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Mit dem Eifer eines Schülers zeichnete Maigret ein Rechteck, und irgendwo in diesem Rechteck machte er ein kleines Kreuz. Dann hielt er den Kopf ein wenig schief, betrachtete sein Werk und verzog das Gesicht. Das Rechteck sollte das ›Floria‹ sein, das Kreuz stand für Pepito. An einer Seite des Rechtecks fügte er noch ein kleineres an: das Büro. Und in diesem Büro stellte schließlich ein Punkt die Pistole dar.

Das führte zu nichts. Es sagte nichts aus. Die Sache war kein geometrisches Problem. Dennoch verbohrte sich Maigret in diese Idee, knüllte sein Papier zu einer Kugel zusammen und begann auf einem anderen erneut zu zeichnen.

Nur dachte er mittlerweile nicht mehr über die Bedeutung der Rechtecke und Kreuzchen nach. Er hielt den Kopf immer noch schief und sah sehr beschäftigt aus, während er versuchte, da oder dort Bruchstücke einer Unterhaltung aufzuschnappen, einen Blick zu erhaschen oder aus dem Verhalten mancher Gäste etwas herauszulesen.

Er saß allein an seinem ehemaligen Stammplatz hinten im ›Chope du Pont-Neuf‹. Es war zu spät, sich zu fragen, ob es vernünftig gewesen war, herzukommen oder nicht. Alle hatten ihn bereits gesehen. Der Wirt hatte ihn mit einem Händedruck begrüßt.

»Was machen denn die Hühner und die Hasen?«

Maigret saß neben dem Fenster und hatte den im Sonnenschein rosa schimmernden Pont Neuf, die stattliche Treppe des Palais de Justice sowie den Eingang zum Untersuchungsgefängnis im Blick. Der Wirt der Brasserie, mit einer weißen Serviette über dem Arm und mit freudestrahlendem Gesicht, hatte gemeint, besonders liebenswürdig zu sein, als er hinzufügte:

»Na, zufrieden? Haben Sie sich mal aufgerafft, den alten Freunden einen Besuch abzustatten?«

Die Inspektoren der Verkehrspolizei und der Fremdenpolizei waren ihrer Gewohnheit treu geblieben und spielten im ›Chope‹ eine Partie Belote, bevor sie sich auf den Weg machten. Es waren neue dabei, die Maigret nicht kannte, und die anderen begannen, nachdem sie ihn begrüßt hatten, mit ihren Kollegen zu tuscheln.

Da hatte er sich daran gemacht, sein erstes Rechteck und sein erstes Kreuz zu zeichnen. Die Stunden waren verstrichen. Zur Zeit des Aperitifs hielt sich in der Gaststube etwa ein Dutzend Leute aus dem »Haus« auf, wie sie das Palais de Justice zu nennen pflegten. Der gute Lucas, der Hunderte von Malen mit dem Kommissar zusammengearbeitet hatte, war ein wenig verlegen an seinen Tisch gekommen.

»Wie geht’s Ihnen denn, Chef? Schnuppern Sie wieder mal Pariser Luft?«

Und Maigret brummte nur zwischen zwei Rauchwolken aus seiner Pfeife:

»Was erzählt Amadieu?«

Man brauchte ihm nichts vorzumachen. Er sah doch die Gesichter, und er kannte die Kriminalpolizei gut genug, um zu ahnen, was los war. Es war schon Mittag, und Philippe war noch immer nicht im ›Chope‹ aufgetaucht.

»Sie wissen ja, wie Kommissar Amadieu ist. In letzter Zeit haben wir ein paar Scherereien gehabt. Es klappt nicht so recht mit der Staatsanwaltschaft. Da …«.

»Was hat er gesagt?«

»Daß Sie hier sind, natürlich. Daß Sie versuchen wollen …«

»Ich kenne ja sein Gerede: Er hat sicher gesagt, daß ich mich als Schlaukopf aufspielen will.«

»Ich muß wieder weg«, stammelte Lucas, der bereits die Fassung verlor.

Und Maigret bestellte noch ein Bier. Er vertiefte sich wieder in seine Rechtecke, während man an den meisten Tischen über ihn redete.

