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Als es an die Tür klopfte, machte Maigret, der sich eben rasiert hatte, gerade seinen Rasierapparat sauber. Es war neun Uhr morgens. Seit acht Uhr war er wach gewesen; aber er war, was selten vorkam, noch lange im Bett geblieben, hatte die schräg einfallenden Sonnenstrahlen betrachtet und auf die Geräusche der Stadt gehorcht.
»Herein!« rief er laut.
Und er trank einen Schluck kalten Kaffee, der noch in seiner Tasse stand. Zögernd durchquerte Philippe den Raum und erreichte schließlich das Badezimmer.
»Guten Morgen, Kleiner!«
»Guten Morgen, Onkel!«
Maigret brauchte nur seine Stimme zu hören, da begriff er, daß es ihm schlecht ging. Er knöpfte sein Hemd zu und sah seinen Neffen an, der gerötete Augen und eine verquollene Nase hatte, wie ein Kind, das geweint hat.
»Was ist los?«
»Sie verhaften mich!«
Philippe sagte das in einem Ton und mit einer Miene, als hätte er angekündigt:
»In fünf Minuten werde ich erschossen!«
Dabei hielt er seinem Onkel eine Zeitung hin, auf die Maigret, während er sich fertig anzog, einen Blick warf.
Obwohl Inspektor Philippe Lauer immer noch leugnet, soll Untersuchungsrichter Gastambide beschlossen haben, ihn heute morgen zu verhaften.
»Der Excelsior bringt mein Foto auf der ersten Seite«, fügte Philippe unglücklich hinzu.
Sein Onkel sagte nichts. Da gab es nichts zu sagen. Mit noch herunterhängenden Hosenträgern, die nackten Füße in seinen Pantoffeln, so wanderte er in dem sonnigen Zimmer hin und her, suchte nach seiner Pfeife, dann nach seinem Tabak und schließlich noch nach einer Schachtel Streichhölzer.
»Warst du heute morgen noch nicht dort?«
»Nein, ich komme aus der Rue des Dames. Ich hab am Boulevard des Batignolles einen Kaffee getrunken und ein Croissant gegessen und dabei diese Zeitung gelesen.«
Es war ein einzigartiger Morgen. Die Luft war frisch, die Sonne strahlte, und das Menschengewimmel in Paris war so dicht und so munter wie ein turbulentes Ballett. Maigret öffnete das Fenster einen Spaltbreit, daß das pulsierende Leben auf den Kais ins Zimmer hereinschwappte, während die träge dahinfließende Seine glitzerte und glänzte.
»Nun ja, du mußt schon hingehen, mein Junge! Was soll ich dir denn sonst sagen?«
Er wollte denn doch nicht in Rührung ausbrechen wegen dieses Grünschnabels, der sein kühles Vogesental gegen die Flure der Kriminalpolizei eingetauscht hatte!
»Natürlich wirst du dort nicht so verwöhnt wie zu Hause!«
Seine Mutter war Madame Maigrets Schwester, das sagte alles. Ihr Haus war kein Haus, sondern ein behagliches Nest: »Philippe wird gleich heimkommen … Philippe wird Hunger haben … Sind Philippes Hemden schon gebügelt? …«
Und erst die liebevoll geschmorten und gebrutzelten Leckerbissen, die Krems, die hausgemachten Liköre! Und die Lavendelzweige im Wäscheschrank!
»Da ist noch etwas«, begann Philippe, während sich sein Onkel den falschen Kragen anknöpfte. »Ich bin letzte Nacht im ›Floria‹ gewesen.«
»Natürlich!«
»Wieso natürlich?«
»Weil ich dir geraten habe, nicht hinzugehen. Und was für eine Dummheit hast du gemacht?«
»Keine. Ich hab mich mit diesem Mädchen unterhalten, mit Fernande, na, Sie wissen schon. Sie hat mir zu verstehen gegeben, daß sie mit Ihnen zusammenarbeitet und daß sie gleich ich weiß nicht welche Mission im Bistro an der Ecke zur Rue de Douai erfüllen müßte. Da ich auch gerade aufbrechen wollte, bin ich ihr nachgegangen, ganz mechanisch. Es lag ja auf meinem Weg. An der Tür zum ›Tabac Fontaine‹ ist sie von Inspektoren der Sittenpolizei angeschnauzt worden und mußte in die grüne Minna einsteigen.«
»Wetten, daß du dich da eingemischt hast!«
Philippe senkte den Kopf.
