5

Als Maigret gegen halb zwei Uhr die Tür zum ›Tabac Fontaine‹ aufmachte, kam der Wirt, der erst vor kurzem aufgestanden war, langsam eine Wendeltreppe herunter, die vom Hinterzimmer nach oben führte.

Er war nicht so groß, aber ebenso breit und ebenso dick wie der Kommissar. Man merkte ihm an, daß er gerade seine Morgentoilette gemacht hatte; die Haare waren mit Kölnisch Wasser angefeuchtet, und er hatte noch Reste von Rasierschaum unter den Ohrläppchen. Er trug weder Jacke noch falschen Kragen. Sein Hemd war blütenweiß, leicht gestärkt und wurde von einem Kragenknopf zusammengehalten.

Kaum hatte er seinen Platz hinter der Theke erreicht, da schob er mit einer achtlosen Handbewegung den Kellner beiseite, griff nach einer Flasche Weißwein und einem Glas, mischte den Wein mit Mineralwasser, legte den Kopf nach hinten und gurgelte.

Um diese Zeit waren fast nur Gäste da, die zufällig vorbeikamen und hastig einen Kaffee hinunterschütteten. Maigret war der einzige, der sich hingesetzt hatte, in der Nähe des Fensters. Ohne ihn zu bemerken, band sich der Wirt eine blaue Schürze um und wandte sich einem blonden Mädchen zu, das die Kasse bediente und sich um den Verkauf der Tabakwaren kümmerte.

Mit ihr sprach er nicht mehr als mit dem Kellner. Er machte die Registrierkasse auf, schaute in ein kleines Notizbuch und streckte sich, nun endgültig aufgewacht. Sein Tag begann, und das erste, was er bei der Inspektion seines Reichs wahrnahm, war Maigret, der ihn ruhig beobachtete.

Sie waren einander noch nie begegnet. Dennoch zog der Wirt die dichten, schwarzen Augenbrauen hoch. Man sah ihm an, daß er in seinem Gedächtnis kramte und nichts fand; mißmutig runzelte er die Stirn. Dabei ahnte er noch nicht, daß sein stiller Gast volle zwölf Stunden hierbleiben würde.

Zunächst ging Maigret an die Kasse und fragte das junge Mädchen:

»Kann ich einen Jeton für das Telefon haben?«

Die Kabine lag in der rechten Ecke des Bistros. Sie hatte nur eine Tür aus Milchglas, und Maigret, der spürte, daß der Wirt ihn belauerte, betätigte den Apparat so ungestüm, daß die Wählscheibe vibrierte. Gleichzeitig schnitt er mit der anderen Hand, in der er ein Taschenmesser hielt, das Kabel genau an der Stelle durch, an der es in der Wand verschwand, damit man nicht erkennen konnte, daß die Leitung unterbrochen war.

»Hallo! … Hallo! …« schrie er.

Mit entnervter Miene kam er aus der Kabine heraus.

»Ist Ihr Telefon gestört?«

Der Wirt schaute die Kassiererin an, und sie sagte verwundert:

»Vor ein paar Minuten ging es noch. Lucien hat nach den Croissants telefoniert. Nicht wahr, Lucien?«

»Das ist kaum eine Viertelstunde her«, bestätigte der Kellner.

Der Wirt hegte noch keinen Verdacht, trotzdem beobachtete er Maigret verstohlen. Dann betrat er selbst die Kabine und versuchte eine Verbindung herzustellen. Gut zehn Minuten lang probierte er hartnäckig herum, ohne die durchschnittene Leitung zu entdecken.

Maigret hatte ungerührt seinen Platz wieder eingenommen und bestellte ein Bier. Er wappnete sich mit Geduld. Er wußte ja schon, daß er stundenlang auf demselben Stuhl ausharren würde, an diesem kleinen, runden Tisch aus imitiertem Mahagoni, mit Blick auf die Zinktheke und die Kasse, an der das junge Mädchen Tabak und Zigaretten verkaufte.

Als der Wirt die Telefonkabine verließ, knallte er die Tür mit einem Fußtritt zu, stapfte zum Eingang und sog einen Moment lang geräuschvoll die Straßenluft ein. Er stand ganz dicht neben Maigret, der ihn nicht aus den Augen ließ, und da er diesen Blick schließlich spürte, drehte er sich mit einem Ruck um.