Er verzehrte sein Mittagessen am selben Platz, der jetzt in der Sonne lag. Nicht weit von ihm entfernt aß der Fotograf vom Erkennungsdienst. Mit dem Bleistift in der Hand sagte sich Maigret beim Kaffee immer wieder vor:

»Pepito war hier, zwischen zwei Tischreihen. Der Mörder hatte sich irgendwo versteckt. An Schlupfwinkeln fehlt es ja nicht. Er schoß, ohne zu wissen, daß dieser Idiot von Philippe da war, dann ging er ins Büro, wo er irgend etwas holen wollte. Er hatte gerade seine Pistole auf den Tisch gelegt, als er plötzlich Geräusche hörte und wieder verschwinden wollte. Von da an, kann man sagen, haben die beiden miteinander Versteck gespielt …«

Das war nichts Besonderes. Es erübrigte sich, nach einer anderen Erklärung zu suchen. Der Mörder war schließlich ungesehen zur Tür gelangt und hatte die Straße erreicht, während Philippe drinnen zurückblieb.

Bis dahin war daran nichts Ungewöhnliches. Der erstbeste Dummkopf hätte dasselbe getan. Entscheidender war das, was folgte: der Einfall, dafür zu sorgen, daß jemand Philippe erkannte und gegen ihn aussagen würde.

Kurz danach war dieser Plan in die Tat umgesetzt. Der Mörder hatte mitten in der Nacht, vermutlich in einer unbelebten Straße, den richtigen Mann gefunden. Der rempelte am Ausgang den Polizisten an und stürzte zu dem Schutzmann, der an der Place Blanche auf Posten stand.

»Hören Sie, Herr Wachtmeister, ich hab da eben einen Kerl gesehen, der aus dem ›Floria‹ rauskam wie einer, der was ausgefressen hat. Er hat es so eilig gehabt, daß er nicht einmal mehr die Tür zugemacht hat.«

Auch ohne daß er seine ehemaligen Kollegen beobachtete, die in der Gaststube ihr Bier tranken, war sich Maigret darüber im klaren, daß die älteren den jüngeren zuflüsterten:

»Du hast doch von Kommissar Maigret reden hören? Dort sitzt er!«

Und Amadieu, der ihn nicht mochte, hatte sicher auf den Gängen der Kriminalpolizei ausposaunt:

»Er versucht sich als Schlaukopf aufzuspielen. Aber wir werden ja sehen!«

Um vier Uhr war Philippe noch immer nicht da. Die Zeitungen kamen frisch aus der Druckerpresse und brachten Einzelheiten über die Affäre, einschließlich dessen, was der Inspektor gestanden hatte. Noch etwas, was auf das Konto von Amadieu ging.

Am Quai des Orfèvres herrschte gewiß Aufregung. Man telefonierte, wälzte Akten und verhörte Zeugen und Polizeispitzel.

Maigrets Nasenflügel bebten, wenn er nur daran dachte. Er hockte auf der gepolsterten Sitzbank und zeichnete geduldig mit seinem Bleistift vor sich hin.

Koste es, was es wolle, er mußte Pepitos Mörder finden. Dabei fehlte ihm der nötige Schwung, er hatte Angst und fragte sich, ob es ihm gelingen würde. Er belauerte die jungen Inspektoren und hätte gern gewußt, was sie von ihm hielten.

Erst um Viertel vor sechs traf Philippe ein und blieb einen Moment lang, wie vom Licht geblendet, in der Gaststube stehen. Als er sich neben Maigret setzte, versuchte er zu lächeln und sagte stockend:

»Es hat lange gedauert!«

Er war so erschöpft, daß er sich mit der Hand über die Stirn strich, als wollte er damit seine Gedanken sammeln.

»Ich komme direkt von der Staatsanwaltschaft. Der Untersuchungsrichter hat mich eineinhalb Stunden lang verhört. Aber vorher hat er mich zwei Stunden auf dem Flur warten lassen.«

Man beobachtete sie, und während Philippe redete, starrte Maigret angelegentlich zurück.