»Was haben Sie dir denn geantwortet?«
»Daß sie schon wüßten, was sie tun.«
»Geh jetzt«, sagte Maigret, der seine Krawatte suchte, seufzend. »Und mach dir keine Sorgen!«
Er legte ihm die Hände auf die Schultern, küßte ihn auf beide Wangen, und um die Szene abzukürzen, gab er vor, plötzlich sehr beschäftigt zu sein. Erst als sich die Tür geöffnet und wieder geschlossen hatte, hob er den Kopf, machte einen Buckel und brummelte ein paar unverständliche Silben.
Kaum daß er unten auf dem Kai war, kaufte er als erstes an einem Kiosk den Excelsior und starrte auf die Fotografie, die tatsächlich auf der ersten Seite prangte, und auf den Bildtext darunter:
Inspektor Philippe Lauer des Mordes an Pepito Palestrino angeklagt, den er überwachen sollte.
Maigret schlenderte langsam über den Pont Neuf. Am vergangenen Abend hatte er keinen Fuß ins ›Floria‹ gesetzt, aber er war durch die Gegend geschlichen, durch die Rue des Batignolles, um das Haus, in dem Cageot wohnte. Eine Mietskaserne, an die fünfzig Jahre alt, wie die meisten Häuser dieses Viertels. Der Korridor und die Treppe waren schlecht beleuchtet. Man spürte förmlich die trostlosen, düsteren Wohnungen, die Fenster mit den schmutzigen Gardinen, die Möbel mit verschossenen Samtbezügen.
Cageots Wohnung lag im Zwischengeschoß. Um diese Zeit war er nicht da, und Maigret hatte das Haus so betreten, als wäre er mit dem Ort vertraut, war bis zum vierten Stock hinaufgestiegen und dann wieder hinunter.
Die Tür des Notars hatte ein Sicherheitsschloß, sonst hätte sich der Kommissar vielleicht in Versuchung führen lassen. Als er an der Loge vorbeikam, sah ihm die Concierge, die sich die Nase an ihrer Scheibe platt drückte, lange nach.
Was machte das schon? Maigret hatte, die Hände in den Taschen, beinahe ganz Paris zu Fuß durchstreift und dabei immer und immer wieder auf denselben Gedanken herumgekaut.
Irgendwo, im ›Tabac Fontaine‹ oder sonstwo, gab es eine kleine Schar schräger Vögel, die in aller Ruhe ihre Geschäfte am Rande der Legalität betrieben. Pepito war einer von ihnen gewesen. Barnabé auch.
Und Cageot, der der große Boss war, schaltete sie der Reihe nach aus oder ließ sie ausschalten.
Nichts als eine simple Abrechnung! Die Polizei hätte sich wohl kaum darum gekümmert, wenn nicht dieser Hornochse von Philippe …
Maigret hatte den Quai des Orfèvres erreicht. Zwei Inspektoren, die gerade herauskamen, grüßten ihn, ohne ihr Staunen zu verbergen, und er schritt durch den Torbogen, über den Hof und an der Meldestelle der Fremdenpolizei vorbei.
Da oben wurde um diese Zeit gerade Rapport erstattet. Auf dem breiten Flur standen etwa fünfzig Inspektoren in Gruppen beieinander, diskutierten lautstark und tauschten Informationen und Zettel aus. Bisweilen ging die Tür eines Büros auf. Ein Name wurde aufgerufen, und der jeweilige Inspektor eilte gehorsam davon.
Als Maigret auftauchte, herrschte einige Sekunden lang betretenes Schweigen. Doch er schob sich mit solcher Selbstverständlichkeit zwischen den Gruppen hindurch, daß die Inspektoren, um sich nichts anmerken zu lassen, schleunigst ihre Beratungen fortsetzten.