Der Kommissar zuckte nicht mit der Wimper. Wie ein Gast, der gleich wieder gehen würde, hatte er weder Mantel noch Hut abgelegt.

»Lucien! Flitz mal nach nebenan und ruf an, daß jemand herkommen und den Apparat reparieren soll.«

Der Kellner lief hinaus, seine schmutzige Serviette noch in der Hand, und der Wirt bediente selbst zwei Maurer, die gerade eintraten und wunderlich aussahen, weil sie von oben bis unten mit Gipsstaub bedeckt waren.

Die Ungewißheit dauerte noch etwa zehn Minuten. Als Lucien ankündigte, der Monteur würde erst am nächsten Tag kommen, da drehte sich der Wirt erneut nach Maigret um und knurrte zwischen den Zähnen:

»Saukerl!«

Das mochte dem abwesenden Monteur gegolten haben, doch ein gut Teil des Fluchs ging auch an die Adresse des Gastes, denn der Wirt hatte letzten Endes begriffen, daß er einen Polizisten vor sich hatte. Inzwischen war es halb drei Uhr geworden, und das war erst das Vorspiel zu einer endlos langen Komödie gewesen, die sonst keiner durchschaute. Der Wirt hieß Louis. Gäste, die ihn kannten, schüttelten ihm die Hand und wechselten ein paar Worte mit ihm. Louis bediente nur selten selbst. Meistens blieb er im Hintergrund, hinter seiner Theke, zwischen dem Kellner und dem jungen Mädchen mit den Zigaretten.

Und über die Köpfe hinweg beobachtete er Maigret ganz genau. Dabei tat er sich nicht mehr Zwang an als der Kommissar. Das hätte ganz lustig sein können, denn sie waren beide dick, breit und schwerfällig und bei ihrem Spiel ging es darum, wer länger durchhielt.

Einer war auch nicht dümmer als der andere. Louis wußte genau, warum er hin und wieder einen Blick auf die Glastür warf und ihm davor bangte, eine bestimmte Person hereinkommen zu sehen.

Um diese Zeit verlief das Leben in der Rue Fontaine so ereignislos wie in irgendeiner anderen unbedeutenden Straße von Paris. Dem Bistro gegenüber lag ein italienischer Lebensmittelladen, in den die Hausfrauen der Umgebung einkaufen gingen.

»Garçon! Einen Calvados!«

Die Kassiererin war so schlafmützig wie blond und beobachtete Maigret mit wachsender Verwunderung. Der Kellner hatte indes etwas gewittert, wußte allerdings nicht so recht was und zwinkerte bisweilen seinem Chef zu.

Es war kurz nach drei Uhr, als ein auffälliger Wagen mit heller Karosserie am Rande des Gehsteigs hielt. Ein großer, brünetter Mann, noch jung und mit einem Schmiß auf der bleichen Wange, stieg aus, betrat das Bistro und streckte die Hand über die Theke.

»Tag, Louis.«

»Tag, Eugène.«

Maigret sah Louis von vorn und den Neuankömmling im Spiegel.

»Einen Pfefferminzlikör mit Soda, Lucien! Aber dalli!«

Das war einer der Belotespieler, wahrscheinlich der, von dem Fernande erzählt hatte und dem das bewußte Haus in Béziers gehörte. Er trug ein Seidenhemd, und sein Anzug war gut geschnitten. Auch er verbreitete einen Hauch von Parfüm.

»Hast du den No…«

Er sprach nicht weiter. Louis hatte ihm zu verstehen gegeben, daß jemand zuhörte, und Eugène sah sofort Maigret an, ebenfalls durch den Spiegel.

»Hm! Lucien, gib mir lieber ein Soda mit Eis!«

Er entnahm einem mit Initialen versehenen Etui eine Zigarette und zündete sie mit einem Feuerzeug an.

»Schönes Wetter heute, was?«

Das hatte der Wirt gesagt, voller Ironie, wobei er Maigret nach wie vor beobachtete.

