Eigentlich rief Ditlevs großer Bruder nie an. Als die Polizei damals in der Rørvig-Sache ermittelte, durchschaute Herbert seinen kleinen Bruder auf den ersten Blick. Aber er äußerte sich nie dazu. Sprach nie von seinem Verdacht und versuchte auch nicht, sich einzumischen. Zu mehr Liebe zwischen den Brüdern führte das allerdings nicht. Nicht, dass es da jemals welche gegeben hätte. Gefühle waren nichts, was man sich in der Familie Pram leistete.

Trotzdem war Herbert zur Stelle gewesen, als es darauf ankam. Wahrscheinlich, weil seine andauernde Angst vor Skandalen, vor Beschmutzung seines Namens, alles andere übertraf.

Nicht von ungefähr hatte Ditlev vor ein paar Wochen die Möglichkeit gewittert, Herbert als passendes Werkzeug einzuspannen, um die Ermittlungen des Sonderdezernats Q auf stand-by herunterzufahren.

Und genau deshalb rief Herbert jetzt an.

»Ich wollte dir nur sagen, dass die Ermittlungen des Sonderdezernats Q wieder voll im Gange sind. Nähere Informationen kann ich dir nicht geben, weil mein Kontakt im Präsidium die Fühler eingezogen hat. Aber Carl Mørck, der die Ermittlungen leitet, weiß jedenfalls, dass ich versucht habe, ihn auszubremsen. Bedauere, Ditlev. Halt den Ball flach, ja?«

Nun schob sich auch bei Ditlev Pram die Panik in den Vordergrund.


Ditlev erwischte den Modekönig, als der rückwärts aus seinem persönlichen Parkplatz fuhr. Torsten Florin hatte gerade in den Nachrichten von Aalbæk gehört. Genau wie Ditlev und Ulrik tippte er sofort auf Kimmie. Allerdings hatte er noch nicht gehört, dass sich Carl Mørck und das Sonderdezernat Q der Sache wieder mit Volldampf widmeten.

»Scheiße, Mensch, langsam wird's ungemütlich«, kam es am anderen Ende.

»Willst du die Jagd lieber absagen?«, fragte Ditlev.

Das lange Schweigen auf der anderen Seite sprach für sich.

»Ungern. Dann stirbt der Fuchs von allein«, sagte Torsten schließlich. »Du hättest den gestern Morgen sehen sollen«, fuhr er fort. »Völlig durchgeknallt. Aber lass mich kurz nachdenken.«

Ditlev konnte sich nur allzu lebhaft vorstellen, wie Torsten sich am Wochenende an den Qualen des tollwütigen Fuchses ergötzt hatte.

Ditlev kannte Torsten. Im Augenblick kämpften in ihm seine mörderischen Triebe mit seiner Vernunft, die ebenfalls eine starke Triebkraft war. Seit er zwanzig war, lenkte er mit ihrer Hilfe sein wachsendes Imperium. Gleich würde man ihn beten hören. Ein kleines Gebet. So war er. Konnte er etwas nicht selbst lösen, stand immer der eine oder andere Gott zur Verfügung, den er anrief.

Ditlev steckte sich den Ohrstöpsel des Handys ins Ohr, spannte die Saite der Armbrust und zog einen neuen Pfeil aus dem Köcher. Dann lud er und richtete die Armbrust auf einen der Poller, die noch vom alten Badesteg übrig waren. Eine Möwe hatte sich gerade darauf niedergelassen und begonnen, ihr Gefieder zu putzen. Ditlev berechnete den Abstand und den Wind und drückte so sanft ab, als streifte sein Finger die Wange eines Babys.

Die Möwe merkte nichts. Mit einem Ruck durchbohrt, landete sie auf dem Wasser. Während Ditlev den Vogel dort treiben sah, leierte Torsten sein Gebet herunter.

Dieser wunderbare Schuss war es, der Ditlev dazu veranlasste, den Tanz zu eröffnen.

»Wir sagen die Jagd nicht ab, Torsten«, sagte er. »Du versammelst heute Abend alle Somalier und gibst ihnen Instruktionen, von nun an ein wachsames Auge auf Kimmie zu haben. Die sollen Wache schieben. Zeig ihnen ein Foto von Kimmie. Versprich ihnen einen Riesenbonus, wenn sie etwas sehen.«

Nach kurzem Bedenken stimmte Torsten zu. »Okay«, sagte er. »Und was ist mit dem Jagdfeld? Wir können schlecht Krum und diese ganzen Pappnasen da rumrennen lassen.«

»Was redest du da? Wer auch immer will, kann dabei sein! Nähert Kimmie sich uns, ist es nur gut, Zeugen zu haben, wenn die Pfeile sie durchbohren.«

Ditlev tätschelte die Armbrust und sah zu dem kleinen weißen Fleck, der zwischendurch immer wieder unter einer Welle verschwand.

»Doch«, fuhr er leise fort. »Kimmies Erscheinen ist mehr als willkommen. Sind wir uns einig, Torsten?«

Die Antwort hörte er nicht, weil seine Sekretärin oben von der Terrasse aus etwas rief. Soweit er es auf die Entfernung erkennen konnte, fuchtelte sie mit den Händen und hielt sie sich ans Ohr.

»Ich glaube, da will jemand was von mir, Torsten. Ich lege jetzt auf. Dann bis morgen früh, ja? Take care.«

Sie legten gleichzeitig auf, und im selben Moment klingelte das Handy schon wieder.

»Haben Sie die Anklopf-Funktion ausgeschaltet, Ditlev?«

Seine Sekretärin. Jetzt stand sie ganz ruhig oben auf der Klinikterrasse.

»Das sollten Sie besser nicht, sonst kann ich Sie ja nicht erreichen. Hier oben herrscht einigermaßen Panik. Ein Mann rennt hier herum und schnüffelt. Er behauptet, Vizepolizeikommissar Carl Mørck zu sein. Was sollen wir tun? Wollen Sie mit ihm reden oder nicht? Er hat uns keinen Durchsuchungsbefehl gezeigt, und ich glaube auch eigentlich nicht, dass er einen hat.«

Ditlev spürte, wie sich der salzige Dunst auf sein Gesicht legte. Sonst spürte er gar nichts. Seit dem ersten Überfall waren mehr als zwanzig Jahre vergangen. In all den Jahren hatte er immer einen Kitzel verspürt, eine Unruhe und latente Sorge, die zunehmend zu einer Energiequelle für ihn wurden.

Im Augenblick spürte er nichts, und das war kein gutes Zeichen.

»Nein«, antwortete er. »Sagen Sie, ich sei unterwegs.« Jetzt verschwand die Möwe vollständig in den dunklen Fluten.

»Sagen Sie, ich sei unterwegs. Und sorgen Sie dafür, dass er rausgeschmissen wird. Zum Teufel mit diesem Kerl.«


35


Für Carl hatte der Montag sehr früh angefangen, genau zehn Minuten, nachdem er Sonntagnacht ins Bett gefallen war.

Den ganzen Sonntag war er total im Eimer gewesen. Auf dem Heimflug hatte er fast die ganze Zeit wie ein Stein geschlafen. Die Stewardessen hatten ihn kaum wecken können und schließlich regelrecht aus dem Flugzeug zerren müssen. Dann hatte ihn das Flughafenpersonal übernommen und mit so einer elektrischen Karre zur Flughafenambulanz gefahren.

»Was sagen Sie, wie viele Frisium haben Sie geschluckt?«, wollten die wissen. Aber da schlief er schon wieder.

Und dann war er paradoxerweise genau in dem Moment hellwach, als er sich in sein Bett gelegt hatte.

»Wo bist du denn heute gewesen?«, fragte Morten Holland, als Carl kurz darauf wie ein Zombie wieder in die Küche stolperte. Schneller als man Nein danke sagen konnte, kam dann ein Martini auf den Tisch, und die Nacht wurde lang.

»Du solltest dir eine Freundin zulegen«, spintisierte Morten, als es vier Uhr schlug und Jesper nach Hause kam. Der steuerte dann auch noch einiges an guten Ratschlägen in puncto Frauen und Liebe bei.

Da wusste Carl, dass Frisium am besten in kleiner Dosierung wirkte. Jedenfalls war man ziemlich tief gesunken, wenn sich einem als Ratgeber in Liebesdingen ein sechzehnjähriger Möchtegernpunk und ein verkappter Schwuler anboten. Fehlte nur noch, dass Jespers Mutter Vigga auftauchte und ihren Senf dazugab. Er konnte sie schon förmlich hören. »Was ist los mit dir, Carl? In deinem metabolischen System knirscht es. Du solltest Rosenwurz einnehmen. Das ist für so vieles gut.«


Er traf Lars Bjørn oben an der Wache. Der sah auch nicht gerade aus wie das blühende Leben.

»Das kommt von diesen verfluchten Müllcontainer-Fällen«, sagte Bjørn.

Sie nickten dem Polizisten hinter der Glasscheibe zu und gingen gemeinsam durch den Säulengang.

»Ihr habt vermutlich die Namensähnlichkeit zwischen Store Kannikestræde und Store Søndervoldstræde schon in Betracht gezogen und überwacht die anderen Straßen?«

»Ja. Sowohl in der Store Strandstræde als auch in der Store Kirkestræde haben wir Polizistinnen in Zivil stehen. Wir werden sehen, ob das den Täter in Versuchung führt. In dem Zusammenhang wollte ich dir gleich sagen, dass wir keine Leute für deinen Fall abstellen können. Aber das weißt du sicher.«

Carl nickte. Im Moment war es ihm fast egal. Fühlte man sich bei Jetlag genauso unausgeschlafen, blöd und verschwommen? Warum begaben sich die Leute dann überhaupt auf Abenteuerreise? Albtraumreise passte weitaus besser.


Auf dem Flur im Keller kam ihm Rose mit einem breiten Lächeln entgegen. Na, das würde ihr schnell genug vergehen. »Und wie war's in Madrid?«, war das Erste, was sie sagte. »Hast du ein bisschen Flamenco gesehen?« Er schwieg.

»Na, komm schon, Carl. Was hast du da unten gesehen?«

Jetzt richtete er seine müden Augen auf sie. »Was ich gesehen habe? Außer dem Eiffelturm und der Innenseite meiner Augenlider hab ich absolut nichts gesehen.«

Sie wollte schon protestieren. Das kann doch nicht wahr sein, sagte ihr Blick.

»Rose, ich sage es dir rundheraus: Wenn du so etwas ein zweites Mal bringst, dann bist du die längste Zeit Mitarbeiterin des Sonderdezernats Q gewesen.«

Dann schritt er an ihr vorbei zu seinem Bürostuhl. Der tief gestellte Sitz erwartete ihn. Vier bis fünf Stunden Schlaf mit den Beinen auf dem Tisch, und er würde sich wie neugeboren fühlen, da war er sich sicher.

»Was ist denn los?« Das war Assads Stimme, genau in dem Moment, als Carl das Traumland betrat.

Er zuckte die Achseln. Nichts weiter, als dass er sich fast in Auflösung befand. War Assad blind oder wie?

»Rose ist niedergeschlagen. Hast du hässlich mit ihr gesprochen, Carl?«

Er wollte sich gerade wieder aufregen, als sein Blick auf die Papiere fiel, die Assad unterm Arm hatte.

»Was hast du für mich?«, fragte er müde.

Assad setzte sich auf eines von Roses metallenen Schreckensgestellen. »Man hat Kimmie Lassen noch nicht gefunden. Aber die Fahndung läuft, das ist wohl nur eine Frage der Zeit.«

»Gibt's was Neues vom Ort der Explosion? Hat man da irgendwas gefunden?«

»Nein, nichts. Soweit ich weiß, sind die da jetzt fertig.« Er nahm seine Papiere und schaute hinein.

»Ich hab die von der Zaunfabrik Løgstrup Hegn erwischt«, sagte er. »Die waren sehr hilfsbereit. Die mussten einmal die ganze Abteilung durchgehen, ehe sie jemanden fanden, der etwas zu dem Schlüssel sagen konnte.«

»Aha.« Carl hatte die Augen wieder geschlossen.

»Einer von deren Leuten hat damals einen Schlosser zur Ingerslevsgade geschickt, um einer Dame von der Dänischen Staatsbahn zu helfen, die ein paar Extraschlüssel bestellt hatte.«

»Und hast du eine Beschreibung der Frau bekommen, Assad? Denn das war ja wohl Kimmie Lassen?«

»Nein. Die konnten nicht herausbekommen, welcher Schlosser das gemacht hat. Deshalb habe ich keine Personenbeschreibung. Ich habe das denen da oben in der Abteilung gesagt. Die wollen ja sicher gern wissen, wer Zugang zu dem Haus hatte, das explodiert ist.«

»Okay, Assad, schon gut. Das läuft also wie am Schnürchen.«

»Was für eine Schnur?«

»Egal, Assad, vergiss es. Deine nächste Aufgabe: Du legst Akten von jedem unserer drei Internatsfreunde an, Ditlev, Ulrik und Torsten. Ich will Informationen zu allem Möglichen: steuerliche Verhältnisse, Firmenkonstruktionen, Wohnort, Zivilstand und das alles. Stell die Mappen in aller Ruhe zusammen.«

»Wen nehme ich denn zuerst? Ich hab für jeden von denen schon einiges rausgesucht.«

»Schön, Assad. Hast du sonst noch was, worüber wir reden müssen?«

»Ich soll von oben, von der Mordkommission, ausrichten, dass Aalbæks Telefon sehr viel mit dem von Ditlev Pram in Kontakt war.«

Natürlich war es das.

»Schön, Assad. Dann besteht also ein Zusammenhang zwischen denen und dem Fall hier. Mit der Info als Vorwand können wir gleich zu denen fahren.«

»Vorwand?«

Carl öffnete die Augen und sah geradewegs in zwei dunkelbraune Fragezeichen. Also ehrlich, manchmal war das ganz schön mühsam. Vielleicht könnte ein bisschen Privatunterricht in Dänisch die Sprachbarriere um ein paar Meter senken? Andererseits riskierte man dann wohl, dass der Mann plötzlich wie ein Geschäftsmann daherschwatzte.

»Und dann hab ich Klavs Jeppesen gefunden«, fuhr Assad fort, als Carl auf seine Frage nicht reagierte.

»Schön, Assad.« Er versuchte sich zu erinnern, wie oft er nun schon »schön« gesagt hatte. Das wurde ja inflationär. »Und wo ist er?«

»Im Krankenhaus.«

Da richtete Carl sich auf. Was war das denn? »Ja, du weißt schon.« Assad deutete einen Schnitt übers Handgelenk an.

»Ach du Scheiße! Warum das denn? Überlebt er?«

»Ja. Ich bin da draußen gewesen. Schon gestern.«

»Gut, Assad. Und?«

»Ja, nichts. Nur ein Mann ohne Rückenknochen.« Rückenknochen? Was war das jetzt wieder? »Er war seit vielen Jahren drauf und dran, das zu tun, hat er gesagt.«

Carl schüttelte den Kopf. Also, so hatte noch nie eine Frau auf ihn gewirkt. Schade eigentlich. »Hatte er noch mehr zu erzählen?«

»Das glaub ich nicht. Die Krankenschwestern haben mich rausgeschmissen.«

Carl lächelte schwach. Das war Assad inzwischen ja schon gewohnt.

Dann veränderte sich der Gesichtsausdruck seines Assistenten plötzlich. »Ich hab oben im zweiten Stock einen neuen Mann gesehen. Iraker, glaub ich. Weißt du, was der hier macht?«

Carl nickte. »Ja, der ist Baks Nachfolger. Er war vorher in Rødovre. Ich hab ihn vorgestern Nacht da draußen im Hochhaus kennengelernt. Vielleicht kennst du ihn? Samir heißt er. An den Nachnamen kann ich mich gerade nicht erinnern.«

Assad hob leicht den Kopf. Seine vollen Lippen öffneten sich etwas, und um seine Augen legte sich ein Kranz aus kleinen Fältchen. Allerdings keine Lachfältchen. Für einen Moment wirkte er ganz weit weg.

»Okay«, sagte er dann leise und nickte langsam. »Nachfolger von Bak. Dann wird er also hierbleiben?«

»Ja, davon gehe ich aus. Stimmt was nicht?«

Da schaltete Assad plötzlich wieder um. Das Gesicht entspannte sich und er sah Carl mit seinem gewohnt unbekümmerten Blick direkt an.

»Sieh doch zu, dass ihr beide, du und Rose, gute Freunde werdet, Carl. Sie ist so fleißig und so ... so süß. Weißt du, wie sie mich heute Morgen genannt hat?« Er machte eine erwartungsvolle Pause, aber Carl sagte nichts. »Ihren Lieblingsbeduinen. Ist das nicht süß?« Assad entblößte seinen Überbiss und schüttelte entzückt den Kopf.

Ironie war nicht gerade die stärkste Seite dieses Mannes.


Carl stöpselte sein Handy zum Aufladen an die Steckdose und sah ans Whiteboard. Der nächste Schritt musste das direkte Gespräch mit Pram, Dybbøl Jensen und Florin sein. Da würde er Assad mitnehmen, damit es einen Zeugen gab, falls die Herren etwas ausplauderten.

Außerdem hatte er noch den Anwalt der drei auf der Liste.

Er strich sich übers Kinn und biss sich auf die Lippe. So was Saublödes, diese Nummer mit Bent Krums Frau, die er da abgezogen hatte. Zu behaupten, der habe eine Affäre mit seiner eigenen Frau! Wie doof konnte man eigentlich sein? Wie geneigt war der Herr Anwalt jetzt wohl, sich mit ihm zu treffen?

Er suchte Krums Nummer heraus und gab sie ein.

»Agnete Krum«, sagte eine Stimme.

Er räusperte sich und ging zu einer höheren Stimmlage über. Wiedererkennen ist gut, wenn man berühmt ist. Nicht, wenn man berüchtigt ist.

»Nein«, sagte sie. »Nein, der wohnt hier nicht mehr. Wenn Sie etwas von ihm wollen, muss ich Sie bitten, ihn auf seinem Handy anzurufen.« Sie gab ihm die Nummer. Ihre Stimme klang traurig.

Er tippte sofort die andere Nummer ein, bekam aber nur die Ansage von Krums Mailbox zu hören. Er sei draußen, um sein Schiff fertig zu machen, am nächsten Tag sei er aber unter dieser Nummer zwischen neun und zehn zu erreichen.

So was Blödes, dachte Carl und rief die Frau noch mal an. Das Schiff läge im Yachthaften von Rungsted, sagte sie.

Na, wenigstens das war keine Überraschung.


»Wir müssen los, Assad, kannst du dich bitte fertig machen?«, rief Carl über den Flur. »Ich muss nur zuerst noch einen Anruf tätigen, ja?«

Er gab die Nummer seines alten Kollegen und Rivalen vom City Revier ein, Brandur Isaksen. Halb Faringer, halb Grönländer. Und mindestens so nordatlantisch in seiner Seele und seiner Art. Der Eiszapfen vom Halmtorv wurde er genannt.

»Was willst du?«, fragte er.

»Ich möchte dich nach einer Rose Knudsen fragen, die ich von euch übernommen habe. Ich hab gehört, bei euch in der City hat es ein bisschen Ärger mit ihr gegeben. Kannst du mir vielleicht sagen, worum es da ging?«

Diese Lachsalve hatte er nicht erwartet. Lachen war bei Isaksen eine ebensolche Rarität wie Freundlichkeit.

»Du hast sie also bekommen?« Isaksen kriegte sich gar nicht wieder ein. Es war Carl nicht ganz geheuer.