Rechts lag das Wartezimmer des Direktors. Auf den mit rotem Samt bezogenen Stühlen saß ein einziger Besucher in einer Ecke und wartete: Philippe, der, das Kinn auf die Hand gestützt, vor sich hin stierte.
Maigret entfernte sich in entgegengesetzter Richtung, erreichte das Ende des Flurs und klopfte an die letzte Tür.
»Herein!« ertönte es von drinnen.
Und alle sahen, wie er mit dem Hut auf dem Kopf das Büro von Kommissar Amadieu betrat.
»Guten Tag, Maigret.«
»Guten Tag, Amadieu.«
Statt eines Händedrucks berührten sie sich nur flüchtig mit den Fingerspitzen wie einst, als sie sich noch jeden Morgen getroffen hatten. Amadieu gab einem Inspektor durch einen Wink zu verstehen, daß er hinausgehen sollte, dann murmelte er:
»Sie wollen mich sprechen?«
Mit einer vertrauten Bewegung setzte sich Maigret auf den Rand des Schreibtischs und griff nach den Streichhölzern, die dort lagen, um seine Pfeife anzuzünden.
Sein Kollege hatte seinen Stuhl nach hinten geschoben und lehnte sich zurück.
»Wie geht’s denn so auf dem Land?«
»Danke gut. Und hier?«
»Immer dasselbe. In fünf Minuten muß ich zum Chef.«
Maigret tat so, als verstünde er nicht, was das heißen sollte, und knöpfte ohne Hast seinen Mantel auf. Er fühlte sich hier wie zu Hause, und dieses Büro war tatsächlich zehn Jahre lang sein Büro gewesen.
»Machen Sie sich Sorgen um Ihren Neffen?« begann Amadieu, der das Schweigen nicht länger ertrug. »Ich möchte Ihnen nur sagen, daß es mich noch härter trifft als Sie. Mir hat man gehörig den Kopf gewaschen. Und die Sache hat weite Kreise gezogen. Der Minister hat persönlich an den Chef geschrieben. Es ist so, daß ich jetzt nichts mehr zu sagen habe. Der Untersuchungsrichter hat alles in die Hand genommen. Gastambide war doch zu Ihrer Zeit schon hier, oder?«
Das Telefon klingelte. Amadieu hielt sich den Hörer ans Ohr und murmelte:
»Ja, Herr Direktor … Gut, Herr Direktor … In ein paar Minuten … Ich habe gerade Besuch … Ja … So ist es …«
Maigret wußte, worum es in dem Gespräch gegangen war. Am anderen Ende des Flurs hatte man eben Philippe zum Chef hineingeführt.
»Wollten Sie mich etwas fragen?« erkundigte sich Amadieu, während er aufstand. »Sie haben ja gehört, der Chef hat mich gerufen.«
»Nur zwei, drei kurze Fragen. Erst einmal: Wußte Cageot, daß Pepito verhaftet werden sollte?«
»Keine Ahnung. Im übrigen sehe ich da keinen Zusammenhang.«
»Verzeihung! Ich kenne Cageot. Ich weiß, welche Rolle er hier im Haus spielt. Und ich weiß auch, daß man manchmal so etwas vor den Informanten nicht geheimhält. War er zwei oder drei Tage vor dem Drama hier?«
»Ich glaube. Ja, ich entsinne mich …«
»Noch eine Frage: Haben Sie die Adresse von Joseph Audiat, diesem Kellner, der gerade zur rechten Zeit durch die Rue Fontaine kam, um mit Philippe zusammenzustoßen?«
»Er schläft in einem Hotel in der Rue Lepic, wenn ich mich nicht irre.«
»Haben Sie Cageots Alibi genau überprüft?«
Amadieu rang sich ein Lächeln ab.
»Hören Sie, Maigret, ich bin doch kein Stümper!«
Dennoch war Maigret noch nicht am Ende. Er hatte auf dem Schreibtisch einen gelben Aktendeckel mit dem Aufdruck des Sittendezernats entdeckt.
