3
Maigret hatte sich auf die Bettkante gesetzt, während Fernande, mit übereinandergeschlagenen Beinen, einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, als sie aus ihren Schuhen schlüpfte. Mit gleicher Selbstverständlichkeit hob sie ihr grünes Seidenkleid und machte die Strumpfhalter auf.
»Ziehst du dich nicht aus?«
Maigret schüttelte seinen Kopf, doch das sah sie nicht, weil sie über ihren gerade ihr Kleid streifte.
Fernande wohnte in einem kleinen Appartement in der Rue Blanche. Auf der Treppe, auf der ein roter Läufer lag, hatte es nach Bohnerwachs gerochen. Als Maigret die Stufen hinaufgestiegen war, hatten vor allen Türen leere Milchflaschen gestanden. Dann waren sie durch einen mit Nippes überladenen Salon gegangen, und nun konnte er in eine sehr saubere, mit peinlicher Sorgfalt aufgeräumte Küche hineinspähen.
»Woran denkst du?« fragte Fernande, die ihre Strümpfe auszog, dabei lange, weiße Beine entblößte und dann aufmerksam ihre Zehennägel betrachtete.
»An nichts. Darf ich rauchen?«
»Auf dem Tisch liegen Zigaretten.«
Maigret, die Pfeife zwischen den Zähnen, ging auf und ab und blieb erst vor dem vergrößerten Bild einer Frau um die Fünfzig stehen, dann vor einem kupfernen Blumentopf mit einer Grünpflanze. Der Fußboden war gebohnert. Neben der Tür entdeckte er ein paar Filzpantoffeln, in die Fernande vermutlich schlüpfte, um weniger Schmutz zu machen.
»Kommst du aus dem Norden?« fragte er, ohne sie anzuschauen.
»Woran siehst du das?«
Schließlich pflanzte er sich vor ihr auf. Ihr Haar war von zweifelhaftem Blond, mit einem Stich ins Rötliche, und sie hatte ein unregelmäßiges Gesicht mit einem großen Mund und einer spitzen, mit Sommersprossen gesprenkelten Nase.
»Ich bin aus Roubaix.«
Das merkte man daran, wie aufgeräumt und blankgeputzt die Wohnung war, und vor allem an der Ordnung, die in der Küche herrschte. Maigret war sicher, daß Fernande morgens dort saß, neben dem Herd, aus einer riesigen Schale Kaffee trank und dabei Zeitung las.
Jetzt schaute sie mit einem Anflug von Besorgnis ihren Besucher an.
»Ziehst du dich nicht aus?« wiederholte sie, während sie sich erhob und vor den Spiegel trat.
Dann wurde sie auf einmal mißtrauisch:
»Weshalb bist du hergekommen?«
Sie ahnte nun, daß etwas nicht stimmte. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft.
»Deshalb bin ich wirklich nicht gekommen, da hast du recht«, gestand Maigret lächelnd.
Er lächelte noch mehr, weil sie, wie von plötzlichem Schamgefühl erfaßt, nach einem Morgenrock griff.
»Also, was willst du?«
Sie konnte es sich nicht denken. Dabei war sie doch daran gewöhnt, Männer einzuschätzen. Sie musterte die Schuhe, die Krawatte, die Augen ihres Besuchers.
»Du bist doch nicht etwa von der Polizei?«
»Setz dich! Wir unterhalten uns jetzt mal wie gute Freunde. Du liegst nicht ganz falsch, denn ich bin lange Kriminalkommissar gewesen.«
Sie runzelte die Stirn.
»Hab keine Angst! Das ist vorbei! Ich bin im Ruhestand und lebe inzwischen auf dem Land. In Paris bin ich heute nur, weil Cageot eine Schweinerei gemacht hat.«
»Ach, deshalb!« sagte sie wie zu sich selbst, während sie sich daran erinnerte, wie seltsam ihr die beiden Männer an ihrem Tisch im ›Floria‹ vorgekommen waren.
»Ich brauche einen Beweis dafür, und es gibt Leute, die ich nicht fragen kann.«
Jetzt duzte sie ihn nicht mehr.
