»Tote sind keine gefunden worden«, rief Carl, als Marcus Jacobsen ein paar Kollegen hinter dem umgestürzten Zaun zunickte.

»Hör mal! Kannst du nicht gleich mal mit mir fahren, Carl?«, sagte er, als sie sich gegenüberstanden. »Wir haben die Drogenabhängige gefunden, nach der du suchst. Und sie ist sehr, sehr tot.«


Man hatte es schon so oft gesehen. Eine Leiche unter einer Treppe, bleich und jämmerlich zusammengekrümmt. Strähniges Haar, ausgebreitet über Reste von Silberpapier und Dreck. Ein kaputter Körper, ein von Schlägen geschwollenes Gesicht. Eine trostlose Existenz, die kaum mehr als fünfundzwanzig Jahre gedauert hatte.

Eine umgekippte Packung Schokomilch auf einer weißen Plastiktüte.

»Überdosis«, sagte der Arzt und zog sein Diktafon hervor. Natürlich würde sie obduziert werden, aber der Amtsarzt kannte seine Pappenheimer. Die Kanüle steckte noch in der zerstochenen Ader über dem Knöchel.

»Seh ich auch so«, sagte Marcus Jacobsen. »Aber ...«

Er und Carl nickten sich zu. Marcus dachte dasselbe wie er. Überdosis - ja. Aber warum? So ausgebufft, wie sie war?

»Du bist bei ihr oben gewesen, Carl. Wann war das?«

Carl drehte sich zu Assad um, der mit seinem üblichen stillen Lächeln neben ihnen stand. Erstaunlich unbeeinflusst von der gedrückten Stimmung im Treppenhaus.

»Das war am Dienstag, Chef.« Jetzt brauchte er noch nicht mal mehr seinen Notizblock zu konsultieren, es war erschreckend. »Dienstagnachmittag, 25.9.«, ergänzte Assad. Bald würde er wohl auch die genaue Uhrzeit noch angeben können. War der Mann ein Roboter, oder was? Aber nein, Carl hatte ihn schon mal bluten sehen.

»Das ist lange her. In der Zwischenzeit kann viel passiert sein«, sagte der Chef der Mordkommission. Er hockte sich hin, neigte den Kopf auf die Seite und betrachtete all die blauen Flecken in Tine Karlsens Gesicht und an ihrem Hals.

Ja, die waren ihr auf jeden Fall nach Carls Besuch zugefügt worden.

»Diese Verletzungen sind nicht unmittelbar vor Eintreten des Todes entstanden, oder?«

»Einen Tag vorher, würde ich sagen«, antwortete der Amtsarzt.

Es polterte von oben auf der Treppe. Einer der Männer aus Baks alter Truppe kam mit einem Kerl an, mit dem man lieber nicht verwandt sein wollte.

»Das hier ist Viggo Hansen. Er hat mir gerade was erzählt, was ihr sicher auch gern hören wollt.«

Der bullige Mann schaute misstrauisch zu Assad herüber und bekam einen abschätzigen Blick zurück. »Muss der dabei sein?«, fragte er ohne jede Scheu und offenbarte ein paar tätowierte Unterarme. Zwei Anker, Hakenkreuz und das Kürzel vom Ku-Klux-Klan. Richtig netter Typ.

Im Vorbeigehen rempelte er Assad mit seinem feisten Bauch an, und Carl riss die Augen auf. Teufel auch, wenn sein Partner darauf reagierte.

Assad nickte und verkniff sich alles. Da hatte der Seemann aber Glück gehabt.

»Die Schlampe da hab ich gestern zusammen mit so 'nem anderen Flittchen gesehen.«

Er beschrieb sie und Carl zeigte ihm die zerknickte Fotokopie.

»War sie das?«, fragte er und versuchte flach zu atmen. Der Gestank nach altem Schweiß und Pisse war mindestens genauso eklig wie der Spritatem, der zwischen den fauligen Beißerchen des Kerls hindurchwehte.

Der rieb sich die schläfrigen, ziemlich unappetitlichen Augen und nickte, dass das Doppelkinn ins Schlingern kam. »Die hat auf die Junkieschlampe da losgedroschen. Sieht man ja, die ganzen Stellen. Aber dann bin ich dazwischengegangen und hab die andere rausgeschmissen. Hat 'ne verdammt große Fresse riskiert.« Er bemühte sich vergeblich, sich aufzurichten.

Was für ein Idiot. Warum diese Lügenmärchen?

Da kam einer der anderen Kollegen und flüsterte dem Chef der Mordkommission etwas ins Ohr.

»Okay«, sagte Marcus Jacobsen. So wie er dastand, die Hände in den Taschen vergraben, und den Typen betrachtete, konnte das nur eines bedeuten: dass jeden Moment die Handschellen ausgepackt würden.

