10
Cageot rauchte nicht, bewegte sich nicht und hatte auch keinerlei Tic, der als Ventil für seine Nervosität hätte dienen können.
Maigret harte sich noch nicht klargemacht, daß es ausgerechnet diese Reglosigkeit seines Gesprächspartners war, die ihn störte, es wurde ihm aber bewußt, als er ihn die Hand nach einer Bonbonniere ausstrecken sah, die auf dem Sekretär stand und der er eine Praline entnahm.
Das war nur eine Kleinigkeit, und dennoch funkelten die Augen des Kommissars plötzlich, als hätte er die schwache Stelle entdeckt. Cageot, der weder rauchte noch trank und der sich nichts aus Frauen machte, naschte Süßigkeiten, er lutschte eine Praline, indem er sie im Mund langsam von einer Seite zur anderen wandern ließ!
»Ich möchte mal behaupten, daß wir beide Fachleute sind«, erklärte Maigret schließlich. »Und als Fachmann werde ich Ihnen sagen, warum Sie unweigerlich geschnappt werden müssen.«
Die Praline bewegte sich schneller.
»Nehmen wir den ersten Mord! Ich spreche vom ersten Mord dieser Serie, denn es ist durchaus möglich, daß schon mehrere passiert sind, die auf Ihr Konto gehen. Ist nicht der Anwalt, dessen Kanzleivorsteher Sie waren, an Gift gestorben?«
»Das hat man nie nachgewiesen«, sagte Cageot bloß.
Er versuchte zu ergründen, worauf Maigret hinaus wollte, und der Verstand des Kommissars arbeitete ebenfalls auf Hochtouren.
»Das spielt jetzt keine Rolle! Vor drei Wochen haben Sie beschlossen, Barnabé loszuwerden. So wie ich meine, verstanden zu haben, hielt Barnabé die Verbindung zwischen Paris und Marseille aufrecht, das heißt, zwischen Ihnen und den Levantinern, die das Rauschgift per Schiff herbeischaffen. Ich nehme an, Barnabé wollte sich ein zu großes Stück von dem Kuchen abschneiden. Man forderte ihn also auf, in ein Auto einzusteigen. Es ist Nacht. Plötzlich spürt Barnabé ein Messer in seinem Rücken, und kurz danach landet sein Leichnam auf dem Gehsteig. Ist Ihnen der Fehler klar?«
Maigret griff wieder nach seinen Streichhölzern, um sich zu vergewissern, daß die Holzscheibe noch an ihrem Platz war. Zugleich wollte er den Anflug eines Lächelns verbergen, den er nicht unterdrücken konnte, weil Cageot heftig nachdachte und wie ein gewissenhafter Schüler wirklich nach dem Fehler suchte.
»Ich sag’s Ihnen später!« versprach er und unterbrach damit Cageots Überlegungen. »Fürs erste fahre ich einmal fort. Die Polizei ist, ich weiß nicht durch welchen Zufall, Pepito auf der Spur. Da sich die Ware im ›Floria‹ befindet und das ›Floria‹ überwacht wird, ist die Lage gefährlich. Pepito ahnt, daß man ihn festnehmen wird. Er droht, wenn Sie ihn nicht retten, auszupacken. Sie machen ihm mit einer Pistolenkugel den Garaus, während er sich in dem leeren Nachtlokal allein wähnt. Hier ist kein Fehler passiert.«
Cageot hob den Kopf, und die Praline blieb auf der Zunge liegen.
»Kein Fehler bis dahin. Fangen Sie an zu begreifen? Aber da entdecken Sie, daß ein Polizist im Lokal ist. Sie verschwinden. Aber Sie können dem Wunsch nicht widerstehen, den Polizisten in eine Falle tappen zu lassen. Auf den ersten Blick scheint es ein Geniestreich zu sein. Trotzdem ist das ein Fehler, der zweite.«
Maigret war jetzt im Vorteil. Er brauchte nur weiterzureden, ohne etwas zu überstürzen. Cageot hörte zu und überlegte, während die Angst allmählich seinen Gleichmut erschütterte.
»Dritter Mord: der an Audiat, denn auch dieser Audiat würde nicht dichthalten. Die Polizei hat ihn im Auge. Messer und Schußwaffe scheiden aus. Ich wette, Audiat hat für gewöhnlich während der Nacht Durst bekommen. In dieser Nacht wird er noch durstiger sein, weil er betrunken ist, und er wird nicht mehr aufwachen, denn das Wasser in der Karaffe ist vergiftet. Dritter Fehler.«
Maigret ging aufs Ganze, aber er war sich seiner Sache sicher! Die Dinge konnten sich gar nicht anders zugetragen haben.