»Wissen Sie, Onkel, die Sache ist viel ernster, als wir gedacht haben.«

In jedem Wort klangen für Maigret zahlreiche Erinnerungen an. Er kannte Richter Gastambide: ein kleiner, gewissenhafter, mißtrauischer Baske, der seine Worte abwog, seinen nächsten Satz minutenlang überlegte und ihn dann hervorstieß, als wollte er fragen:

»Was haben Sie dazu zu sagen?«

Und er kannte den Flur, dort oben, auf dem sich von Gendarmen flankierte Angeklagte drängten, ungeduldige Zeugen auf den Bänken hockten und Frauen sich die Augen ausweinten. Wenn man Philippe hatte warten lassen, dann war das Absicht gewesen.

»Der Richter hat mich darum gebeten, daß ich mich vor Abschluß der Untersuchung mit keinem Fall mehr beschäftige und auch sonst nichts unternehme. Ich soll mich als beurlaubt betrachten und zu seiner Verfügung halten.«

Im ›Chope du Pont-Neuf‹ herrschte Hochbetrieb. Es war die Zeit des abendlichen Aperitifs. Alle Tische waren besetzt. In Schwaden stieg der Rauch von Pfeifen und Zigaretten auf. Hin und wieder grüßte ein Neuankömmling von weitem Maigret.

Philippe traute sich nicht, irgend jemanden anzusehen, nicht einmal seinen Begleiter.

»Es tut mir so leid, Onkel.«

»Was ist sonst noch passiert?«

»Man dachte, das ›Floria‹ würde seine Pforten schließen, wenigstens für ein paar Tage. Aber dem ist nicht so. Es hat heute eine Reihe von Telefongesprächen und recht undurchsichtige Vermittlungsversuche gegeben. Anscheinend ist das ›Floria‹ vor zwei Tagen verkauft worden und gehörte gar nicht mehr Pepito. Der neue Besitzer hat ich weiß nicht welche Beziehungen spielen lassen, und heute abend wird das Nachtlokal wie gewöhnlich geöffnet sein.«

Maigret hatte die Stirn gerunzelt. Lag es an dem, was er soeben gehört hatte, oder daran, daß Kommissar Amadieu gerade mit einem Kollegen das Bistro betrat und auf der anderen Seite Platz nahm?

»Godet?« rief Maigret plötzlich laut.

Godet war ein Inspektor des Sittendezernats, der drei Tische weiter Karten spielte. Er wandte sich um, behielt seine Karten in der Hand und zögerte.

»Wenn du mit deiner Partie fertig bist!«

Der ehemalige Kommissar zerknüllte all seine Zettel und warf sie auf den Boden. Dann trank er sein Bier in einem Zug aus, wischte sich den Mund ab und schaute zu Amadieu hinüber.

Der hatte ihn gehört. Von weitem beobachtete er die Szene, während er Wasser in seinen Pernod goß. Endlich kam Godet näher, ein bißchen unsicher und zugleich neugierig.

»Sie wollen mich sprechen, Herr Kommissar?«

»Guten Abend, mein Lieber!« sagte Maigret und drückte ihm die Hand. »Ich will nur eine kleine Auskunft von dir. Bist du immer noch bei der Sitte? Gut! Kannst du mir sagen, ob Cageot heute morgen bei euch aufgetaucht ist?«

»Moment mal, ja, ich glaub, er ist so gegen elf gekommen.«

»Danke.«

Das war alles! Maigret schaute Amadieu an. Amadieu schaute Maigret an. Und jetzt fühlte sich Amadieu unbehaglich, wogegen Maigret ein Lächeln unterdrückte.

Philippe wagte nicht, sich einzumischen. Das war zu hoch für ihn. Dieses Spiel überstieg seinen Verstand, und er begriff nicht einmal die Spielregeln.

»Godet!« rief eine Stimme.

Diesmal zuckten in der Gaststube alle, die dem »Haus« angehörten, zusammen und beobachteten, wie der Inspektor, mit seinen Spielkarten in der Hand, erneut aufstand und zu Kommissar Amadieu ging.

