8

Als er durch die Empfangshalle seines Hotels schritt, verdüsterte sich Maigrets Miene, denn eine Frau erhob sich aus einem Korbsessel, kam auf ihn zu, küßte ihn mit traurigem Lächeln auf beide Wangen und griff nach seiner Hand, die sie gar nicht mehr loslassen wollte.

»Es ist entsetzlich!« stöhnte sie. »Ich bin heute morgen angekommen und soviel herumgelaufen, daß ich fix und fertig bin.«

Maigret betrachtete seine Schwägerin, die unvermutet aus dem Elsaß angereist war. Er mußte sich erst langsam an diesen Anblick gewöhnen, der so ganz anders war als die Bilder, die er in den letzten Tagen und an diesem Vormittag vor Augen gehabt hatte, und so gar nicht in die rauhe Umgebung paßte, in der er hilflos herumtappte.

Philippes Mutter sah Madame Maigret ähnlich, hatte sich jedoch, deutlicher als ihre Schwester, ihre ländliche Frische bewahrt. Sie war nicht dick, aber mollig, hatte ein rosiges Gesicht unter sorgsam glattgekämmtem Haar, und alles an ihr strahlte Sauberkeit aus: ihre in Schwarz und Weiß gehaltene Kleidung, ihre Augen, ihr Lächeln.

Sie hatte die ganze Atmosphäre von da drüben mitgebracht, und Maigret glaubte, den Geruch des Hauses in der Nase zu haben, mit seinen Schränken voller Marmeladen, den köstlichen Duft der Leckerbissen und Naschereien, die sie so gern zubereitete.

»Glaubst du, danach findet er noch irgendwo eine Stelle?«

Der Kommissar griff nach dem Gepäck seiner Schwägerin, das noch provinzieller war als sie selbst.

»Schläfst du hier?« fragte er.

»Wenn es nicht zu teuer ist …«

Er führte sie in den Speisesaal, in den er, wenn er allein war, keinen Fuß setzte, weil er so nüchtern wirkte und weil dort nur im Flüsterton gesprochen wurde.

»Wie hast du meine Adresse ausfindig gemacht?«

»Ich war im Palais du Justice, beim Richter. Er wußte nicht, daß du dich mit dem Fall befaßt.«

Maigret sagte nichts, er verzog nur das Gesicht. Er stellte sich die lange Litanei seiner Schwägerin vor: »Sie verstehen doch, Herr Richter. Der Onkel meines Sohnes, Kriminalkommissar Maigret …«

»Und dann?« drängte er ungeduldig.

»Dann hat er mir die Adresse des Anwalts gegeben. In der Rue de Grenelle. Dort bin ich auch hingegangen.«

»Hast du da überallhin dein Gepäck mitgenommen?«

»Das hatte ich in der Gepäckaufbewahrung gelassen.«

Es war erschreckend. Wahrscheinlich hatte sie allen ihre Geschichte erzählt.

»Ich muß dir sagen, als das Foto in der Zeitung erschien, hat Emile sich nicht in sein Büro getraut.«

Emile war ihr Mann, der genauso kurzsichtige Augen hatte wie Philippe.

»Bei uns ist das nicht so wie in Paris. Das Gefängnis ist immer noch das Gefängnis. Die Leute sagen sich eben, kein Rauch ohne Feuer. Hat er denn wenigstens ein richtig bezogenes Bett?«

Sie aßen Sardinen und Rote-Bete-Salat, tranken dazu einen leichten, offenen Rotwein, und Maigret bemühte sich von Zeit zu Zeit vergebens, dem beherrschenden Thema dieses Mittagessens zu entrinnen.

»Du kennst ja Emile. Er ist sehr schlecht auf dich zu sprechen. Er behauptet, du bist schuld, daß Philippe zur Polizei gegangen ist, statt sich eine gute Stelle in einer Bank zu suchen. Ich hab ihm gesagt, daß es immer so kommt, wie es kommen muß. Ach übrigens, wie geht es deiner Frau? Machen ihr ihre Tiere nicht zuviel Arbeit?«

Es dauerte eine gute Stunde, denn nach dem Essen mußten sie schließlich noch Kaffee trinken, und Philippes Mutter wollte genau wissen, wie ein Gefängnis gebaut ist und wie die Leute dort behandelt werden. Sie saßen beide im Salon, als der Portier ihnen einen Herrn meldete, der Maigret sprechen wollte.