»Viggo Hansen. Wie ich gerade höre, sind Sie ein alter Bekannter. Alles in allem zehn Jahre wegen schwerer sexueller Nötigung an mehreren Frauen. Sie behaupten also, Sie hätten gesehen, wie diese Frau auf die Verstorbene einschlug. Wo Sie die Polizei doch so gut kennen, sollten Sie da nicht ein bisschen schlauer sein und uns einen solchen Mist ersparen?«

Viggo Hansen holte tief Luft. Als versuchte er, das Gespräch zu einem besseren Ausgangspunkt zurückzuspulen.

»Jetzt sagen Sie doch einfach, wie es war. Sie haben gesehen, wie die zwei zusammenstanden und sich unterhielten. Das war alles. Stimmt's? War da sonst noch was?«

Viggo Hansen sah zu Boden. Die Demütigung lag greifbar in der Luft. Vielleicht lag das an Assads Anwesenheit. »Nein.«

»Um welche Zeit war das?«

Er zuckte die Achseln. Der Alkohol hatte seine Zeitbegriffe vernebelt. Und das sicher schon seit Jahren. »Sie haben seither was getrunken?«

»Nur zum Vergnügen.« Er versuchte ein Lächeln. Kein schöner Anblick.

»Viggo gibt zu, dass er ein paar Biere hat mitgehen lassen, die hier unter der Treppe lagen«, warf der Polizist ein, der ihn oben in der Wohnung abgeholt hatte. »Ein paar Dosen Bier und eine Tüte Chips.«

Nicht einmal daran hatte die arme Tine sich also erfreuen können.

Sie baten ihn, zu Hause zu bleiben und sich mal etwas mit dem Alkoholkonsum zurückzuhalten. Von den übrigen Bewohnern konnten sie nichts erfahren.

Kurz gesagt, Tine Karlsen war tot. Vermutlich allein gestorben, und ohne dass jemand sie vermissen würde, bis auf eine große hungrige Ratte namens Lasso, die sie manchmal auch Kimmie genannt hatte. Tine war nur eine weitere Nummer in der Statistik. Ohne die Polizei wäre sie schon morgen vergessen.

Die Techniker drehten den starren Leichnam um. Sie fanden darunter nur einen dunklen Fleck vom Urin.

»Wüsste gern, was sie uns zu erzählen hätte«, murmelte Carl.

Marcus nickte. »Ja, der Ansporn, Kimmie Lassen zu finden, ist jedenfalls nicht geringer geworden.«

Es war nur die Frage, ob das jetzt noch was half.


Carl setzte Assad am Ort der Sprengung ab und bat ihn, sich ein bisschen umzuhören. Auf die Weise könnten sie erfahren, ob die Untersuchungen etwas Neues zutage gefördert hatten. Anschließend sollte er ins Präsidium gehen und zusehen, dass er Rose behilflich war.

»Ich versuche es erst bei diesem Zoofachhandel, dann fahre ich zum Gymnasium von Rødovre«, rief er Assad nach, der zielstrebig zu den Sprengstoffexperten und den Polizeitechnikern trabte, die immer noch auf dem Bahngelände zugange waren.

Nautilus Trading A/S lag in der gewundenen kleinen Straße, die bestimmt als nächste den Kästen mit den unverkäuflichen Luxuswohnungen weichen musste. Der Zoofachhandel wirkte wie eine hellgrüne Oase inmitten all der Vorkriegsgebäude ringsum. Das Unternehmen war wesentlich größer, als Carl es sich vorgestellt hatte, vermutlich auch viel größer als damals, als Kimmie dort arbeitete.

Und natürlich hatte sich der Samstagsfrieden auch über diesen Laden gesenkt. Sie hatten geschlossen.

Carl ging um die Gebäude herum und fand einen Eingang mit unverschlossener Tür. Warenanlieferung stand dort.

Er öffnete sie und trat ein. Nach zehn Metern befand er sich in einer tropischen Hölle mit unerträglich hoher Luftfeuchtigkeit. Sofort lief der Schweiß.

»Ist da jemand?«, rief er alle zwanzig Sekunden, während er an Reihen von Aquarien und Terrarien entlangwanderte. Dann kam er in eine Halle, so groß wie ein mittlerer Supermarkt, ein Paradies aus Vogelgezwitscher, das aus Hunderten und Aberhunderten von Käfigen drang.

Das erste menschliche Wesen fand er erst in der vierten Halle zwischen Käfigen mit kleinen und großen Säugetieren. Der Mann war eifrig damit beschäftigt, ein Gehege zu schrubben, das groß genug für ein oder zwei Löwen war.