Man brauchte gar nicht zu hören, was gesprochen wurde. Es war klar. Amadieu erkundigte sich:

»Was hat er dich gefragt?«

»Ob ich heute morgen Cageot gesehen habe.«

Maigret steckte seine Pfeife an, ließ das Streichholz ganz abbrennen, erhob sich und rief dabei:

»Garçon!«

Zu voller Größe aufgerichtet wartete er auf das Wechselgeld und blickte dabei gleichgültig in die Runde.

»Wo gehen wir hin?« wollte Philippe wissen, als sie draußen standen.

Maigret wandte sich zu ihm um, als wunderte er sich über seine Anwesenheit.

»Du gehst jetzt schlafen«, sagte er.

»Und Sie, Onkel?«

Maigret zuckte die Schultern, steckte die Hände in die Taschen und stapfte, ohne zu antworten, davon. Er hatte einen der widerlichsten Tage seines Lebens hinter sich. Stundenlang hatte er in einer Ecke gesessen und sich alt und schlapp gefühlt, ohne Tatkraft, ohne Ideen.

Das war nun überwunden. Ein Fünkchen Hoffnung war aufgestoben. Doch er mußte auf der Stelle Nutzen daraus ziehen.

»Wäre doch gelacht, verdammt noch mal!« knurrte er, um sich selbst den Rücken zu stärken.

Sonst las er um diese Zeit beim Schein der Petroleumlampe seine Zeitung und streckte die Füße an den Kamin.

»Kommen Sie oft nach Paris?«

Maigret, den Ellenbogen auf die Bar vom ›Floria‹ gestützt, schüttelte den Kopf und sagte bloß:

»Hm, von Zeit zu Zeit …«

Seine gute Laune war zurückgekehrt, eine gute Laune, die sich allerdings nicht in einem lächelnden Gesicht offenbarte, sondern darin, daß ihm innerlich wohl war. Er besaß die Fähigkeit, sich stillvergnügt zu amüsieren, ohne etwas von seinem zur Schau getragenen Ernst einzubüßen. Eine Frau saß neben ihm. Sie hatte ihn aufgefordert, sie zu einem Drink einzuladen, und er war damit einverstanden gewesen.

Zwei Jahre früher wäre einer aus ihrem Gewerbe nie und nimmer ein solcher Fehler unterlaufen. Das lag allerdings nicht an seinem Mantel mit dem Samtkragen, an seinem schwarzen Anzug aus unverwüstlichem Kammgarn und auch nicht an seiner billigen Fertigkrawatte. Wenn sie ihn für einen Provinzler hielt, der mal über die Stränge schlagen möchte, dann mußte er sich verändert haben.

»Hier ist doch etwas passiert, nicht wahr?« fragte er brummig.

»Der Patron ist letzte Nacht umgebracht worden.«

Sie schätzte auch seinen Blick falsch ein, der ihr ein wenig glasig vorkam. Es war weitaus vielschichtiger, als sie dachte. Maigret war in eine Welt zurückgekehrt, die er vor langem verlassen hatte. Diese junge Frau etwa, an der nichts Besonderes war, die kannte er, ohne sie zu kennen. Sicher war sie nicht ordnungsgemäß bei der Präfektur registriert, und in ihrem Paß stand bestimmt Schauspielerin oder Tänzerin. Und für den chinesischen Barkeeper, der sie bediente, hätte Maigret einen Steckbrief ausschreiben können. Nur die Garderobenfrau hatte sich nicht in ihm getäuscht. Sie hatte ihn mit einem gewissen Unbehagen begrüßt und sofort ihr Gedächtnis durchforscht.

Unter den Kellnern waren mindestens zwei, die Maigret einst in sein Büro vorgeladen hatte. Es war damals um ähnliche Geschichten gegangen wie jetzt beim Mord an Pepito.

Er hatte einen Branntwein mit Wasser bestellt. Versonnen sah er in den Saal, und unwillkürlich zeichnete er, wie auf dem Papier, in Gedanken seine Kreuze ein. Gäste, die in den Zeitungen etwas über den Fall gelesen hatten, wollten Näheres erfahren, und die Kellner gaben bereitwillig Auskunft. Sie zeigten ihnen die Stelle neben dem fünften Tisch, an der man die Leiche gefunden hatte.