»Ich werde es dir in kurzen Zügen erzählen«, fuhr er fort. »Zuerst einmal hat sie die Privatwagen von drei Kollegen beim Rückwärtsfahren beschädigt. Dann hat sie ihre Bodum-Kaffeekanne auf die handschriftlichen Aufzeichnungen des Chefs für die Wochenberichte gestellt. Die Kanne war nicht dicht. Sie hat die Bürodamen herumkommandiert. Sie hat sämtliche Ermittler herumkommandiert und sich in ihre Arbeit eingemischt. Und schließlich und endlich hat sie bei einer Weihnachtsfeier mit zwei Kollegen gevögelt, soweit ich das mitbekommen habe.« Isaksen hörte sich so an, als würde er vor Lachen gleich vom Stuhl kippen. »Und du, Carl, hast sie bekommen? Dann würde ich dir raten, ihr bloß nichts zu trinken zu geben.«

Carl holte tief Luft. »Noch mehr?«, fragte er.

»Sie hat eine Zwillingsschwester. Ja, also nicht eineiig. Aber die ist mindestens genauso merkwürdig.«

»Aha. Und wie?«

»Na ja, wenn sie erst mal anfängt, ihre Schwester von der Arbeit aus anzurufen, also da schlackern dir die Ohren. Kurz gesagt: Sie ist eigensinnig, unverblümt bis großmäulig und gelegentlich enorm unwillig.«

Also nichts, was er nicht schon wusste. Bis auf die Geschichte mit dem Sprit.

Carl legte auf. Er machte große Ohren, um mitzubekommen, was in Roses Büro los war.

Schließlich stand er sogar auf und schlich sich über den Gang. Doch ja, sie telefonierte.

Kurz vor ihrer Tür blieb er stehen und horchte.

»Ja«, sagte sie ruhig. »Ja, das sollte man lassen. O ja. Finden Sie ... ah ja, na dann«, und noch mehr in diesem Stil.

Dann tauchte Carl in der offenen Tür auf und sah sie scharf an. Hoffen konnte man ja, dass das eine gewisse Wirkung hatte.

Zwei Minuten später legte sie auf. Ob man da von Wirkung sprechen konnte?

»Na, sitzt du hier und machst es dir mit Freunden gemütlich?«, fragte er spitz, was an ihr aber offensichtlich abprallte.

»Freunde«, sagte sie und holte tief Luft. »Tja, vielleicht kann man das so sagen. Das war ein Ministerialdirektor von drüben aus dem Justizministerium. Er wollte nur sagen, dass sie eine Mail aus Oslo bekommen hätten. Die Kripo dort lobt unsere Abteilung und meint, wir seien das Interessanteste, was es seit fünfundzwanzig Jahren in der nordischen Polizeigeschichte gäbe. Und nun hat man sich drüben im Ministerium nur gefragt, warum du nicht als Polizeikommissar eingestellt bist.«

Carl schluckte. Ging das jetzt wieder los! Er wollte nicht noch mal auf die Schulbank, ums Verrecken nicht. Das Thema hatten Marcus Jacobsen und er doch längst abgehakt!

»Was hast du geantwortet?«

»Ich? Ich hab einfach von was anderem geredet. Was hättest du denn gern als Antwort gehört?« Good girl, dachte er.

»Du, Rose«, sagte er und riss sich mächtig zusammen. Es war nicht leicht, sich zu entschuldigen, wenn man aus Brønderslev kam. »Ich war heute ein bisschen unwirsch. Vergiss es. Die Tour nach Madrid war eigentlich okay. Ja, wenn ich's mir recht überlege, war der Unterhaltungswert sogar überdurchschnittlich groß. Jedenfalls hab ich einen Bettler ohne Zähne gesehen und man hat mir alle Kreditkarten gestohlen und ich hab über mindestens zweitausend Kilometer mit einer fremden Frau Händchen gehalten. Aber sag mir beim nächsten Mal einfach ein bisschen früher Bescheid, ja?«

Sie lächelte.

»Und dann noch eins, Rose. Wo ich gerade dran denke. Hast du mit einem Dienstmädchen gesprochen, das von Kassandra Lassens Haus aus anrief? Weißt du noch, ich hatte meine Dienstmarke nicht mit, deshalb rief sie hier an, um meine Identität zu überprüfen.«

»Ja, das war ich.«

»Sie hatte um eine Beschreibung meines Aussehens gebeten. Was hast du da zu ihr gesagt? Würdest du das bitte noch mal wiederholen?«

Auf ihren Wangen erschienen verräterische Grübchen.

»Na, ich hab nur gesagt, wenn das ein Typ mit einem braunen Ledergürtel sei, mit schwarzen ausgetretenen Latschen in Größe fünfundvierzig, dann seist du es höchstwahrscheinlich. Und wenn sie dann auch noch einen kahlen Fleck auf deinem Schädel sehen könnte, der an Arschbacken erinnert, dann bestünde kein Zweifel mehr.«

Die ist einfach gnadenlos, dachte er und strich das Haar etwas zurück.


Sie fanden Bent Krum im Yachthafen, ganz draußen an Steg elf. Er saß in einem Polsterstuhl auf dem Achterdeck eines Motorboots, das garantiert mehr kostete, als ein Mann wie Bent Krum wert war.

»Die Yacht da ist eine V42«, sagte ein Junge vor dem Thai-Restaurant an der Promenade. Ein wahrhaft junger Experte.

Krums Entzücken hielt sich sichtlich in Grenzen, als der Hüter des Gesetzes, gefolgt von einem sonnengebräunten Vertreter des alternativen Dänemarks, sein weißes Paradies betrat.

Aber Carl ließ dem Anwalt gar keine Zeit, Einspruch zu erheben.

»Ich habe mit Valdemar Florin gesprochen«, sagte Carl. »Und der hat mich an Sie verwiesen. Er meinte, Sie seien der geeignete Mann, um über Familienangelegenheiten Auskunft zu geben. Hätten Sie wohl fünf Minuten?«

Bent Krum schob seine Sonnenbrille in die Haare. Dort hätte sie im Grunde die ganze Zeit stecken können, denn von Sonne war nichts zu sehen. »Dann werden es fünf Minuten sein und nicht mehr. Meine Frau erwartet mich zu Hause.«

Carl lächelte breit. Ach ja, besagte das Lächeln, und als altem Hasen fiel es Bent Krum natürlich auf. Dann hütete er sich jetzt vielleicht, noch einmal zu lügen.

»Valdemar Florin und Sie waren anwesend, als 1987 die jungen Internatsschüler zum Polizeirevier in Holbæk gebracht wurden. Sie standen unter Verdacht, die Morde in Rørvig begangen zu haben. Florin deutete mir gegenüber an, dass sich zwei von denen ziemlich von der restlichen Clique unterschieden. Das könnten Sie mir jedoch noch genauer erläutern, meinte er. Wissen Sie, woran er dabei dachte?«

Krum war äußerst blass. Nicht, weil ihm Pigmente, sondern weil ihm Blut fehlte. Aufgesogen von all den Niederträchtigkeiten, die er über die Jahre hinweg hatte ausbügeln und ummünzen müssen. Carl hatte das immer wieder festgestellt: Niemand wirkte blasser als Polizisten mit ungelösten Aufgaben im Gepäck und Anwälte mit zu vielen gelösten.

»Unterschieden sich, sagen Sie? Das taten sie doch alle. Wunderbare junge Menschen, finde ich. Das haben sie mit ihrem Werdegang seither ja bewiesen, finden Sie nicht?«

»Tja«, sagte Carl. »Davon verstehe ich nicht so viel. Aber einer, der sich selbst mit der Schrotflinte ins Untergestell schießt, ein anderer, der davon lebt, Frauen mit Botox und Silikon auszustopfen, ein Dritter, der unterernährte Mädchen durch grelles Scheinwerferlicht stolpern lässt, ein Vierter, der mit Lebenslang im Gefängnis sitzt, ein Fünfter, dessen Spezialität es ist, reiche Menschen auf Kosten unwissender, kleiner Sparer noch reicher zu machen, und schließlich eine, die seit elf Jahren auf der Straße lebt. Ja also, da weiß ich nicht so genau, was Sie meinen.«

»Ich denke, mit solchen Auslassungen sollten Sie nicht an die Öffentlichkeit gehen«, erwiderte Krum, stets bereit zu einer Klageerhebung.

»Öffentlichkeit?«, griff Carl auf und sah sich in dieser Umgebung aus Glasfaser, Chrom und hochglanzpoliertem Teakholz um. »Gibt es etwas weniger Öffentliches als das hier?« Er breitete die Arme aus und lächelte. Ein Kompliment, konnte man meinen.

»Und was ist mit Kimmie Lassen?«, fuhr Carl fort. »Unterschied sie sich nicht von den anderen? War sie nicht eine zentrale Figur bei den Unternehmungen der Gruppe? Könnten nicht Florin und Dybbøl Jensen und Pram ein gewisses Interesse daran haben, dass sie still und leise von der Oberfläche der Erde verschwände?«

Da überzogen senkrechte Lachfalten Krums Schädel. Kein sehr schöner Anblick. »Sie ist bereits verschwunden, wenn ich Sie daran erinnern darf. Und wohlgemerkt aus freien Stücken.«

Carl wandte sich an Assad. »Hast du das mitbekommen, Assad?«

Der hob den Bleistift zustimmend in die Höhe. »Danke«, sagte Carl. »Das war alles.« Sie standen auf.

»Wie bitte?«, sagte Krum. »Was mitbekommen? Was war das gerade?«

»Na, Sie sagten doch, dass die Herren ein Interesse daran hatten, dass Kimmie Lassen verschwand.«

»Nein, das hab ich wahrlich nicht gesagt.«

»Hat er doch, Assad, oder?«

Der kleine Mann nickte heftig. Er war loyal.

»Wir haben einige Indizien, die darauf hindeuten, dass die Clique die beiden Geschwister in Rørvig umgebracht hat«, sagte Carl. »Und ich spreche jetzt nicht nur von Bjarne Thøgersen. Wir werden uns wiedersehen, Herr Krum. Außerdem werden Sie wohl auch eine Reihe anderer Menschen treffen, von denen Sie vielleicht schon gehört haben. Lauter interessante Menschen mit gutem Gedächtnis. Zum Beispiel Mannfred Sloth, der Freund von Kåre Bruno.«

Auf diesen Namen reagierte Krum nicht.

»Und einen Lehrer des Internats, Klavs Jeppesen. Ja, und gar nicht zu reden von Kyle Basset, den ich gestern in Madrid verhört habe.«

Jetzt reagierte Krum. »Einen Augenblick«, sagte er und packte Carls Arm.

Carl blickte missbilligend auf die Hand, worauf Krum sie blitzschnell wieder wegnahm.

»Ja, ja, Herr Krum«, sagte er. »Wir wissen, dass Ihr Interesse am Wohl und Wehe dieser Männerfreunde groß ist. Sie sind zum Beispiel im Vorstand der Privatklinik Caracas. Das allein ist vielleicht schon ein Grund, weshalb Sie hier in so schöner Umgebung sitzen können.« Er deutete in die Runde, zu den Restaurants an der Mole und über den Öresund.

Ohne jeden Zweifel würde Bent Krum gleich in Windeseile Pram, Dybbøl Jensen und Florin anrufen.

Na, dann waren sie wenigstens gut vorbereitet, wenn Carl zu ihnen ging. Vielleicht sogar mürbe.


Assad und Carl betraten die Klinik Caracas wie zwei nach Schönheit strebende Herren, die sich in Ruhe umschauen wollten, ehe sie sich eventuell hier und da etwas Fett absaugen ließen. Natürlich wollte die Empfangsdame sie aufhalten, aber Carl ging einfach zielstrebig weiter in den Bereich, der nach Verwaltungstrakt aussah.

»Wo ist Ditlev Pram?«, fragte er eine Sekretärin, als er endlich das Schild gefunden hatte, auf dem Ditlev Pram, CEO stand.

Sie hatte schon das Telefon in der Hand, um das Wachpersonal anzurufen. Da zeigte er ihr seine Dienstmarke und schenkte ihr ein Lächeln, das selbst seine bodenständige Mutter unwiderstehlich gefunden hätte. »Ja, entschuldigen Sie, dass wir so hereinplatzen. Aber wir müssen mit Ditlev Pram sprechen. Glauben Sie, dass Sie ihn herholen können? Darüber würden sich alle freuen, er und wir.«

Doch darauf fiel sie nicht herein.

»Er ist heute leider nicht im Haus«, sagte sie resolut. »Aber soll ich Ihnen nicht einen Termin geben? Wie wäre es mit dem 22. Oktober, würde Ihnen das passen?«

Dann würden sie also nicht jetzt sofort mit Pram sprechen. Saublöd.

»Danke, wir rufen an«, sagte Carl und zog Assad mit sich.

Ohne jeden Zweifel würde sie Pram warnen. Schon drehte sie sich um und ging mit ihrem Handy auf die Terrasse. Tüchtige Sekretärin.

»Wir wurden dorthin geschickt«, sagte Carl, als sie am Empfang vorbei dem Bettentrakt zustrebten.

Man schaute sie unterwegs aufmerksam an und sie quittierten das mit freundlichem Nicken.

Nachdem sie an der OP-Abteilung vorbei waren, blieben sie einen Moment stehen, um zu sehen, ob Pram auftauchte. Dann gingen sie an einer Reihe Einzelzimmer vorbei, aus denen klassische Musik tönte. Schließlich landeten sie im Servicetrakt, wo weniger gut konservierte Menschen in weniger prestigeträchtigen Kitteln herumliefen.

Sie nickten den Köchen zu und landeten zum Schluss ganz draußen in der Wäscherei. Dort sahen sie sich einer Reihe sehr asiatisch aussehender Frauen gegenüber, die sie äußerst verschreckt anschauten.

Wenn Pram erfuhr, dass Carl dort unten gewesen war, würden die schon in einer Stunde weggekarrt werden, da ging Carl jede Wette ein.


Auf dem Rückweg war Assad für seine Verhältnisse sehr schweigsam. Erst in der Nähe von Klampenborg machte er den Mund auf. »Wenn du Kimmie Lassen wärest, wo würdest du hingehen?«

Carl zuckte die Achseln. Wer konnte das wissen? Sie war doch ziemlich unkalkulierbar. Besaß anscheinend ein Talent, sich durchs Leben zu improvisieren wie niemand sonst. Sie konnte überall und nirgends sein.

»Wir sind uns doch einig, dass sie großes Interesse daran gehabt haben muss, dass Aalbæk aufhörte nach ihr zu suchen. Also sie und der Rest der Gruppe, das waren doch nicht gerade Freundesbusen.«

»Busenfreunde, Assad. Busenfreunde.«

»In der Mordkommission hieß es, Aalbæk sei am Samstagabend in einem Lokal namens Damhus Kro gewesen. Hab ich das schon gesagt?«

»Nein, aber ich hab es auch gehört.«

»Und als er ging, war er mit einer Frau zusammen, nicht wahr?«

»Das wiederum habe ich nicht gehört.«

»Also, Carl. Wenn sie nun den Aalbæk umgebracht hat, dann sind die anderen aus der Clique doch nicht besonders froh.«

Das war vorsichtig ausgedrückt.

»Dann herrscht zwischen denen jetzt Krieg.«

Carl nickte müde. Die Strapazen der letzten Tage und Nächte beeinträchtigten nicht mehr nur seine Hirntätigkeit, sondern legten sich wie Blei auf das gesamte motorische Nervensystem. Was für ein Kraftakt allein, das Gaspedal runterzutreten.

»Glaubst du nicht, dass Kimmie zu dem Haus zurückkehren wird, wo du den Kasten gefunden hast? Um die Beweise gegen die anderen da rauszuholen?«

Carl nickte langsam. Die Möglichkeit bestand unbedingt. Eine andere war, auf den Seitenstreifen zu fahren und ein Nickerchen zu machen.

»Sollten wir dann also nicht dorthin fahren?«, folgerte Assad.

Als sie hinkamen, war das Haus verriegelt und verrammelt. Sie klingelten mehrfach. Sie suchten die Telefonnummer heraus und riefen an. Sie hörten es im Haus klingeln, aber niemand nahm ab. Es schien zwecklos. Carl hatte nicht die Kraft, mehr daraus zu machen. Auch ältere Frauen hatten verdammt noch mal das Recht auf ein Leben außerhalb ihrer eigenen vier Wände.

»Komm«, sagte er zu Assad. »Lass uns gehen. Du fährst, ich mache derweil ein Nickerchen.«

Als Carl und Assad ins Präsidium zurückkamen, war Rose am Packen. Sie wollte nun nach Hause und sich vor übermorgen auch nicht wieder blicken lassen. Sie war müde, hatte hart gearbeitet, und zwar am Freitagabend, am Samstag und teilweise am Sonntag: Mehr war jetzt einfach nicht drin.

Carl ging es haargenauso.

»Und im Übrigen«, sagte sie, »hab ich eine Tussi von der Universität Bern erwischt, und die hat die Unterlagen zu Kimmie Lassen aufgetrieben.«

Da hat Rose doch tatsächlich die gesamte Liste abgearbeitet, dachte Carl.

»Sie war eine gute Studentin. Keine Zwischenfälle. Nur dass sie bei einem Skiunfall ihren Freund verlor. Aber ansonsten war der Aufenthalt dort unten in der Schweiz sehr gelungen, soweit das aus den Unterlagen hervorgeht.«

»Ein Skiunfall?«

»Ja. Und der sei etwas sonderbar gewesen, hat die Frau gesagt. Sogar so sonderbar, dass es darüber Gerede gegeben hat. Denn ihr Freund war ein richtig guter Skiläufer und eigentlich keiner, der jenseits der freigegebenen Pisten auf derart felsigen Hängen gefahren wäre.«

Carl nickte. Gefährlicher Sport.


Draußen vor dem Präsidium traf er Mona Ibsen. Die Tasche, die sie über der Schulter trug, war geräumig, und ihr Blick sagte Nein danke, noch ehe er den Mund geöffnet hatte.

»Ich überlege allen Ernstes, Hardy zu mir nach Hause zu nehmen«, sagte er matt. »Aber ich meine, ich weiß zu wenig darüber, wie sich das psychisch auf ihn und uns zu Hause auswirken kann.«

Er sah sie mit müden Augen an. Offenbar hatte es das gebraucht. Denn als er sie anschließend fragte, ob sie mit ihm essen gehen wolle, damit sie ein bisschen über die Konsequenzen einer so großen Entscheidung für alle Beteiligten reden könnten, war die Antwort positiv.

»Ach, warum eigentlich nicht«, sagte sie und lächelte. Dieses Lächeln, das ihn so hart im Unterleib traf. »Ich habe sowieso schon Hunger.«

Carl war sprachlos. Er sah ihr einfach nur in die Augen und hoffte, dass sein stiller Charme ausreichte.

Als sie bereits eine Stunde beim Essen saßen, begann Mona Ibsen aufzutauen. Da wurde Carl von einer so selig machenden Erleichterung ergriffen, dass er endlich lockerlassen konnte und einfach einschlief.

Nett angerichtet mitten auf dem Teller, zwischen Rindfleisch und Brokkoli.


36


Am Montagmorgen schwiegen die Stimmen.

Kimmie wachte langsam auf. Verwirrt sah sie sich in ihrem alten Zimmer um. Kurz glaubte sie, dreizehn zu sein und schon wieder verschlafen zu haben. Wie oft war sie morgens aus dem Haus gejagt worden ohne andere Nahrung als das Geschimpfe von Kassandra und ihrem Vater. Wie oft hatte sie mit knurrendem Magen in der Schule von Ordrup gesessen und sich weit weggeträumt.