»Ich warte noch auf die drei Fehler!« sagte Cageot schließlich und streckte die Hand wieder nach der Pralinenschachtel aus.
Und der Kommissar stellte sich das Hotel in der Rue Lepic vor, in dem hauptsächlich Musiker, Eintänzer und leichte Mädchen wohnten.
»Im Fall von Audiat liegt der Fehler darin, daß jemand das Gift in die Karaffe getan hat!«
Cageot verstand nicht, lutschte die nächste Praline, und es lag ein leicht süßlicher Geruch in der Luft, ein Hauch von Vanille.
»Bei Barnabé«, fuhr Maigret fort, während er sich wieder etwas zu trinken einschenkte, »ziehen Sie mindestens zwei Leute hinein: Pepito und den, der das Auto fährt, wahrscheinlich Eugène. Und Pepito droht später an, Sie zu verraten.
Können Sie mir folgen? Logischer Schluß: die Notwendigkeit, Pepito loszuwerden. Den Schuß aus der Pistole erledigen Sie allein. Aber, welche Raffinesse, Sie holen anschließend Audiat, der den Auftrag hat, mit dem Inspektor zusammenzustoßen. Und was passiert automatisch? Eugène, Louis, der Wirt vom ›Tabac Fontaine‹, ein Belotespieler namens Colin und Audiat sind eingeweiht.
Audiat verliert die Nerven. Und schwupp sehen Sie sich gezwungen, auch ihn umzubringen!
Allerdings waren Sie gestern nachmittag nicht selbst in der Rue Lepic. Sie mußten sich eines Hotelgastes bedienen, den Sie vermutlich angerufen haben.
Schon wieder ein Komplize! Ein Mann, bei dem die Gefahr besteht, daß er plaudert!
Haben Sie diesmal verstanden, was ich meine?«
Cageot überlegte immer noch. Die Sonne erreichte den vernickelten Telefonhörer. Es war höchste Zeit. Die Menge, die sich um die kleinen Karren scharte, wurde immer dichter, und der Straßenlärm drang trotz dem geschlossenen Fenster in die Wohnung.
»Daß Sie schlau sind, daran besteht kein Zweifel. Aber warum halsen Sie sich dann jedesmal unnötige Komplizen auf, die Sie verraten könnten? Barnabé, der Ihnen ja traute, hätten Sie mühelos allein irgendwo umlegen können. Auch bei Pepito hätten Sie Audiat nicht gebraucht. Und gestern hätten Sie sich, während Sie noch nicht überwacht wurden, selbst in die Rue Lepic begeben können. In diesen Hotels, in denen der Portier oft nicht da ist, kann man kommen und gehen, ohne daß es jemandem auffällt.«
Manchmal waren auf der Treppe Schritte zu hören, und es kostete Maigret Mühe, scheinbar ruhig zu bleiben und weiterzureden, als wäre nichts gewesen.
»Zur Zeit gibt es mindestens fünf Personen, die Sie verpfeifen könnten. Doch noch nie haben fünf Personen lange ein solches Geheimnis bewahrt.«
»Ich habe Barnabé nicht erstochen«, sagte Cageot langsam, der bleicher war denn je.
Maigret packte die Gelegenheit beim Schopf und versicherte überzeugend:
»Ich weiß.«
Der andere sah ihn überrascht an und kniff die Augen zusammen.
»Ein Messerstich, das ist eher Sache eines Italieners wie Pepito.«
Er brauchte sich nur noch ein ganz kleines bißchen anzustrengen, aber in diesem Moment öffnete die Putzfrau die Tür, und Maigret sah sein Gebäude schon einstürzen.
»Ich gehe einkaufen«, kündigte sie an. »Was für ein Gemüse soll ich nehmen?«
»Was Sie wollen.«
»Haben Sie Geld?«
Cageot entnahm es einem soliden, abgegriffenen Portemonnaie mit Metallverschluß, dem typischen Portemonnaie eines Geizhalses. Er suchte zwei Zehn-Franc-Stücke heraus. Die Weinflasche auf dem Tisch war leer, und er reichte sie seiner Hausgehilfin.