»Ist das schon der Bericht über die Festnahme von Fernande Bosquet?«
Amadieu schaute woandershin. Vielleicht fehlte nicht viel, und er hätte sich mit seinem Besucher sogar offen ausgesprochen, aber, die Hand schon auf der Türklinke, brummte er schließlich nur:
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich will damit sagen, daß Cageot diesem Mädchen die Sittenpolizei auf den Hals gehetzt hat. Wo ist sie in diesem Augenblick?«
»Weiß ich nicht.«
»Gestatten Sie, daß ich einen Blick in die Akte werfe?«
Er konnte es ihm schlecht verwehren. Maigret beugte sich vor, las einige Zeilen und kam zu dem Schluß:
»Sie wird wohl gerade beim Erkennungsdienst sein …«
Die Klingel des Telefons schrillte von neuem. Amadieu hob ratlos die Schultern.
»Entschuldigen Sie, aber …«
»Ich weiß. Der Chef erwartet Sie.«
Maigret knöpfte seinen Mantel zu und verließ gleichzeitig mit dem Kommissar das Büro. Anstatt sich zur Treppe zu wenden, ging er mit ihm bis zu dem Wartezimmer mit den roten Stühlen.
»Würden Sie bitte den Chef fragen, ob er mich empfangen kann?«
Amadieu öffnete eine gepolsterte Tür. Der Bürodiener verschwand ebenfalls im Amtszimmer des Direktors der Kriminalpolizei, in das man Philippe geführt hatte. Maigret wartete im Stehen, den Hut in der Hand.
»Der Direktor ist gerade sehr beschäftigt und bittet Sie, im Laufe des Nachmittags wiederzukommen.«
Maigret machte kehrt und schritt von neuem an den herumstehenden Inspektoren vorbei. Seine Züge hatten sich ein wenig verhärtet, doch er wollte lächeln, und er lächelte, ein Lächeln ohne Fröhlichkeit.
Er ging noch immer nicht hinaus, sondern bog in einen schmalen Flur ein und erklomm gewundene Treppen, die bis ins Dachgeschoß des Palais de Justice führten. Auf diesem Weg gelangte er zu den Büros des Erkennungsdienstes. Er öffnete die Tür. Die Frauen waren nicht mehr da. Jetzt legten an die fünfzig Männer, die man im Lauf der Nacht festgenommen hatte, in einem grau gestrichenen Raum ihre Kleider ab.
Nackt betraten sie der Reihe nach den Raum daneben, wo ihnen Beamte in schwarzen Kitteln die Fingerabdrücke abnahmen, sie in den anthropometrischen Stuhl setzten und laut ihre Maße riefen, wie Verkäufer in den großen Warenhäusern der Kasse einen Preis zurufen. Es roch nach Schweiß und Schmuddel. Die verdutzten, ob ihrer Nacktheit mehr oder minder verlegenen Männer ließen sich von einer Ecke in die andere schubsen, und die Bewegungen, die man von ihnen verlangte, waren zum Teil recht unbeholfen, zumal viele nicht Französisch konnten.
Maigret drückte den Beamten herzlich die Hand und mußte sich einmal mehr die unvermeidlichen Fragen anhören:
»Sind Sie auf Besuchstour? Wie gefällt’s Ihnen auf dem Land? Das muß herrlich sein bei diesem Wetter!«
Die Neonlampe tauchte einen kleinen Raum, in dem der Fotograf arbeitete, in grelles Licht.
»Waren heute morgen viele Frauen da?«
»Sieben.«
»Haben Sie die Karteikarten hier?«
Sie lagen auf einem Tisch, denn man hatte sie noch nicht einsortiert. Die dritte war die Karte von Fernande, mit dem Abdruck von fünf Fingern, einer ungelenken Unterschrift und einem schrecklich entstellenden Foto.
»Hat sie etwas gesagt? Hat sie geweint?«
»Nein. Sie war recht zahm.«
»Wissen Sie, wo man sie hingebracht hat?«
»Keine Ahnung, ob man sie freigelassen hat oder ob sie ein paar Tage im Saint-Lazare absitzen muß …«
Maigret ließ seine Blicke über die nackten Männer schweifen, die wie auf einem Kasernenhof in einer Reihe standen. Dann hob er die Hand grüßend an seinen Hut und sagte:
»Auf Wiedersehen!«
»Gehen Sie schon wieder?«
Und da war er abermals auf der Treppe, auf der es keine Stufe gab, die er nicht Tausende Male erklommen hätte. Eine andere Treppe zu seiner Linken, noch schmaler als die erste, führte zum Laboratorium, in dem er jeden Winkel und jedes Fläschchen kannte.