Dann erinnerte sie sich an das, was am Vortag passiert war. An Kassandras weit aufgerissene, tote Augen.

Da begann sie, ihr altes Lied zu summen.

Nachdem sie sich angezogen hatte, nahm sie das Bündel und ging nach unten. Sie warf schnell einen Blick auf Kassandras Leiche im Wohnzimmer. Dann saß sie in der Küche und flüsterte der Kleinen zu, was es alles zu essen geben könnte.

So saß sie auch da, als das Telefon klingelte.

Sie zog die Schultern etwas hoch und nahm zögernd den Hörer ab. »Ja?«, sagte sie mit affektierter, heiserer Stimme. »Kassandra Lassen. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Sie erkannte die Stimme schon beim ersten Wort. Das war Ulrik.

»Ja, bitte entschuldigen Sie. Sie sprechen mit Ulrik Dybbøl Jensen, vielleicht erinnern Sie sich an mich?«, sagte er. »Wir glauben, dass Kimmie zu Ihnen unterwegs sein könnte, Frau Lassen. Wir möchten Sie bitten, vorsichtig zu sein und uns sofort zu benachrichtigen, wenn sie das Haus betritt.«

Kimmie sah aus dem Küchenfenster. Falls sie auf diesem Weg kamen, konnten die drei sie nicht sehen, wenn sie hinter der Tür stand. Und die Messer in Kassandras Küche waren exzellent. Durchtrennten zähes wie mürbes Fleisch gleichermaßen mühelos.

»Ich denke, Sie müssen sehr aufpassen, wenn Sie Kimmie sehen, Frau Lassen. Aber lassen Sie sie gewähren. Lassen Sie sie herein und halten Sie sie fest. Und rufen Sie uns dann an, damit wir Ihnen zu Hilfe kommen.« Er lachte vorsichtig, um seine Worte plausibel klingen zu lassen. Aber Kimmie wusste es besser. Kein Mann dieser Welt konnte Kassandra Lassen helfen, wenn Kimmie aufkreuzte. Das hatte man ja gesehen.

Er gab ihr drei Handynummern, die Kimmie noch nicht kannte. Die von Ditlev, von Torsten und seine eigene.

»Vielen Dank für die Warnung«, sagte sie, während sie die Nummern notierte. Und das meinte sie ernst. »Darf man fragen, wo Sie derzeit sind? Werden Sie überhaupt schnell genug nach Ordrup kommen können, falls das nötig sein sollte? Wäre es nicht besser, ich riefe doch die Polizei an?«

Sie konnte Ulriks Gesicht vor sich sehen. Nur bei einem echten Crash an der Wall Street wäre seine Miene besorgter. Die Polizei! Was für ein hässliches Wort in diesem Zusammenhang.

»Nein, das glaube ich kaum«, sagte er. »Wissen Sie nicht, dass es bis zu einer Stunde dauern kann, ehe die Polizei kommt? Ja, wenn die überhaupt reagieren. So sind die Zeiten nun mal, Frau Lassen. Das ist nicht mehr so wie früher.« Er stieß ein paar höhnische Laute aus, die sie von der zweifelhaften Effektivität der Ordnungshüter überzeugen sollten. »Wir sind nicht weit von Ihnen entfernt, Frau Lassen. Heute arbeiten wir, und morgen halten wir uns in Ejlstrup bei Torsten Florin auf. Wir sind auf der Jagd im Wald von Gribskov, der zu seinem Landgut gehört. Aber wir werden alle drei die Handys eingeschaltet lassen. Rufen Sie uns jederzeit an, wir sind zehnmal so schnell bei Ihnen wie die Polizei.«

Aha, oben in Ejlstrup bei Florin also. Sie wusste genau, wo.

Und alle drei auf einmal. Besser konnte es nicht sein.

Sie brauchte sich also nicht zu beeilen.


Sie hörte nicht, dass die Haustür geöffnet wurde, aber sie hörte das Rufen der Frau.

»Guten Morgen, Kassandra, ich bin's, Zeit aufzustehen!«

Kimmie erstarrte.

Von der Eingangshalle gingen vier Türen ab. Eine direkt in den Küchentrakt, wo sich Kimmie befand. Eine zur Toilette. Eine in das Esszimmer und weiter zu My Room, wo Kassandras steifer Körper lag. Und schließlich eine zum Keller.

Wenn der Frau ihr Leben lieb war, dann wählte sie jede Tür, nur nicht die zum Ess- und Wohnzimmer.

»Hallo«, rief Kimmie.

Kimmie hörte die Schritte innehalten, und als sie die Tür öffnete, sah sie sich einer verwirrt dreinblickenden Frau gegenüber.

Sie hatte sie noch nie gesehen. Anscheinend eine Haushaltshilfe, nach dem blauen Kittel zu urteilen, den sich die Frau gerade überzog.

»Tag. Ich bin Kirsten-Marie Lassen, Kassandras Tochter«, sagte sie und streckte der Frau die Hand hin. »Kassandra ist leider krank geworden und musste ins Krankenhaus. Deshalb brauchen wir Sie heute nicht.«

Sie ergriff die Hand der Haushälterin, die noch zögerte.

Es gab keinen Zweifel, dass sie Kimmies Namen schon gehört hatte. Ihr Händedruck war oberflächlich und schnell, die Augen auf der Hut. »Charlotte Nielsen«, antwortete sie kalt und starrte über Kimmies Schulter zum Wohnzimmer hinüber.

»Ich glaube, meine Mutter wird am Mittwoch oder Donnerstag nach Hause kommen. Dann werde ich Sie rechtzeitig anrufen. In der Zwischenzeit kümmere ich mich ums Haus.« Kimmie spürte, wie ihr das Wort Mutter auf den Lippen brannte. Ein Wort, das sie noch nie für Kassandra benutzt hatte. Aber im Moment war es unumgänglich.

»Ich sehe, hier liegt allerlei herum«, sagte die Haushaltshilfe und sah hinüber zu dem Louis-seize-Stuhl in der Halle, auf den Kimmie ihre Kleider geworfen hatte. »Ich denke, ich gehe schnell einmal alles durch. Ich hätte ja eh den ganzen Tag hier sein sollen.«

Kimmie stellte sich vor die Tür zum Esszimmer. »Oh, das ist sehr lieb von Ihnen. Aber heute sagen wir Nein danke.« Sie legte der Frau eine Hand auf die Schulter und führte sie zu ihrem Mantel an der Garderobe.

Die Frau machte sich weder die Mühe, den Kittel auszuziehen, noch, sich zu verabschieden, als sie mit hochgezogenen Augenbrauen ging.

Wir müssen die Alte schnellstens loswerden, dachte Kimmie und schwankte zwischen Verscharren im Garten und anderswo verschwinden lassen. Hätte sie ein Auto zur Verfügung, dann wüsste sie schon einen See in Nordseeland, der bestimmt noch Platz für eine weitere Leiche hätte.

Dann blieb sie stehen. Lauschte auf die Stimmen und erinnerte sich, welcher Tag heute war.

Warum diese Mühe?, fragten die Stimmen. Morgen ist doch der Tag, an dem alles in einer höheren Einheit aufgeht.


Sie wollte gerade nach oben gehen, da hörte sie, wie die Scheibe in My Room splitterte.

In Sekundenschnelle stand sie im Wohnzimmer. Nüchtern musste sie feststellen, dass sie, wenn es nach der Haushaltshilfe ginge, in wenigen Sekunden neben Kassandra liegen würde, mit demselben erstaunten und endgültigen Gesichtsausdruck.

Die Eisenstange, mit der die Frau die Terrassentür eingeschlagen hatte und die sie jetzt wie eine Keule schwang, sauste an ihrem Gesicht vorbei. »Sie haben sie umgebracht, Sie Wahnsinnige. Sie haben sie umgebracht«, schrie die Frau immer wieder. Sie hatte Tränen in den Augen.

Wie konnte die abscheuliche Kassandra eine solche Zuneigung hervorrufen? Das war ihr völlig schleierhaft.

Kimmie zog sich zurück zum Kamin und den Vasen. Willst du kämpfen?, dachte sie. Dann bist du an die Richtige geraten.

Gewalt und Wille hängen unauflöslich zusammen, wer wusste das besser als Kimmie. Und die Ausübung von beidem beherrschte sie bis zur Perfektion.

Sie packte eine Jugendstilfigur aus Messing und taxierte sie. Richtig geworfen, würden die anmutig vorgestreckten Arme jeden Dickschädel spalten.

Sie zielte, warf und starrte überrascht auf die Frau, die die Figur mit der Eisenstange abwehrte. Die Messingarme bohrten sich tief in die Tapete.

Kimmie zog sich rückwärts in die Halle zurück, um nach oben zu verschwinden, wo schussbereit und entsichert ihre Pistole lag. Diese blöde Schnepfe wollte es ja nicht anders.

Die Frau folgte ihr nicht, das hörte sie. Aus dem Wohnzimmer waren Schritte und ein Wimmern zu hören, nichts sonst.

Also schlich Kimmie zurück und spähte durch den Türspalt ins Wohnzimmer, wo die Frau neben Kassandras entseeltem Körper kniete.

»Was hat dieses Scheusal getan?«, flüsterte die Frau mit tränenerstickter Stimme.

Kimmie runzelte die Stirn. Noch nie in all den Jahren, in denen sie und ihre Freunde andere Menschen gequält hatten, hatte sie Zeichen von Trauer gesehen. Entsetzen ja, und auch Schock, aber dieses weiche Gefühl, das die Trauer ja ist, das kannte sie nur von sich selbst.

Die Tür knarrte, als Kimmie sie leicht anschob, um den Spalt zu vergrößern und besser sehen zu können. Mit einem Ruck hob die Frau den Kopf.

In der nächsten Sekunde war die Haushaltshilfe auf den Beinen und kam mit erhobener Eisenstange auf Kimmie zugestürzt. Die knallte die Tür zu und rannte, im Herzen und im Kopf zutiefst erstaunt, die Treppe hinauf. Oben in ihrem Zimmer lag die Pistole. Das hier musste unterbunden werden. Sie wollte sie nicht umbringen. Nur fesseln und neutralisieren. Nein, sie wollte sie nicht erschießen.

Hinter ihr auf der Treppe brüllte die Frau und schleuderte schließlich die Eisenstange gegen ihre Beine. Kimmie fiel kopfüber auf den Treppenabsatz.

Es dauerte nur einen Augenblick, bis sie sich gefasst hatte, aber da war es schon zu spät. Die Haushaltshilfe presste Kimmie die Eisenstange an den Hals.

»Kassandra hat oft von dir gesprochen«, sagte sie. »Ungeheuer, so nannte sie dich immer. Glaubst du etwa, ich hätte mich gefreut, als ich dich vorhin unten in der Halle gesehen habe? Ich hätte geglaubt, du wolltest Kassandra helfen, ihr Gutes tun?«

Sie steckte die Hand in die Tasche ihrer Kittelschürze und zog ein verkratztes Handy heraus. »Es gibt einen Polizeibeamten, der heißt Carl Mørck. Er sucht nach dir, weißt du das? Ich habe seine Nummer hier gespeichert, er war so nett, mir seine Visitenkarte zu geben. Findest du nicht, wir sollten ihm die Gelegenheit geben, sich ein bisschen mit dir zu unterhalten?«

Kimmie schüttelte den Kopf. Versuchte schockiert auszusehen. »Nein, hören Sie, ich bin nicht schuld an Kassandras Tod. Sie ist an ihrem Portwein erstickt, als wir zusammensaßen und uns unterhielten. Es war so furchtbar.«

»Ach ja.« Es war nicht zu überhören, dass die Haushaltshilfe ihr nicht glaubte. Stattdessen presste sie ihr Knie brutal auf Kimmies Brustkorb und drückte das Ende der Stange fest an ihren Kehlkopf. Dabei suchte sie auf dem Display nach Carl Mørcks Telefonnummer.

»Und du elende Versagerin hast natürlich nichts unternommen, um ihr zu helfen«, fuhr die Frau fort. »Ich bin sicher, dass es die Polizei brennend interessiert, was du zu sagen hast. Aber glaub nicht, dass ich dir helfe. Man sieht dir von ferne an, was du getan hast.« Sie schnaubte. »Im Krankenhaus, hast du gesagt. Du hättest dich sehen sollen dabei!«

Sie fand die Nummer und im selben Moment keilte Kimmie aus, traf sie genau im Schritt und trat gleich noch einmal zu. Augen und Mund weit aufgerissen, ließ die Frau die Stange los und klappte zusammen wie ein Taschenmesser.

Kimmie sagte kein Wort. Sie hackte der Frau die Ferse in die Wade, schlug ihr das Handy aus der Hand, zog sich von der Eisenstange zurück, die nun lose in der Hand der Frau lag. Dann war Kimmie auf den Beinen und riss der Frau die Stange aus der Hand.

Alles in allem hatte es weniger als fünf Sekunden gedauert, das Gleichgewicht wieder herzustellen.

Kimmie stand einen Moment da und verschnaufte, während die Frau sich aufzurichten versuchte. Ihr Blick war hasserfüllt.

»Ich tu dir nichts«, sagte Kimmie. »Ich fessele dich nur an einen Stuhl.«

Aber die Frau schüttelte den Kopf und tastete mit der Hand nach dem Geländer hinter sich. Offenkundig suchte sie etwas, um sich abzudrücken. Ihr Blick flackerte. Sie gab sich noch lange nicht geschlagen.

Und dann machte sie mit vorgestreckten Armen einen Satz auf Kimmies Hals zu und bohrte die Nägel hinein. Da drückte sich Kimmie mit dem Rücken gegen die Wand und zog ein Bein hoch zur Brust, sodass es zwischen ihre Körper kam. Eine gute Ausgangsposition, um die Frau zurückzustoßen, bis sie halb über dem Geländer hing. Fünf Meter bis zum Steinfußboden der Halle.

Kimmie schrie, sie solle endlich aufhören. Aber als ihr Widerstand nicht nachließ, legte Kimmie den Kopf in den Nacken und verpasste der Frau eine Kopfnuss. Ihr wurde schwarz vor Augen, in ihrem Gehirn explodierten die Blitze.

Es dauerte eine Weile, bis sie die Augen öffnen und sich über das Geländer beugen konnte.

Wie gekreuzigt lag die Frau auf dem Marmorboden, die Arme zu den Seiten ausgestreckt, die Beine über Kreuz. Vollkommen still und sehr, sehr tot.


Zehn Minuten saß sie unten in der Halle auf dem Gobelinstuhl und betrachtete den Körper mit den verdrehten Gliedmaßen. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie ein Opfer als das, was es war. Als Menschen. Als Menschen mit einem eigenen Willen und dem Recht zu leben. Es erstaunte sie, dass sie dieses Gefühl früher nie empfunden hatte. Und sie mochte es überhaupt nicht. Die Stimmen schimpften sie aus, weil sie so dachte.

Dann klingelte es an der Tür. Sie hörte Stimmen. Die Stimmen zweier Männer. Sie schienen es eilig zu haben, es rüttelte an der Tür, und gleich darauf klingelte das Telefon.

Wenn die ums Haus gehen, sehen sie die eingeschlagene Scheibe. Los, schnell, die Pistole, hämmerte es in ihrem Inneren.

Mit wenigen lautlosen Schritten war sie oben und hatte sich die Pistole gegriffen. Jetzt stand sie auf dem Treppenabsatz und richtete die Waffe auf die Haustür. Sollten die Kerle doch hereinkommen - hinaus kämen sie auf keinen Fall mehr.

Doch dann konnte sie durch das schmale Fenster am Treppenabsatz beobachten, wie die zwei wieder zu ihrem Auto gingen.

Ein großer Mann mit langen Schritten und ein kleiner, dunkler mit Trippelschritten.


37


Der katastrophale Abschluss des gestrigen Tages hing Carl noch nach: Mona Ibsens Lachkrampf angesichts seiner erstaunten, von weichem Brokkoli umrahmten Miene. Ungefähr so peinlich wie Dünnpfiff, wenn man zum ersten Mal die Toilette einer potenziellen Geliebten aufsucht.

O Gott, wie kommt man von da aus weiter?, dachte er und zündete sich die erste Zigarette an.

Dann konzentrierte er sich. Vielleicht war heute der entscheidende Tag. Vielleicht konnte er die Staatsanwaltschaft heute mit den entscheidenden Informationen überzeugen und einen Haftbefehl erwirken. Der Ohrring vom Lindelse Nor, der Inhalt des Kastens, das müsste ausreichen. Und dann gab es ja auch noch die Verbindung zwischen Aalbæk und Ditlev Pram. Carl war es egal, auf welcher Grundlage man sie zur Vernehmung ins Präsidium bekäme. Wenn er sie erst dort hatte, würde er schon einen von ihnen zum Reden bringen.

Was wäre es doch für eine Genugtuung, zusammen mit den Rørvig-Morden gleich noch den ganzen restlichen Rattenschwanz an Verbrechen aufzuklären.

Was ihm nun noch fehlte, war die unmittelbare Konfrontation mit den hohen Herren. Er musste ihnen punktgenau Fragen stellen, Fragen, die sie nervös machten. Idealerweise trieb er damit sogar einen Keil zwischen sie.

Die Crux war nur gewesen, das schwächste Glied in der Kette zu finden. Denjenigen, auf den er seinen ersten Angriff konzentrieren konnte. Bjarne Thøgersen wäre eigentlich naheliegend gewesen, aber viele Jahre im Knast hatten Thøgersen gelehrt, den Mund zu halten. Außerdem war er hinter Gittern ziemlich abgeschirmt. Denn Bjarne Thøgersen brauchte mit ihnen über nichts zu reden, wofür er schon verurteilt war. Wollten sie ihn zum Reden bringen, müssten sie zuerst wasserdichte Beweise für neue Verbrechen vorlegen.

Nein, Thøgersen schied aus, das war ihnen schnell klar geworden. Aber wer dann? Florin, Dybbøl Jensen oder Pram? Wen von ihnen könnte man am besten kriegen?

Um das zu entscheiden, hätten sie die drei persönlich kennenlernen müssen, aber der gestrige missglückte Besuch in Prams Privatklinik hatte ja gezeigt, wie aussichtsreich das war. Denn natürlich hatte Ditlev Pram von der ersten Sekunde an gewusst, dass die Polizei in der Klinik war. Vielleicht war er sogar ganz in der Nähe gewesen. Und trotzdem unsichtbar geblieben.

Nein, um diese Männer zum Sprechen zu bringen, musste Carl sich schon was anderes einfallen lassen. Aus dem Grund waren Assad und er auch schon so früh am Morgen unterwegs.

Torsten Florin sollte der Erste sein, hatten sie beschlossen - und nicht ohne Grund. In vielerlei Hinsicht wirkte er tatsächlich wie der Schwächste. Seine hagere Gestalt, der etwas weibische Beruf und seine sensiblen Statements zu den aktuellen Modetrends in den Medien ließen ihn verletzlich erscheinen. Verletzlicher jedenfalls als die anderen beiden.

In zwei Minuten würde Carl Assad am Trianglen aufsammeln, und in einer halben Stunde würden sie hoffentlich vor dem Landgut in Ejlstrup stehen und Torsten Florin mit ihrer vermutlich unerwünschten Gesellschaft überraschen.


»Ich hab die Informationen über unsere drei Freunde dabei. Das hier ist Torsten Florins Akte«, sagte Assad auf dem Beifahrersitz und zog eine Mappe aus der Tasche. Sie fuhren in Richtung Lyngbyvej.