»Schönes Wetter, ja. Aber es riecht komisch bei dir.«

»Wonach denn?«

»Es riecht nach Polenta.«

Sie lachten beide schallend, während Maigret mit unbeweglicher Miene den Rauch seiner Pfeife einsog.

»Bis später?« fragte Eugène und reichte dem Wirt wieder die Hand.

Er wollte wissen, ob sie wie gewöhnlich Karten spielen würden.

»Bis später.«

Dieses Gespräch hatte Louis in Schwung gebracht, denn er ergriff ein schmutziges Geschirrtuch und ging mit einem Lächeln im Mundwinkel auf Maigret zu.

»Sie gestatten?«

Er wischte den Tisch so ungeschickt ab, daß er das Glas umstieß, dessen Inhalt sich über die Hose des Kommissars ergoß.

»Lucien! Bring Monsieur noch ein Glas!«

Und anstatt sich zu entschuldigen, sagte er:

»Keine Sorge, es kostet dasselbe Geld!«

Jetzt lächelte auch Maigret unmerklich.

Um fünf Uhr wurden die Lampen eingeschaltet, doch draußen war es noch so hell, daß man die Gäste deutlich erkennen konnte, wenn sie über den Gehweg kamen und die Hand nach dem Türgriff ausstreckten.

Als Joseph Audiat eintraf, schauten Louis und Maigret einander wie in geheimem Einverständnis an, und in diesem Moment war es beinahe so, als hätten sie lange vertrauliche Gespräche miteinander geführt. Sie brauchten weder über das ›Floria‹ zu reden noch über Pepito oder Cageot.

Maigret wußte Bescheid, und der andere wußte, daß er es wußte.

»Tag, Louis!«

Audiat war ein kleiner, völlig schwarz gekleideter Mann mit einer etwas schiefen Nase und sehr flinken Augen. An der Theke reichte er der Kassiererin die Hand und sagte:

»Guten Tag, mein schönes Kind!«

Dann zu Lucien:

»Einen kleinen Pernod, junger Mann!«

Er redete viel. Er wirkte ständig wie ein Schauspieler auf der Bühne. Doch Maigret brauchte ihn nicht lange zu beobachten, um herauszufinden, daß sich hinter diesem äußeren Anschein tiefe Besorgnis verbarg. Im übrigen hatte Audiat einen Tic. Sowie das Lächeln von seinen Lippen schwand, zwang er sich automatisch zu einem neuen.

»Noch keiner da?«

Das Bistro war leer. Nur zwei Gäste standen am Tresen.

»Eugène war hier.«

Der Wirt begann von neuem mit dem Spiel, das er schon einmal gespielt hatte, um Audiat auf Maigret aufmerksam zu machen. Der war nicht so diplomatisch wie Eugène. Er drehte sich mit einer hastigen Bewegung um, schaute Maigret in die Augen und spuckte auf den Boden.

»Und sonst? …« fragte er dann.

»Nichts. Hast du gewonnen?«

»Denkste! Man hat mir einen Tip gegeben, der in die Hose gegangen ist. Beim dritten Lauf, bei dem ich Chancen gehabt hätte, da hat das Pferd den Start verpaßt. Gib mir eine Schachtel Gauloises, schönes Kind!«

Er vermochte nicht stillzustehen, trat von einem Bein aufs andere, schlenkerte mit den Armen und wackelte mit dem Kopf.

»Kann ich telefonieren?«

»Geht nicht. Monsieur da drüben haben den Apparat demoliert.«

Das war eine Kampfansage. Audiat fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er befürchtete einen Bock zu schießen, weil er nicht wußte, was vor seinem Eintreffen passiert war.

»Sehen wir uns heute abend?«

»Wie gewöhnlich!«

Audiat trank seinen Pernod und ging. Louis setzte sich an Maigrets Nebentisch, wo man ihm eine warme Mahlzeit servierte, die der Kellner auf dem Kocher zubereitet hatte, der auf der Anrichte stand.

»Garçon!« rief der Kommissar.

»Bin schon da! Neun Francs fünfundsiebzig …«

»Bringen Sie mir zwei Schinkensandwiches und ein Bier!«

Louis aß ein aufgewärmtes Sauerkraut, das mit zwei appetitlichen Würstchen garniert war.