Er befand sich wieder im zweiten Stock, wo sich die Inspektoren inzwischen verlaufen hatten. Vor den Türen nahmen die ersten Besucher Platz, Leute, die man vorgeladen hatte oder die von sich aus kamen, um jemanden anzuzeigen oder auch zu denunzieren.
Maigret hatte den größten Teil seines Lebens in dieser Umgebung zugebracht, und doch schaute er nun auf einmal wie angewidert um sich.
Ob Philippe immer noch im Büro des Chefs war? Wahrscheinlich nicht. Mittlerweile war er bestimmt schon verhaftet und zwei seiner Kollegen führten ihn ins Amtszimmer des Untersuchungsrichters!
Was man ihm wohl gesagt haben mag, hinter dieser Polstertür? Ob man so freimütig war, offen mit ihm zu reden?
»Sie haben unbesonnen gehandelt. Es sprechen so viele Indizien gegen Sie, daß die Öffentlichkeit es nicht begreifen würde, wenn wir Sie auf freiem Fuß ließen. Aber wir werden uns bemühen, die Wahrheit an den Tag zu bringen. Sie bleiben einer von uns.«
Vermutlich hat man ihm das nicht gesagt. Maigret meinte zu hören, wie der Chef, dem beim Warten auf Amadieu unbehaglich zumute gewesen war, vor sich hin gehüstelt und dazwischen gebrummelt hatte:
»Inspektor, ich habe wirklich keinen Anlaß, mir zu Ihnen zu gratulieren. Dank der Fürsprache Ihres Onkels ist Ihnen Ihr Eintritt hier leichter gemacht worden als irgend jemandem sonst. Haben Sie sich dieser Gunst vielleicht als würdig erwiesen?«
Und Amadieu war wohl noch weiter gegangen:
»Von nun an unterstehen Sie der Gewalt des Untersuchungsrichters. Wir können beim besten Willen nichts mehr für Sie tun.«
Trotzdem war dieser Amadieu mit dem langen, bleichen Gesicht und dem braunen Schnurrbart, an dem er unentwegt herumzupfte, kein schlechter Mensch. Er hatte eine Frau und drei Kinder, darunter ein Mädchen, für dessen Mitgift er sparte. Seit eh und je wähnte er sich von Verschwörungen umgeben. Er war davon überzeugt, daß es jeder auf seinen Posten abgesehen hatte und nur danach trachtete, ihn bloßzustellen.
Na, und der hohe Chef, der würde in zwei Jahren die Altersgrenze erreichen, und bis dahin galt es, Unannehmlichkeiten zu vermeiden.
Diese Geschichte war eine der Geschichten, die im Milieu gang und gäbe waren, das heißt reine Routinearbeit. Sollte man da Komplikationen riskieren, weil man sich schützend hinter einen jungen Inspektor stellte, der den Kopf verloren hatte und obendrein der Neffe von Maigret war?
Daß Cageot ein Schurke war, wußten alle. Er machte selbst keinen Hehl daraus. Er hatte Eisen in allen Feuern. Und wenn er jemanden der Polizei auslieferte, dann bedeutete das, daß dieser Jemand ihm nicht mehr nützlich war.
Nur, Cageot war ein gefährlicher Schurke. Er hatte Freunde, Beziehungen. Er wußte sich vor allem zu verteidigen. Eines Tages würde man ihn schon schnappen. Man behielt ihn im Auge. Man hatte sogar sein Alibi überprüft, und die Ermittlungen wurden redlich geführt.
Aber man brauchte nicht übereifrig zu sein. Und man konnte dabei vor allem keinen Maigret brauchen, der mit Begeisterung ins Fettnäpfchen trat.
Er hatte den kleinen gepflasterten Hof erreicht, in dem armselige Leute vorm Jugendgericht warteten. Trotz der Sonne war es frisch, und im Schatten hielt sich der Rauhreif noch zwischen den Pflastersteinen.