Als Carl näher trat, nahm er in der widerlich süßlichen Luft eine beißende Note von Raubtier wahr. Vielleicht gab es tatsächlich irgendwo Löwen.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Carl höflich, aber offenbar doch erschreckend genug, denn der Mann im Käfig ließ Eimer und Bürste fallen.

Mit ellenbogenlangen Gummihandschuhen stand er inmitten eines Sees aus Seifenwasser. Er sah Carl an, als wäre der gekommen, um ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Fell über die Ohren zu ziehen.

»Entschuldigen Sie«, wiederholte Carl und hielt dem Mann seine Dienstmarke entgegen. »Carl Mørck, Polizeipräsidium, Sonderdezernat Q. Mir ist bewusst, dass ich vorher hätte anrufen sollen, aber ich war gerade in der Nähe.«

Der Mann mochte zwischen sechzig und fünfundsechzig sein, er hatte weißes Haar und um die Augen lauter Lachfalten. Die hatte vermutlich das Entzücken über flauschige kleine Tierkinder im Laufe der Jahre eingefräst. In diesem Moment wirkte er weniger entzückt.

»Viel Arbeit, so ein großer Käfig«, sagte Carl, um dem Mann Zeit zu geben, sich etwas zu beruhigen. Er befühlte die glatten stählernen Gitterstäbe.

»Ja. Aber er muss schön sauber und ordentlich sein. Morgen wird er zum Firmeninhaber gebracht.«


Carl unterbreitete sein Anliegen in einem angrenzenden Raum, wo die Gegenwart der Tiere nicht ganz so intensiv spürbar war.

»Ja«, sagte der Mann. »Natürlich erinnere ich mich an Kimmie, sehr gut sogar. Sie war ja dabei, als das Ganze hier aufgebaut wurde. Ich glaube, sie war rund drei Jahre bei uns, und zwar genau in den Jahren, als wir zur Import- und Vermittlungszentrale expandierten.«

»Vermittlungszentrale?«

»Ja. Wenn ein Landwirt in Hammer einen Hof mit vierzig Lamas oder zehn Straußen hat, den er gern abwickeln möchte, dann treten wir auf den Plan. Oder wenn ein Nerzfarmer den Betrieb auf Chinchilla umstellen will. Auch die kleinen Zoologischen Gärten stehen mit uns in Kontakt. Bei uns sind ein Zoologe und ein Tierarzt angestellt.« Jetzt traten die Lachfalten in Erscheinung. »Und dann sind wir noch der größte Großhändler Nordeuropas für alle Arten von Tieren mit Zertifikat. Wir beschaffen alles, von Kamelen bis zu Bibern. Das hat übrigens Kimmie angefangen. Sie war damals die Einzige, die Expertisen für all diese Tiere erstellen konnte.«

»Sie hatte Tiermedizin studiert, ist das richtig?«

»Na ja. Sie ist nicht ganz fertig geworden. Aber sie hatte auch einen guten Hintergrund, was Handel anbelangt, sodass sie sowohl die Herkunft der Tiere einschätzen konnte als auch die Handelswege. Und alle Papierarbeit hat sie sogar auch noch erledigt.«

»Warum hörte sie auf?«

Er neigte den Kopf abwägend von einer Seite zur anderen. »Tja, das ist ja nun lange her. Aber etwas war geschehen, und zwar schon damals, als Torsten Florin anfing, hier einzukaufen. Die beiden kannten sich offenbar von früher. Und dann traf sie durch ihn auch einen anderen Mann.«

Carl betrachtete den Tierhändler einen Moment. Er wirkte zuverlässig. Gutes Gedächtnis. Gut organisiert. »Torsten Florin? Sie meinen den Modemann?«

»Ja, den. Er interessiert sich unglaublich für Tiere. In der Tat unser bester Kunde.« Wieder wippte sein Kopf von einer Seite zur anderen. »Ja, inzwischen ist das sogar eine Untertreibung, denn er hält die Aktienmehrheit bei Nautilus. Aber damals kam er als Kunde zu uns. Ein sehr ansprechender und erfolgreicher junger Mann.«

»Aha. Der muss sich ja wirklich sehr für Tiere begeistern.« Carl ließ den Blick über die Gitterlandschaft schweifen. »Die beiden kannten sich bereits, sagen Sie. Wie haben Sie das bemerkt?«

»Nun, als Florin zum ersten Mal kam, war ich nicht dabei. Das war wohl, als er abrechnen wollte. Dafür war sie damals nämlich zuständig. Zu Anfang schien sie von der erneuten Begegnung nicht sonderlich begeistert zu sein. Was dann später passierte, davon habe ich keine Kenntnis.«

»Dieser Mann, von dem Sie sprachen, den Florin kannte, erinnern Sie sich daran, ob der Bjarne Thøgersen hieß?«

Er zuckte die Achseln. Offenbar erinnerte er sich nicht.