»Ist noch Schinken da, Monsieur Louis?«

»Es müßte noch ein altes Stück im Eisschrank sein.«

Er schmatzte und legte übertrieben schlechte Tischmanieren an den Tag. Maigret wurden zwei trockene, verschrumpelte Sandwiches vorgesetzt, er tat jedoch so, als merkte er es nicht.

»Garçon! Etwas Senf …«

»Keiner da.«

Die folgenden zwei Stunden verstrichen schneller, denn der Tresen wurde von Gästen umlagert, die kurz auf einen Aperitif hereinkamen. Der Wirt ließ sich dazu herab, selbst zu bedienen. Die Tür ging unablässig auf und zu, und jedesmal schlug Maigret ein Schwall kalter Luft entgegen.

Denn draußen begann es zu frieren. Eine Zeitlang waren die Busse, die vorbeifuhren, zum Bersten voll, und die Leute standen noch auf den Trittbrettern. Dann wurde die Straße nach und nach menschenleer. Dem Stimmengewirr, das um sieben Uhr herum geherrscht hatte, folgte eine unerwartete Stille, die dem ganz und gar anders gearteten abendlichen Betrieb vorausging.

Die schlimmste Stunde war die zwischen acht und neun Uhr. Es war niemand mehr da. Der Kellner aß nun ebenfalls. Die blonde Kassiererin war einer Frau um die Vierzig gewichen, die alle Münzen aus der Kassenschublade zu sortieren und zu kleinen Säulen zu stapeln begann. Louis war in sein Zimmer hinaufgegangen, und als er wieder zurückkam, hatte er sich eine Krawatte umgebunden und eine Jacke angezogen.

Joseph Audiat erschien als erster, wenige Minuten nach neun Uhr, sah sich nach Maigret um und steuerte auf Louis zu.

»Wie geht’s?«

»Es geht. Schließlich gibt’s ja keinen Grund, warum’s nicht gehen sollte. Oder etwa nicht?«

Aber Louis war nicht mehr so auf Draht wie am Nachmittag. Müde, wie er war, betrachtete er Maigret nicht mehr so selbstsicher. Und war Maigret nicht auch ein wenig erschöpft? Er hatte alles mögliche trinken müssen: Bier, Kaffee, Calvados, Mineralwasser. Sieben oder acht Untertassen mit Kassenbons stapelten sich auf seinem Tisch, und er würde noch mehr trinken müssen.

»Na also, da ist ja Eugène mit seinem Freund!«

Das hellblaue Auto hatte erneut längs des Gehwegs geparkt, und zwei Männer betraten das Bistro, zuerst Eugène, wie am Nachmittag gekleidet, dann ein jüngerer, ein wenig schüchterner Mann, der alle anlächelte.

»Und Oscar?«

»Der kommt bestimmt noch.«

Mit einem Zwinkern deutete Eugène auf Maigret, dann schob er zwei Tische zusammen und holte selbst die rote Filzdecke und die Spielmarken aus einem Regalfach.

»Fangen wir an?«

Alles in allem spielte jeder Theater. Aber Eugène und der Wirt gaben den Ton an. Vor allem Eugène, der noch ausgeruht in den Kampf zog. Er hatte blendendweiße Zähne und strahlte eine Heiterkeit aus, die nicht aufgesetzt war. Die Frauen mußten verrückt nach ihm sein.

»Heute abend sehen wir wenigstens gut!« erklärte er.

»Warum?« erkundigte sich Audiat, der wohl seit eh und je mit den anderen nicht ganz mitkam.

»Na, weil uns ein großes Licht leuchtet!«

Das große Licht war Maigret, der keinen Meter von den Spielern entfernt seine Pfeife rauchte.

Louis nahm mit einer nahezu rituellen Bewegung die Schiefertafel und die Kreide zur Hand. Für gewöhnlich schrieb er die Punkte auf. Er zog Längsstriche und setzte über jede Spalte die Initialen der Mitspieler.

»Was trinken Sie?« fragte der Kellner.

Eugène kniff die Augen zusammen, schaute auf Maigrets Calvadosglas und antwortete:

»Dasselbe wie Monsieur!«

»Eine Erdbeerbrause«, bestellte Audiat mit sichtbarem Unbehagen.