»Und ich soll Ihnen dabei helfen? Ist es das?«
»Erraten! Du weißt doch so gut wie ich, daß das ›Floria‹ ein Treffpunkt für Schurken, Schieber und Konsorten ist, nicht wahr?«
Sie seufzte und nickte.
»Der wahre Besitzer ist Cageot, dem noch das ›Pélican‹ und das ›Boule-Verte‹ gehören.«
»Anscheinend hat er in Nizza auch noch etwas aufgezogen.«
Sie hatten sich schließlich an den Tisch gesetzt, jeder an eine Seite, und Fernande erkundigte sich:
»Wollen Sie etwas Heißes trinken?«
»Jetzt nicht. Du hast doch bestimmt von der Geschichte reden hören, die vor vierzehn Tagen an der Place Blanche passiert ist. Da fuhr gegen drei Uhr früh ein Auto vorbei, in dem drei oder vier Leute saßen. Zwischen der Place Blanche und der Place Clichy ging die Tür auf, und ein Mann wurde auf die Fahrbahn gestoßen, den man kurz davor mit einem Messer erstochen hatte.«
»Barnabé«, erklärte Fernande.
»Kanntest du ihn?«
»Er kam ins ›Floria‹.«
»Nun ja, das war Cageots Werk. Ich weiß nicht, ob er selbst in dem Wagen war, aber Pepito war drinnen. Und letzte Nacht hat es ihn erwischt.«
Sie schwieg. Sie überlegte, mit gerunzelter Stirn, und so, wie sie da saß, hätte man sie für eine biedere Hausfrau halten können.
»Was haben Sie denn damit zu tun?« wandte Fernande schließlich ein.
»Wenn ich Cageot nicht zur Strecke bringe, dann wird an seiner Stelle ein Neffe von mir verurteilt.«
»Der große Rothaarige, der wie ein Steuerbeamter aussieht?«
Jetzt staunte Maigret.
»Woher kennst du ihn?«
»Seit zwei oder drei Tagen kommt er im ›Floria‹ an die Bar. Er ist mir aufgefallen, weil er nicht getanzt und sich mit niemandem unterhalten hat. Gestern hat er mir was zu trinken spendiert. Ich hab versucht, ihm die Würmer aus der Nase zu ziehen, und da hat er geplaudert, ohne direkt etwas zuzugeben. Er hat um den heißen Brei herumgeredet, daß er mir nichts sagen darf, aber daß er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat.«
»Der Trottel!«
Maigret stand auf und steuerte unumwunden sein Ziel an.
»Also was ist, bist du einverstanden? Für dich springen dabei zweitausend Francs raus, wenn du mir hilfst, Cageot zu schnappen.«
Unwillkürlich lächelte sie. Das gefiel ihr.
»Was soll ich denn machen?«
»Fürs erste muß ich herausbekommen, ob unser Cageot letzte Nacht im ›Tabac Fontaine‹ war.«
»Soll ich noch heute nacht hingehen?«
»Sofort, wenn es dir recht ist.«
Sie streifte ihren Morgenrock ab, und, ihr Kleid schon in der Hand, betrachtete sie Maigret einen Augenblick.
»Soll ich mich wirklich wieder anziehen?«
»Aber ja«, seufzte er und legte hundert Francs auf den Kaminsims.
Gemeinsam gingen sie die Rue Blanche hinauf. An der Ecke Rue de Douai trennten sie sich nach einem Händedruck, und Maigret stapfte Richtung Rue Notre-Dame-de-Lorette davon. Als er in seinem Hotel eintraf, ertappte er sich dabei, daß er vor sich hinpfiff.
Um zehn Uhr vormittags hatte er sich wieder im ›Chope du Pont-Neuf‹ niedergelassen. Er hatte sich einen Tisch ausgesucht, den die Sonne nur mit Unterbrechungen erreichte, weil die Fußgänger, die draußen vorbeikamen, ständig Schatten warfen. Es hing schon ein Hauch von Frühling in der Luft. Das Treiben auf der Straße war lebhafter geworden, die Geräusche klangen schriller.