»Ich finde, sein Landgut wirkt wie eine Festung«, fuhr Assad fort. »Ein riesengroßes Stahlgitter sperrt das Haus zur Straße hin ab. Und wenn er ein Fest feiert, hab ich gelesen, werden die Autos der Gäste einzeln eingelassen.«

Carl warf einen Blick auf die Farbkopie, die Assad ihm hinhielt. Wenn man allerdings gleichzeitig auf die schmale Straße achten musste, die sich durch den Wald von Gribskov schlängelte, war es schwer, etwas darauf auszumachen.

»Sieh mal hier, Carl. Auf der Luftaufnahme kannst du es richtig gut erkennen. Hier liegt Florins Landgut. Abgesehen von dem alten Gebäude, wo er selbst wohnt, und dann noch diesem Holzhaus hier«, er tippte auf einen Fleck auf der Karte, »ist alles neu, erst 1992 dazugebaut worden. Auch dieses riesige Gebäude und die vielen kleinen Häuser dahinter.«

Das sah wirklich sonderbar aus.

»Liegt das nicht mitten im Waldgebiet von Gribskov? Hat er dafür wirklich eine Baugenehmigung bekommen?«, fragte Carl.

»Nein, das liegt nicht im Wald. Zwischen dem Wald von Gribskov und Florins kleinem Wald ist etwas gefällt, ein Brand ... ein Brand? Wie heißt sowas, Carl?«

»Eine Brandschneise?«

Er spürte Assads Blick. Erstaunt. »Na okay. Du kannst das jedenfalls auf der Luftaufnahme deutlich sehen. Schau mal. Da ist ein schmaler brauner Streifen. Und er hat einen Zaun um seinen gesamten Besitz gezogen, mit Seen und Hügeln und allem.«

»Möchte wissen, warum er das getan hat. Fürchtet der sich vor Paparazzi, oder was?«

»Das hat was damit zu tun, dass er Jäger ist.«

»Ja, ja. Er will nicht, dass die Tiere von seinem Grundbesitz in den Staatsforst kommen. Ich kenne solche Leute.« Oben im nördlichsten Jutland, in Vendsyssel, da, wo Carl herkam, lachte man Leute, die so etwas taten, aus. Aber in Nordseeland lachte man offenkundig nicht darüber.

Sie waren jetzt dorthin gekommen, wo sich die Landschaft öffnete, erst zu Lichtungen im Wald und dann zu weiten Äckern und Stoppelfeldern.

»Kannst du dort das Haus im Stil eines Schweizer Chalets sehen, Assad?« Carl deutete nach Norden, wo rechter Hand ein Haus lag. Er wartete die Antwort nicht ab. Es war ganz deutlich dort unten im Schmelzwassertal zu sehen. »Dahinter liegt der Bahnhof Kagerup. Da haben wir mal ein kleines Mädchen gefunden. Wir glaubten, sie sei tot. Sie hatte sich im Sägewerk versteckt, weil sie sich vor dem Hund fürchtete, den ihr Vater mit nach Hause gebracht hatte.«

In Gedanken schüttelte er den Kopf. War das wirklich deshalb gewesen? Plötzlich klang es ganz falsch.

»Carl, du musst hier abbiegen«, sagte Assad und deutete auf ein Straßenschild nach Mårum. »Und da oben, da müssen wir nach rechts. Von dort sind es nur noch zweihundert Meter bis zum Tor. Soll ich ihn schon mal anrufen?«

Carl schüttelte den Kopf. Dann hätte er ja genauso die Möglichkeit zu verduften wie gestern Ditlev Pram.


Es stimmte, Torsten Florin hatte seinen Besitz sehr gründlich eingezäunt. Dueholt stand mit großen Messingbuchstaben auf einem Granitbrocken neben dem schmiedeeisernen Tor, das den Zaun weit überragte.

Carl lehnte sich zu der Sprechanlage auf Höhe des Fahrerfensters hinüber. »Vizepolizeikommissar Carl Mørck hier«, sagte er. »Ich habe gestern mit Rechtsanwalt Bent Krum gesprochen. Wir möchten Torsten Florin gern ein paar Fragen stellen. Es dauert nicht lange.«

Es vergingen mindestens zwei Minuten, dann glitt das Tor auf.

Hinter der Hecke sah man erst richtig, wie sich die Landschaft entfaltete. Zu ihrer Rechten lagen Seen und Hügel und ein für die Jahreszeit verblüffend üppiges Wiesengelände. Weiter unten eine Reihe kleiner Gehölze, die in Wald übergingen, und ganz im Hintergrund die enormen Säulen jahrhundertealter Eichen mit fast entlaubten Kronen.

Mannomann, da braucht man ja 'ne Woche, um das alles zu bereisen, dachte Carl. Bei den Bodenpreisen hier musste der Besitz etliche Millionen wert sein.

Als sie zum eigentlichen Gutsgebäude einbogen, das dicht am Waldrand lag, verstärkte sich der Eindruck gewaltigen Reichtums noch. Das Gutshaus Dueholt Hovedgård war ein Schmuckstück - mit seinen sorgfältig renovierten Gesimsen und schwarz glasierten Ziegeldächern. Es gab mehrere Wintergärten aus Glas, wahrscheinlich in jede Himmelsrichtung einen, und Guthaus und Hofplatz waren so gepflegt, dass sich wohl selbst die königliche Gärtnerschar respektvoll verneigen würde.

Hinter dem Haupthaus lag ein rot gestrichenes Holzhaus, das wahrscheinlich unter Denkmalschutz stand. Zweifellos der größte Kontrast zu der gewaltigen Stahlkonstruktion, die dahinter aufragte. Gewaltig, aber eigentlich recht schön. Glas und glitzerndes Metall, wie die Orangerie in Madrid, die er am Flughafen auf einem Plakat gesehen hatte.

Crystal Palace å la Ejlstrup.

Und dann gruppierten sich noch etliche kleinere Häuser am Rand des Waldes, fast wie ein Dorf, mit Gärten und Veranden, umgeben von gepflügten Äckern, auf denen offenbar Gemüse angebaut wurde. Jedenfalls waren große Areale mit Porree und Grünkohl zu sehen.

Donnerwetter, das ist ja gigantisch, dachte Carl.

»Nein, wie schön«, sagte Assad.

Sie sahen keine Menschenseele in dieser Landschaft - bis sie klingelten und Torsten Florin höchstpersönlich ihnen öffnete.

Carl streckte ihm die Hand entgegen und stellte sich vor. Aber Torsten Florin sah ausschließlich zu Assad. Er stand da wie ein Granitblock und versperrte ihnen den Zugang zu seinem Haus.

Hinter ihm wand sich eine Treppe durch ein Labyrinth aus Gemälden und Kristallleuchtern aufwärts. Reichlich vulgär für einen Mann, der von gutem Stil lebte.

»Wir würden gern mit Ihnen über ein paar Zwischenfälle sprechen, von denen wir meinen, dass sie mit Kimmie Lassen zu tun haben. Vielleicht können Sie uns helfen?«

»Was für Zwischenfälle?«, fragte Florin zurück.

»Die Ermordung Finn Aalbæks Samstagnacht. Wir wissen, dass es etliche Gespräche zwischen Ditlev Pram und Aalbæk gegeben hat. Aalbæk suchte nach Kimmie Lassen, das wissen wir auch. War es einer von Ihnen, der ihm den Auftrag dazu erteilt hat? Und wenn ja, warum?«

»Ich habe den Namen in den letzten Tagen tatsächlich ein paar Mal gehört. Ansonsten kenne ich keinen Finn Aalbæk. Wenn Ditlev Pram mit ihm Gespräche geführt hat, dann sollten Sie sich wohl besser an ihn wenden. Auf Wiedersehen, meine Herren.«

Carl stellte einen Fuß in die Tür. »Verzeihen Sie, einen Augenblick noch. Es gibt da auch noch einen Vorfall auf Langeland und einen weiteren in Bellahøj, die mit Kimmie Lassen in Verbindung gebracht werden können. Vermutlich wurden dabei insgesamt drei Menschen ermordet.«

Torsten Florin blinzelte ein paar Mal, aber sein Gesicht war wie aus Stein. »Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Wenn Sie mit jemandem sprechen wollen, dann sprechen Sie mit Kimmie Lassen.«

»Wissen Sie vielleicht, wo sie ist?«

Er schüttelte den Kopf. Sein Gesichtsausdruck war eigentümlich. Carl hatte in seinem Leben viele eigentümliche Mienen gesehen, aber die hier verstand er nicht.

»Sie sind sicher?«

»Absolut. Ich habe Kirsten-Marie seit 1996 nicht gesehen.«

»Uns liegen eine Reihe von Indizien vor, die sie mit diesen Zwischenfällen in Verbindung bringen.«

»Ja, das habe ich von meinem Anwalt gehört. Und weder er noch ich haben Kenntnis von den Fällen, von denen die Rede ist. Ich muss Sie bitten zu gehen. Ich habe es eilig. Und denken Sie bitte an einen Durchsuchungsbefehl, wenn Sie ein andermal vorbeischauen.«

Sein Lächeln war unglaublich provozierend. Carl wollte gerade weitere Fragen nachlegen, da machte Torsten Florin einen Schritt zur Seite und drei dunkle Männer, die offenbar hinter der Tür gewartet hatten, traten vor.

Zwei Minuten später saßen sie wieder im Auto und kochten.

Hatte Carl auf der Hinfahrt noch geglaubt, Torsten Florin sei schwach, so wollte er diesen Punkt jetzt gerne noch einmal überdenken.


38


Früh am Morgen des Tages, an dem die Jagd auf den Fuchs angesetzt war, hatte sich Torsten Florin wie üblich von klassischer Musik und leichten, anmutigen Schritten wecken lassen. Vor ihm stand nun die junge schwarze Frau mit entblößtem Oberkörper und hielt ihm, wie immer, mit ausgestreckten Armen ein Silbertablett hin. Ihr Lächeln war steif und gezwungen, aber Torsten Florin war das gleichgültig. Er brauchte weder ihre Zuneigung noch ihre Ergebenheit. Er brauchte Ordnung in seinem Leben, und Ordnung bedeutete hier, dass dem Ritual haarklein Genüge getan wurde. So hielt er es seit zehn Jahren, und so sollte es auch bleiben. Er wusste, dass es reiche Menschen gab, die Rituale brauchten, um ihre Person zu vermarkten. Torsten brauchte sie, um den Alltag zu überleben.

Er legte sich die duftende Serviette auf die Brust. Den Teller mit den vier Hühnchenherzen nahm er in der tiefsten Überzeugung entgegen, ohne diese schlachtfrischen Organe dahinsiechen zu müssen.

Das erste Herz aß er in einem Happen, danach betete er um Jagdglück. Anschließend verspeiste er die drei anderen Herzen. Dann wischte die Frau ihm geübt mit einem nach Kampfer duftenden Tuch Gesicht und Hände ab.

Auf seinen Wink hin entfernte sich nun die Frau aus dem Raum, gefolgt von ihrem Mann, der in der Nacht Wache gestanden hatte. Torsten genoss die Morgenfrühe, die ersten Sonnenstrahlen über den Bäumen. In zwei Stunden ging es los. Um neun würden die Jäger bereitstehen. Dieses Mal suchten sie die Beute nicht im Morgengrauen, dafür war das Tier zu verschlagen und zu verrückt. Die Jagd musste bei Tageslicht stattfinden.

Er stellte sich vor, wie sich Tollwut und Überlebensinstinkt in dem Fuchs bekämpften, sobald sie ihn losließen. Wie er sich an den Boden drückte und den richtigen Augenblick abwartete. Sollte ihm ein Treiber zu nahe kommen, würden ein Sprung und ein Biss in die Leistengegend genügen, um den Mann ins Jenseits zu befördern.

Aber Torsten kannte seine Somalier. Sie würden den Fuchs nicht so nahe an sich herankommen lassen. Florin machte sich mehr Sorgen um die Jäger. Na ja, »Sorgen« war wohl das falsche Wort, denn die meisten von ihnen waren erfahrene Leute, die schon oft an seinen Spielen teilgenommen hatten und eine kleine Grenzüberschreitung durchaus zu schätzen wussten. Sie alle waren einflussreiche Männer, Männer, die dem Land ihren Stempel aufgedrückt hatten. Männer, deren Gedanken größer und deren Talente und Interessen umfassender waren als die von Otto Normalverbraucher. Deshalb waren sie heute hier. Sie alle waren Männer wie er. Nein, Sorgen machte er sich nicht um sie, es war wohl eher eine erregende Unruhe.

Eigentlich ein perfekter Tag. Wären da nicht Kimmie und dieser verfluchte Bulle, der sich an Bent Krum herangemacht hatte und offenbar die uralten Fälle aus der Mottenkiste holte. Langeland, Kyle Basset, Kåre Bruno. Woher wusste dieser armselige Polizist, der da plötzlich auf seiner Schwelle gestanden hatte, überhaupt von alledem?


Umgeben vom Lärm der Tiere stand Torsten in der Glashalle und starrte auf den Fuchs, während die Somalier den Käfig aus seiner Ecke zogen. Mit wilden Augen ging Freund Reineke unablässig auf die Gitterstäbe los und nagte daran, als seien sie etwas Lebendiges. Diese Kombination von scharfen Zähnen und lebensgefährlichen Viren, die das Tier nach und nach umbrachten, jagte Torsten Florin Schauder über den Rücken.

Ach, Scheiß auf die Polizei, Kimmie und all diese Kleingeister überall. Dieses Tier in ihrer Mitte freizulassen, dieser Schritt über die Grenze: das war es doch.

»Es dauert nicht mehr lange, und du stehst deinem Schicksal gegenüber, Reineke«, sagte er und boxte gegen die Käfigstäbe.

Dann sah er sich zufrieden in der Halle um. Wundervoll. Über hundert Käfige, in denen sich alle möglichen Tiere aufhielten. Vor wenigen Tagen erst hatte er von Nautilus einen Raubtierkäfig hereinbekommen. Der stand auf dem Boden, und darin befand sich eine wütende Hyäne mit schiefem Rücken und heimtückischem Blick. Der Käfig würde später auf dem Platz des Fuchses stehen, dort, wo auch die anderen einzigartigen Beutetiere ihren Platz hatten. Alle Jagden bis Weihnachten waren bereits gesichert. Das hatte er unter Kontrolle.

Als er die Autos auf den Hof fahren hörte, drehte er sich lächelnd zum Eingang der Halle um.

Ulrik und Ditlev waren angekommen, pünktlich wie immer. Noch so etwas, was die Schafe von den Böcken unterschied.


Zehn Minuten später standen sie mit konzentriertem Blick unten am Schießstand, die Armbrust parat. Ulrik suhlte sich in seiner masochistischen Art, er zitterte vor Erregung wegen ihres Gesprächs über Kimmie. Es war nicht zu entscheiden, ob er tatsächlich besorgt war wegen ihres Verschwindens. Vielleicht hatte er auch nur eine Line zu viel geschnupft. Ditlev hingegen war völlig klar, der Ausdruck seiner Augen hellwach. Wie eine organische Verlängerung seiner selbst lag die Armbrust in seinem Arm.

»Danke der Nachfrage, ich habe heute Nacht ausgezeichnet geschlafen. Freu mich sehr auf ein Wiedersehen mit der guten alten Kimmie«, entgegnete er auf Torstens Frage. »Ich bin bereit.«

»Gut.« Noch wollte Torsten seinen Jagdkumpels nicht mit Informationen über diesen lästigen Vizekommissar die Laune verderben. Das konnte bis nach dem Probeschießen warten. »Wie schön, dass du bereit bist. Ich glaube beinahe, das wird nötig sein.«


39


Sie hatten ein paar Minuten am Straßenrand im Wagen gesessen und die Begegnung mit Torsten Florin noch mal Revue passieren lassen.

Assad war der Meinung, sie sollten zurückfahren und Florin damit konfrontieren, dass sie Kimmies Metallkasten gefunden hatten. Er glaubte, das könne Florins Selbstsicherheit erschüttern. Für Carl hingegen stand fest: Über den Kasten redeten sie erst mit einem Haftbefehl in der Tasche.

Assad maulte. Geduld war anscheinend doch kein so verbreitetes Phänomen dort in der Wüste, wo er in die Windeln geschissen hatte.

Carl blickte zwei Wagen entgegen, die um einiges schneller als erlaubt auf der Landstraße angebrettert kamen. Es waren Allradfahrzeuge mit getönten Scheiben, wie sie die meisten großen Jungs nur im Katalog zu sehen bekamen.

»O verdammt!«, rief er, als der erste an ihnen vorbeiraste. Dann startete er und fuhr dem zweiten Wagen hinterher.

Als sie die Stichstraße nach Dueholt erreichten, war Carl nur noch zwanzig Meter hinter ihnen.

»Ich könnte schwören, dass ich im ersten Wagen Ditlev Pram erkannt habe. Hast du sehen können, wer in dem anderen saß?«, fragte er, als die beiden Fahrzeuge auf die Schotterstraße zu Florins Landgut abbogen.

»Nein, aber ich hab das Kennzeichen notiert. Ich überprüfe es gerade.«

Carl rieb sich das Gesicht. Verdammt, wenn jetzt tatsächlich alle drei...? Vorausgesetzt, sie waren es wirklich.

Und: was würde dabei herauskommen?

Es dauerte nicht lange, und Assad hatte die Informationen. »Der erste Wagen ist auf eine Thelma Pram zugelassen.«

Bingo.

»Und der dahinter gehört UDJ Börsenanalyse.« Noch mal Bingo.

»Dann wäre das Trio ja komplett.« Carl sah auf die Uhr. Es war noch früh am Tag, noch nicht einmal acht. Was hatten die vor?

»Carl, ich finde, wir sollten sie nicht aus den Augen lassen.«

»Wie meinst du das?«

»Na, du weißt schon. Aufs Grundstück gehen und sehen, was die machen.«

Carl schüttelte den Kopf. Manchmal war der kleine Mann ein bisschen sehr kreativ.

»Du hast doch gehört, was Florin gesagt hat«, entgegnete er. Assad nickte. »Wir müssen einen Durchsuchungsbefehl vorlegen. Und mit dem, was wir bisher haben und wissen, bekommen wir den nicht.«

»Nein. Aber wenn wir mehr wissen, können wir einen bekommen, oder?«

»Ja, klar. Aber davon, dass wir da drinnen rumschleichen, kriegen wir die zusätzlichen Informationen auch nicht. Assad, wir sind dazu nicht befugt. Uns fehlt die Rechtsgrundlage.«

»Und wenn die nun Aalbæk umgebracht haben, um die Spuren hinter sich zu verwischen?«

»Welche Spuren? Jemanden mit der Beschattung einer Mitbürgerin zu beauftragen, ist nicht illegal.«

»Nein. Aber wenn Aalbæk nun Kimmie gefunden hat? Und die da drinnen halten sie gefangen? Die Möglichkeit ist doch naheliegend. Ist das nicht so ein Wort, wie du es gern magst? Wenn die sich Kimmie geschnappt haben, dann wissen das jetzt, wo Aalbæk tot ist, nur noch die drei. Sie ist deine wichtigste Zeugin, Carl.«

Carl merkte, wie sich Assad zunehmend in diese Idee hineinsteigerte. Und tatsächlich legte er gleich noch einen drauf: »Was, wenn sie Kimmie gerade in diesem Augenblick umbringen? Wir müssen da rein.«

Carl seufzte. Viel zu viele Fragen.

Der Mann hatte ja recht. Und auch wieder nicht.