»Trinken Sie eine Flasche Champagner mit mir?«

»Nein, Kleines.«

Beinahe hätte die Frau ihn durchschaut, sie war sich zumindest ihrer Sache nicht mehr so sicher, während Maigret mit den Augen den neuen Inhaber verfolgte, einen jungen, blonden Mann, von dem er wußte, daß er einmal Geschäftsführer eines Tanzlokals am Montparnasse gewesen war.

»Bringen Sie mich nach Hause?«

»Aber ja! Später.«

Doch vorerst suchte er den Waschraum auf und konnte sich leicht denken, wo Philippe sich versteckt hatte. Hinter dem Saal entdeckte er das Büro, dessen Tür halb offen stand. Aber das interessierte ihn nicht. Mit der Kulisse war er schon vertraut gewesen, noch ehe er einen Fuß in die Rue Fontaine gesetzt hatte. Mit den Komparsen auch. Bei einem Rundgang durch das Lokal hätte er über jeden einzelnen etwas sagen können.

»Die beiden an diesem Tisch hier sind Jungvermählte aus dem Süden, die einmal so richtig einen draufmachen wollen. Der schon angetrunkene arme Tropf dort ist ein Deutscher, der morgen früh sein Portemonnaie vermissen wird. Etwas weiter, der Eintänzer, der ist vorbestraft und hat kleine Tüten mit Heroin in seinen Taschen. Er steckt unter einer Decke mit dem Maître d’hôtel, der drei Jahre Zuchthaus abgesessen hat. Die rundliche Brünette ist zehn Jahre im ›Maxim’s‹ gewesen und beendet ihre Karriere nun am Montmartre …«

Er kehrte an die Bar zurück.

»Krieg ich noch einen Cocktail?« fragte die Frau, der er schon etwas zu trinken spendiert hatte.

»Wie heißt du?«

»Fernande.«

»Was hast du denn gestern abend gemacht?«

»Ich war mit drei jungen Leuten zusammen. Söhne aus gutem Haus, die Äther schnüffeln wollten. Sie haben mich in ein Hotel in der Rue Notre-Dame-de-Lorette mitgenommen …«

Maigret lächelte nicht, aber er hätte die Geschichte weitererzählen können.

»Wir sind zuerst nacheinander in die Apotheke in der Rue Montmartre gegangen, und jeder hat ein Fläschchen Äther gekauft. Ich wußte nicht genau, wie sich das abspielen sollte. Wir haben uns ausgezogen. Sie haben sich aber überhaupt nichts aus mir gemacht. Wir haben uns alle vier aufs Bett gelegt. Kaum hatten sie den Äther eingeatmet, da hat sich einer aufgesetzt und mit einer ganz komischen Stimme gesagt:

Oh, da hocken ja Engel auf dem Schrank. Wie niedlich die sind! Ich hol sie runter …

Er wollte aufstehen und ist auf dem Bettvorleger hingefallen. Mir ist von dem Geruch schlecht geworden. Ich hab sie gefragt, ob das alles war, was sie von mir wollten, und mich wieder angezogen. Ich hab trotzdem lachen müssen. Zwischen den zwei Gesichtern saß eine Wanze auf dem Kopfkissen. Ich hör jetzt noch die Stimme von dem einen, der wie im Traum gesagt hat:

Ich hab ’ne Wanze vor der Nase!

Ich auch, hat der andere mit einem Seufzer gesagt.

Sie rührten sich aber nicht. Sie schielten beide nur nach der Wanze.«

In einem Zug stürzte sie ihren Cocktail hinunter, dann erklärte sie:

»Die haben einen Stich gehabt!«

Dennoch wurde sie langsam unruhig.

»Sag mal, bleibst du die ganze Nacht bei mir?«

»Aber ja doch!« entgegnete Maigret.