»Schicken Sie ihn herein!«

Er fragte sich, wer das wohl sein mochte, und war mehr als überrascht, als Kommissar Amadieu auftauchte, der verlegen Madame Lauer begrüßte.

»Die Mama von Philippe«, erklärte Maigret.

»Sollen wir in mein Zimmer hinaufgehen?«

Schweigend erklommen sie die Treppe. Sowie sie im Zimmer waren, hüstelte der Kommissar und entledigte sich seines Huts und seines Regenschirms, den er immer bei sich hatte.

»Ich dachte, ich würde Sie nach dem Verhör von heute morgen noch antreffen. Sie sind weggegangen, ohne etwas zu sagen.«

Maigret beobachtete ihn wortlos und begriff, daß Amadieu gekommen war, um Frieden zu schließen, konnte sich aber nicht dazu überwinden, ihm den ersten Schritt zu erleichtern.

»Sie wissen ja, diesen Leuten ist nur schwer beizukommen. Mir ist das klar geworden, als sie alle einander gegenübergestellt wurden.«

Um seine Unsicherheit zu überspielen, setzte er sich und schlug die Beine übereinander.

»Hören Sie, Maigret, ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich anfange, Ihre Auffassung zu teilen. Sie merken ja, daß ich es aufrichtig meine und keinen Groll hege.«

Seine Stimme klang jedoch nicht ganz natürlich, und Maigret spürte, daß das eine einstudierte Rolle war und daß sein Gesprächspartner diesen Schritt nicht von sich aus unternommen hatte. Nach den Verhören vom Vormittag hatte vermutlich ein vertrauliches Gespräch zwischen dem Direktor der Kriminalpolizei und dem Kommissar stattgefunden, bei dem der Direktor Maigrets Meinung vertreten hatte.

»Jetzt frage ich Sie: Was sollen wir tun?« erkundigte sich Amadieu feierlich.

»Tja, keine Ahnung.«

»Brauchen Sie vielleicht meine Leute?«

Dann wurde er plötzlich redselig:

»Ich werde Ihnen sagen, was ich davon halte. Ich habe nämlich, während ich unsere Kämpen vernommen habe, viel nachgedacht. Sie wissen doch, als Pepito ermordet wurde, lag ein Vorführungsbefehl gegen ihn vor. Wir hatten erfahren, daß sich im ›Floria‹ angeblich beachtliche Mengen Rauschgift befinden sollen. Gerade weil ich verhindern wollte, daß man es fortschafft, habe ich für die Zeit bis zur Festnahme, die am frühen Morgen erfolgen sollte, einen Inspektor hingeschickt. Nun ja, das Zeug ist trotzdem verschwunden.«

Maigret schien nicht zuzuhören.

»Ich schließe daraus, daß wir, sobald wir das in die Hände bekommen, zugleich auch den Mörder haben. Ich hätte gute Lust, den Richter um einen Haussuchungsbefehl zu bitten und mich bei unserem Cageot umzusehen.«

»Das ist nicht nötig«, sagte Maigret seufzend. »Der Mann, der die Einzelheiten für die Gegenüberstellung von heute morgen festgelegt hat, der bewahrt bestimmt ein so kompromittierendes Paket nicht in seiner Wohnung auf. Der Schnee ist weder bei Cageot noch bei Eugène und auch bei keinem anderen unserer Freunde. Übrigens, was hat denn Louis über seine Gäste ausgesagt?«

»Er schwört, daß er Eugène nie gesehen und erst recht nie mit ihm Karten gespielt hat. Er meint, Audiat habe mehrmals bei ihm Zigaretten geholt, aber gesprochen hat er mit ihm nie. Na und Cageot, von dem hatte er wohl wie jeder am Montmartre schon mal den Namen gehört, aber persönlich gekannt hat er ihn nicht.«

»Sie haben sich natürlich auch nicht widersprochen?«

»Nicht ein einziges Mal. Sie warfen einander sogar amüsierte Blicke zu, als wäre dieses Verhör ein lustiges Spiel. Der Chef war wütend.«

Maigret konnte ein Lächeln kaum unterdrücken, denn Amadieu bestätigte ihm damit, daß er richtig vermutet hatte und daß der Sinneswandel des Kommissars dem Chef der Kriminalpolizei zu verdanken war.