Sie stellten den Wagen am kleinen Bahnhof Duemose im Ny Mårumsvej ab. Von der Bahntrasse nach Gribskov aus folgten sie einem Pfad am Waldrand bis zu der Brandschneise. Von dort, wo sie standen, konnten sie das Moor überblicken und auch einen Teil von Florins Wald. Auf dem Hügel am Horizont war das große Eingangstor zu erahnen. In die Richtung wollten sie auf keinen Fall, sie hatten ja gesehen, wie viele Überwachungskameras da hingen.

Interessanter war da der Platz vor dem Gutsgebäude, wo die beiden großen Jeeps parkten. Der war weithin einsehbar.

»Ich glaube, an der Brandschneise sind überall Kameras«, sagte Assad. »Wenn wir da rüberwollen, müssen wir hier durch.«

Er deutete auf den Moortümpel. Der Zaun war kaum noch zu sehen, so tief war er eingesunken. Aber offenbar war das tatsächlich die einzige Stelle, wo sie unbemerkt auf das Grundstück gelangen konnten.

Nicht sonderlich ermutigend.

Eine geschlagene halbe Stunde mussten sie anschließend in ihren eingesauten, nassen Hosen auf dem Boden ausharren, bevor sie die drei Männer sahen. Die hatten zwei dünne, dunkelhäutige Gestalten im Schlepptau, die so etwas wie Flitzebögen trugen. Die drei unterhielten sich, das war zu hören, aber was sie sagten, schluckten die Entfernung und der auffrischende Wind.

Dann verschwand das Trio im Hauptgebäude, während die Schwarzen zu den kleinen roten Häusern hinübergingen.

Nach etwa zehn Minuten tauchten mehrere schwarze Männer auf und verschwanden in der großen Halle. Als sie kurz darauf wieder herauskamen, trugen sie einen Käfig, den sie auf die Ladefläche eines Pick-ups stellten und in den Wald fuhren.

»Also dann«, sagte Carl, »auf geht's.« Er zog den schwach protestierenden Assad mit sich an der Windschutzhecke entlang. Als sie zu den kleinen Häusern kamen, hörten sie fremdländische Stimmen und Kindergeschrei. Offenbar eine ganz eigene abgeschlossene kleine Gesellschaft.

Sie schlichen sich am ersten Haus vorbei. Ein Türschild mit vielen exotischen Namen stach ihnen ins Auge.

»Da drüben auch«, flüsterte Assad und deutete auf das Namensschild am nächsten Haus. »Glaubst du, der hält sich hier - Sklaven?«

Kaum vorstellbar, obwohl es verdammt danach aussah. Das hier wirkte wie ein afrikanisches Dorf mitten im Park. Oder wie eine Ansammlung von Hütten rund um eine Südstaatenvilla vor dem Bürgerkrieg.

Dann hörten sie in der Nähe einen Hund bellen.

»Ob der hier Hunde frei rumlaufen lässt?«, flüsterte Assad besorgt, als hätten die ihn schon gehört.

Carl sah seinen Partner an. Ganz ruhig, sagte seine Miene. Wenn man auf dem platten Land aufwächst, lernt man unweigerlich, dass Hunden gegenüber der Mensch das Sagen hat. Es sei denn, einem stehen zehn bissige Kampfhunde gegenüber. Ein Tritt im richtigen Moment rückt in der Regel die Rangordnung zurecht. Die Frage ist bloß, warum die immer so viel Krach machen müssen.

Als sie über das offene Stück des Hofs rannten, sahen sie, dass sie auf diesem Weg gut hinter das Haupthaus gelangen konnten.

Zwanzig Sekunden später drückten sie sich die Nasen an den Fenstern platt. Der Raum mit den Mahagonimöbeln sah aus wie ein klassisches Büro. Die Wände hingen voller Jagdtrophäen. Alles ruhig und unauffällig, nichts, was sie irgendwie weiterbrachte.

Sie drehten sich um. Wenn es in der Landschaft irgendwelche Auffälligkeiten gab, galt es, die schnellstmöglich auszumachen.

»Hast du das gesehen?«, flüsterte Assad und deutete auf einen röhrenartigen Anbau, der aus der großen gläsernen Halle ein gutes Stück in den Wald hineinragte. Mindestens vierzig Meter.

Was zum Teufel ist das?, dachte Carl. »Komm«, sagte er, »das schauen wir uns an.«


Assads Gesichtsausdruck, als er in der großen Halle stand, hätte man verewigen müssen. Carl ging es ähnlich. Wenn Nautilus für Tierliebhaber ein Schock war, so war das hier das pure Grauen. Dicht an dicht Käfige mit völlig verängstigten, apathischen oder hysterischen Tieren. An den Wänden, zum Trocknen aufgehängt, blutige Häute in allen Größen. Vom Hamster bis zum Kalb, alles war hier geboten. Hochaggressive Kampfhunde, die bellten. Bestimmt hatten sie die vorhin gehört. Echsenartige Ungeheuer und fauchende Nerze. Haustiere und exotische Tiere in einem einzigen großen Sammelsurium.

Aber das hier war keine Arche Noah. Von hier entkam kein Tier lebend.

Carl erkannte den Käfig von Nautilus sofort. Er stand mitten in der Halle, darin eine knurrende Hyäne. Ein Stück weiter in der Ecke schrie ein großer Affe, von dort war auch das Grunzen eines Warzenschweins zu hören und das Blöken von Schafen.

»Glaubst du, Kimmie ist irgendwo hier drinnen?«, fragte Assad und ging einige Schritte weiter in die Halle hinein.

Carl ließ den Blick über die Käfige wandern. Die weitaus meisten waren für einen Menschen zu klein.

»Und was ist damit?«, sagte Assad und deutete auf eine Reihe von Gefriertruhen. Sie standen in einem der Seitengänge und brummten. Er öffnete einen Deckel und zuckte angeekelt zurück.

»Pfui Teufel!«

Carl sah in die Gefriertruhe. Haufenweise enthäutete Tiere glotzten ihn an.

»Überall dasselbe«, sagte Assad, der eine Truhe nach der anderen öffnete.

»Ich denke mal, das meiste wird als Futter verwendet«, meinte Carl mit Blick auf die Hyäne. Hier verschwand Fleisch, egal in welcher Darreichungsform, bestimmt sekundenschnell in irgendwelchen aufgerissenen Rachen.

Fünf Minuten später hatten sie sich davon überzeugt, dass Kimmie woanders sein musste.

»Sieh dir das an, Carl«, sagte Assad und deutete in die Röhre, die sie schon von draußen gesehen hatten. »Das ist ein Schießstand.«

Der helle Wahnsinn. Hightech vom Feinsten, mit Luftdüsen und allen Schikanen. Hätten sie so ein Ding im Präsidium, wäre es Tag und Nacht umlagert.

»Bleib lieber hier«, sagte Carl, als Assad durch die Röhre auf die Schießscheiben zuging. »Wenn jemand kommt, kannst du dich nirgends verstecken.«

Aber Assad hörte ihn nicht. Er hatte nur noch Augen für die großen Scheiben.

»Was ist denn das hier?«, rief er schließlich vom anderen Ende der Röhre.

Carl warf einen prüfenden Blick hinter sich in die Halle, bevor er Assad in die Röhre folgte.

»Ist das ein Pfeil oder was?«, fragte sein Partner und deutete auf eine Metallstange, die sich ins Zentrum der Scheibe gebohrt hatte.

»Ja«, antwortete Carl. »Das ist ein Bolzenpfeil. Den benutzt man beim Armbrustschießen.«

Assad sah ihn verwirrt an. »Wie bitte? Wozu Arm und Brust?«

Carl seufzte. »Eine Armbrust ist ein Bogen, den man auf besondere Weise spannt. Der Schuss ist sehr hart.«

»Okay. Ja, das kann ich sehen. Und präzise.«

»Ja, sehr präzise.«

Sie drehten sich um und wussten, dass sie in die Falle gegangen waren. Am Röhrenende standen Torsten Florin, Ulrik Dybbøl Jensen und Ditlev Pram. Pram richtete eine gespannte Armbrust auf sie.

Das darf doch nicht wahr sein, dachte Carl und rief: »Los, hinter die Scheiben, Assad!«

Er zog seine Pistole aus dem Schulterhalfter und richtete sie im selben Moment auf das Trio, in dem Ditlev Pram den Pfeil abschoss.

Carl hörte noch, wie Assad sich hinter die Scheiben warf, dann durchbohrte der Pfeil Carls rechte Schulter und die Pistole fiel zu Boden.

Sonderbarerweise tat es nicht weh. Er konnte nur konstatieren, dass es ihn einen halben Meter rückwärts geschleudert hatte und er jetzt an die Schießscheibe hinter sich gespießt war. Nur die Steuerfedern ragten noch aus der blutenden Wunde heraus.


»Meine Herren«, sagte Florin. »Warum bringen Sie uns in diese Situation? Was sollen wir nun mit Ihnen anstellen?«

Carl bemühte sich, seinen Puls unter Kontrolle zu bekommen. Sie hatten den Pfeil herausgezogen und eine Flüssigkeit in die Wunde gesprüht, wobei er beinahe ohnmächtig geworden wäre. Aber die Blutung war einigermaßen gestillt.

Das war doch zum Kotzen. Die Männer wirkten unnachgiebig und eiskalt, und Carl kam sich vor wie der letzte Idiot.

Assad hatte gewütet, als sie sie gezwungen hatten, in die Halle zu kommen und sich mit den Rücken zu einem der Käfige auf den Boden zu setzen.

»Wissen Sie, was passiert, wenn man Polizisten im Einsatz so behandelt?«

Carl hatte vorsichtig Assads Fuß angestoßen. Das dämpfte ihn aber nur kurzzeitig.

»Es ist doch im Grunde sehr einfach«, antwortete Carl, und bei jedem Wort pochte es in seinem Oberkörper. »Sie lassen uns laufen. Wir waren nie hier und haben nichts gesehen. Die Indizien sind verschwunden, so etwas passiert. Wenn Sie uns hier festhalten, fliegt alles auf.«

»Aha.« Das war Ditlev Pram. Er hatte die Armbrust neu geladen und hielt sie noch immer auf sie beide gerichtet. »Was glauben Sie, mit wem Sie es zu tun haben? Sie verdächtigen uns also des Mordes. Sie haben unseren Rechtsanwalt kontaktiert. Sie haben mehrere Namen fallenlassen. Sie haben eine Verbindung zwischen Finn Aalbæk und mir herausgefunden. Sie glauben, alles über uns zu wissen. Und plötzlich, meinen Sie, ergibt sich daraus eine sogenannte Wahrheit.« Er kam näher heran und platzierte seine Lederstiefel dicht vor Carls Füßen. »Aber diese Wahrheit betrifft weit mehr Menschen als nur uns drei, verstehen Sie? Wir haben Verantwortung übernommen, Carl Mørck. Für Tausende von Mitarbeitern. Für deren Familien. Für unsere Gesellschaft. Sollte es Ihnen tatsächlich gelingen, die Justiz von Ihren Ansichten zu überzeugen, würden all diese Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren. Keine Wahrheit ist einfach, Carl Mørck.«

Er deutete in die Halle. »Enorme Vermögen würden eingefroren werden. Das wollen weder wir noch andere. Deshalb frage ich dasselbe wie Torsten: Was sollen wir mit Ihnen anstellen?«

»Wir müssen das absolut clean machen«, sagte der Dicke, Ulrik Dybbøl Jensen. Seine Stimme zitterte, die Pupillen waren riesig. Es gab keinen Zweifel, was er damit meinte. Aber Torsten Florin zögerte, das konnte Carl spüren. Er zögerte und dachte nach.

»Was sagen Sie dazu: Wir lassen Sie laufen und jeder von Ihnen bekommt eine Million. Einfach so. Sobald Sie die Angelegenheit fallenlassen, rollt das Geld. Was sagen Sie dazu?«

Allein die Alternative zu denken, war unerträglich.

Carl sah hinüber zu Assad. Der nickte. Kluges Kerlchen.

»Und Sie, Carl Mørck? Sind Sie ebenso kooperativ wie unser Mustafa hier?« Carl sah ihn kalt an. Dann nickte er.

»Ich meine doch zu merken, dass es nicht reicht. Nun, dann verdoppeln wir. Zwei Millionen für Ihr Schweigen. Wir stellen es diskret an, klar?«, fragte Torsten Florin.

Beide nickten.

»Zunächst gibt es aber noch eine Sache, über die ich Klarheit haben muss. Antworten Sie ehrlich. Ich merke sofort, wenn Sie lügen. Dann ist der Deal sofort hinfällig, klar?«

Er wartete die Antwort nicht ab. »Warum erwähnten Sie heute Morgen mir gegenüber ein Ehepaar auf Langeland? Kåre Bruno kann ich nachvollziehen, aber das Ehepaar? Was hat das mit uns zu tun?«

»Gründliche Ermittlungen«, antwortete Carl. »Im Präsidium haben wir einen Mann, der solchen Fällen jahrelang nachgegangen ist.«

»Das hat nichts mit uns zu tun«, entgegnete Florin abschließend.

»Sie wollten eine ehrliche Antwort. Gründliche Ermittlungen, lautet die Antwort«, wiederholte Carl. »Die Art des Überfalls, der Ort, die Methode, der Zeitpunkt. Das passt alles.«

Es war ein Fehler. Das wusste Carl sofort, als Pram Carl die Armbrust auf die Wunde knallte. Diese drei Menschen kannten keine Tabus.

Carl konnte nicht einmal aufschreien, weil sich der Hals vor Schmerz zusammenschnürte. Da schlug Pram noch einmal zu. Und noch einmal.

»So. Und jetzt antworte! Und zwar präzise! Weshalb bringt ihr uns mit diesem Ehepaar auf Langeland in Verbindung?«

Er holte aus, um noch mal zuzuschlagen, da unterbrach Assad ihn.

»Kimmie hatte den einen Ohrring«, rief er. »Der passte zu dem, der dort gefunden wurde. Sie verwahrte ihn in einem Kasten, zusammen mit anderen Beweisstücken von Ihren Überfällen. Aber das wissen Sie ja wohl.«

Wäre Carl auch nur ein winziges Fünkchen Kraft im Körper verblieben, dann hätte er Assad sehr nachdrücklich gezeigt, dass er das Maul halten solle.

Jetzt war es zu spät.

Das war unmittelbar von Torsten Florins Gesicht abzulesen. Alles, was diese drei Männer fürchteten, war die Realität. Es gab Beweise gegen sie. Handfeste Beweise.

»Ich gehe davon aus, dass noch andere Kollegen im Präsidium diesen Kasten kennen. Wo ist er jetzt?«

Carl sagte nichts. Er sah sich nur um.

Von dort, wo er saß, bis zum Tor waren es zehn Meter, bis zum Waldrand mindestens noch einmal fünfzig. Und erst nach einem weiteren Kilometer durch Florins Privatwald begann der Staatsforst Gribskov. Das wäre vielleicht ein ideales Versteck. Aber völlig unrealistisch zu erreichen. Und in nächster Nähe gab es nichts, absolut nichts, was sich als Waffe eignete. Drei Männer mit schussbereiter Armbrust standen vor ihnen. Was konnten sie tun?

Absolut nichts.

»Wir müssen es hier und jetzt machen und wir müssen es clean machen«, nuschelte Ulrik Dybbøl Jensen. »Ich sag's noch mal. Wir können uns nicht auf sie verlassen. Die sind nicht wie die anderen.«

Prams und Florins Köpfe wandten sich langsam ihrem Kumpel zu. Was für eine idiotische Bemerkung, sagten ihre Mienen.


Während sich die drei Männer berieten, tauschten Assad und Carl Blicke aus. Assad entschuldigte sich und Carl verzieh ihm sofort. Dass Assad unterwegs mal ein bisschen gestolpert war, was hatte das schon zu bedeuten in dieser Situation, die nichts anderes war als die Wartehalle zum Tod, den diese drei Irren in diesem Moment vorbereiteten.

»Okay, so machen wir es. Aber wir haben nicht viel Zeit. Die anderen sind in fünf Minuten hier«, sagte Florin.

Ulrik Dybbøl Jensen und Ditlev Pram warfen sich ohne Vorwarnung auf Carl, während Torsten Florin die Aktion aus wenigen Metern Abstand mit der Armbrust deckte. Ihre Effektivität überrumpelte Carl vollständig.

Sie klebten Paketband über seinen Mund, zogen seine Hände auf den Rücken und fesselten sie mit demselben Klebeband. Dann rissen sie seinen Kopf in den Nacken und klebten auch seine Augen zu. Weil er sich wand, erwischte das Klebeband ein Augenlid und zog es einen Millimeter auf. Durch diesen winzigen Schlitz konnte er gerade so erkennen, wie heftig Assad Widerstand leistete. Er sah, wie Assad um sich trat und schlug, und er sah, wie einer der drei hart auf den Boden knallte, wie gelähmt von einem Handkantenschlag auf den Hals: Ulrik Dybbøl Jensen. Florin warf die Armbrust weg und kam Pram zu Hilfe. Und während die zwei Assad überwältigten, sprang Carl auf und rannte auf das Licht zu, das vom Tor hereinfiel.

Er konnte Assad im Kampf nicht helfen, so gestutzt, wie er war. Das konnte er nur, wenn er wegkam.

Er hörte, wie sie sich zuriefen, er würde nicht weit kommen. Die Boys des Gutshofs würden ihn ohnehin fangen und zurückbringen. Ihn erwartete dasselbe wie Assad: der Hyänenkäfig.

»Freu dich auf das Biest!«, riefen sie ihm nach.

Die sind komplett wahnsinnig, schoss es Carl durch den Kopf, während er sich durch den winzigen Schlitz zu orientieren versuchte.

Dann hörte er oben am Eingangstor Autos vorfahren. Eine ganze Kohorte.

Falls die Leute in den Autos genauso drauf waren wie die drei in der Halle, konnte er eigentlich gleich in den Käfig gehen.


40


Langsam hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt und die Fahrtgeräusche waren in einen ruhigen Rhythmus übergegangen. Da machten sich die Stimmen in Kimmies Kopf wieder bemerkbar. Nicht besonders laut, aber doch anhaltend und selbstgewiss. Sie hatte sich inzwischen schon so daran gewöhnt.

Der Zug war stromlinienförmig, ganz anders als früher die roten Gribskov-Schienenbusse. Mit so einem waren sie und Bjarne vor vielen Jahren zum letzten Mal dort hinausgefahren. So vieles hatte sich seitdem verändert.

Es war hoch hergegangen damals. Sie hatten getrunken und gekokst und Tage durchgefeiert. Torsten hatte sie stolz auf seiner Neuerwerbung herumgeführt. Wald, Moor, Seen, Äcker. Für einen Jäger einfach perfekt. Man musste lediglich dafür sorgen, dass angeschossenes Wild nicht in den Staatsforst geriet.

Was hatten sie über ihn gelacht, sie und Bjarne. Es gab nichts Komischeres als einen Mann, der allen Ernstes geschnürte grüne Gummistiefel trug. Aber Torsten hatte es nicht gemerkt. Der Wald gehörte ihm, und hier war er uneingeschränkter Herrscher über alles, was sich schießen ließ.

Ein paar Stunden lang hatten sie Rotwild und Fasane getötet und am Ende auch den Waschbären, den sie selbst bei Nautilus für ihn beschafft hatte. Eine Geste, die Torsten zu schätzen wusste. Und anschließend hatten sie dem Ritual folgend in Torstens Kino >Clockwork Orange< gesehen. Es war ein Tag mit zu viel Koks und Alkohol gewesen, sie waren schlaff und hatten nicht die Energie, loszuziehen und sich ein Opfer zu suchen.