»Da, die können Sie zurücktragen. Sie haben doch die Pfandmarke.«
Mit den Gedanken war er dennoch woanders. Marthe ging hinaus, ohne daß sie die Tür zugemacht hätte, aber sie verschloß die Tür zum Treppenhaus wieder. In der Küche hörte man Wasser brodeln, das auf dem Herd vor sich hin kochte.
Maigret hatte mit den Augen jede Bewegung seines Gegenübers verfolgt, und da vergaß er plötzlich das Telefon und die Stenografen, die am anderen Ende der Leitung auf der Lauer lagen. Bei ihm war eben der Groschen gefallen, doch er hätte nicht genau sagen können wann. Er hatte viel geredet, ohne allzu sehr auf das zu achten, was er sagte, und seine improvisierte Beweisführung hatte ihn ganz in die Nähe der Wahrheit gebracht. Die Pralinen in der Bonbonniere, das Portemonnaie und selbst das Wort Gemüse hatten etwas damit zu tun gehabt.
»Ich wette, Sie halten eine Diät ein.«
»Schon seit zwanzig Jahren.«
Cageot sprach nun nicht mehr davon, seinen Besucher vor die Tür zu setzen. Man hätte sogar meinen können, er brauche ihn. Mit einem Blick auf sein leeres Glas sagte er:
»Marthe bringt noch Wein mit. Es ist immer nur eine Flasche im Haus.«
»Ich weiß.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
Weil es mit allem übrigen in Einklang stand, natürlich! Weil Cageot für Maigret jetzt nicht mehr nur irgendein Gegner war, sondern weil er ein Mensch wurde. Diesen Menschen kannte er von Sekunde zu Sekunde besser, er fühlte, wie er lebte, atmete, dachte, fürchtete und hoffte, und er hörte das aufreizende Geräusch, mit dem die Praline an die Zähne stieß.
Die ganze Einrichtung wurde ebenfalls auf einmal lebendig, der Sekretär, die Möbel, die Bilder, die so süßlich wie Konfitüre waren.
»Wissen Sie, was ich glaube, Cageot?«
Dieser Satz war nicht einfach so dahingesagt, sondern er war das Ergebnis einer langen Reihe von Überlegungen.
»Ich bin im Begriff mich zu fragen, ob Sie wirklich Pepito ermordet haben. Im Moment bin ich beinahe vom Gegenteil überzeugt.«
Sein Tonfall hatte sich verändert. Maigret geriet in Fahrt, er beugte sich vor, um Cageot genauer anzusehen.
»Ich sage Ihnen gleich, warum ich das glaube. Wären Sie nämlich imstande gewesen, selbst Pepito zu erschießen, dann hätten Sie auch niemanden gebraucht, um Barnabé und Audiat umzubringen. Die Wahrheit ist, daß Sie Angst haben.«
Cageots Lippen waren trocken. Dennoch versuchte er, ironisch zu lächeln.
»Wagen Sie nicht, mir zu erzählen, Sie hätten schon einmal ein Huhn oder ein Kaninchen geschlachtet! Und wagen Sie bloß nicht, mir zu erzählen, Sie könnten Blut fließen sehen!«
Maigret hatte alle Zweifel überwunden. Er hatte begriffen. Unbeirrt redete er drauflos.
»Daß wir uns richtig verstehen! Sie haben Angst davor, mit Ihren eigenen Händen zu töten, doch es macht Ihnen nichts aus, jemanden zum Tode zu verurteilen! Im Gegenteil! Sie haben Angst vorm Töten, Angst vorm Sterben. Aber um so verbissener organisieren Sie Morde. Das stimmt doch, nicht wahr, Cageot?«
In Maigrets Stimme lag weder Haß noch Mitleid. Er ergründete Cageot mit der Leidenschaft, die er allem entgegenbrachte, was menschlich war. Und der Notar war in seinen Augen erschreckend menschlich. Bis hin zum Beruf des Anwaltsgehilfen, den er in seiner Jugend ausgeübt hatte, gab es nichts, was ihm nicht vorherbestimmt gewesen wäre.
Cageot war, schon immer, der Gefangene seiner selbst. Ganz allein, mit geschlossenen Augen, mochte er erstaunliche Gedankenspiele ersonnen haben, Gedankenspiele aller Art, sowohl finanzielle als auch kriminelle oder erotische.
Man hatte ihn doch nie mit Frauen gesehen? Natürlich! Frauen konnten seine überzogenen Vorstellungen nicht erfüllen!
Cageot zog sich in sich selbst zurück, in seinen Bau, der von seinem Denken, seinen Träumen, seinem Geruch durchdrungen war.
