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A

n jenem Morgen hing Leben und Tod eines Menschen und ob ein scheußliches Verbrechen begangen wurde oder nicht nur davon ab, wie Maigret ein paar Minuten seiner Zeit verwandte.

Leider wußte er selber nichts davon.

In den dreißig Jahren, die er der Kriminalpolizei angehört hatte, war es, wenn er die Nacht draußen verbringen mußte, seine Gewohnheit gewesen, gegen sieben Uhr aufzustehen und den ziemlich langen Weg vom Boulevard Richard-Lenoir, wo er wohnte, bis zum Quai des Orfèvres zu Fuß zurückzulegen.

Er war, trotz seiner Arbeit, im Grunde immer ein Flaneur gewesen. Und nachdem er den Dienst verlassen hatte, pflegte er noch früher aufzustehen, im Sommer oft noch vor der Sonne, die ihn dann im Garten fand.

Auch auf dem Schiff war er immer der erste gewesen, der sich auf Deck zeigte, während die Matrosen es noch wuschen und das Kupfer der Laufstangen putzten.

Den ersten Morgen in New York aber war er, weil er mit O’Brien dem Whisky zu eifrig zugesprochen hatte, bis elf in den Federn geblieben.

Am zweiten Morgen, im Berwick Hotel, war er aus Gewohnheit früh erwacht. Aber gerade weil es zu früh war und er die Straßen noch leer, die Fensterläden noch geschlossen wußte, beschloß er, noch einmal einzuschlafen.

Er sank in einen schweren Schlaf.

Als er die Augen aufschlug, war es später als zehn. Weshalb war ihm zumute wie jemandem, der nach arbeitsreicher Woche das Glück des Sonntagsmorgens zu genießen vermag? Er trödelte. Er ließ sich Zeit beim Frühstück, steckte sich, im Morgenrock am Fenster stehend, eine Pfeife an und war überrascht, Bill nicht auf der Straße zu sehen.

Natürlich hatte auch er schlafen müssen. Löste ihn jemand ab? Waren es zwei, die sich in die Aufgabe, Maigret zu belauern, teilten? Er rasierte sich mit besonderer Sorgfalt und verbrachte noch eine Weile damit, seine Sachen aufzuräumen. Und von diesen mit Nichtigkeiten vertanen Minuten hing ein Menschenleben ab …

Als Maigret auf die Straße trat, war es noch nicht zu spät. Bill war wirklich nicht da, und auch ein Vertreter war nicht zu sehen. Ein leeres Taxi näherte sich. Er hob mechanisch die Hand, der Chauffeur bemerkte es nicht, und anstatt ein anderes Taxi zu nehmen, ließ Maigret sich bestimmen, ein Stück zu gehen. So entdeckte er die Fifth Avenue mit ihren Luxusgeschäften, vor deren Schaufenstern er stehenblieb. Lange betrachtete er dort ausgestellte Pfeifen und beschloß, eine zu kaufen, obwohl ihm seine Frau zu jedem Geburts- und jedem Namenstag eine Pfeife schenkte.

Noch ein lächerliches, albernes Detail. Die Pfeife war sehr teuer. Als er den Laden verließ, erinnerte sich Maigret, daß auch das Auto nach Findlay eine Menge Geld gekostet hatte, und er nahm sich vor, diese Summe heute morgen einzusparen.

Er nahm die Untergrundbahn und verbrachte viel Zeit, ehe er die Kreuzung von Findlay wiederfand.

Der Himmel war von einem kalten, leuchtenden Grau. Der Wind wehte noch, aber es stürmte nicht mehr. Als er um die Ecke der 169. Straße bog, hatte Maigret sofort das Gefühl einer Katastrophe.

Vor einer Haustür, zweihundert Meter von ihm entfernt, gab es einen Menschenauflauf, und obgleich er die Straße, die er nur im Dunkeln gesehen hatte, nicht gut kannte, war er sozusagen sicher, daß es vor der Schneiderwerkstatt war.

Die Straße, das ganze Viertel war überwiegend italienisch.

Die Kinder, die vor den Häusern spielten, hatten fast alle schwarzes Haar und die altklugen Gesichter und langen braunen Beine der Kinder von Neapel oder Florenz.

Fast alle Läden trugen italienische Namen, und hinter den Schaufenstern lagen Mortadellawürste, Teigwaren und Fischkonserven vom Mittelmeer.