Damals war sie zum ersten und letzten Mal dort draußen auf dem Landgut. Aber sie erinnerte sich daran, als sei es gestern gewesen. Dafür sorgten schon die Stimmen.

Heute sind alle drei dort, Kimmie. Ist dir das klar? Das ist die Gelegenheit, hallte es in ihrem Kopf.

Sie musterte kurz ihre Mitreisenden. Dann steckte sie die Hand in die große Leinentasche und fühlte nach der Handgranate, der Pistole, der kleinen Schultertasche und ihrem geliebten Bündelchen. In der Leinentasche war alles, was sie brauchte.


Am Bahnhof Duemose wartete Kimmie, bis die anderen Frühaufsteher entweder abgeholt oder mit Fahrrädern weggefahren waren, die sie in dem roten Unterstand geparkt hatten.

Ein Autofahrer hielt an und fragte, ob er sie mitnehmen solle, aber sie lächelte nur. So konnte man Lächeln auch benutzen.

Als der Bahnsteig leer war und auch die Landstraße wieder so verlassen dalag wie vor ihrer Ankunft, ging sie bis zum Ende des Bahnsteigs, sprang auf den Schotter und folgte den Schienen bis zum Waldrand. Dort suchte sie sich eine Stelle, wo sie die Tasche lassen konnte.

Dann nahm sie ihre kleine Schultertasche, zog sie sich über den Kopf, stopfte die Jeans in die Socken und schob die große Tasche unter einen Busch.

»Mama kommt bald wieder, mein Schätzlein. Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie. Die Stimmen drängten sie, sich zu beeilen.

Nur wenige Meter die Straße entlang, vorbei an einem kleinen Betrieb, und schon hatte sie den Weg erreicht, auf dem sie zur Rückseite von Torstens Grundstück gelangte. Sich in dem Staatsforst zurechtzufinden war leicht.

Auch wenn die Stimmen unermüdlich Druck machten, hatte sie viel Zeit. Sie betrachtete das bunte Laub und atmete tief durch. Die Kraft und die Farben des Herbstes schienen sich im Geruch zu sammeln, der in der Luft lag.

Es war Jahre her, dass sie die Natur so intensiv wahrgenommen hatte. Viele Jahre.

Als sie die Brandschneise erreichte, stellte sie fest, dass sie breiter war als beim letzten Mal. Sie legte sich an den Waldrand und blickte über die Schneise zum Zaun, der Torstens Wald vom Staatsforst trennte. Die vielen Jahre auf den Straßen von Kopenhagen hatten sie gelehrt, dass auch Überwachungskameras nur ein begrenztes Sichtfeld hatten. Ruhig ließ sie ihren Blick über die Bäume schweifen, bis sie wusste, wo die Kameras angebracht waren. In dem Abschnitt, wo sie lag, gab es vier. Zwei stationäre und zwei, die sich die ganze Zeit über eine Spanne von hundertachtzig Grad hin- und herbewegten. Eine der stationären Kameras war direkt auf sie gerichtet.

Sie zog sich ins Unterholz zurück und überdachte die Lage.

Die eigentliche Schneise war etwa zehn Meter breit. Das Gras war frisch gemäht, nirgends höher als zwanzig Zentimeter, alles sehr offen und eben. Sie sah in beide Richtungen. Überall das Gleiche. Es gab tatsächlich nur eine einzige Möglichkeit, die Brandschneise ungesehen zu überqueren, und die führte nicht übers Gras.

Sondern von Baum zu Baum. Von Ast zu Ast.

Sie überlegte genau. Die Eiche auf ihrer Seite der Brandschneise war um etliches höher als die Buche auf der anderen Seite. Kräftige knorrige Äste, die fünf, sechs Meter über die Schneise ragten. Der andere Baum hatte etwas kürzere und weniger kräftige Äste. Sprang man vom hohen Baum zum niedrigeren, betrug die Fallhöhe ein paar Meter. Und gleichzeitig musste man nach vorn springen, um beim Fallen näher an den Stamm zu kommen. Die Äste würden sie sonst nicht tragen.

Kimmie hatte sich nie besonders gut mit Bäumen ausgekannt. Ihre Mutter hatte ihr verboten, dort zu spielen, wo sie sich schmutzig machen konnte. Und als die Mutter weg war, war auch die Lust weg.

Die große Eiche war ein wirklich schöner Baum. Viele knorrige Äste und grobe Rinde. Unproblematisch, da hinaufzuklettern.

Das Klettern machte ihr sogar Spaß. »Das musst du auch mal probieren, Mille«, sagte sie leise und zog sich weiter hinauf.

Erst als sie auf dem Ast saß, kamen ihr Bedenken. Der Abstand zur Erde war plötzlich so real. Der Sprung hinüber zu den glatten Ästen der Buche so definitiv. Konnte sie das wirklich? Wenn sie hinunterfiel, war es aus. Sie würde sich sämtliche Knochen brechen. Torsten würde sie auf dem Überwachungsmonitor sehen und stoppen, und dann wäre ihr alles aus der Hand genommen. Sie kannte die drei. Nicht sie wäre die Akteurin im Spiel ihres Lebens, sondern die drei.

So saß sie eine Weile da und versuchte auszurechnen, wie kräftig sie sich abstoßen musste. Schließlich richtete sie sich vorsichtig auf, die Arme an die Äste der Eiche geklammert.

Bereits im Sprung wusste sie, dass sie sich zu kräftig abgestoßen hatte. Noch während sie durch die Luft flog, sah sie, dass sie viel zu nahe an den Stamm der Buche kommen würde. Beim Versuch, die Kollision zu verhindern, brach sie sich einen Finger, das spürte sie sofort. Doch sie kümmerte sich nicht weiter darum, die Schmerzen mussten warten. Sie hatte ja noch neun andere Finger. Auf die verließ sie sich jetzt beim Herunterklettern. Da begriff sie, dass Buchen am unteren Ende des Stammes weit weniger Äste haben als Eichen. Vom untersten Ast blieben ihr noch vier bis fünf Meter bis zum Boden. Sie warf sich über den Ast und ließ sich eine Weile so hängen. Der Finger hatte sich unterzuordnen. Schließlich packte sie den Stamm, schlang den Arm so gut es ging darum und ließ los. Beim Hinunterrutschen schrammte sie sich Unterarme und Hals blutig.


Unten angekommen, betrachtete sie den abstehenden Finger. Dann zog sie ihn mit einem Ruck an seinen Platz. Es tat höllisch weh, aber Kimmie blieb stumm. Zur Not hätte sie ihn auch weggeschossen.

Sie wischte sich das Blut an ihrem Hals ab und trat in den Schatten des Waldes, jetzt auf der richtigen Seite des Zauns.

Es war ein Mischwald, sie erinnerte sich daran sogar noch von ihrem letzten Besuch. Gruppen von Fichten, kleine Lichtungen mit erst kürzlich gepflanzten Laubbäumen und über weite Strecken wild wachsende Birken, Weißdorn, Buchen und vereinzelte Eichen.

Es duftete intensiv nach modrigem Laub. Nach über zehn Jahren auf der Straße nahm man so etwas besonders intensiv wahr.

Wieder drängten die Stimmen, sie solle sich beeilen und es hinter sich bringen. Und vor allem solle die Konfrontation zu ihren Bedingungen stattfinden. Aber Kimmie hörte nicht zu. Sie wusste, sie hatte Zeit. Wenn Torsten, Ulrik und Ditlev ihre blutigen Spielchen spielten, konnte es dauern, bis sie genug hatten.

»Ich gehe am Waldrand und an der Brandschneise entlang«, sagte sie laut, und die Stimmen mussten sich fügen. »Das ist zwar weiter, aber wir kommen auf jeden Fall zum Gutshaus.«

Und so sah sie die dunklen Männer, die dem Wald zugewandt standen und warteten. Sie sah den Käfig mit dem rasenden Tier. Und sie registrierte die Beinschienen, die die Männer über den Hosen trugen und die bis zur Leistengegend reichten.

Deshalb zog sie sich in den Wald zurück und wartete ab, was geschah.

Und dann waren die ersten Rufe zu hören und fünf Minuten später die ersten Schüsse. Sie war im Land der Jäger.


41


Er rannte, den Kopf in den Nacken gelegt. Durch seinen Sehschlitz nahm er den Boden als Flimmern wahr, als Aufblitzen von trockenen Blättern und Zweigen. Hinter sich hörte er noch eine Weile Assads Gebrüll. Dann war alles still.

Er verringerte das Tempo. Zerrte an dem Klebeband im Rücken. Die Nase war vom hektischen Luftholen ganz trocken. Wenn er den Kopf in den Nacken legte, konnte er ein bisschen sehen, trotzdem musste er das Klebeband unbedingt von den Augen herunterkriegen.

Bald würden sie von allen Seiten kommen. Die Jäger vom Hofplatz und die Treiber von Gott weiß woher. Er drehte sich in alle Richtungen, sah durch den Schlitz gerade so die Bäume. Wieder rannte er los, aber nach wenigen Sekunden knallte ihm ein niedriger Ast an den Kopf und ließ ihn rücklings zu Boden gehen.

»Scheiße!«

Mühsam kam er wieder auf die Füße und suchte den Stamm nach einem abgebrochenen Ast in Kopfhöhe ab. Dann stellte er sich ganz dicht an den Stamm und mühte sich ab, das abgebrochene Astende neben der Nase unter das Klebeband zu bohren, um anschließend den Körper langsam nach unten zu bewegen. Das Klebeband straffte sich zwar am Hinterkopf, löste sich aber nicht von den Augen. Es haftete zu fest an den Lidern.

Er zog noch einmal, hielt dabei die Augen geschlossen, spürte aber, wie die Lider die Bewegung des Klebebands mitmachten. Der Schmerz war unbeschreiblich.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, fluchte er und begann den Kopf seitwärts zu drehen, mit dem Erfolg, dass der Zweig das Lid aufritzte.

Da hörte er zum ersten Mal das Rufen der Treiber. Sie waren nicht so weit weg, wie er gehofft hatte. Vielleicht ein paar hundert Meter, das war hier im Wald schwer zu beurteilen. Mit einer vorsichtigen Drehung des Kopfes befreite er sich von dem abgebrochenen Zweig. Die Plackerei hatte aber doch etwas gebracht, denn nun konnte er wenigstens mit dem einen Auge einigermaßen sehen.

Er war umgeben von dichtem Wald. Das Licht fiel unregelmäßig durch die Bäume, und er hatte keinen blassen Schimmer, wo Norden, Süden, Osten oder Westen war. Da wurde ihm klar, dass es mit Carl Mørck nun doch recht schnell zu Ende sein könnte.


Die ersten Schüsse fielen, als Carl auf einer Lichtung stand. Die Treiber waren jetzt so nahe gekommen, dass er sich auf die Erde fallen lassen musste. Soweit er es beurteilen konnte, war er kurz vor der Brandschneise, und dahinter begann der Staatsforst. Bis zu dem Parkplatz, wo sein Auto stand, waren es wohl kaum mehr als sieben-, achthundert Meter Luftlinie. Aber was nützte ihm das, wenn er die Richtung nicht wusste.

Er sah Vögel über den Baumwipfeln aufflattern. Im Unterholz rührte sich etwas. Die Treiber stießen Schreie aus und lärmten mit Holzstöcken, die sie aneinander schlugen. Die Tiere flüchteten.

Wenn die Hunde dabei haben, finden sie mich in null Komma nichts, dachte er. Dabei fiel sein Blick auf einen Blätterhaufen, den der Wind vor ein paar umherliegenden Ästen zusammengeweht hatte.

Als das erste Reh mit großen Sprüngen aus dem Unterholz setzte, war er so erschrocken, dass er zitterte. Instinktiv warf er sich auf den Blätterhaufen und wand und rollte sich so lange darin herum, bis er einigermaßen mit Laub bedeckt war.

Er ermahnte sich, langsam und ruhig durchzuatmen. Verdammte Scheiße, dachte er dann. Ob Torsten Florin die Treiber wohl mit Handys ausgerüstet hatte und ihnen gerade erklärte, dass sie sich einem entlaufenen Polizisten näherten, der auf keinen Fall entkommen durfte? Ja, natürlich, ein Mann wie Torsten Florin würde alle Register ziehen. Natürlich wussten die Treiber längst, wonach sie Ausschau halten sollten.

Hier unter dem duftenden Laub merkte er, dass die Schusswunde aufgeplatzt war und das blutgetränkte Hemd an seinem Körper klebte. Wenn er länger so liegen blieb, würde er verbluten. Nein, unwahrscheinlich, vorher würden ihn die Hunde aufspüren.

Wie in drei Teufels Namen sollte er Assad helfen? Und wie sollte er sich jemals wieder in die Augen sehen, falls Assad starb, er selbst aber überlebte, so unwahrscheinlich das war? Wie sollte er da weiterleben? Er, der schon einmal seinen Partner verloren hatte? Der schon einmal seinen Partner im Stich gelassen hatte?

Er holte tief Luft. Das durfte sich nicht wiederholen. Und wenn er im Gefängnis landen würde. Und wenn er sein Leben verlieren würde. Und wenn er in der Hölle schmoren müsste.

Er hörte ein Zischeln, das sich langsam zu einem Hecheln und schließlich zu einem schwachen Kläffen wandelte. Da pustete er die Blätter von den Augen. Sein Pulsschlag nahm zu und in der Wunde pochte es. Wenn das ein Hund war, war es gleich vorbei.

In einiger Entfernung waren die zielstrebigen Schritte der Treiber nun schon deutlich zu hören. Sie lachten und schrien und wussten genau, was sie zu tun hatten.

Dann stoppte das scharfe Knacken im Unterholz, und plötzlich wusste er: das Tier stand vor ihm und sah ihn an.

Er blinzelte durch den Sehschlitz und sah direkt auf den Kopf eines Fuchses. Er hatte rotfleckige Augen und Schaum vorm Maul. Schnappte nach Luft und zitterte am ganzen Körper wie von Schüttelfrost.

Der Fuchs fauchte, als er ihn da zwischen den Blättern blinzeln sah. Fauchte, als er die Luft anhielt. Bleckte die Zähne, knurrte und kroch mit gesenktem Kopf auf Carl zu.

Urplötzlich erstarrte er, hob den Kopf und sah hinter sich, als witterte er Gefahr. Dann wandte er sich wieder Carl zu. Und plötzlich, als gäbe es in diesem Tier so etwas wie Denken, kroch der Fuchs an den Boden gedrückt auf Carl zu, legte sich vor seine Füße und knuffte seine Schnauze in den Blätterhaufen.

Dort lag das Tier, hechelte und wartete. Bedeckt von Blättern. Genau wie Carl.

Jetzt sammelte sich in einem Lichtstrahl etwas weiter entfernt eine Schar Rebhühner. Vom Lärm der Treiber aufgescheucht flogen sie auf, und sofort waren etliche Schüsse zu hören. Carl zuckte bei jedem einzelnen Schuss zusammen, Kälteschauer liefen durch seinen Körper und vor seinen Füßen zitterte der Fuchs.

Da sah er die Hunde der Jäger, die angelaufen kamen, um die Vögel aufzunehmen, und gleich darauf auch die Jäger selbst als Silhouetten vor dem entlaubten Gesträuch.

Es waren insgesamt etwa neun oder zehn. Alle in Schnürstiefeln und Knickerbockern. Als sie näher kamen, erkannte er gleich mehrere illustre Vertreter der Kopenhagener High Society. Soll ich mich zu erkennen geben?, schoss es ihm durch den Kopf. Doch er verwarf den Gedanken in dem Moment, als er den Gastgeber und seine beiden Freunde in der Nachhut entdeckte. Beide Männer mit schussbereiter Armbrust. Falls Florin, Dybbøl Jensen oder Pram ihn erblickten, würden sie, ohne zu zögern, schießen. Sie würden es als Jagdunfall deklarieren und die restliche Jagdgesellschaft mühelos von dieser Auslegung überzeugen. Der Zusammenhalt war groß, das wusste er. Sie würden das Klebeband entfernen und es als Unglücksfall arrangieren.

Carls Atemzüge wurden kürzer und flacher, wie die des Fuchses. Was würde mit Assad geschehen? Was mit ihm selbst?

Als die Männer nur noch ein paar Meter vom Laubhaufen entfernt standen und die Hunde knurrten, machte der Fuchs auf einmal einen Satz. Er sprang den vordersten der Jäger an und verbiss sich mit aller Kraft in der Leistengegend. Der Schrei des jungen Mannes war entsetzlich, ein Hilferuf in Todesangst. Die Hunde versuchten, nach dem Fuchs zu schnappen, aber der stellte sich ihnen schäumend vor Wut entgegen, pisste mit gespreizten Beinen und rannte dann um sein Leben. Ditlev zielte und schoss.

Das Pfeifen des Pfeils in der Luft hörte Carl nicht, wohl aber das Aufheulen des Fuchses, sein Kläffen und den langsamen Todeskampf.

Die Hunde schnupperten am Urin des Fuchses und einer von ihnen steckte die Schnauze dort hinein, wo der Fuchs bis gerade eben gelegen hatte. Carls Witterung nahm er nicht auf.

Gesegnet seien der Fuchs und seine Pisse, dachte Carl, als sich die Hunde um ihre Herren sammelten. Der verletzte Jäger lag wenige Meter entfernt auf der Erde, wand sich in Krämpfen und schrie. Die Jagdkameraden beugten sich über ihn und versorgten seine Wunde, zerrissen Tücher, verbanden ihn und hoben ihn auf.

»Guter Schuss«, hörte er Torsten Florin sagen, als Ditlev mit verschmiertem Messer und dem Fuchsschwanz in der Hand zu ihnen kam. Dann wandte sich Florin an die anderen Männer. »So, Freunde, tut mir leid, das war's für heute. Kümmert ihr euch darum, dass Saxenholdt schnellstens ins Krankenhaus kommt? Ich rufe die Treiber, die können ihn tragen. Sorgt dafür, dass er gegen Tollwut geimpft wird, man kann nie wissen. Und bis dahin presst ihm lieber einen Finger auf die Arterie, klar? Sonst war's das vielleicht mit ihm.«

Er rief etwas in Richtung der Bäume, und eine Gruppe schwarzer Männer trat aus dem Schatten. Vier von ihnen schickte er mit den Jägern los, die anderen vier bat er zu bleiben. Zwei von ihnen trugen schlanke Jagdgewehre, wie Torsten Florin selbst auch.

Als die Jagdgesellschaft mit dem stöhnenden Verletzten verschwunden war, standen die drei alten Freunde und die dunklen Männer zusammen.

»Euch ist klar, dass wir nicht viel Zeit haben?«, sagte Florin. »Dieser Polizist - wir dürfen ihn nicht unterschätzen.«

»Was machen wir, wenn wir ihn sehen?«, fragte Ulrik.

»Dann verkleidet ihr euch vor eurem inneren Auge als Fuchs.«


Er lauschte lange, bis er sicher war, dass die Männer sich verteilt hatten und unterwegs waren zum hintersten Ende des Waldes. Also musste der Weg zum Hofplatz frei sein - sofern die anderen schwarzen Männer nicht zurückkamen, um ihre Arbeit zu beenden.

Jetzt rennst du los, dachte er und richtete sich auf. Mit zurückgelegtem Kopf durch den Sehschlitz blinzelnd, schlug er sich durch das dichte Unterholz.