Der vierte sprach mit Marseiller Akzent und war wohl erst seit kurzem in Paris. Er ahmte Eugènes Verhalten nach, für den er anscheinend tiefe Bewunderung hegte.

»Sag mal, Louis, die Jagdsaison ist doch noch nicht vorbei?«

Diesmal konnte selbst Louis nicht folgen.

»Woher soll ich das wissen? Warum fragst du?«

»Weil ich gerade an schlaue Füchse denken mußte.«

Das war wieder an Maigrets Adresse gerichtet. Die Erklärung folgte auch sogleich, während die Karten ausgeteilt wurden und jeder sie in seiner linken Hand auffächerte.

»Ich habe vorhin Monsieur besucht.«

Das hieß im Klartext:

»Ich habe Cageot gewarnt.«

Audiats Kopf schnellte hoch.

»Was hat er gesagt?«

Louis runzelte die Stirn. Er fand wahrscheinlich, daß das zu weit ging.

»Er amüsiert sich köstlich! Wie es scheint, hat er alte Bekannte getroffen und bereitet ein kleines Fest vor.«

»Karo ist Trumpf … Ich hab einen Dreier … Hat noch jemand mehr?«

»Einen Vierer.«

Es war nicht zu übersehen, daß Eugène in Fahrt war und nicht auf das Spiel achtete, sondern sich neue witzige Sprüche ausdachte.

»Die Leute von Paris«, säuselte er plötzlich, »verbringen ihre Ferien auf dem Land, zum Beispiel an der Loire. Das Lustige daran ist, daß die Leute von der Loire in Paris Ferien machen.«

Endlich war es heraus! Er hatte nicht widerstehen können, Maigret wissen zu lassen, daß er über alles im Bilde war. Und Maigret rauchte immer noch seine Pfeife und wärmte mit der hohlen Hand seinen Calvados an, ehe er einen Schluck trank.

»Paß auf, was du spielst«, warf Louis hastig ein, der von Zeit zu Zeit besorgt zur Tür blickte.

»Trumpf … Und wieder Trumpf … Zwanzig angesagt und zehn für den letzten …«

Ein Mann kam herein, dem man ansah, welches Geschäft er am Montmartre betrieb. Er drückte jedem wortlos die Hand, setzte sich, mit etwas Abstand vom Spieltisch, zwischen Eugène und seinen Marseiller Gefährten, und sagte noch immer nichts.

»Wie geht’s?« fragte Louis.

Der neue Gast öffnete den Mund, es kamen jedoch nur ganz schwache Laute heraus. Er war nahezu stimmlos.

»Es geht.«

»Kapiert?« schrie ihm Eugène ins Ohr, was darauf schließen ließ, daß der Mann obendrein fast taub war.

»Was kapiert?« piepste das dünne Stimmchen.

Jemand mußte ihm unter dem Tisch auf den Fuß getreten haben, denn sein Blick fiel schließlich auf Maigret und blieb für eine Weile an ihm hängen. Dann deutete er ein Lächeln an.

»Verstanden.«

»Kreuz ist Trumpf. Ich passe …«

»Ich passe auch …«

Die Rue Fontaine war zu neuem Leben erwacht. Die Leuchtreklamen waren aufgeflammt, und die Portiers hatten ihre Plätze auf den Gehwegen eingenommen. Der vom ›Floria‹ kam Zigaretten holen, ohne daß sich die Kartenspieler um ihn gekümmert hätten.

»Herz ist Trumpf …«

Maigret war es heiß. Sein ganzer Körper war steif geworden, aber er ließ sich nichts anmerken, und sein Gesichtsausdruck war noch derselbe wie um halb zwei Uhr, als er seinen Beobachtungsposten bezogen hatte.

»Sag mal«, wandte sich Eugène plötzlich an seinen schwerhörigen Nebenmann, den Maigret mittlerweile als den Inhaber eines Bordells in der Rue de Provence wiedererkannt hatte. »Wie nennst du denn einen Schlosser, der keine Schlösser mehr macht?«

Das Komische dieser Unterhaltung bestand darin, daß Eugène schreien mußte, während der andere mit engelhafter Stimme antwortete:

»Ein Schlosser, der …? Weiß nicht …«

»Also ich, ich nenne ihn einen Nichtsnutz.«

Er spielte aus, sammelte die Karten ein, spielte wieder aus.