Am Quai des Orfèvres war es Zeit für den Rapport. Am Ende des langen Flurs, an dem sich die Büros aneinanderreihten, empfing der Direktor der Kriminalpolizei seine Mitarbeiter, die ihre Unterlagen mitbrachten. Kommissar Amadieu war mitten unter seinen Kollegen. Maigret stellte sich vor, daß der große Chef gerade sagte:
»Nun, Amadieu, wie steht’s mit dieser Affäre Palestrino?«
Amadieu beugte sich vor, zupfte an seinem Schnurrbart und setzte ein freundliches Lächeln auf.
»Hier sind die Berichte, Herr Direktor.«
»Stimmt es, daß Maigret in Paris ist?«
»Angeblich ja.«
»Aber warum zum Teufel besucht er mich dann nicht?«
Maigret lächelte. Er war sicher, daß es sich so abspielen würde. In Gedanken sah er, wie Amadieus langes Gesicht noch länger wurde, und er hörte ihn vorsichtig andeuten:
»Vielleicht hat er seine Gründe.«
»Glauben Sie wirklich, daß der Inspektor geschossen hat?«
»Ich will nichts gesagt haben, Herr Direktor. Ich weiß nur, daß seine Fingerabdrücke auf der Pistole sind. Man hat noch eine zweite Kugel in der Wand gefunden.«
»Aber warum sollte er das getan haben?«
»In der Aufregung … Man schickt uns junge Leute als Inspektoren, die nicht vorbereitet sind auf …«
Philippe betrat in diesem Moment das ›Chope du Pont-Neuf‹ und ging geradewegs auf seinen Onkel zu, der ihn fragte:
»Was trinkst du?«
»Einen Kaffee mit Sahne. Ich habe alles beschaffen können, worum Sie mich gebeten haben, aber es war nicht leicht. Kommissar Amadieu läßt mich nicht aus den Augen, und die anderen sind auch mißtrauisch.«
Er putzte die Gläser seiner Brille. Dann zog er Papiere aus der Tasche.
»Zuerst zu Cageot. Ich war im Archiv des Erkennungsdienstes und hab seine Karteikarte abgeschrieben. Er ist in Pontoise geboren und ist jetzt neunundfünfzig. Er hat als Anwaltsgehilfe in Lyon angefangen. Dort ist er wegen Urkundenfälschung und wegen des Gebrauchs falscher Urkunden zu einem Jahr verurteilt worden. Drei Jahre später hat er für einen versuchten Versicherungsbetrug sechs Monate gekriegt. Das war in Marseille.
Für einige Jahre verliert sich seine Spur. Dann taucht sie in Monte Carlo wieder auf, wo er Croupier ist. Seit dieser Zeit dient er der Sûreté als Spitzel, was ihn jedoch nicht davor bewahrt hat, in eine nie aufgeklärte Spielbankaffäre verwickelt zu werden.
Vor fünf Jahren ist er schließlich in Paris Geschäftsführer des ›Cercle de l’Est‹ geworden, was nichts anderes war als eine Spielhölle. Sie wird zwar bald geschlossen, Cageot bleibt aber ungeschoren. Das ist alles. Seit damals wohnt er in der Rue des Batignolles, wo er nur eine Putzfrau hat. Er stattet nach wie vor der Rue des Saussaies und dem Quai des Orfèvres seine Besuche ab. Ihm gehören mindestens drei Nachtlokale, die aber von seinen Strohmännern geführt werden.«
»Und Pepito?« fragte Maigret, der sich Notizen gemacht hatte.
»Neunundzwanzig Jahre. In Neapel geboren. Zweimal wegen Drogenhandels aus Frankreich ausgewiesen. Sonst keine Delikte.«
»Barnabé?«
»Geboren in Marseille. Zweiunddreißig Jahre. Dreimal vorbestraft, davon einmal wegen Mittäterschaft bei einem bewaffneten Raubüberfall.«
»Hat man im ›Floria‹ den Stoff gefunden?«
»Nichts. Weder Rauschgift noch Papiere. Der Mörder von Pepito hat alles mitgenommen.«
»Wie heißt denn der Kerl, der dich angerempelt und die Polizei verständigt hat?«
»Joseph Audiat. Ein ehemaliger Kellner, der jetzt etwas mit Pferderennen zu tun hat. Er hat keinen festen Wohnsitz und läßt sich seine Post ins ›Tabac Fontaine‹ schicken. Ich glaube, er sammelt Wettgelder ein.«
»Ach übrigens«, sagte Maigret, »ich habe deine Freundin getroffen.«
»Meine Freundin?« wiederholte Philippe und wurde rot.