Vielleicht findet sich in der Halle ein Messer. Vielleicht kann ich das Band durchschneiden. Vielleicht lebt Assad. Vielleicht lebt Assad, ging es ihm durch den Kopf, während das Gestrüpp sich in seinen Sachen verhakte und noch immer Blut aus der Wunde sickerte.

Er fror. Die Hände auf seinem Rücken zitterten. Wie viel Blut er wohl verloren hatte?

Dann hörte er, wie in der Nähe mehrere Jeeps Gas gaben und losfuhren. Es konnte nicht mehr weit sein.

Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da sauste ein Pfeil so dicht an seinem Kopf vorbei, dass er den Luftzug spürte. Der Pfeil bohrte sich tief in den Baumstamm vor ihm. Dieses Geschoss würde wohl niemand mehr herausziehen können.

Er drehte sich um, sah aber nichts. Wo waren sie? Dann hörte er einen Schuss, und ganz in der Nähe splitterte die Rinde eines Baumes.

Jetzt wurden die Rufe der Treiber deutlicher. Lauf, lauf, lauf, schrie es in ihm. Nicht fallen. Hinter den Busch, und dann hinter den nächsten, raus aus der Schusslinie. Wo kann ich mich nur verstecken? Gibt's denn hier nirgendwo ein Versteck?

Sie würden ihn gleich haben. Und er wusste, sie würden ihn nicht einfach so sterben lassen. Das gab ihnen ja erst den Kick, diesen Schweinen.

Das Herz klopfte so hart in seiner Brust, dass es wehtat.

Mit einem Satz sprang er über einen Bach. Die Schuhe blieben im Morast stecken. Die Sohlen waren bleischwer, die Beine wollten nicht mehr. Lauf, lauf, lauf!

Auf der einen Seite erahnte er eine Lichtung. Hier waren Assad und er wohl hereingekommen, da der Bach jetzt hinter ihm lag. Dann musste er nach rechts. Es konnte nicht mehr weit sein.

Diesmal sauste der Pfeil ein ganzes Stück seitlich vorbei. Da stand er plötzlich auf dem Hofplatz. Ganz allein und mit pochendem Herzen und kaum zehn Meter vom Hallentor entfernt.

Er war noch nicht ganz dort, da bohrte sich der nächste Pfeil neben ihm in den Boden. Es war kein Zufall, dass sie nicht trafen. Sie wollten ihn daran erinnern, dass er stehen bleiben sollte. Sonst käme der nächste Pfeil.

Und plötzlich brach sein Widerstand. Er blieb stehen, den Blick zu Boden gerichtet, und wartete auf sie. Dieser schöne gepflasterte Hofplatz würde zu seiner Opferstätte werden.

Er atmete tief ein und drehte sich um. Nicht nur die drei Männer und die vier Treiber standen still da und sahen ihn an. Das tat auch eine kleine Schar dunkler Kinder mit großen Augen.

»Es ist gut, ihr könnt gehen«, kommandierte Torsten Florin, und die dunklen Männer verließen den Platz und scheuchten die Kinder vor sich her.

Jetzt waren sie ganz unter sich. Carl und die drei Männer: verschwitzt und lächelnd. Der Fuchsschwanz baumelte von Ditlev Prams Armbrust.

Die Jagd war aus.


42


Sie stießen ihn vor sich her in die Halle.

Durch seinen Sehschlitz empfand er das künstliche Licht dort als besonders stechend. Blinzelnd blickte er zu Boden. Keinesfalls wollte er die Überreste von Assad in diesem Licht sehen, keinesfalls wollte er wissen, was eine Hyäne aus einem menschlichen Körper machen konnte.

Jetzt war auch bei Carl der Punkt erreicht, da er überhaupt nichts mehr sehen wollte. Sollten sie doch mit ihm anstellen, was sie wollten. Aber zusehen wollte er ihnen dabei nicht.

Plötzlich lachte einer der Männer. Ein Lachen von ganz tief unten aus dem Bauch, das die beiden anderen ansteckte. Ein widerwärtiger Chor, der Carl instinktiv die Augen hinter dem Klebeband zusammenkneifen ließ.

Wie konnte jemand angesichts von Tod und Unglück eines anderen Menschen lachen? Wie krank im Kopf musste man sein, um sich darüber zu amüsieren? Was hatte diese Typen so deformiert?

Da hörte er eine Stimme auf Arabisch fluchen. Gutturale, hässliche Laute. Aber Carl machten sie so unbeschreiblich froh, dass er sofort den Kopf hob.

Erst konnte er nicht sehen, woher die Laute kamen. Er konnte die glänzenden Käfigstäbe erkennen, und er sah auch die Hyäne, die böse zu ihnen herüberäugte. Erst als er den Kopf ganz zurücklegte, entdeckte er Assad, der sich wie ein Affe oben an der Abdeckung des Käfigs festklammerte. Mit wildem Blick und Verletzungen an Armen und Beinen.

In dem Moment erst fiel Carl auf, dass die Hyäne hinkte. Als wenn ein Hinterbein durch einen Schlag verletzt worden wäre. Das Tier winselte bei jedem Schritt. Das Lachen der drei Männer verstummte jäh.

»Schweinetier«, rief Assad respektlos von oben.

Carl hätte unter dem Klebeband beinahe gelächelt. Dieser Mann blieb sich einfach immer treu.

»Irgendwann fällst du runter. Und dann weiß das Tier, was zu tun ist«, zischte Torsten Florin. Die Wut darüber, dass Assad dieses Prachtexemplar seines Zoos verstümmelt hatte, brannte ihm in den Augen. Aber er hatte recht. Assad konnte nicht ewig dort oben hängen.

»Ich weiß nicht.« Das war Ditlev Prams Stimme. »Der Orang-Utan da oben ist ja nicht gerade ein Leichtgewicht. Wenn der auf die Hyäne drauffällt, wird das kaum zu ihrem Vorteil sein.«

»Scheiß auf die! Die hat eh nicht getan, wozu sie in die Welt gesetzt wurde.« Florin war sichtlich erregt.

»Was machen wir denn jetzt mit ihnen?«, mischte sich nun auch Ulrik Dybbøl Jensen wieder ein, allerdings in ganz anderem Ton als die beiden anderen, viel leiser und verhaltener. Er wirkte jetzt weniger zugedröhnt als vorhin. Ungeschützter. Nach einem Kokainrausch ging es Leuten oft so.

Carl drehte sich zu ihm um. Wenn er hätte sprechen können, hätte er gesagt, sie sollten sie einfach laufen lassen. Dass es gefährlich und absolut sinnlos sei, sie zu töten. Dass Rose alle Hebel in Bewegung setzen würde, falls sie am nächsten Tag nicht im Büro erschienen. Dass man sofort hier draußen bei Florin suchen und natürlich etwas finden würde. Dass sie zusehen sollten, schleunigst auf die andere Seite der Erdkugel zu kommen, um sich dort für den Rest ihres Lebens zu verstecken. Dass das ihre einzige Chance sei.

Aber mit dem Paketband auf dem Mund konnte Carl nichts sagen. Außerdem würden die Männer sowieso nicht anbeißen. Denn Torsten Florin würde keine Mittel scheuen, um die Spuren seiner Taten zu verwischen. Und wenn er den ganzen Scheißdreck abfackeln musste. Das wusste Carl jetzt.

»Wir sperren ihn zu dem anderen. Schauen wir doch mal, was dann passiert«, sagte Florin ruhig. »Heute Abend sehen wir nach ihnen. Und falls es sich dann noch nicht erledigt hat, können wir ja noch ein paar andere Tiere dazu tun. Die Auswahl ist groß.«

Da entfuhr Carl ein archaischer Schrei und er begann, wild um sich zu treten. Noch mal würde er sie nicht widerstandslos an sich heranlassen. Nicht noch mal.

»Na, na, na. Was ist denn los, Carl Mørck? Stimmt was nicht?«

Ditlev Pram trat ganz nahe an ihn heran, unbeeindruckt von Carls Tritten. Dann hob er die Armbrust und zielte damit direkt auf das Auge, mit dem Carl sehen konnte.

»Stillgestanden!«, kommandierte er.

Carl überlegte kurz, schätzte seine Chancen aber realistisch ein und verzichtete auf Widerstand. Pram streckte die freie Hand aus, griff nach dem Klebeband, das um Kopf und Augen gewickelt war, und riss es mit einem Ruck ab.

Carl war es, als würden seine Augenlider abgerissen. Als hingen die Augäpfel plötzlich frei in ihren Höhlen. Das Licht bombardierte die Netzhaut und machte ihn kurz blind.

Doch dann sah er sie. Alle drei auf einmal. Die Arme ausgebreitet wie zu einer Umarmung. Ihre Blicke sagten ihm, dass das hier sein letzter Ringkampf war.

Wie zum Trotz gegen diese Erkenntnis und obwohl der Blutverlust ihn bereits erheblich geschwächt hatte, fing er wieder an zu toben.

Und plötzlich huschte auf dem Fußboden ein Schatten an ihm vorbei. Er sah, dass auch Florin das registrierte. Dann hörte er am anderen Ende der Halle etwas klappern, immer wieder. Katzen strichen an ihnen vorbei und hinaus zum Licht. Und aus den Katzen wurden Waschbären und Hermeline und Vögel, die gegen die Stahlverstrebungen des Glasdachs flatterten.

»Was zum Teufel ist hier los?«, schrie Florin. Ulrik Dybbøl Jensen sah dem Hängebauchschwein nach, das kurzbeinig durch die Gänge und um die Käfige rannte. Ditlev Prams Körperhaltung veränderte sich, sein Blick war hellwach, als er sich vorsichtig nach der Armbrust auf dem Fußboden bückte.

Carl zog sich zurück. Er hörte, wie sich dieses Klappern in der Tiefe der Halle fortsetzte und sich zugleich die Geräusche von Tieren in Freiheit vervielfachten. Es war ein einziges Trippeln, Grunzen, Kläffen, Zischen und Flügelschlagen.

Er hörte Assad da oben zwischen den Gitterstäben lachen. Er hörte die Flüche der drei Männer.

Aber die Frau hörte er nicht, ehe sie nicht vortrat.

Plötzlich stand sie da. Die Jeans in die Socken gestopft, eine Pistole in der einen Hand, ein Stück gefrorenes Fleisch in der anderen.

Sie war zart und fein, so wie sie da mit ihrer kleinen Schultertasche stand. Eigentlich hübsch. Mit einem friedvollen Gesichtsausdruck und glänzenden Augen.

Die drei Männer waren bei ihrem Anblick verstummt, hatten die umherstreifenden Tiere vollkommen vergessen, standen da wie paralysiert. Es war nicht die Pistole, auch nicht der Anblick der Frau, der sie so offensichtlich erschütterte. Es war das, wofür sie stand: Die Abrechnung.

»Hallo«, sagte sie und nickte einem nach dem anderen zu. »Schmeiß das weg, Ditlev.« Sie zeigte auf die Armbrust. Dann bedeutete sie ihnen, einen Schritt zurückzutreten.

»Kimmie!« Das war Ulrik Dybbøl Jensen. Angst und Zuneigung sprachen aus seinem Tonfall. Vielleicht sogar ein wenig mehr Zuneigung als Angst.

Sie lächelte, als zwei Otter sich an Florins Bein zu schaffen machten und schnupperten, ehe sie hinaus in die Freiheit verschwanden.

»Heute kommen wir alle frei«, sagte sie. »Ist das nicht ein wunderbarer Tag?«

»Du da«, sagte sie und sah Carl Mørck an. »Kick die Lederschlaufe zu mir rüber.« Sie zeigte ihm, was sie meinte, denn der Lederriemen war halb unter den Hyänenkäfig gerutscht.

»Komm doch mal her, meine Kleine«, flüsterte sie dem schwer atmenden Tier im Käfig zu, ließ die drei Männer dabei jedoch keine Sekunde aus den Augen. »Komm mal her, hier ist ein Leckerbissen für dich.«

Sie schob das Fleisch durch das Gitter, legte dann vorsichtig die Schlinge darum und wartete auf den Moment, da der Hunger des Tieres größer war als seine Furcht. Die vielen Menschen und ihr Schweigen verwirrten es offenkundig. Als es sich dem Fleischbrocken schließlich doch näherte und sich beim Zubeißen in der Schlinge verhedderte, machte Ditlev Pram kehrt und rannte auf das Tor zu. Die beiden anderen brüllten vor Wut.

Kimmie hob die Pistole und schoss, und Ditlev Pram stürzte kopfüber auf den Steinfußboden, wo er liegen blieb und sich vor Schmerzen wand. Unterdessen band Kimmie die Fangschlaufe mit dem aufgebrachten Tier am Gitter fest.

»Steh auf, Ditlev«, sagte sie ganz ruhig, und als er das nicht konnte, befahl sie seinen Freunden, ihm zu helfen.

Es war nicht der erste Schuss auf einen Flüchtigen, den Carl sah, aber nie hatte er einen effektiveren gesehen. Die Hüftschaufel des Mannes war glatt durchschossen.

Pram war kreidebleich, aber er sagte nichts. Es war, als nähmen die drei Männer und Kimmie an einem Ritual teil, von dem es keinerlei Abweichung geben durfte. An einer wortlosen, vertrauten Zeremonie.

»Mach den Käfig auf, Torsten.« Sie sah nach oben zu Assad.

»Du bist das gewesen, du hast mich im Hauptbahnhof gesehen. Kannst jetzt ruhig runterkommen.«

»Allah sei gepriesen!«, war von oben zu hören, während Assad Füße und Beine aus dem Gitter zog. Er ließ sich fallen, konnte aber weder stehen noch gehen. Seine Gliedmaßen waren eingeschlafen, es war ein Wunder, dass er sich überhaupt noch hatte festhalten können.

»Zieh ihn raus, Torsten«, sagte Kimmie und verfolgte jede seiner Bewegungen, bis Assad vor dem Käfig auf dem Boden lag.

»Und jetzt rein mit euch«, sagte sie ruhig zu den Männern.

»O Gott, nein, Kimmie, lass mich gehen«, flüsterte Ulrik. »Ich hab dir nie was getan, Kimmie, das weißt du doch, oder?«

Mein Gott, wie erbärmlich er war, aber sie reagierte nicht.

»Na los, macht schon«, sagte sie nur.

»Du kannst uns genauso gut gleich umbringen«, sagte Torsten und half Ditlev hinein. »Du weißt genau: das hält keiner von uns auch nur eine Sekunde aus.«

»Das weiß ich, Torsten.«

Ditlev Pram und Torsten Florin verkniffen sich einen Kommentar, aber Ulrik Dybbøl Jensen entblödete sich nicht, sie anzuwinseln. »Die bringt uns um, kapiert ihr das nicht?«

Als die Käfigtür hinter den dreien zufiel, lächelte Kimmie und schleuderte die Pistole quer durch die Halle.

Der Aufprall war nicht zu überhören, Metall auf Metall.

Carl sah zu Assad, der sich die Beine massierte. Trotz seiner blutenden Hand lächelte er schon wieder. Carl fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen.

Jetzt bäumten sich die Käfiginsassen noch einmal auf.

»Hey, du da, tu doch was, mit der wirst du doch leicht fertig«, schrie Pram Assad zu.

»Glaubt bloß nicht, dass sie euch verschont!«, hetzte Florin.

Aber Kimmie bewegte sich keinen Millimeter. Sie stand da und betrachtete sie, als sähe sie einen alten, längst vergessenen Film.

Dann trat sie zu Carl und riss das Klebeband von seinem Mund. »Ich weiß, wer du bist«, sagte sie. Sonst nichts.

»Gleichfalls«, sagte Carl. Er atmete ein paar Mal tief durch, fast so, als wäre es das erste Mal.

Ihr Wortwechsel brachte das Trio zum Schweigen.

Nach einer Weile trat Torsten Florin dicht an die Gitterstäbe. »Wenn ihr beiden Polizisten jetzt nicht reagiert, dann ist sie in fünf Minuten die Einzige, die hier noch Luft holt. Begreift ihr das vielleicht langsam mal?«

Er sah Carl und Assad in die Augen. »Kimmie ist nicht wie wir, klar? Sie tötet, wir nicht. Ja, wir haben Menschen überfallen, sie bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt. Aber getötet haben wir nie. Das war immer nur Kimmie.«

Carl lächelte und schüttelte den Kopf. So waren diese Überlebenstypen wie Torsten Florin. Krisen waren für sie nichts anderes als der Auftakt zu einem Erfolg. Solange der Mann mit der Sense nicht unmittelbar vor der Tür stand, sprangen sie immer wieder auf. Torsten Florin kämpfte weiter, mit allen Mitteln und ohne jeden Skrupel. Genau so, wie er Assad der Hyäne zum Fraß vorgeworfen hatte. Genau so, wie er versucht hatte, ihn, Carl, auszuschalten.

Carl wandte sich Kimmie zu. Er hatte mit einem Lächeln gerechnet, aber nicht mit dieser glückseligen, kalten Grimasse. Wie in Trance stand sie da und lauschte.

»Ja, schaut sie euch an. Seht ihr irgendeine Gefühlsregung? Schaut euch ihre Hand an und den geschwollenen Finger. Jammert sie etwa? Nein, die jammert über nichts, der macht nichts irgendwas aus, nicht mal unser Tod«, war aus dem Raubtierkäfig zu hören, wo Ditlev Pram auf dem Boden lag und die Faust in die entsetzliche Wunde an seiner Hüfte presste.

Kurz blitzten vor Carls innerem Auge Bilder der Taten auf, die die Clique begangen hatte. War etwas dran an dem, was Florin da sagte, oder war es nur Teil seines Kampfes?

Da hob Florin noch einmal an. Längst war er nicht mehr der König, der Dirigent. Nur noch der, der er war. »Wir sind auf Befehl von Kristian Wolf rausgefahren. Wir haben die Opfer auf Kristians Befehl ausgewählt. Und wir haben kollektiv auf sie eingeschlagen, bis wir keine Lust mehr hatten. Und die ganze Zeit stand dieses Satansweib daneben, ganz heiß darauf, selbst an die Reihe zu kommen. Klar, zwischendurch nahm sie auch mal an den Abstraf ungen teil.« Florin hielt inne und nickte, als sähe er alles vor sich. »Aber immer war sie es, die getötet hat, das könnt ihr uns glauben. Bis auf das eine Mal, als Kristian gegen ihren Ex-Freund stänkerte, Kåre. Sonst war immer sie es. Wir haben ihr lediglich den Weg bereitet, nichts sonst. Sie ist die Mörderin. Sie allein. Und sie wollte es so.«

»Scheiße«, stöhnte Ulrik Dybbøl Jensen. »Nun tut endlich was, um Himmels willen. Kapiert ihr das nicht? Was Torsten sagt, ist die Wahrheit.«

Carl spürte, wie die Stimmung im Raum und auch in ihm selbst langsam kippte. Da sah er, wie Kimmie im Zeitlupentempo ihre Schultertasche öffnete, aber entkräftet und gefesselt, wie er war, konnte er nichts tun. Er sah, wie die Männer die Luft anhielten. Registrierte, wie alarmiert Assad auf einmal war und wie verzweifelt er versuchte, auf die Beine zu kommen.

Kimmie fand in der Tasche, wonach sie suchte. Sie nahm die Handgranate heraus, hielt die Sicherung fest und zog den Splint heraus.

»Du hast nichts getan, liebes Tier«, sagte sie und sah der Hyäne in die Augen. »Aber mit dem Bein kannst du nicht leben, das weißt du doch?«

Darauf wandte sich Kimmie Carl und Assad zu, während Ulrik Dybbøl Jensen im Käfig schrie und winselte, als könnte irgendetwas ihm zu Hilfe kommen.