»Man könnte ja einen Inspektor auf Cageot ansetzen«, nahm Amadieu, dem die Stille unangenehm war, das Gespräch wieder auf. »Aber er würde ihn abhängen, wann immer er will. Ganz abgesehen davon, daß er als Schützling hochgestellter Persönlichkeiten imstande wäre, noch eine Beschwerde gegen uns einzureichen.«

Maigret zog seine Uhr aus der Tasche und stierte sie ausdauernd an.

»Haben Sie eine Verabredung?«

»Ja, bald. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehen wir gemeinsam hinunter.«

Als er am Portier vorüberkam, erkundigte sich Maigret nach seiner Schwägerin.

»Die Dame hat vor ein paar Minuten das Hotel verlassen. Sie hat mich gefragt, welchen Bus sie nehmen muß, um in die Rue Fontaine zu gelangen.«

Das sah ihr ähnlich! Sie wollte sich mit eigenen Augen den Ort anschauen, an dem ihr Sohn angeblich Pepito ermordet haben soll. Und sie würde auch hineingehen! Wahrscheinlich erzählte sie sogar den Kellnern ihre Geschichte!

»Trinken wir im ›Chope‹ einen Schluck, wenn wir schon mal hier sind?« schlug Maigret vor.

Sie setzten sich in eine Ecke und bestellten einen alten Armagnac.

»Sie müssen zugeben«, wagte sich Amadieu, an seinem Schurrbart zupfend, aus der Reserve, »daß man in einem Fall wie diesem unmöglich Ihre Methode anwenden kann. Ich hab mich vorhin mit dem Chef darüber unterhalten.«

Wahrhaftig, der Chef interessierte sich sehr für diese Affäre!

»Was nennen Sie meine Methode?«

»Das wissen Sie besser als ich. Für gewöhnlich mischen Sie sich in das Privatleben der Leute ein; Sie kümmern sich mehr um ihre Mentalität und sogar um das, was ihnen zwanzig Jahre vorher widerfahren ist, als um handfeste Indizien. Hier haben wir es mit Galgenvögeln zu tun, von denen wir fast alles wissen. Sie versuchen nicht einmal, einem etwas vorzumachen. Unter vier Augen würde Cageot kaum leugnen, einen Mord begangen zu haben.«

»Er hat ja gar nicht geleugnet.«

»Also, was werden Sie jetzt tun?«

»Und Sie?«

»Für den Anfang werde ich rund um sie herum ein Netz spannen, das liegt nahe. Ab heute abend wird jeder von ihnen beschattet. Sie müssen doch irgendwo hingehen, mit Leuten reden. Die verhören wir dann ebenfalls, und …«

»… in sechs Monaten sitzt Philippe noch immer.«

»Sein Anwalt will einen Antrag auf vorläufige Freilassung stellen. Da ihm nur fahrlässige Tötung zur Last gelegt wird, dürfte er damit sicher durchkommen.«

Maigret spürte seine Müdigkeit nicht mehr.

»Noch mal dasselbe?« schlug Amadieu vor und zeigte dabei auf die Gläser.

»Gern.«

Armer Amadieu! Wie jämmerlich mußte er sich in dem Moment gefühlt haben, in dem er den Salon des Hotels betreten hatte! Mittlerweile hatte er Zeit gehabt, seine Fassung wiederzufinden, und er schützte ein Selbstvertrauen vor, das er nicht besaß. Er sprach sogar mit einer gewissen Unbekümmertheit über die Angelegenheit.

»Ich frage mich übrigens«, fügte er nach einem Schluck Armagnac hinzu, »ob Cageot den Mord selbst begangen hat. Ich habe viel über Ihre Theorie nachgedacht. Vielleicht hat er Audiat schießen lassen. Er selbst könnte ja auf der Straße Schmiere gestanden haben …«

»Audiat wäre nicht zurückgekommen, um meinen Neffen anzurempeln und Alarm zu schlagen. Der läßt sich zwar schnell mitreißen, fällt aber ebenso schnell wieder um. Er ist nur ein dreckiger kleiner Gauner ohne Format.«

»Und Eugène?«

Maigret zuckte die Schultern, nicht etwa, weil er Eugène für so harmlos hielt, sondern weil er Hemmungen gehabt hätte, ihm etwas anzuhängen. Das war schwer zu begreifen. Es hatte etwas mit Fernande zu tun.