Ein Vorhang trennte die Bar von der Eingangshalle, in der die Garderobe lag. Von seinem Platz aus konnte Maigret durch den Spalt im Vorhang hinaussehen. Plötzlich stieg er von seinem Hocker und ging ein paar Schritte. Eben war ein Mann eingetroffen, der der Garderobenfrau zuraunte:

»Gibt’s was Neues?«

»Guten Abend, Monsieur Cageot!«

Das hatte Maigret gesagt, die Hände in den Taschen seiner Jacke, die Pfeife im Mund. Der andere, der mit dem Rücken zu ihm stand, drehte sich langsam um, musterte ihn von Kopf bis Fuß und murrte:

»Ach, Sie sind hier!«

Hinter sich hatten sie einen roten Vorhang und Musik, vor sich die offene Tür, die auf die kalte Straße hinausführte, wo der Portier auf und ab schlenderte. Der Mann namens Cageot zögerte, seinen Mantel abzulegen.

Fernande, die sich Sorgen machte, steckte ihre Nase durch den Vorhang, zog sich aber sofort wieder zurück.

»Trinken Sie etwas?«

Cageot hatte endlich einen Entschluß gefaßt und gab seinen Mantel an der Garderobe ab, ohne Maigret dabei aus den Augen zu lassen.

»Wenn Sie wollen«, willigte der Kommissar ein.

Der Maître d’hôtel stürzte herbei und führte sie an einen freien Tisch. Ohne in die Weinkarte zu schauen, brummte der Neuankömmling:

»Mumm 26!«

Er war nicht in abendlicher Aufmachung, sondern trug einen dunkelgrauen, ebenso schlecht geschnittenen Anzug wie Maigret. Er war nicht einmal frisch rasiert, auf seinen Wangen sproß ein angegrauter Bart.

»Ich habe gedacht, Sie wären im Ruhestand.«

»Ich auch.«

Das sagte eigentlich nichts, und dennoch runzelte Cageot die Stirn. Er winkte das Mädchen mit den Zigarren und Zigaretten heran. An der Bar machte Fernande große Augen, und der junge Albert, der den Inhaber des Lokals mimte, fragte sich, ob er an ihren Tisch gehen sollte oder nicht.

»Eine Zigarre?«

»Nein, danke«, entgegnete Maigret und klopfte seine Pfeife aus.

»Bleiben Sie lange in Paris?«

»Bis der Mörder von Pepito hinter Schloß und Riegel ist.«

Sie redeten nicht laut. Neben ihnen amüsierten sich Herren im Smoking damit, Wattekugeln und Papierschlangen zu werfen. Der Saxophonist wanderte gemessenen Schritts mit seinem Instrument zwischen den Tischen herum.

»Hat man Sie wegen dieser Affäre zurückgerufen?«

Germain Cageot hatte ein langes, fahles Gesicht und buschige, schimmelgraue Augenbrauen. Er war der letzte, von dem man erwartet hätte, ihn an einer Vergnügungsstätte anzutreffen. Er sprach langsam, unterkühlt, und er lauerte bei jedem Wort darauf, wie es ankam.

»Ich bin hier, ohne daß man mich gerufen hätte.«

»Arbeiten Sie auf eigene Faust?«

»Sie sagen es.«

Man merkte ihnen nichts an. Selbst Fernande mußte gedacht haben, daß ihr Begleiter Cageot rein zufällig kannte.

»Wann haben Sie das Lokal gekauft?«

»Das ›Floria‹? Da sind Sie auf dem Holzweg. Es gehört Albert.«

»So, wie es Pepito gehört hat.«

Cageot leugnete nicht, er begnügte sich mit einem keineswegs fröhlichen Lächeln und hielt den Kellner zurück, der ihm gerade Champagner eingießen wollte.

»Und sonst?« erkundigte er sich in beiläufigem Ton, als suchte er nur nach einem Gesprächsthema.

»Was haben Sie für ein Alibi?«

Erneutes Lächeln, noch ausdrucksloser. Dann betete Cageot, ohne mit der Wimper zu zucken, sein Sprüchlein herunter:

»Ich bin abends um neun Uhr ins Bett gegangen. Ich hatte eine leichte Grippe. Die Concierge, die bei mir auch saubermacht, hat mir einen Grog hinaufgebracht und ihn mir am Bett serviert.«

Sie kümmerten sich beide nicht um den Lärm, der sie wie eine Mauer umgab. Daran waren sie gewöhnt. Maigret rauchte seine Pfeife, der andere eine Zigarre.