Und wenn er vom Fenster aus auf die sonnige Straße hinunterschaute, auf der sich die Menge vor den Schaufenstern drängte und die prall mit Leben gefüllten Omnibusse vorbeibrausten, dann hegte er nicht den Wunsch, in dieser wogenden Menschenmasse da draußen unterzutauchen, sondern er empfand das Verlangen, ein ausgeklügeltes Spiel mit ihr zu treiben.
»Sie sind ein Hasenfuß, Cageot!« dröhnte Maigrets Stimme. »Ein Hasenfuß wie alle Menschen, in deren Leben nur der Kopf zählt. Sie verkaufen Frauen, Kokain und Gott weiß was noch, denn ich traue Ihnen alles zu. Aber gleichzeitig sind Sie Polizeispitzel!«
Cageots graue Augen hingen an Maigret, der sich nicht mehr bremsen konnte.
»Sie haben Barnabé von Pepito ermorden lassen. Und ich werde Ihnen sagen, von wem Sie Pepito haben ermorden lassen. In Ihrer Clique gibt es einen hübschen Kerl, der jung ist, der alles hat: Frauen, Geld, Erfolg, Frechheit und keine Spur von Gewissen.
Trauen Sie sich ja nicht zu behaupten, Sie seien am Abend des Mordes an Pepito nicht im ›Tabac Fontaine‹ gewesen! Dort waren sie alle versammelt, der Wirt, dann dieser Bordellbesitzer namens Colin, der noch feiger ist als Sie, dann Audiat, der Marseiller und schließlich Eugène.
Eugène war derjenige, den Sie ins ›Floria‹ geschickt haben. Als er nach getaner Arbeit zurückkam und Ihnen erzählte, daß jemand im Lokal sei, da haben Sie Audiat auf den Fall angesetzt.«
»Na und?« sagte Cageot. »Was nützt Ihnen denn das alles?«
Er stützte sich mit beiden Händen auf die Armlehnen seines Sessels, als ob er sich erheben wollte. Herausfordernd reckte er den Kopf ein wenig vor.
»Was mir das nützt? Ihnen zu beweisen, daß ich Sie kriegen werde, eben weil Sie ein Feigling sind und weil Sie zu viele Leute um sich geschart haben.«
»Sie werden mich nie kriegen.«
Er lächelte, aber nicht fröhlich. Seine Pupillen hatten sich verengt. Langsam fügte er hinzu:
»Einen intelligenten Mann hat die Polizei noch nie erwischt! Sie haben vorhin von einer Vergiftung geredet. Da Sie ja mal zum ›Haus‹ gehört haben, können Sie mir sicher sagen, wieviel Vergiftungen pro Jahr man in Paris aufdeckt.«
Maigret kam nicht dazu, ihm zu antworten.
»Nicht eine! Hören Sie? Sie sind aber doch nicht so naiv, zu glauben, daß bei vier Millionen Einwohnern nicht ein paar dabei sind, die an einer Überdosis Arsen oder Strychnin sterben?«
Er erhob sich schließlich. Maigret wartete schon seit geraumer Zeit darauf. Zu lange hatte Cageot standgehalten, jetzt löste sich die Spannung, und das kam verhängnisvollerweise auch in Worten zum Ausdruck:
»Heute hätte ich sogar Sie umbringen können. Ich habe übrigens daran gedacht. Es genügte ja schon, Ihren Wein zu vergiften. Wohlgemerkt, die Flasche ist bereits außer Haus. Ich brauche nur noch das Glas zu spülen. Sie gehen hier weg und irgendwo sterben Sie …«
Maigret kamen Bedenken, sie dauerten aber kaum einen Sekundenbruchteil.
»Sie haben recht. Ich habe Barnabé nicht ermordet. Ich habe auch Pepito nicht ermordet. Ich habe nicht einmal diesen Dummkopf von Audiat ermordet!«
Cageot, die Bonbonniere in der Hand, sprach leise, ohne zu stocken. Genau genommen sah er lächerlich aus, denn sein Morgenrock war zu kurz, und sein ungekämmtes Haar verlieh ihm einen seltsamen Glorienschein. Wäre nicht das Telefon gewesen, dann hätte der Kommissar das Fenster geöffnet, um dieser bedrückenden Atmosphäre, diesem Muff zu entrinnen.
»Was ich Ihnen erzähle, können Sie nicht verwerten, da Sie ja nicht mehr im Polizeidienst sind und wir keine Zeugen haben.«
Als hätten ihn plötzlich Zweifel gepackt, schaute er in die Diele und machte sogar für einen Moment sein Schlafzimmer auf.