Im übrigen war Maigret kaum bei der Sache. Mit dem Bleistift zog er auf der Marmorplatte des Tisches Linien, die nichts zu bedeuten hatten. Es war warm. Der Armagnac versetzte ihn in eine angenehme Stimmung und gab ihm das Gefühl, daß die ganze aufgestaute Müdigkeit nach und nach verflog.

Lucas, der in Begleitung eines jungen Inspektors eintrat, stutzte, als er die beiden Kommissare Seite an Seite an einem Tisch sitzen sah, und Maigret zwinkerte ihm quer durch die Gaststube zu.

»Kommen Sie nicht mit ins ›Haus‹?« erkundigte sich Amadieu. »Dann könnte ich Ihnen das Protokoll der Verhöre zeigen.«

»Wozu denn?«

»Was haben Sie vor?«

Das nagte an ihm. Was mochte sich nur hinter Maigrets eigensinniger Stirn verbergen? Schon hatte sich seine Herzlichkeit eine Spur abgekühlt.

»Wir dürfen uns nicht gegenseitig um den Erfolg unserer Bemühungen bringen. Der Chef ist der gleichen Meinung wie ich, und er hat mir geraten, mich mit Ihnen zu einigen.«

»Na, sind wir uns denn nicht einig?«

»Worüber?«

»Darüber, daß Cageot Pepito ermordet hat und daß er es wahrscheinlich auch war, der vierzehn Tage vorher Barnabé ermordet hat.«

»Daß wir uns darüber einig sind, reicht aber nicht, um ihn festzunehmen.«

»Natürlich nicht.«

»Also?«

»Also nichts. Oder vielmehr, ich bitte Sie um eins. Sie kriegen doch von Richter Gastambide leicht einen Haftbefehl auf den Namen Cageot, nicht wahr?«

»Und dann?«

»Dann möchte ich, daß ständig ein Inspektor mit diesem Haftbefehl in der Tasche am Quai des Orfèvres ist. Es reicht, wenn er damit zu mir kommt, sobald ich ihn anrufe.«

»Wohin soll er kommen?«

»Dorthin, wo ich dann gerade sein werde. Noch besser wäre es, wenn er statt eines Haftbefehls gleich mehrere hätte. Man kann ja nie wissen.«

Amadieus langes, bleiches Gesicht war noch länger geworden.

»Sehr gut«, sagte er trocken. »Ich rede mit dem Direktor darüber.«

Er rief den Kellner und bezahlte eine der beiden Runden. Daraufhin knöpfte er sehr umständlich seinen Mantel zu und wieder auf und hoffte, Maigret würde sich endlich dazu entschließen, die Katze aus dem Sack zu lassen.

»Nun denn! Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.«

»Danke, sehr freundlich von Ihnen.«

»Wann, glauben Sie, wird es soweit sein?«

»Vielleicht schon bald. Vielleicht erst morgen früh. Wissen Sie, ich glaube, es ist besser, wenn die Sache morgen früh über die Bühne geht …«

In dem Moment, in dem sein Begleiter sich auf den Weg machte, fiel ihm noch etwas ein.

»Übrigens, danke für Ihren Besuch!«

»Das war doch selbstverständlich.«

Kaum war er allein, da bezahlte er die zweite Runde und blieb noch einen Augenblick bei Lucas und dessen jungem Kollegen stehen.

»Was Neues, Chef?«

»Fast. Wo kann ich dich denn morgen früh, so gegen acht, erreichen?«

»Ich werd am Quai des Orfèvres sein. Wenn Ihnen das lieber ist, kann ich auch hierherkommen.«

»Bis morgen, hier!«

Draußen hielt Maigret ein Taxi an und ließ sich in die Rue Fontaine bringen. Die Nacht brach herein. In den Schaufenstern gingen die lichter an. Als sie am ›Tabac Fontaine‹ vorbeikamen, ließ er den Wagen langsamer fahren.