»Dieser Trottel von Philippe!« knurrte Maigret. Er war so angewidert, daß es ihn ganz krank machte.
Denn er wußte genau, daß er sich im Kreis drehen würde wie ein Zirkuspferd. Es ging nicht darum, einen genialen Einfall zu haben; bei der Polizei sind geniale Einfälle zu nichts nütze. Es ging auch nicht darum, eine aufsehenerregende Fährte aufzuspüren oder ein Indiz zu entdecken, das alle anderen übersehen haben.
Es war einfacher und zugleich brutaler. Cageot hatte Pepito ermordet oder ermorden lassen. Jetzt mußte man Cageot dazu bringen, daß er letzten Endes gestand:
»Es stimmt!«
Maigret wanderte in der Nähe des Waschschiffs ziellos über die Kais; ihm stand es nicht zu, den Notar in irgendein Büro zu zitieren, ihn dort stundenlang einzuschließen, ihm hundertmal dieselbe Frage zu stellen und ihn notfalls hart anzufassen, um ihn mürbe zu machen.
Er konnte auch weder den Kellner noch den Wirt vom ›Tabac Fontaine‹ vorladen oder die anderen, die jeden Abend hundert Meter vom ›Floria‹ entfernt Belote spielten.
Kaum hatte er Fernande eingesetzt, da wurde sie buchstäblich aus dem Verkehr gezogen.
Er gelangte zum ›Chope du Pont-Neuf‹, stieß die Glastür auf und schüttelte Lucas die Hand, der in der Nähe der Theke saß.
»Wie geht’s, Chef?«
Lucas nannte ihn immer noch Chef, eingedenk der Zeit, in der sie miteinander gearbeitet hatten.
»Schlecht!« entgegnete Maigret.
»Eine schwierige Sache, nicht wahr?«
Nicht schwierig. Tragisch, aber ohne den leisesten heroischen Anstrich.
»Ich werde alt. Ob das vielleicht vom Leben auf dem Land kommt?«
»Was trinken Sie?«
»Auch mal einen Pernod, warum denn nicht?«
Das klang beinahe wie eine Herausforderung. Ihm fiel ein, daß er versprochen hatte, seiner Frau zu schreiben, aber er brachte es nicht übers Herz.
»Kann ich Ihnen nicht irgendwie helfen?«
Lucas war ein seltsamer Kerl, immer schlecht gekleidet, zu allem Überfluß auch noch schlecht gebaut. Er hatte weder Frau noch Kinder. Maigret sah sich ratlos in der Gaststube um, die sich allmählich füllte, und er mußte die Augen zusammenkneifen, als sein Blick auf das in der Sonne gleißende Fenster fiel.
»Hast du schon mal mit Philippe gearbeitet?«
»Zwei- oder dreimal.«
»War er sehr unangenehm?«
»Einige können ihn nicht leiden, weil er nicht viel redet. Sie wissen ja, er ist schüchtern. Haben sie ihn schon eingelocht?«
»Auf dein Wohl!«
Es beunruhigte Lucas, Maigret so abgestumpft zu sehen.
»Was werden Sie tun, Chef?«
»Dir kann ich es ja sagen. Ich werde alles tun, was nötig ist. Verstehst du? Es ist sogar besser, wenn es einer weiß. Falls etwas passieren sollte, dann …«
Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und klopfte mit einer Münze auf den Tisch, um den Kellner zu rufen.
»Lassen Sie das! Diese Runde geht auf mich.«
»Wenn du willst. Meine trinken wir, wenn das vorüber ist. Auf Wiedersehen, Lucas.«
»Auf Wiedersehen, Chef.«
Lucas ließ seine Hand einen Augenblick länger als sonst in der rauhen Hand von Maigret.
»Nehmen Sie sich trotzdem in acht, ja?«
Und Maigret, schon im Stehen, schimpfte laut:
»Ich habe einen Horror vor Schwachköpfen!«
Er zog allein los, zu Fuß. Er hatte Zeit, zumal er nicht einmal wußte, wohin er gehen sollte.