»Sehen Sie, Sie haben einfach nicht begriffen, daß die anderen mich nicht verraten werden, sie stecken nämlich noch tiefer drin als ich! Eugène hat geschossen. Louis hat die Pistole und den Schlüssel zum ›Floria‹ geliefert. Und wissen Sie, was leicht passieren könnte, falls Eugène den Mund zu voll nähme? Dann hätte eines Abends bei einer Partie Belote der kleine Colin, wie Sie ihn nennen, diese halb taube, piepsende Mißgeburt, den Auftrag, ihm etwas in sein Glas zu tun. Es ist leichter, als Sie glauben, das schwöre ich Ihnen, ohne daß man deshalb imstande sein muß, ein Huhn zu köpfen.«
Maigret hatte seinen Hut und die Streichhölzer vom Sekretär geholt. Seine Knie zitterten ein wenig. Es war vorbei! Er hatte sein Ziel erreicht! Jetzt brauchte er nur noch hinauszugehen. Der Inspektor, der auf der Straße stand, hatte einen Haftbefehl in der Tasche. Am Quai des Orfèvres wartete man auf Neuigkeiten und vertrieb sich vermutlich die Zeit damit, Prognosen zu stellen.
Zwei Stunden hatte Maigret hier verbracht. Eugène saß vielleicht gerade im seidenen Pyjama in trauter Zweisamkeit mit Fernande bei einem späten Frühstück. Und wo mochte wohl Philippes wackere Mama herumlaufen?
Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Es klopfte heftig an die Tür. Cageot schaute Maigret an, dann nahm er den Revolver, der noch auf dem Sekretär lag.
Während er aufmachte, griff Maigret in der Hosentasche nach seiner Waffe und blieb mitten im Raum stehen.
»Was ist denn los?« ertönte Eugènes Stimme in der Diele.
Die beiden Männer tauchten gleich darauf an der Bürotür auf. Hinter ihnen erklangen noch einmal Schritte: es war Fernande, die Maigret verwundert ansah.
»Was ist denn …?« wiederholte Eugène.
Aber schon hielt ein Taxi mit laut quietschenden Bremsen vorm Haus. Eugène lief ans Fenster.
»Hab ich’s nicht gesagt!« schimpfte er.
Die Polizisten, die Fernandes Wohnung beobachtet hatten, waren dem Paar gefolgt und sprangen auf den Gehsteig.
Cageot rührte sich nicht. Mit dem Revolver in der Hand überlegte er.
»Weshalb bist du hergekommen?«
Er wandte sich an Eugène, aber der redete gleichzeitig mit ihm.
»Ich habe viermal versucht, dich anzurufen, aber dein Telefon …«
Maigret war langsam rückwärts gegangen, so daß er die Wand hinter sich hatte.
Bei dem Wort Telefon warf Cageot einen Blick auf den Apparat. Im selben Augenblick knallte ein Schuß, der Geruch von verbranntem Pulver breitete sich im Raum aus, und eine bläuliche Rauchwolke zog durch die einfallenden Sonnenstrahlen.
Maigret hatte geschossen. Die Kugel hatte Cageots Hand getroffen, die den Revolver fallen ließ.
»Keine Bewegung!« sagte der Kommissar, der seine Waffe noch immer auf ihn richtete.
Cageot stand wie versteinert da. Er hatte noch eine Praline im Mund, die seine linke Wange ausbeulte, und er wagte nicht, sich zu rühren.
Leute kamen die Treppe herauf.
»Mach auf, Fernande!« befahl Maigret.
Sie suchte Eugènes Blick, weil sie nicht wußte, ob sie gehorchen sollte, doch ihr Liebhaber stierte unverwandt auf den Fußboden. Da fügte sie sich, ging durch die Diele, hängte die Kette aus und drehte den Schlüssel herum.
Blut tropfte von Cageots Hand. Jeder Tropfen verursachte ein leises Plop, wenn er auf den Teppich fiel, auf dem ein bräunlicher Fleck langsam größer wurde.
Plötzlich, ehe Maigret eingreifen konnte, machte Eugène einen Satz zum Fenster, riß es auf und sprang hinaus.
Schreie gellten auf der Straße. Eugène war auf dem Dach des geparkten Taxis gelandet, ließ sich auf den Boden fallen und rannte Richtung Rue des Dames davon.