Er beschleunigte seinen Schritt. Am Eingang zur Schneiderwerkstatt, den ein Polizist bewachte, hing eine Traube von dreißig oder vierzig Menschen, um die mehr oder minder verdreckte Kinder herumsprangen. Das roch nach einem Unglück, nach einem jämmerlichen Drama, das plötzlich in einer Straße geschieht und die Mienen der Vorübergehenden verdüstert.

»Was ist passiert?« fragte er einen dicken Mann mit steifem Hut, der im hintersten Rang stand und sich auf die Fußspitzen hob.

Er hatte englisch gesprochen. Der Mann hatte ihn aber nur erstaunt betrachtet, die Achseln gezuckt und sich abgewandt.

Um ihn herum sprach man teils italienisch, teils englisch. Er verstand folgendes:

»Gerade, als er über die Straße ging … seit Jahren machte er jeden Morgen um die gleiche Zeit seinen Spaziergang … in den fünfzehn Jahren, die ich hier wohne, habe ich ihn immer gesehen … sein Stuhl steht noch da …«

Hinter dem Fenster war die Bügelmaschine zu sehen, auf der ein Anzug lag, und gleich hinter dem Schaufenster ein niedriger Strohstuhl, auf dem Angelino zu sitzen pflegte.

Denn Maigret begann zu verstehen. Mit der Geschicklichkeit des Dicken hatte er sich geduldig in die Mitte der Gruppe gedrängt und hörte die Gespräche nun so deutlich, daß ihr Inhalt ihm klar wurde.

Vor mehr als fünfzig Jahren war Angelino Giacomi aus Neapel gekommen und hatte sich in dieser Werkstatt niedergelassen, zu einer Zeit also, da die Bügelmaschine noch längst nicht erfunden war. Er war sozusagen der Ahnherr der Straße, wenn nicht des Viertels, und wenn die Gemeindewahlen stattfanden, gab es nicht einen Kandidaten, der ihn nicht aufsuchte. Sein Sohn Arturo war sein Nachfolger geworden, war fast sechzig und seinerseits Vater von sieben oder acht Kindern, die fast alle verheiratet waren.

Im Winter verbrachte Angelino die Tage auf dem Strohstuhl im Schaufenster, von dem er ein Teil zu sein schien, und rauchte von früh bis abends jene schwarzen, schlecht gerollten italienischen Zigarren, die einen scharfen Geruch verbreiten.

Und sobald der Frühling kam, sah man, wie man die Schwalben zurückkehren sieht, den alten Angelino mit seinem Stuhl auf die Straße ziehen und den gewohnten Platz neben der Haustür einnehmen.

Und jetzt … jetzt war er tot oder dem Tode nahe. Das wußte Maigret noch nicht. Es waren verschiedene Gerüchte im Umlauf. Aber bald hörte man das charakeristische Signal eines Krankenwagens, und ein Auto mit einem aufgemalten roten Kreuz hielt. Es kam Bewegung in die Menge, die sich langsam teilte, um zwei Männer im weißen Kittel durchzulassen, die wenige Augenblicke später mit einer Bahre aus dem Hause kamen, auf der nichts als ein mit einem Laken bedeckter Körper zu erkennen war.

Dann schloß sich die Tür des Autos, und ein Mann ohne Kragen, vermutlich der Sohn, setzte sich, eine Jacke über den Arbeitskleidern, neben den Chauffeur. Der Krankenwagen fuhr ab.

»Ist er tot?« fragte man den immer noch Wache stehenden Polizisten.

Er wußte es nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Es war nicht seine Aufgabe, sich um derlei Einzelheiten zu kümmern. Im Laden stand eine weinende Frau. Graue Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht. Zuweilen schluchzte sie so laut auf, daß man es auf der Straße hörte. Einer, zwei, drei entschlossen sich fortzugehen. Hausfrauen nahmen ihre Kinder an die Hand, um in den Quartierläden ihre Einkäufe zu beenden.

Die Gruppe wurde nach und nach kleiner, aber sie verstopfte immer noch den Hauseingang. Nun erklärte ein Friseur, den Kamm über dem Ohr, mit unverkennbarem Genueser Akzent:

»Ich habe alles gesehen, ich hatte gerade keinen Kunden und stand vor der Ladentür.«

In der Tat hing ein paar Häuser weiter der Zylinder mit den roten und blauen Bändern, das Wahrzeichen der Friseure.