»Wenn ihr an eurem Leben hängt«, sagte sie. »Dann zieht ihr euch ein bisschen zurück. Und zwar jetzt!«

Was sollte er schon anderes tun mit seinen gefesselten Händen? Also zog Carl sich mit rasendem Puls zurück. Auch Assad robbte rückwärts, so schnell er konnte.

Als sie weit genug weg waren, warf Kimmie den Sprengkörper in einer einzigen fließenden Bewegung in den Käfig und rannte los. Mit hektischen Bewegungen versuchte Torsten Florin zwar noch, die Granate zu fassen zu bekommen und durch das Gitter zu schubsen, aber da verwandelte die Explosion die Halle schon in ein Inferno.

Die Druckwelle warf Carl und Assad in einen Stapel kleinerer Käfige, der mit Getöse über ihnen zusammenfiel und sie so vor den herabregnenden Glasscherben schützte.

Als sich der Staub gelegt hatte, war nur noch das panische Gebrüll der Tiere zu hören. Da spürte Carl, wie Assads Hand durch das Wirrwarr aus Käfigböden und verbogenen Gitterstangen nach seinem Bein tastete.

Assad zog Carl heraus, versicherte sich, dass Carl okay war, und befreite seine Handgelenke von dem Klebeband.

Der Anblick, der sich ihnen bot, war grauenhaft. Dort, wo der Hyänenkäfig gestanden hatte, lagen überall Eisen- und Leichenteile. Es war wenig übrig von dem, was mal drei Menschen gewesen waren.

Carl hatte viel gesehen im Laufe der Jahre, aber so etwas noch nie. Meist floss schon kein Blut mehr, wenn er und die Techniker am Tatort eintrafen.

Hier war die Grenze zwischen Leben und Tod noch sichtbar.

»Wo ist sie?«

»Keine Ahnung«, entgegnete Assad und zog Carl auf die Füße. »Vielleicht liegt sie hier irgendwo.«

»Komm, nichts wie raus hier«, sagte Carl. Auf dem Hof wartete Kimmie auf sie. Die Haare wirr und staubig und mit einem Ausdruck unendlicher Trauer in den Augen.


Den Schwarzen sagten sie, dass sie sich zurückziehen sollten. Dass sie außer Gefahr seien. Dass sie sich um die Tiere kümmern und das Feuer löschen sollten. Die Frauen gingen und nahmen die Kinder mit. Die Männer starrten benommen auf den Rauch, der durch das zerbrochene Glasdach der Halle quoll, bis einer von ihnen etwas rief und damit Leben in die Gruppe brachte.

Kimmie ging mit Assad und Carl, dirigierte sie mit wenigen Worten über die Waldwege zur Bahnstrecke.

»Sie können mit mir machen, was Sie wollen«, sagte sie. »Ich kenne meine Schuld. Wir gehen zum Bahnhof. Dort steht meine Tasche. Ich habe alles aufgeschrieben. Alles, woran ich mich erinnere, steht da.«

Carl versuchte sich ihrem Tempo anzupassen. Er erzählte ihr von dem Metallkasten, den er gefunden hatte, und von der Ungewissheit, in der so viele Menschen jahrelang gelebt hatten und die nun in Gewissheit umschlagen würde.

Sie war still, als er vom Leiden der Opfer und ihrer Familien und der Trauer der Menschen sprach, die einen Angehörigen verloren hatten. Seine Worte schienen nicht bis zu ihr vorzudringen.

Im Gefängnis leben Menschen wie sie nicht lange, dachte Carl.


Als sie die Bahntrasse erreichten, waren es bis zum Bahnsteig noch etwa hundert Meter. Wie mit dem Lineal gezogen, durchschnitten die Schienen den Wald.

»Ich zeige Ihnen, wo meine Tasche steht«, sagte Kimmie und steuerte auf ein Gebüsch nahe den Gleisen zu.

»Sie heben die nicht auf, das tue ich«, rief Assad und zwängte sich an ihr vorbei.

Er nahm die Leinentasche und trug sie mit weit ausgestreckten Armen die letzten zwanzig Meter zum Bahnsteig.

Der gute alte Assad.

Auf dem Bahnsteig öffnete er den Reißverschluss, drehte die Tasche um und schüttelte sie, obwohl Kimmie protestierte. Tatsächlich fiel ein Notizheft heraus, auf dessen eng beschriebenen Seiten die Überfälle mit genauen Datums- und Ortsangaben skizziert waren, wie Carl beim schnellen Durchblättern erkannte.

Als Assad nach einem kleinen Leinenbündel griff und es aufschnürte, schnappte Kimmie hörbar nach Luft und hielt sich die Hände vors Gesicht.

In Assads Stirn bildete sich eine tiefe Furche, als er sah, was sich darin befand.

Ein winziges mumifiziertes Menschlein mit leeren Augenhöhlen. Der Kopf schwarz, die Finger steif abgespreizt, der zerbrechliche Körper steckte in Puppensachen.

Benommen sah Carl, wie Kimmie auf Assad zustürzte, ihm das Bündel aus der Hand riss und es an sich drückte.

»Kleine Mille, liebe kleine Mille. Nun wird alles gut. Mama ist da und lässt dich jetzt nie mehr allein.« Kimmies Gesicht war tränenüberströmt. »Wir bleiben jetzt für immer zusammen. Und du bekommst endlich den kleinen Teddy, und wir spielen den ganzen Tag.«

Niemals in seinem Leben hatte Carl dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit verspürt, das einen angeblich ergreift, wenn man unmittelbar nach der Geburt erstmals sein Kind in den Armen hält. Und hin und wieder vermisste er dieses Gefühl, spürte ein Vakuum in sich.

Als er Kimmie jetzt sah, überwältigte ihn das Gefühl der Leere - und versetzte ihn in die Lage, sie zu verstehen. Noch etwas unbeholfen mit seinem geschwächten Arm zog er den kleinen Talisman aus seiner Brusttasche: den Teddy aus Kimmies Metallkasten.

Sie sagte nichts. Stand wie gelähmt da und blickte auf das Stofftier, in ihrem Gesicht wechselten Lachen und Weinen einander ab.

Neben ihr stand Assad, reglos und mit gerunzelter Stirn. Entwaffnet und völlig hilflos.

Dann griff sie vorsichtig nach dem Teddy. Im selben Augenblick, als sie ihn in ihrer Hand spürte, fiel etwas von ihr ab. Sie holte tief Luft und legte den Kopf in den Nacken.

Carl rieb sich über die feuchten Augen und blickte verlegen zur Seite. Auf dem Bahnsteig warteten ein paar Leute auf den Zug. In der Richtung stand auch sein Dienstwagen, aus der anderen hörte man den Zug.

Als er Kimmie wieder ansah, atmete sie ganz ruhig, das Kind und den kleinen Bären an sich gedrückt.

»So«, sagte sie und stieß einen Seufzer aus, der so klang, als löste er die Knoten von Jahrzehnten. »Nun schweigen die Stimmen ganz.« Sie lachte und weinte jetzt gleichzeitig. »Die Stimmen schweigen, sie sind weg«, wiederholte sie, sah zum Himmel und strahlte einen ungeheuren Frieden aus.

»Ach, meine kleine Mille, jetzt sind da nur noch wir zwei.« In ihrer Erleichterung drehte sie sich mit dem Kind um sich selbst in einem Tanz, der keine Schritte kannte, sondern sie von der Erde abheben ließ.

Und als der Zug nur noch zehn Meter entfernt war, sah Carl, wie ihre Füße zur Seite sprangen, zum Rand des Bahnsteigs.

Als Assads Warnruf ihn erreichte, hob Carl gerade den Blick und sah direkt in Kimmies Augen - ein Blick voller Dankbarkeit und Seelenfrieden.

»Nur wir zwei, mein liebstes kleines Mädchen«, sagte sie und streckte einen Arm zur Seite.

In der nächsten Sekunde gab es sie nicht mehr.

Nur noch das ohrenbetäubende Quietschen des Zuges.


Epilog


Die Abenddämmerung wurde zerrissen vom kalten Blinken der Blaulichter und dem Heulen der Sirenen. Dutzende Einsatzwagen der Polizei und Feuerwehr standen am Bahnübergang und an der Landstraße zum Gutshof. Überall waren Polizeischilder und Rettungswagen zu sehen. Ein Meer von Journalisten und Fotografen, Mitarbeitern der Krisenhilfe und neugierigen Anwohnern säumte die Szene. Unten auf den Gleisen versuchten sich die Techniker der Polizei und die Rettungsmannschaften einen Weg zu bahnen. Jeder war jedem im Weg.

Carl war immer noch schwindelig. Aber die Verletzung an der Schulter blutete nicht mehr, dafür hatte die Besatzung des Krankenwagens gesorgt. Nur tief innen drin, verdächtig nahe der Herzregion, da blutete es noch. Und der Kloß im Hals, der wollte nicht kleiner werden.

Er saß auf der Bank im Wartehäuschen des Bahnhofs Duemose und blätterte in Kimmies Kladde. Darin wurden die Taten der Clique detailliert und gnadenlos ehrlich offenbart. Der Überfall auf die beiden Geschwister in Rørvig: eine reine Zufallstat. Die Entkleidung des Jungen nach dem tödlichen Schlag: nur nachträgliche Demütigung. Die Zwillingsbrüder, denen Finger abgeschnitten wurden. Das Ehepaar, das im Meer verschwand. Kåre Bruno und Kyle Basset. Tiere und Menschen, immer wieder und wieder. Da stand es alles. Auch, dass Kimmie diejenige war, die getötet hatte. Die Methoden waren verschieden, sie wusste offenbar, wie es ging. Es wollte Carl einfach nicht in den Kopf, dass es sich um denselben Menschen handelte, der ihm und Assad das Leben gerettet hatte. Und dass sie jetzt zusammen mit ihrem Kind dort unter dem Zug lag.

Carl zündete sich eine Zigarette an und las die letzten Seiten. Dort war von Reue die Rede. Nicht im Hinblick auf Aalbæk, aber auf Tine. Dass sie ihr die Überdosis nicht hatte geben wollen. Etwas Zärtliches lag hinter den Worten, eine Form von Nähe und Einsicht, die in den Schilderungen all der anderen entsetzlichen Taten vollends fehlte. »Auf Wiedersehen« stand da und »Tines letzter seliger Trip«.

Dieses Heft würde die Medien Amok laufen lassen. Und die Aktien würden in den Keller stürzen, wenn die Mitverantwortung der Männer bekannt würde.

»Du nimmst das Heft mit und lässt sofort Kopien davon machen, ja, Assad?«

Er nickte. Das Nachspiel würde kurz, aber heftig sein. Ohne andere Angeklagte als einen Mann, der ohnehin schon im Gefängnis saß, würde es nun vor allem darum gehen, unglückliche Angehörige zu informieren. Die mit Sicherheit enormen Schadensersatzsummen, die aus Prams, Dybbøl Jensens und Florins Erbmasse ausgezahlt würden, mussten anständig verteilt werden.

Er nahm Assad in den Arm. Als der Krisenpsychologe Carl signalisierte, dass er nun an der Reihe sei, schüttelte Carl nur den Kopf.

Wenn es so weit war, hatte er seine eigene Krisenpsychologin.

»Ich fahre jetzt nach Roskilde. Fährst du mit den Technikern zum Präsidium? Bis morgen, Assad. Dann reden wir über alles, ja?«

Wieder nickte Assad. Er hatte im Kopf alles schon an seinen Platz gerückt.

Zwischen ihnen beiden war in diesem Moment alles gut.


Das Haus im Fasanvej in Roskilde wirkte dunkel. Die Jalousien waren heruntergelassen, alles war still. Im Autoradio sprachen sie jetzt gleichzeitig über die dramatischen Ereignisse in Ejlstrup und über die Verhaftung eines Zahnarztes, den man hinter den Containerüberfällen in der Innenstadt vermutete. Er war auf dem Nikolaj Plads an der Store Kirkestræde beim Versuch verhaftet worden, eine der weiblichen Zivilstreifen zu überfallen. Womit hatte dieser Idiot gerechnet?

Carl sah auf die Uhr und dann wieder zu dem dunklen Haus. Alte Menschen gehen früh schlafen, das wusste er. Aber es war erst halb acht.

Dann nickte er den Schildern Jens-Arnold & Yvette Larsen und Martha Jørgensen zu und läutete.

Er hatte den Finger noch auf der Klingel, da öffnete die zarte Frau schon die Tür.

»Ja?«, fragte sie schlaftrunken und sah ihn verwirrt an. Sie raffte ihren schönen Kimono zusammen, um sich vor der Kälte zu schützen.

»Entschuldigen Sie, Frau Larsen. Ich bin Carl Mørck. Der Polizeibeamte, der neulich schon einmal hier war. Sie erinnern sich?«

Sie lächelte. »Ach ja«, sagte sie. »Stimmt, jetzt weiß ich wieder.«

»Ich habe eine erfreuliche Nachricht, glaube ich. Ich würde sie Martha Jørgensen gern persönlich überbringen. Wir haben die Mörder ihrer Kinder gefunden. Der Gerechtigkeit ist Genüge getan, kann man sagen.«

»Oh«, sagte sie und legte eine Hand auf die Brust. »Das ist schade.« Dann lächelte sie wieder, aber anders. Nicht nur betrübt, sondern auch entschuldigend.

»Ich hätte anrufen müssen. Es tut mir wirklich sehr leid. Dann hätten Sie sich den weiten Weg sparen können. Martha ist tot. Sie starb am selben Abend, als Sie hier waren. Nein, das war nicht Ihre Schuld. Sie hatte einfach keine Kraft mehr.«

Dann legte sie eine Hand auf Carls Hände. »Aber danke. Ich bin sicher, das hätte sie sehr gefreut.«

Lange saß er im Auto und starrte über den Roskildefjord. Die Lichter der Stadt spiegelten sich im dunklen Wasser. Unter anderen Umständen hätte ihn das mit Ruhe erfüllt. Aber nicht heute Abend.

Man muss die Dinge tun, solange Zeit dafür ist, diese Worte rotierten unablässig in seinem Kopf. Die Dinge tun, solange Zeit dafür ist, denn plötzlich ist es zu spät.

Nur wenige Wochen früher, und Martha Jørgensen hätte im Bewusstsein sterben können, dass die Mörder ihrer Kinder tot waren. Wie viel Frieden hätte ihr das gegeben! Und wie viel Frieden hätte es Carl gegeben, dass sie es wusste.

Man muss die Dinge tun, solange Zeit dafür ist.

Er sah wieder auf die Uhr und nahm dann sein Handy. Starrte lange auf die Tasten, ehe er die Nummer eingab.

»Klinik für Wirbelsäulenverletzungen«, sagte eine Stimme. Im Hintergrund lief lautstark ein Fernseher. Er hörte Worte wie »Ejlstrup« und »Dueholt« und »Duemose« und »Bahngleise«.

Dort also auch.

»Hier ist Carl Mørck«, sagte er. »Ich bin ein guter Freund von Hardy Henningsen. Seien Sie bitte so freundlich und sagen ihm, ich käme ihn morgen besuchen.«

»Gern, aber Hardy schläft jetzt.«

»Ja. Aber sagen Sie es ihm, sobald er aufwacht, als Allererstes.«

Er biss sich auf die Lippe, als er wieder übers Wasser sah. Eine größere Entscheidung hatte er in seinem Leben noch nie getroffen.

Und der Zweifel bohrte wie ein Messer im Zwerchfell.

Dann holte er tief Luft und tippte die nächste Nummer ein. Endlose Sekunden musste er warten, ehe Mona Ibsens Stimme antwortete.

»Hallo Mona, hier ist Carl«, sagte er. »Bitte entschuldige das von neulich.«

»Ach, vergiss es.« Sie klang aufrichtig dabei. »Ich habe gehört, was heute passiert ist, Carl. Alle Fernsehkanäle berichten davon. Massenweise Bilder. Wo bist du jetzt? Bist du so schwer verletzt, wie es heißt?«

»Ich sitze in meinem Auto und sehe über den Roskildefjord.«

Sie schwieg einen Moment. Versuchte vermutlich die Tiefe seiner Krise auszuloten.

»Bist du okay?«, fragte sie.

»Nein«, sagte er. »Nein, das kann ich nicht sagen.«

»Ich komme sofort. Du bleibst ganz still dort sitzen, Carl. Rühr dich nicht vom Fleck. Sieh übers Wasser und bleib ruhig. Ich bin in null Komma nichts da. Sag mir genau, wo du bist, Carl, dann komme ich.«

Er seufzte.

»Nein, nein«, sagte er und gestattete sich ein kurzes Lächeln. »Du musst keine Angst um mich haben, ich bin okay. Ich habe da nur etwas, was ich mit dir besprechen muss. Etwas, von dem ich glaube, dass ich es nicht so ganz überschaue. Kannst du nicht zu mir nach Hause kommen? Das würde mich sehr, sehr freuen.«


Carl hatte sich Mühe gegeben. Jesper hatte er mit Geld für die Pizzeria Roma, das Kino von Allerød und ein anschließendes Schawarma am Bahnhof neutralisiert. Reichlich für zwei. Er hatte beim Videoverleih angerufen und Morten gebeten, nach Feierabend direkt in den Keller hinunterzugehen.

Er hatte Kaffee gekocht und Teewasser aufgesetzt. Die Couch und der Couchtisch waren aufgeräumt wie selten.

Mona Ibsen setzte sich neben ihn auf die Couch, die Hände im Schoß gefaltet.

Ihre Augen sahen alles. Sie hörte jedes Wort, das er sagte, und nickte, wenn seine Pausen zu lang wurden. Aber selbst sagte sie nichts, ehe er so fertig war, wie er überhaupt nur sein konnte.

»Du willst Hardy in deinem Haus pflegen lassen, und du hast Angst davor«, sagte sie und nickte. »Weißt du was, Carl?«

Er fühlte, wie alle seine Bewegungen auf Slow Motion heruntergefahren wurden. Als schüttelte er ewig lange den Kopf. Als arbeitete seine Lunge wie ein undichter Blasebalg. Weißt du was, Carl?, hatte sie gefragt, und egal, was die Frage beinhaltete, er wollte die Antwort nicht wissen. Sie sollte nur ewig so sitzen bleiben, mit der Frage auf ihren Lippen, die er fürs Leben gern küssen würde. Wenn sie die Antwort auf ihre eigene Frage bekam, blieb nur noch wenig Zeit, bis ihr Duft eine Erinnerung war und der Anblick ihrer Augen vollständig unwirklich.

»Nein, weiß ich nicht«, sagte er zögernd.

Sie legte ihre Hand auf seine. »Du bist einfach wunderbar«, sagte sie und beugte sich zu ihm, sodass ihr Atem seinen traf.

Sie ist wunderbar, dachte er, als das Telefon klingelte und sie darauf bestand, dass er abnahm.

»Vigga hier!« Unüberhörbar die Stimme seiner weggelaufenen Frau. »Jesper hat angerufen. Er sagt, er will bei mir einziehen«, empörte sie sich, und das Gefühl von Paradies, das sich gerade in Carl breitgemacht hatte, wurde brutal vertrieben.

»Aber das geht auf gar keinen Fall, Carl. Völlig unmöglich! Darüber müssen wir reden. Bin auf dem Weg zu dir. In zwanzig Minuten bin ich da. Bis dann.«

Er wollte protestieren. Aber Vigga hatte schon aufgelegt.

Carl sah in Monas bezaubernde Augen und lächelte entschuldigend.

Das war sein Leben, auf den Punkt gebracht.