»Ein großes Mädchen in einem grünen Seidenkleid, dem du im ›Floria‹ etwas zu trinken bezahlt hast. Ich hätte beinahe mit ihr geschlafen.«
»Ich nicht!« versicherte Philippe. »Falls sie Ihnen etwas anderes erzählt hat …«
Lucas, der gerade eintrat, kam nur zögernd näher. Maigret winkte ihn heran.
»Befaßt du dich mit dieser Affäre?«
»Nicht direkt, Chef. Ich wollte Ihnen nur schnell einen Tip geben, daß Cageot schon wieder im Haus ist. Er ist vor einer Viertelstunde aufgetaucht und tagt jetzt hinter verschlossenen Türen mit Kommissar Amadieu.«
»Trinkst du ein Bier?«
Lucas stopfte seine Pfeife mit Maigrets Tabak. Die Kellner waren noch beim Saubermachen. Sie rieben die Fensterscheiben mit Schlämmkreide ab und streuten Sägespäne zwischen die Tische. Der Wirt, bereits in schwarzer Jacke, inspizierte die Vorspeisen, die schon auf einer Anrichte standen.
»Glauben Sie, es war Cageot?« erkundigte sich Lucas, wobei er die Stimme senkte und zugleich nach seinem Bier griff.
»Dessen bin ich mir sicher.«
»Das ist aber gar nicht lustig!«
Philippe vermied es, sich einzumischen. Respektvoll betrachtete er seine Tischgefährten, die zwanzig Jahre lang miteinander gearbeitet hatten und nun von Zeit zu Zeit, zwischen zwei Rauchwolken aus ihren Pfeifen, ein paar Worte fallenließen.
»Hat er Sie gesehen, Chef?«
»Ich bin zu ihm hingegangen und hab ihm gesagt, daß ich ihn schon noch kriegen werde. Garçon, noch zwei Bier!«
»Der gesteht nie!«
Draußen fuhren die im Sonnenschein leuchtend gelben Lastwagen des Warenhauses La Samaritaine vorbei. Lange Straßenbahnen folgten ihnen bimmelnd.
»Was wollen Sie unternehmen?«
Maigret zuckte die Schultern. Er wußte es nicht. Seine kleinen Augen fixierten über das Treiben auf der Straße und auf der Seine hinweg das Palais de Justice. Philippe spielte mit seinem Bleistift.
»Ich muß jetzt los«, stellte Chefinspektor Lucas mit einem Seufzer fest. »Ich ermittle gerade im Fall eines Jungen aus der Rue Saint-Antoine, irgendein Pole, der ein paar krumme Dinger gedreht hat. Sind Sie heute nachmittag wieder hier?«
»Wahrscheinlich.«
Maigret erhob sich ebenfalls. Philippe fragte besorgt:
»Soll ich mitkommen?«
»Lieber nicht. Geh zurück zum Quai des Orfèvres! Wir treffen uns zum Mittagessen hier.«
Er nahm den Bus, und eine halbe Stunde später stieg er zu Fernande hinauf. Es dauerte einige Minuten, ehe sie ihm die Tür öffnete, denn sie war noch im Bett gewesen. Die Sonne durchflutete das Schlafzimmer. Die Laken waren blendend weiß.
»Schon?« wunderte sich Fernande, die ihren Pyjama über der Brust zuhielt. »Ich hab noch geschlafen. Warten Sie einen Moment!«
Sie lief in die Küche, zündete den Gasherd an und füllte einen Topf mit Wasser. Dabei redete sie unablässig weiter.