»Jeden Morgen punkt halb elf kam er auf einen kleinen Schwatz … Mittwochs und samstags ließ er sich rasieren … von mir, niemals von meinem Gehilfen … er hat sich gehalten, bis zum heutigen Tage. Dabei war er wohl an die zweiundachtzig Jahre alt … was sage ich, zweiundachtzig, er war älter … Als sich seine letzte Enkelin Maria vor vier Jahren verheiratete, sagte er …«

Und der Friseur stellte Berechnungen an und kramte in seiner Erinnerung, um das genaue Alter Angelinos festzustellen. Angelinos, den man gerade brutal weggefahren hatte aus der Straße, wo er lange gelebt hatte.

Etwas gab es, das hätte er um keinen Preis eingestanden, nämlich, daß er sozusagen nichts mehr sah. Er trug immer die Brille mit den dicken Brillengläsern und dem altmodischen Silbergestell, die er in einem fort mit seinem roten Taschentuch abrieb, um sie dann wieder auf die Nase zu setzen … aber in Wirklichkeit hatte er gar keinen Nutzen davon … deshalb, und nicht, weil er schlechte Beine gehabt hätte, hatte er sich angewöhnt, sich auf einen Stock zu stützen … in Wahrheit lief er wie ein Zwanzigjähriger …

»Jeden Morgen punkt halb elf …«

Etwa um diese Zeit hätte Maigret ihn normalerweise in seiner Werkstatt aufsuchen sollen! Das hatte er sich am Abend vorgenommen. Er wollte den alten Angelino einiges fragen.

Was wäre geschehen, wenn Maigret rechtzeitig gekommen wäre, wenn er nicht wieder eingeschlafen wäre, wenn jenes Taxi gehalten, wenn er nicht in der Fifth Avenue eine Pfeife gekauft hätte.

»Man schlang ihm immer einen dicken, roten, gestrickten Schal um den Hals … Eben habe ich gesehen, wie ein Junge, der Sohn der Gemüsehändlerin, ihn zurückbrachte … Er ging immer, auch mitten im Winter, ohne Mantel … Er ging immer mit kleinen, regelmäßigen Schritten und hielt sich dicht an den Häusern. Ich wußte, daß er seinen Stock dabei als Wegweiser benutzte.«

Er hatte nur noch fünf oder sechs Zuhörer, und da Maigret der Ernsthafteste und der Interessierteste zu sein schien, wandte sich der Friseur an ihn.

»… er ging an keinem Laden vorüber, ohne mit der Hand zu grüßen, denn er kannte jeden Menschen. An der Straßenecke blieb er einen Augenblick an der Bordschwelle stehen, ehe er über die Straße ging. Seine Tour ging immer um drei Karrees … Heute ging er wie gewöhnlich … ich sah ihn noch auf den Fahrdamm treten … warum bloß habe ich mich dann umgedreht? Ich weiß es nicht. Vielleicht fragte mein Gehilfe etwas, und ich wollte ihm antworten … ich hörte das Auto kommen … es war nicht einmal hundert Meter entfernt, dann hörte ich ein seltsames Geräusch, ein weiches Geräusch … ich kann es nicht beschreiben, aber ich hatte sofort das Gefühl, daß ein Unfall passiert sei … ich drehte mich um, sah, daß das Auto in aller Geschwindigkeit weiterfuhr … und sah zugleich den auf der Straße liegenden Körper … Hätte ich nicht die beiden Dinge gleichzeitig gesehen, dann hätte ich die beiden Männer vorn im Auto besser angeschaut … Es war ein großer grauer Wagen, dunkelgrau … vielleicht war er auch schwarz und staubig … Leute stürzten hinzu, und ich ging erst hierher, um Arturo zu benachrichtigen … er bügelte gerade eine Hose … sie brachten den alten Angelino und trugen ihn ins Haus … aus dem Mund floß ihm etwas Blut, und der eine Arm hing schlaff herunter … seine Jacke war an einer Schulter zerrissen … weiter war nichts zu sehen, aber ich wußte sofort, daß er tot war.«

Es war in O’Briens Dienstzimmer. Der Amerikaner hatte, seiner langen Beine wegen, seinen Stuhl zurückgelehnt, er rauchte in sehr kleinen Zügen und sog dabei an dem Mundstück seiner Pfeife, während er Maigret aus halbgeschlossenen Augen betrachtete und ihm zuhörte.