In dem kleinen Bistro saß das träge junge Mädchen an der Kasse, der Wirt stand hinter der Theke, und der Kellner wischte gerade die Tische ab. Aber es waren weder Audiat noch Eugène oder der Marseiller da.

»Was werden sie heute abend schimpfen, daß sie ihre Partie Belote nicht spielen können!«

Gleich danach hielt das Taxi vorm ›Floria‹. Maigret ließ es warten und stieß die nur angelehnte Tür auf.

Es war die Zeit, in der das Lokal geputzt wurde. Eine einzige Lampe war eingeschaltet und warf schummeriges Licht auf die rot und grün gestrichenen Wände. Auf den rauhen Tischen lagen noch keine Tischtücher, und die Musikinstrumente auf der Bühne steckten noch in ihren Schutzhüllen.

Das Ganze wirkte armselig und trostlos. Hinten war die Tür zum Büro offen, und Maigret nahm die halb verdeckten Umrisse einer Frau wahr. Er ging an einem Kellner vorbei, der fegte, und stand plötzlich in grellem Licht.

»Du bist da?« wunderte sich seine Schwägerin.

Sie war rot geworden und sah verlegen aus.

»Ich wollte sehen, wo … wie …«

Ein junger Mann lehnte mit dem Rücken an der Wand und rauchte eine Zigarette. Es war Monsieur Albert, der neue Besitzer des ›Floria‹, oder, genauer gesagt, Cageots neuer Strohmann.

»Dieser Herr ist sehr liebenswürdig gewesen …«, stammelte Madame Lauer.

»Ich wollte, ich hätte mehr tun können«, entschuldigte sich der junge Mann. »Madame hat mir erzählt, sie sei die Mama des Polizisten, der Pepito erschossen hat … Das heißt, den man des Mordes beschuldigt. Ich, ich weiß von nichts. Ich habe das Lokal erst am nächsten Tag übernommen.«

»Noch einmal vielen Dank, Monsieur. Ich sehe schon, Sie begreifen, was das heißt, eine Mutter zu sein …«

Sie rechnete damit, daß Maigret ihr eine Szene machen würde. Als er sie in das wartende Taxi einsteigen ließ, redete sie, nur um zu reden.

»Du hast einen Wagen genommen. Dabei gibt es einen sehr guten Bus … Du kannst ruhig deine Pfeife rauchen … Ich bin daran gewöhnt …«

Maigret nannte die Adresse des Hotels, dann, während der Fahrt, begann er plötzlich seltsam vergnügt:

»Weißt du, was wir heute tun werden! Wir haben einen langen Abend vor uns. Morgen früh müssen wir in Form sein, mit ruhigen Nerven und bei klarem Verstand. Wenn du willst, gehen wir ins Theater.«

»Ins Theater, während Philippe im Gefängnis sitzt?«

»Pah, das ist seine letzte Nacht dort.«

»Hast du etwas herausbekommen?«

»Noch nicht. Laß mich nur machen! Das Hotel ist so öd, und wir haben nichts zu tun.«

»Eigentlich wollte ich ja bei der Gelegenheit Philippes Zimmer aufräumen!«

»Er würde nur sauer sein. Ein junger Mann hat das nicht so gern, wenn seine Mutter in seinen Sachen herumstöbert.«

»Glaubst du, Philippe hat ein Verhältnis?«

Ihre ganze Provinz schlug ihm aus diesen Worten entgegen, und Maigret drückte ihr einen Kuß auf die Wange.

»Aber nein, altes Haus! Leider hat er keins. Philippe ist das völlige Ebenbild seines Papas.«

»Ich bin nicht sicher, ob Emile nicht vor der Ehe …«

War das nicht wie ein Bad in reinem Quellwasser? Im Hotel angekommen, ließ Maigret zwei Karten für das Palais Royal zurücklegen, dann, ehe es Zeit für das Abendessen wurde, schrieb er einen Brief an seine Frau. Er schien den Mord an Pepito und die Verhaftung seines Neffen vergessen zu haben.