»Ich war im ›Tabac‹, wie Sie es verlangt hatten. Vor mir nehmen sie sich natürlich nicht in acht. Wissen Sie eigentlich, daß der Wirt auch noch ein öffentliches Haus in Avignon betreibt?«
»Erzähl weiter!«
»An einem Tisch haben sie Belote gespielt. Ich hab so getan, als ob ich die ganze Nacht herumgesessen hätte und müde wäre.«
»Ist dir nicht ein kleiner Brünetter aufgefallen, der Joseph Audiat heißt?«
»Moment mal! Ja, ein Joseph war auf jeden Fall da. Er hat erzählt, daß er den ganzen Nachmittag bei einem Untersuchungsrichter war. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Es wird halt dabei gespielt. Da zieht einer seinen König und ruft: Belote! Dann legt er die Dame auf den Tisch: Rebelote! Du bist dran, Pierre … Dann fällt wieder mal ein Satz … Jemand antwortet von der Theke her … Ich passe! … Ich passe auch! … Du bist dran, Marcel! … Der Wirt hat mitgespielt … Ein Neger war auch dabei …
Trinkst du was? hat mich ein großer Brünetter gefragt und auf einen Stuhl neben seinem gezeigt.
Das hab ich mir nicht zweimal sagen lassen. Er zeigte mir seine Karten.
Auf jeden Fall, hat der gemeint, den sie Joseph nannten, find ich es gefährlich, einen Flic da hineinzuziehen. Morgen soll ich ihm noch einmal gegenübergestellt werden. Er sieht zwar ziemlich bescheuert aus …
Herz ist Trumpf!
Ich hab ’ne Viererflöte von oben!«
Fernande machte eine Pause.
»Sie trinken doch auch eine Tasse Kaffee, nicht wahr?«
Und schon zog der Kaffeeduft durch die drei Räume.
»Wissen Sie, ich konnte ja nicht mir nichts dir nichts von Cageot zu reden anfangen. Deshalb hab ich gefragt:
Sind Sie eigentlich jeden Abend hier?
Sieht ganz so aus …, hat mein Nachbar geantwortet.
Haben Sie da letzte Nacht nichts gehört?«
Maigret, der Mantel und Hut abgelegt hatte, öffnete das Fenster. Der Straßenlärm drang ins Zimmer. Fernande erzählte dennoch weiter:
»Er hat mich ganz komisch angeschaut und gefragt:
Sag mal, du gehst doch auf den Strich, nicht?
Ich hab gemerkt, daß er Feuer fing. Er spielte zwar weiter Belote, aber nebenbei streichelte er mein Knie. Dann hat er noch gesagt:
Also wir, wir hören hier nie was, verstehst du? Außer Joseph, der hat sogar gesehen, was er sehen sollte.
Daraufhin brachen sie in schallendes Gelächter aus. Was hätte ich da tun können? Ich habe mich nicht einmal getraut, mein Knie wegzuziehen.
Und wieder Pik! Eine Dreierflöte und Belote!
Ein toller Hecht ist er ja schon! meinte Joseph, der einen Grog trank.
Aber mein Kniestreichler hat sich geräuspert und gebrummt:
Mir wäre es allerdings sehr recht, wenn er nicht so oft zur Polente liefe. Kapiert?«
Maigret sah die Szene förmlich vor sich. Er hätte beinahe zu jedem Gesicht einen Namen nennen können. Daß der Wirt vom ›Tabac Fontaine‹ noch ein Bordell in Avignon betrieb, wußte er. Und der große Brünette dürfte der Besitzer des ›Cupidon‹ in Béziers und eines weiteren Hauses in Nîmes gewesen sein. Was den Schwarzen betraf, der gehörte zu einer Jazzband aus der Gegend.
»Haben sie keinen Namen erwähnt?« wollte Maigret von Fernande wissen, die in ihrem Kaffee rührte.
»Keinen Namen. Zwei- oder dreimal haben sie vom Notar geredet. Ich glaube, damit haben sie Cageot gemeint. Er sieht doch aus wie ein Notar, der auf die schiefe Bahn geraten ist.
Aber warten Sie, das ist noch nicht alles! Wollen Sie nichts essen? Es mußte so um drei Uhr gewesen sein. Man hörte, wie im ›Floria‹ die Rolläden runtergelassen wurden. Mein Nachbar, der immer noch mein Knie massierte, fiel mir langsam auf die Nerven. Da ging die Tür auf und Cageot kam herein, tippte an seinen Hut, begrüßte aber die Runde der Kartenspieler nicht.