»Jetzt«, sagte dieser zum Schluß, »werden Sie wohl nicht mehr geltend machen, die persönliche Freiheit, die in diesem Lande großgeschrieben wird, verbiete Ihnen, sich mit diesen Lumpen zu befassen?«

Maigret hatte zwar dreißig Polizeijahre hinter sich, in denen ihm keine menschliche Niedrigkeit, in welcher Form sie sich auch äußern mochte, fremd geblieben war; gewisse Verbrechen aber konnten ihn erregen wie am ersten Tage.

Der Zufall, daß er vorgehabt hatte, den alten Giacomi gerade an diesem Morgen zu besuchen, die Tatsache, daß dieser Besuch, wenn er zur geplanten Zeit stattgefunden hätte, dem Schneider mit Sicherheit das Leben gerettet hätte, bis zum Kauf einer Pfeife, die er nun zu benutzen vermied – all dies versetzte ihn in die düsterste Stimmung.

»Leider ist es nicht Sache der Bundespolizei, sondern bis auf weiteres der New Yorker Polizei.«

»Sie haben ihn absichtlich, in der gemeinsten Weise, totgefahren …«

Worauf O’Brien nachdenklich erwiderte:

»Was mich frappiert, ist nicht die Methode, sondern daß sie ihn genau zur rechten Zeit ermordet haben.«

Maigret hatte schon darüber nachgedacht; es war schwierig, hier an den Zufall zu glauben.

Jahrelang hatte sich keine Menschenseele um den alten Angelino gekümmert. Er hatte ungestört auf seinem Stuhl sitzen und wie ein großer, guter Hund seinen vertrauten, allmorgendlichen Rundgang machen können.

In später Abendstunde hatte sich Maigret einen Augenblick lang vor seiner Werkstatt aufgehalten und sich vorgenommen, am nächsten Morgen einige Fragen an den Alten zu richten. Von dieser Absicht hatte er niemandem etwas gesagt. Und als er schließlich im Begriff war, sie auszuführen, war dafür gesorgt worden, daß Angelino endgültig nicht mehr sprechen konnte.

»Sie hatten Eile«, brummte er, O’Brien unwillentlich böse ansehend.

»Einen Unfall dieser Art zu arrangieren, erfordert, wenn man im voraus über alle nötigen Einzelheiten Bescheid weiß, nicht viel Zeit. Ich will nicht so weit gehen, zu sagen, daß es Unternehmen gibt, die man für solche Dienstleistungen beanspruchen kann, aber beinahe so ist es … Es genügt, daß man seine Verbindungen hat, zahlungsfähig ist und nicht knausert, und das weitere geht wie am Schnürchen … Das nennt man gedungene Mörder … sie konnten nur nicht wissen, daß Angelino jeden Morgen zur gleichen Zeit an derselben Stelle über die 169. Straße ging … Jemand muß sie unterrichtet haben … wahrscheinlich der Auftraggeber, und dieser Auftraggeber hatte sich schon vor langem ins Bild gesetzt.«

Sie sahen sich ernst an, denn sie zogen beide dieselben Schlüsse. Jemand wußte seit langer Zeit, daß Angelino etwas zu sagen hatte und daß das seine Ruhe bedrohte.

Unwillkürlich stellte Maigret sich die nervöse, aber fast zerbrechliche Erscheinung Little Johns vor mit den hellen, kalten Augen, in denen keine Flamme menschlicher Güte leuchtete.

War er nicht genau der Mann, der, ohne mit der Wimper zu zucken, Mördern den Auftrag geben konnte, den sie heute morgen ausgeführt hatten? Und er hatte in der 169. Straße, der Schneiderwerkstatt gegenüber gewohnt! Und wenn man den Briefen an seinen Sohn Glauben schenken wollte – und in ihnen schwang ein merkwürdig aufrichtiger Ton mit –, dann fühlte Little John sich bedroht und fürchtete zweifelsohne für sein eigenes Leben!

Und eben dieser Sohn war verschwunden, ehe er amerikanischen Boden betreten hatte.

»Sie gehen über Leichen«, sagte Maigret nach einer Weile, als wollte er in diesen Worten das Ergebnis seines Nachdenkens zusammenfassen.

Und so war es auch. Jean Maura war ihm eingefallen, und nun, da er wußte, daß es sich um Leute handelte, die vor Mord nicht zurückschreckten, bekam er doch Gewissensbisse. Hätte er nicht auf den jungen Mann, der ihn um seinen Beistand gebeten hatte, besser aufpassen sollen? War es nicht unrecht gewesen, seine Angst nicht allzu ernst zu nehmen, trotz der Meinung von Monsieur d’Hoquélus?