»Und einen Flic, der kein Flic mehr ist?«

Sein Nebenmann hatte begriffen. Sein Gesicht strahlte vor Freude, und seine Stimme klang dünner denn je, als er piepste:

»Einen Nichtsnutz!«

Daraufhin lachten alle lauthals, sogar Audiat, dem das Lachen allerdings sofort wieder verging. Irgend etwas hinderte ihn daran, die allgemeine Heiterkeit zu teilen. Es war zu spüren, daß er trotz der Anwesenheit seiner Freunde beunruhigt war. Und daran war nicht allein Maigret schuld.

»Léon!« rief er dem Nachtkellner zu. »Einen Branntwein mit Wasser!«

»Steigst du jetzt auf Branntwein um?«

Eugène hatte gemerkt, daß Audiat allmählich die Nerven verlor, und er beobachtete ihn scharf.

»Vielleicht solltest du besser nicht übertreiben.«

»Womit?«

»Wie viele Pernod hast du denn vor dem Abendessen gekippt?«

»Du kannst mich mal …!« gab Audiat eigensinnig zurück.

»Immer mit der Ruhe, Kinder!« schaltete Louis sich ein. »Pik ist Trumpf!«

Um Mitternacht wirkte ihre Fröhlichkeit noch mehr aufgesetzt. Maigret, die Pfeife zwischen den Zähnen, nach wie vor im Mantel, rührte sich noch immer nicht. Er schien ein Teil der Einrichtung zu sein. Genauer gesagt: ein Teil der Wand. Nur sein Blick lebte und wanderte langsam von einem Kartenspieler zum anderen.

Audiat war als erster unruhig geworden, doch den Schwerhörigen hielt es auch nicht mehr lange an seinem Platz, und er stand schließlich auf.

»Ich muß morgen zu einer Beerdigung. Höchste Zeit, daß ich ins Bett komme.«

»Hau doch ab und krepier!« bemerkte Eugène halblaut, dessen sicher, daß der andere ihn nicht hören konnte.

Er hatte das so dahingesagt, als wollte er nur irgend etwas sagen, um sich in Form zu halten.

»Rebelote … Und Trumpf … Und noch mal Trumpf. Schiebt doch eure Karten rüber …«

Audiat hatte trotz der Blicke, die man ihm zuwarf, drei Branntwein mit Wasser getrunken, und seine Züge hatten sich zusehends verändert. Er war bleich geworden, und Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

»Wo gehst du hin?«

»Ich verzieh mich auch«, sagte er, während er sich erhob.

Ihm war schlecht, das war ihm anzusehen. Er hatte seinen dritten Branntwein getrunken, um wieder zu Kräften zu kommen, aber er hatte ihm den Rest gegeben. Louis und Eugène sahen einander an.

»Du bist weiß wie ein Handtuch«, stellte Eugène fest.

Es war kurz nach ein Uhr. Maigret zählte Geld ab und legte es auf den Tisch. Eugène drängte Audiat in eine Ecke und sprach leise, aber heftig auf ihn ein. Audiat sträubte sich, ließ sich am Ende aber dennoch überreden.

»Bis morgen!« sagte er dann, die Hand schon auf dem Türgriff.

»Garçon! Was macht das?«

Die Untertassen klirrten aneinander. Maigret knöpfte seinen Mantel zu, stopfte sich eine neue Pfeife und steckte sie mit dem Gasfeuerzeug an der Theke an.

»Guten Abend, Messieurs.«

Er ging hinaus und horchte auf das Geräusch von Audiats Schritten. Eugène trat hinter die Theke, als ob er dem Wirt etwas sagen wollte. Louis, der verstanden hatte, öffnete unauffällig eine Schublade. Eugène griff hinein, steckte seine Hand danach in die Tasche und strebte in Begleitung des Marseillers der Tür zu.

»Bis später!« sagte er in dem Augenblick, in dem er in der Dunkelheit entschwand.