»Trinken Sie noch immer bloß Mineralwasser aus Pougues?« fragte Maigret, als sein Gesprächspartner ihm Champagner einschenkte.

»Ja, noch immer.«

Sie saßen einander wie Auguren gegenüber, ernst, ein wenig mißmutig, und eine junge, ahnungslose Frau versuchte von einem Nebentisch aus, ihnen Wattebällchen an die Nase zu werfen.

»Sie haben früh durchgesetzt, daß das Lokal wieder aufmachen durfte!« bemerkte Maigret zwischen zwei Rauchwolken.

»Ich bin im ›Haus‹ nach wie vor recht gut angesehen.«

»Sie wissen ja wohl, daß es einen jungen Mann gibt, der ganz dumm in diese Sache hineingeschlittert ist?«

»Ich hab in der Zeitung so etwas gelesen. Ein kleiner Polizist, der sich im Waschraum versteckt hatte und dann, als ihn die Angst packte, Pepito erschoß.«

Die Jazzband spielte weiter. Ein Engländer, der ebenso steif wie betrunken war, streifte Maigret und murmelte:

»Pardon.«

»Keine Ursache!«

Von der Bar aus betrachtete Fernande ihn mit besorgten Blicken. Maigret lächelte ihr zu.

»Die jungen Polizisten sind einfach unbesonnen«, stellte Cageot seufzend fest.

»Das habe ich meinem Neffen auch gesagt.«

»Ihr Neffe interessiert sich für solche Dinge?«

»Er ist ausgerechnet der Junge, der sich im Waschraum versteckt hatte.«

Cageot konnte nicht erbleichen, denn er war immer weiß wie Kreide. Doch er trank hastig einen Schluck Mineralwasser. Dann wischte er sich den Mund ab.

»Sein Pech, nicht wahr?«

»Genau das hab ich ihm auch gesagt.«

Fernande wies mit dem Kinn zur Uhr, die halb zwei anzeigte. Maigret machte ihr ein Zeichen, daß er gleich kommen würde.

»Auf Ihr Wohl!« sagte Cageot.

»Auf das Ihre!«

»Ist’s schön bei Ihnen auf dem Land? Man hat mir nämlich erzählt, Sie seien aufs Land gezogen.«

»Ja, es ist schön dort.«

»Der Winter in Paris ist nicht gut für die Gesundheit.«

»Ich habe mir dasselbe gedacht, wie ich von Pepitos Tod erfahren habe.«

»Lassen Sie das doch, ich bitte Sie!« protestierte Cageot, als sein Gegenüber die Brieftasche zückte.

Maigret legte trotzdem fünfzig Francs auf den Tisch, und, schon im Stehen, sagte er knapp:

»Bis bald!«

Er ging nur noch an der Bar vorbei und raunte Fernande zu:

»Komm!«

»Hast du schon bezahlt?«

Auf der Straße zögerte sie, nach seinem Arm zu greifen. Er hatte wie immer die Hände in den Taschen und machte bedächtige Schritte.

»Du kennst Cageot?« erkundigte sie sich schließlich, nachdem sie nun endgültig zum Du übergegangen war.

»Er stammt aus meiner Gegend.«

»Hör mal, nimm dich bloß in acht! Der Kerl ist nicht sauber. Ich sag dir das nur, weil du ein anständiger Mensch zu sein scheinst.«

»Warst du mit ihm im Bett?«

Darauf erwiderte Fernande, die für jeden Schritt von Maigret zwei machen mußte, schlicht und einfach:

»Der geht mit keiner ins Bett!«

Madame Maigret schlief längst, in Meung, in dem Haus, in dem es nach verbranntem Holz und Ziegenmilch roch. Philippe war letzten Endes auch eingeschlafen, im Zimmer seines Hotels in der Rue des Dames, wo er seine Brille auf den Nachttisch gelegt hatte.