»Wir haben«, sagte O’Brien schließlich, »es mit Leuten zu tun, die sich verteidigen, oder, um es genauer auszudrücken, die angreifen, um sich zu verteidigen … Ich frage mich, mein Lieber, was Sie tun können … Die New Yorker Polizei wird es ungern sehen, wenn Sie sich in diese Angelegenheit einmischen. Und mit welcher Begründung könnten Sie es auch? Es handelt sich um ein auf amerikanischem Boden begangenes Verbrechen. Angelino ist schon seit langem amerikanischer Staatsbürger … Die Mörder sind es sicher auch … Maura ist naturalisiert. MacGill ist, wie ich festgestellt habe, in New York geboren … und übrigens werden Sie sehen, daß die beiden mit der Sache nichts zu tun haben … Was den jungen Maura betrifft, so hat niemand eine Anzeige erstattet, und der Vater scheint nicht geneigt zu sein, es zu tun.«

Er erhob sich und sagte seufzend:

»Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Wissen Sie, daß meine Bulldogge heute früh nicht auf dem Posten war?«

Der andere verstand, daß er Bill meinte.

»Sie hatten es zwar nicht erwähnt, aber ich hätte es gewettet … Im Laufe der vergangenen Nacht mußte ja eine bestimmte Person von Ihrem Besuch in der 169. Straße unterrichtet werden, nicht wahr.«

»Damit ich künftig dorthin zurückkehren kann, ohne jemand in Gefahr zu bringen.«

»Wissen Sie, daß ich an Ihrer Stelle beim Überqueren der Straßen besonders vorsichtig sein würde? … Ich glaube, ich würde, zumal in der Dunkelheit, einsame Gegenden meiden … Man braucht die Leute ja nicht immer zu überfahren … Eine Salve aus einer Maschinenpistole, aus einem fahrenden Wagen abgegeben, tut es auch.«

»Ich dachte, Gangster gäbe es nur in Filmen und Romanen. Hatten Sie das nicht gesagt?«

»Ich spreche nicht von Gangstern, ich gebe Ihnen einen Rat … Was haben Sie übrigens mit meinem weinenden Clown gemacht?«

»Ich habe ihm einen Auftrag gegeben und erwarte heute seinen Anruf oder seinen Besuch im Hotel.«

»Vorausgesetzt, daß nicht auch ihm ein Unfall zustößt …«

»Glauben Sie?«

»Ich weiß es nicht und habe nicht das Recht, mich einzumischen. Am liebsten würde ich Ihnen das gleiche raten, aber Sie würden sich natürlich nicht raten lassen.«

»Nein.«

»Viel Glück. Rufen Sie mich an, wenn es etwas Neues gibt. Es ist möglich, daß ich, ganz zufällig, meinen Kollegen von der New Yorker Polizei treffe, der die Sache in Händen hat. Ich weiß noch nicht, wer es ist … Es ist ferner möglich, daß er gewisse Dinge erwähnt, die Sie interessieren können … Ich kann Sie nicht zum Mittagessen einladen, denn ich bin mit zwei meiner Chefs verabredet.«

Dieses Gespräch war so ganz anders als die Unterhaltung bei ihrer ersten Begegnung, die mit soviel Humor und guter Stimmung gewürzt war.

Auf beider Gemüt war ein Schatten gefallen. Immer wieder mußten sie an die Straße in Bronx denken, jene Vorstadtstraße mit vielen Kindern, italienischen Geschäften und einem alten Herrn, der mit zögernden Schritten seine Morgenpromenade machte, als ein Auto heranbrauste …

Maigret wäre beinahe in eine Cafeteria gegangen, um einen Happen zu essen, dann kam ihm, da er sich in der Nähe des Saint-Régis befand, der Gedanke, in die Bar dort zu gehen. Vielleicht würde er MacGill treffen, der dort seinen Aperitif zu trinken pflegte.

Ja, er traf ihn, nicht allein, sondern in Gesellschaft einer sehr hübschen Frau. Der Sekretär sah den Kommissar und grüßte ihn, indem er sich halb erhob. Dann sprach er wohl von ihm zu seiner Begleiterin, denn diese schaute, während sie ihre vom Lippenstift rotgefärbte Zigarette rauchte, neugierig zu ihm herüber.

