune vor, die er gar nicht mehr hatte.
O’Brien rief, auf die beiden leeren Gläser deutend: »Dasselbe nochmal, Kellner!«
Dann sagte er: »Ihr armer Sizilianer wird inzwischen gewiß verdursten.«