»Wir beide machen heute einen drauf!« kündigte er seiner Schwägerin an. »Wenn du schön brav bist, dann zeig ich dir sogar das ›Floria‹ in vollem Betrieb.«

»Dafür bin ich nicht richtig angezogen!«

Er hielt sein Wort. Nach einem gepflegten Mahl in einem Restaurant an den Boulevards – er hatte nicht im Hotel essen wollen – ging er mit seiner Schwägerin ins Theater, und er sah mit Vergnügen, daß sie bei den Verwechslungsszenen des Lustspiels doch lachen mußte.

»Also wirklich, zu was du mich anstiftest, ich schäme mich direkt«, sagte sie dennoch in der Pause seufzend. »Wenn Philippe wüßte, wo seine Mutter jetzt ist!«

»Und Emile erst! Vorausgesetzt, er macht nicht gerade dem Dienstmädchen den Hof.«

»Das arme Ding ist schon fünfzig.«

Schwieriger war es, sie dazu zu überreden, das ›Floria‹ zu betreten, denn schon der neonbeleuchtete Eingang des Nachtlokals erschreckte sie. Maigret führte sie an einen Tisch in der Nähe der Bar und ging ganz dicht an Fernande vorbei, die mit Eugène und dem Marseiller hier war. Wie zu erwarten war, lächelte man da oder dort beim Anblick der biederen Frau, die der ehemalige Kommissar durch den Saal lotste.

Und Maigret war begeistert! Man hätte meinen können, das sei genau das gewesen, was er brauchte! Wie ein wackerer Provinzler, der einmal über die Stränge schlägt, bestellte er Champagner.

»Ich werde einen Schwips kriegen!« zierte sich Madame Lauer.

»Um so besser!«

»Weißt du, daß es das erste Mal ist, daß ich einen solchen Ort betrete?«

Sie war wirklich eine Wonne! Ein Wunder an Moral und Gesundheit!

»Wer ist denn diese Frau, die dich dauernd anschaut?«

»Das ist Fernande, eine Freundin von mir.«

»Wenn ich meine Schwester wäre, hätte ich keine ruhige Minute, die scheint ja in dich verliebt zu sein.«

Das stimmte und auch wieder nicht. Fernande blickte Maigret wirklich sonderbar an, als bedauerte sie, daß sie nicht mehr so vertraut miteinander waren. Aber gleich darauf hängte sie sich an Eugènes Arm und begann übertrieben auffällig mit ihm zu schäkern.

»Die ist aber mit einem sehr hübschen Mann hier!«

»So ein Jammer, daß dieser hübsche Mann morgen im Gefängnis landet.«

»Was hat er denn angestellt?«

»Das ist einer der Banditen, die daran schuld sind, daß Philippe verhaftet wurde.«

»Der?«

Sie konnte es nicht fassen. Und das wurde noch schlimmer, als Cageot, wie jeden Abend, seinen Kopf durch den Vorhang steckte, um festzustellen, wie die Geschäfte liefen.

»Hast du den Herrn dort bemerkt, der wie ein Anwalt aussieht?«

»Den Grauhaarigen?«

»Ja. Aber Vorsicht! Versuch jetzt nicht zu schreien! Das ist der Mörder.«

Maigrets Augen lachten, sie lachten so, als wären ihm Cageot und die anderen schon auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und nun lachte er sogar lauthals, so daß Fernande sich erstaunt umdrehte, die Stirn runzelte und unruhig und sehr nachdenklich wurde.

Etwas später suchte sie den Waschraum auf und warf im Vorbeigehen Maigret einen vielsagenden Blick zu, worauf er sich ebenfalls erhob und ihr folgte.

»Haben Sie schon etwas herausgekriegt?« fragte sie beinahe bissig.

»Und du?«

»Nichts. Sie sehen es ja selbst. Wir machen uns einen netten Abend.«

Sie beobachtete Maigret verstohlen und fragte nach einer Pause:

»Wird er festgenommen?«

»Nicht sofort.«

Ungeduldig klapperte sie mit ihren hohen Absätzen auf dem Boden.

»Die große Liebe?«

Doch da stöckelte sie schon wieder davon und bemerkte nur:

»Weiß ich noch nicht.«

Madame Lauer schämte sich, weil sie erst um zwei Uhr morgens schlafen ging, während Maigret, kaum daß er im Bett lag, in tiefen Schlaf versank und schnarchte, wie er seit Tagen nicht mehr geschnarcht hatte.