Entweder wußte MacGill von nichts, oder er war äußerst kaltblütig; jedenfalls tat er völlig unbefangen. Als Maigret mit einem Cocktail allein an der Bar stehen blieb, beschloß er plötzlich, aufzustehen, und kam, nachdem er sich bei seiner Freundin entschuldigt hatte, mit ausgestreckter Hand auf Maigret zu.

»Ich bin froh, daß ich Sie treffe«, sagte er, »denn nach dem, was gestern passiert ist, wollte ich sowieso mit Ihnen sprechen.«

Maigret tat so, als ob er die Hand, die man ihm reichte, nicht sähe, und der Sekretär steckte sie schließlich in die Tasche.

»Little John hat sich Ihnen gegenüber brutal und außerdem ungeschickt benommen. Er ist nicht schlecht, aber oft ungeschickt. Es kommt wohl daher, daß er an Gehorsam gewöhnt ist. Das kleinste Hindernis, die geringste Opposition kann ihn wütend machen. Und was nun gar seinen Sohn betrifft, so hat er für ihn ein ganz besonderes Gefühl. Er ist sozusagen der geheimste Teil seines Lebens, den er eifersüchtig für sich behält. Darum seine Erregung, als er merkte, daß Sie sich gegen seinen Willen um etwas kümmern … Ich kann Ihnen im Vertrauen sagen, daß er seit Ihrer Ankunft Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat, um Jean zu finden. Er wird ihn finden, denn er verfügt über die notwendigen Mittel … Wahrscheinlich würde er in Frankreich von Ihrer Hilfe Gebrauch machen … Aber hier, in einer Ihnen fremden Stadt …«

Maigret blieb scheinbar unbewegt wie eine Wand.

»Kurzum, ich bitte Sie …«

»Ihre Entschuldigung anzunehmen.«

»Und die seine.«

»Hat er Sie dazu beauftragt?«

»Das heißt …«

»… daß Sie beide, aus den gleichen oder aus verschiedenen Gründen, mich so schnell wie möglich von hier forthaben möchten.«

»Wenn Sie es so nehmen …«

Worauf Maigret, sich umdrehend, um nach seinem Glas zu langen, scharf und betont erwiderte:

»Ich nehme es, wie es mir paßt!«

Als er dann wieder um sich blickte, sah er MacGill wieder neben der blonden Amerikanerin sitzen, die ihm Fragen stellte, die er offensichtlich ungern beantwortete. Er schien sehr verstimmt zu sein.

Als der Kommissar die Bar verließ, folgte ihm ein Blick, in dem Angst und Groll sich mischten.

Um so besser! …

Im Berwick erwartete ihn ein Telegramm, das man ihm vom Saint-Régis nachgeschickt hatte. Ronald Dexter war auch da. Er wartete geduldig auf einer Bank in der Empfangshalle.

Das Telegramm lautete:

»Erhalte telegrafisch beste Nachrichten von Jean Maura. Erkläre Lage nach Ihrer Rückkehr. Weitere Nachforschungen gegenstandslos. Erwarte Sie mit nächstem Schiff. Grüße. François d’Hoquélus.«

Maigret faltete das gelbliche Papier zusammen und steckte es seufzend in seine Brieftasche. Dann wandte er sich an den melancholischen Clown.

»Haben Sie gegessen?«

»Ja … das heißt: ich habe ein Hot dog verschlungen. Wenn Ihnen aber daran liegt, daß ich Sie begleite …«

Dieses Anerbieten ermöglichte dem Kommissar, eine weitere, ebenfalls höchst merkwürdige Eigenschaft des traurigen Detektivs festzustellen: Dexter, der so mager war, daß ihm die engsten Kleider um die Glieder schlotterten, hatte einen Magen von einem geradezu märchenhaften Aufnahmevermögen.

Er hatte sich kaum an den Tisch gesetzt, als er mit den vor Gier fiebernden Augen eines Hungernden auf die verschiedensten Sandwiches stierte und, kaum hörbar, stammelte:

»Gestatten Sie?«

Diese Frage galt nicht etwa einem Sandwich, sondern dem ganzen Stoß. Und während er ihn herunterschlang, blickte er ängstlich um sich, als fürchte er, daß man ihn am Weiteressen hindern könnte.

Er aß, ohne zu trinken. Ein Riesenbissen nach dem anderen verschwand in seinem enorm dehnbaren Mund; die Bissen jagten sich, ohne daß ihm übel zu werden schien. »Ich habe schon etwas gefunden«, stieß er mit vollem Mund hervor.