Keiner hob den Kopf. Es war nur zu spüren, daß ihn alle verstohlen beobachteten. Der Wirt rannte hinter seine Theke.
Gib mir sechs Voltigeurs und eine Schachtel Streichhölzer! verlangte der Notar.
Der kleine Joseph zuckte mit keiner Wimper. Er stierte in sein Grogglas. Cageot zündete sich eine Voltigeur an, steckte die restlichen Zigarren in seine Jacke und nahm einen Geldschein aus seiner Brieftasche. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Ich muß zugeben, das Schweigen machte ihm anscheinend überhaupt nichts aus. Er drehte sich um, schaute alle an, ruhig, eiskalt, dann tippte er wieder an seinen Hut und ging weg.«
Während Fernande ihr Butterbrot in den Kaffee eintunkte, war ihr Pyjama verrutscht und legte zwei spitze Brüste bloß.
Sie mochte siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt gewesen sein, hatte aber noch einen mädchenhaften Körper, und ihre nur schwach ausgeprägten Brustwarzen waren von blassem Rosa.
»Haben sie nichts gesagt? Auch nachher nicht?« erkundigte sich Maigret und drosselte unwillkürlich die Flamme des Gasherds, über der ein Wasserkessel zu summen begann.
»Sie haben sich nur angeschaut. Mit verstohlenen Blicken. Der Wirt hat sich seufzend wieder an seinen Platz gesetzt.«
»Ist das alles?«
»Joseph, der mir verlegen vorkam, hat erklärt:
Ihr wißt ja, er ist gar nicht so eingebildet!«
Die Rue Blanche wirkte um diese Zeit fast provinziell. Man hörte den Schritt der Pferde widerhallen, die vor einen schweren Brauereiwagen gespannt waren.
»Die anderen haben albern gegrinst«, fügte Fernande hinzu. »Nur der, der dauernd mein Bein tätschelte, brummte:
Nein, eingebildet ist er nicht! Aber er ist tückisch genug, uns alle da hineinzuziehen. Ich sag euch, mir wäre es lieber, wenn er nicht dauernd am Quai des Orfèvres wäre!«
Fernande hatte sich bei ihrem Bericht Mühe gegeben, nichts zu vergessen.
»Bist du dann gleich nach Hause gegangen?«
»Das war unmöglich.«
Maigret schien das nicht zu gefallen.
»Oh«, sagte sie schnell dazu, »aber hierher hab ich ihn nicht mitgenommen. Bei diesen Leuten ist es besser, wenn man ihnen nicht zeigt, daß man ein paar Kleinigkeiten besitzt. Er hat mich erst um fünf weggelassen.«
Sie stand auf und trat ans Fenster, um ein bißchen frische Luft zu schnappen.
»Was soll ich jetzt machen?«
Maigret ging nachdenklich auf und ab.
»Wie heißt denn dein Freier?«
»Eugène. Auf seinem Zigarettenetui stehen zwei goldene Initialen: E.B.«
»Kannst du heute abend wieder ins ›Tabac Fontaine‹ gehen?«
»Wenn’s sein muß.«
»Kümmere dich vor allem um den, der Joseph heißt, den Kleinen, der die Polizei verständigt hat!«
»Er hat mich aber überhaupt nicht beachtet.«
»So hab ich’s nicht gemeint. Hör gut zu, was er sagt!«
»Jetzt muß ich, wenn Sie nichts dagegen haben, meine Hausarbeit machen«, erklärte Fernande und schlang sich ein Tuch um den Kopf.
Sie drückten einander die Hand. Und als Maigret die Treppe hinunterstieg, ahnte er nicht, daß noch am selben Abend am Montmartre eine Razzia stattfinden würde, daß die Beamten insbesondere das ›Tabac Fontaine‹ unter die Lupe nehmen und Fernande ins Untersuchungsgefängnis bringen würden.
Cageot, der wußte es schon.
Denn er erklärte genau um diese Zeit dem Chef der Sittenpolizei: »Ich sollte Ihnen übrigens noch sagen, daß es da ein halbes Dutzend Frauen gibt, die nicht registriert sind.«
Es war vor allem Fernande, die in die grüne Minna einsteigen mußte!