In diesem Moment erschienen zwei Inspektoren im Türrahmen.
»Was geht hier vor?« fragten sie Maigret.
»Nichts. Sie nehmen erst einmal Cageot fest, gegen den ein Haftbefehl vorliegt. Haben Sie noch Kollegen unten?«
»Nein.«
Fernande begriff nichts von alledem und starrte wie betäubt auf das offene Fenster.
»Dann wird er wohl lange laufen!«
Während er noch sprach, nahm Maigret seine Holzscheibe wieder an sich und steckte sie in die Tasche. Da hatte er das Gefühl, daß mit Cageot etwas nicht stimmte, aber es war nichts Ernstes. Den Notar verließen die Kräfte, und er sackte auf dem Teppich zusammen, wo er wie leblos liegen blieb. Er war ohnmächtig geworden, wahrscheinlich deshalb, weil er gehört hatte, wie sein Blut auf den Boden tropfte.
»Warten Sie, bis er zu sich gekommen ist. Wenn Sie unbedingt wollen, dann rufen Sie einen Arzt an. Das Telefon funktioniert jetzt wieder.«
Maigret schob Fernande zum Ausgang und ließ sie vor sich die Treppe hinuntergehen. Vor dem Haus liefen die Leute zusammen. Ein Stadtpolizist bahnte sich einen Weg.
Dem Kommissar gelang es, sich durch das Gedränge hindurchzuzwängen. Schließlich stand er mit Fernande vor dem Metzgerladen an der Ecke.
»Die große Liebe?« fragte er sie da.
Ihm fiel erst jetzt auf, daß sie einen neuen Pelzmantel trug. Er betastete ihn.
»Von ihm?«
»Ja, heute morgen.«
»Sag mal, weißt du eigentlich, daß er es war, der Pepito erschossen hat?«
»Ach!«
Sie hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Er lächelte.
»Hat er es dir erzählt?«
Sie senkte nur die Augenlider.
»Wann?«
»Heute morgen.«
Und wie ein verliebtes Mädchen, das seine große Stunde für gekommen hält, fügte sie, plötzlich sehr ernst geworden, hinzu:
»Sie werden ihn nicht kriegen!«
Sie hatte recht. Einen Monat später reiste sie Eugène nach Istanbul nach, wo er in der Grande Rue de Péra ein Nachtlokal eröffnet hatte.
Na und Cageot, der ist jetzt Buchhalter im Zuchthaus.
Wie du mich gebeten hast, schrieb Madame Lauer an ihre Schwester, schicke ich Dir als Eilgut sechs junge Zwetschgenbäume von denen, die wir in unserem Garten beim kleinen Turm haben. Ich glaube, sie werden an der Loire sehr gut angehen. Aber Du solltest Deinem Mann sagen, daß er meiner Meinung nach die Obstbäume viel weiter zurückschneiden muß.
Philippe fühlt sich wohler, seit er wieder daheim ist. Er ist ein braver Junge, der fast nie ausgeht. Am Abend sind die Kreuzworträtsel seine ganze Leidenschaft. Aber seit ein paar Tagen schleicht er oft ums Haus der Scheffers (die vom Gaswerk), und ich glaube, das wird mit einer Hochzeit enden.
Sag Deinem Mann noch, daß sie gestern hier das Stück gespielt haben, das wir miteinander im Palais Royal gesehen haben. Aber es hat mir nicht so gut gefallen wie in Paris …
Maigret kam in seinen Gummistiefeln nach Hause, mit drei Hechten am ausgestreckten Arm.
»Das schaffen wir doch gar nicht, die zu essen!« wandte seine Frau ein.
»Natürlich nicht!«
Er hatte das so seltsam gesagt, daß sie den Kopf hob, um ihn anzusehen. Aber nein! Er war schon auf dem Weg in den Schuppen, um seine Angeln aufzuräumen und die Stiefel auszuziehen.
»Wenn man alles essen müßte, was man tötet!«
Der Satz bildete sich ganz von allein in seinem Kopf, gleichzeitig mit einem grotesken Bild: dem Bild eines bleichen, ratlosen Cageot vor den Leichen von Pepito und Audiat. Doch es reizte ihn nicht einmal zu einem Lächeln.
»Was für eine Suppe hast du gemacht?« rief er und setzte sich auf eine Kiste.
»Tomatensuppe.«
»Das ist gut!«
Dann ließ er mit einem Seufzer der Erleichterung die Stiefel nacheinander auf den Boden aus gestampfter Erde plumpsen.