Und mit der einen Hand, die er nicht zum Essen brauchte, kramte er in der Tasche seines Regenmantels, den er gar nicht erst abgelegt hatte. Dann legte er ein zusammengefaltetes Blatt auf die Theke. Während der Kommissar es auffaltete, fragte der Detektiv:

»Darf ich mir etwas Warmes bestellen? Es ist hier nicht teuer.«

Das Papier war ein Prospekt, wie ihn die Artisten früher in Paris verkauften.

»Verlangen Sie das Foto des Künstlers.«

Und Maigret, der in jener Zeit viel im Petit Casino an der Porte Saint-Martin war, hörte noch das andauernde:

»Es kostet mich zehn Centime.«

Es war nicht einmal eine Postkarte, wie die größern Nummern sie zu Reklamezwecken anboten, sondern es war ein stärkeres Blatt von verblaßtem Gelb. Die Worte, die es enthielt, lauteten:

J and J, die berühmten Musikhumoristen, die die Ehre hatten, vor allen gekrönten Häuptern Europas und vor dem Schah von Persien aufzutreten.

»Bitte machen Sie es nicht schmutzig«, sagte der Clown, während er begann, Spiegeleier mit Speck zu essen. »Man hat es mir nicht geschenkt, nur geliehen.«

Die Idee, solch ein Stück Papier zu leihen, von dem niemand sich die Mühe gemacht haben würde, es von der Straße aufzuheben, war allein schon komisch.

»Es gehört einem Freund von mir, der früher im Zirkus den Direktor machte, was sehr viel schwieriger ist, als man glaubt. Er hat es vierzig Jahre lang getan, und jetzt ist er an seinen Stuhl gefesselt. Er ist sehr alt. Ich habe ihn gestern nacht besucht, denn er schläft fast nie mehr.«

Er sprach noch immer mit vollem Mund und schielte nach Würstchen, die einem Herrn am Nebentisch serviert wurden. Sie reizten anscheinend seinen immer noch regen Appetit ebenso wie riesige Stücke einer mit einer gräulichen Crème bestrichenen Torte, bei deren Anblick Maigret ganz übel wurde.

»Mein Freund hat J and J nicht persönlich gekannt. Er hatte ja nur mit dem Zirkus zu tun. Aber er besitzt eine einzigartige Sammlung von Plakaten, Programmen und Zeitungsausschnitten, die sich mit den Familien von Zirkus- und Varietéartisten befassen. Er kann Ihnen sagen, daß der und der heute dreißigjährige Akrobat der Sohn jenes Trapezkünstlers ist, der seinerzeit die Enkelin des Untermanns einer Kraftnummer geheiratet hat, der im Londoner Palladium 1905 verunglückt ist.«

Maigret hörte mit halbem Ohr zu, während er das Bild auf dem vergilbten Glanzpapier betrachtete. Konnte man überhaupt von einer Fotografie sprechen? Der Lichtdruck in zu grobem Raster war so schlecht, daß man die Gesichter kaum sah. Zwei junge, magere Leute, deren einer, ein Geiger, sehr langes Haar hatte. Maigret war davon überzeugt, daß dieser da Little John geworden war. Der andere, mit weniger Haaren, zeigte, jung wie er war, Zeichen beginnender Kahlheit, trug eine Brille und blies mit rollenden Augen in eine Klarinette.

»Ja, ja, bestellen Sie sich nur eine Portion Würstchen«, sagte Maigret, noch ehe Dexter den Wunsch ausgesprochen hatte.

»Sie müssen denken, ich hätte mein ganzes Leben lang Hunger gehabt.«

»Warum?«

»Weil es wahr ist. Ich bin niemals satt gewesen, selbst als ich Geld verdiente. Denn ich verdiente nie genug, um zu essen, was ich essen konnte und wollte … Sie müssen mir das Papier zurückgeben, denn ich habe es meinem Freund versprochen.«

»Ich will es nur fotokopieren lassen.«

»Ich bekomme noch andere Auskünfte, aber nicht gleich. Ich mußte sehr bitten, daß mein Freund diesen Prospekt hervorsuchte, während ich bei ihm war. Er lebt in seinem Rollstuhl zwischen seinen Papieren … Er behauptet, Leute zu kennen, die Bescheid wissen, aber genannt hat er sie nicht. Wahrscheinlich konnte er sich der Namen nicht erinnern und mußte erst in seinen Sammlungen kramen … Telefon hat er nicht, das macht alles noch umständlicher … Aber er sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, man käme zu ihm … Es gebe Artisten genug, die sich des alten Germain erinnern und gern zu einem Schwatz in seine Behausung kommen … Eine alte Freundin, eine frühere Seiltänzerin, die später Hellseherin in einer Zaubernummer und schließlich Wahrsagerin wurde, komme jeden Mittwoch … Ich solle mich also von Zeit zu Zeit bei ihm blicken lassen, und wenn er etwas erfahre, wolle er es mir sagen … Er glaubt, es handle sich um ein Buch über die Geschichte des Varietés, wie es schon eins über den Zirkus gibt … Für dieses Buch habe man ihm die Würmer aus der Nase gezogen, habe seine Papiere mitgenommen, und als es dann erschien, sei er nicht einmal darin erwähnt worden …«

Maigret sah den Mann vor sich und wußte, daß Hetzen hier sinnlos war. »Gehen Sie jeden Tag hin!« sagte er.

»Ich habe auch noch andere Stellen, an die ich mich wenden kann. Sie werden sehen, daß ich Ihnen alle Auskünfte verschaffe, deren Sie bedürfen … Nur muß ich Sie noch um einen kleinen Vorschuß bitten. Gestern haben Sie mir zehn Dollar gegeben, die ich Ihnen gutgeschrieben habe. Bitte, hier! Doch, ich will, daß Sie es sehen!«

Dabei wies er auf eine Bleistifteintragung in einem fettigen Notizbuch, die lautete:

Vorschuß für Recherchen in Sachen J and J: zehn Dollar.

»Es wäre mir lieb, wenn Sie mir heute nur fünf gäben. Ich gebe ja doch alles aus, was ich in der Tasche habe, und wenn ich zu viel im voraus bekomme, fehlt mir schließlich der Mut, Sie um mehr zu bitten. Ohne Geld aber bin ich lahmgelegt … Ist das zuviel? Ist es Ihnen lieber, wenn ich vier sage?«

Maigret gab ihm fünf und sah ihn dabei ohne besonderen Grund genau an.

Nun, da der Mann im Regenmantel und mit dem grellgrünen Band, das er sich statt einer Krawatte um den Hals geschlungen hatte, offenbar gesättigt war, sah er noch immer so melancholisch aus wie vorher. Aber zugleich drückten seine Augen eine unendliche Dankbarkeit aus, eine mit Angst gepaarte Unterwürfigkeit. Es war der Blick eines Hundes, der endlich einen guten Herrn gefunden hat und um ein Zeichen der Anerkennung bettelt …

Zugleich mit diesem Eindruck stellte sich die Erinnerung an O’Briens warnende Worte ein und an das Schicksal Angelinos, der heute morgen wie immer zu einem Spaziergang ausgezogen war und den man aufs gemeinste umgebracht hatte. Und er fragte sich, ob er das Recht habe … Aber er beschwichtigte sein Gewissen rasch, indem er sich sagte, er betraue ihn ja nicht mit einer gefährlichen Arbeit …

»Wenn man mir diesen tötet«, dachte er.

Und ihm fiel das Büro im Saint-Régis ein, der Brieföffner, der in Little Johns nervösen Händen zerbrochen war, und dann fiel ihm MacGill ein, wie er seiner Amerikanerin in der Bar von ihm erzählt hatte.

Alles in allem hatte er noch nie eine Untersuchung unter so vagen und fast verrückten Bedingungen begonnen. Genau besehen, war er von niemandem dazu beauftragt worden. Nicht einmal von Monsieur d’Hoquélus, der ihn so dringend gebeten hatte, Jean Maura nach New York zu begleiten, und ihn jetzt höflich bat, nach Frankreich zurückzukehren. Nicht einmal von O’Brien.

»Ich komme morgen um dieselbe Zeit vorbei«, sagte Ronald Dexter und griff nach seinem Hut. »Vergessen Sie nicht, daß ich den Prospekt zurückgeben muß.«

J and J …

Maigret schlenderte, die Hände in den Taschen, die Pfeife zwischen den Zähnen, durch die Avenue, die er nicht kannte. Plötzlich sah er die Lichtreklamen eines Broadway-Kinos, die ihm den Weg wiesen, und ebenso plötzlich kam ihm der Wunsch, ins Hotel zurückzugehen und an seine Frau zu schreiben.