»Mit dem war sie nämlich schon ein Jahr zuvor zusammengezogen, kann ich Ihnen sagen. Also mit Bjarne Thøgersen. Sie muss zu der Zeit hier gearbeitet haben.«

»Hm. Ja, vielleicht. Sie sprach nie über ihr Privatleben.«

»Nie?«

»Nein. Ich wusste nicht mal, wo sie wohnte. Sie kümmerte sich selbst um ihre Personalpapiere, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«

Er stellte sich vor einen Käfig, aus dem ihn ein winziges dunkles Augenpaar vertrauensvoll anblickte. »Das hier ist mein Liebling«, sagte er und nahm einen daumengroßen Affen heraus. »Meine Hand ist sein Baum«, fuhr er fort und hielt sie senkrecht. Der Winzling klammerte sich an zwei Finger.

»Hat sie gesagt, warum sie bei Nautilus aufhören wollte?«

»Ich glaube, einen bestimmten Grund gab es nicht. Sie wollte einfach noch was anderes erleben. Kennen Sie das nicht?«

Carl atmete so heftig aus, dass das Äffchen hinter den Fingern in Deckung ging. Was für eine blöde Frage, was für eine blöde Vernehmung.

Da setzte er die Wutmaske auf. »Ich glaube, Sie wissen sehr wohl, warum sie aufhörte, würden Sie also bitte so freundlich sein und es mir sagen?«

Der Mann steckte die Hand in den Käfig und ließ den Affen darin verschwinden.

Dann drehte er sich zu Carl um. Trotz der schneeweißen Haare und des Bartes sah er nicht länger freundlich aus. Das Weiße umgab ihn jetzt eher wie ein Strahlenkranz aus Abneigung und Trotz. Das Gesicht wirkte auch weiterhin zart und empfindsam, aber die Augen drückten konzentrierte Kraft aus. »Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen«, sagte er. »Ich habe mich bemüht, freundlich zu sein und zu helfen. Dann sollten Sie mir auch nicht unterstellen, dass ich hier stehe und Unwahrheiten verbreite.«

So läuft hier also der Hase, dachte Carl und lächelte so herablassend, wie er nur konnte.

»Mir ist noch etwas eingefallen«, sagte er. »Wann wurde dieses Unternehmen hier eigentlich zum letzten Mal kontrolliert? Stehen die Käfige hier nicht ein wenig dicht? Und ist die Ventilation wirklich in Ordnung? Wie viele Tiere sterben eigentlich während des Transportes? Und hier drinnen?« Er begann der Reihe nach in die Käfige zu starren, wo verschreckte kleine Kreaturen heftig atmend in den Ecken saßen.

Die Zähne, die der Zoohändler jetzt beim Lächeln zeigte, waren sehr feine, künstliche. Von ihm aus konnte Carl sagen, was er wollte, das war eindeutig. Nautilus Trading A/S hatte seine Schäfchen im Trockenen.

»Sie wollen wissen, warum sie aufhörte? Ich finde, da sollten Sie Florin fragen. Immerhin ist er der Chef hier.«


28


Es war ein Samstagabend ohne jeden Glanz. Die Radionachrichten informierten die Hörer zunächst über die Geburt eines Tapirs im Zoo von Randers auf Jutland. Dann brachten sie etwas über die Gebietsreform. Der Vorsitzende der Rechten wollte, dass Änderungen rückgängig gemacht wurden, die auf sein Verlangen hin vorgenommen worden waren.

Carl sah die Reflexe der Sonne auf der Wasseroberfläche und dachte: Gott sei Dank gibt es immer noch ein paar Dinge, an denen sie nicht drehen können. Er nahm sein Handy und gab eine Nummer ein.

Assad nahm ab. »Wo bist du jetzt, Chef?«

»Ich bin gerade über die Seelandbrücke gefahren, bin jetzt unterwegs zum Gymnasium von Rødovre. Gibt es etwas Bestimmtes, was ich über diesen Klavs Jeppesen wissen sollte?«

Wenn Assad nachdachte, konnte man das förmlich hören. »Er ist frus, Carl, das ist das Einzige, was ich sagen kann.«

»Frus?«

»Ja, frustriert. Er spricht langsam, aber es sind bestimmt nur die Gefühle, die das freie Wort verhindern.«

Das freie Wort verhindern? Als Nächstes würde er wohl was von Gedanken auf leichten Flügeln quatschen.

»Weiß er, worum es geht?«

»Ja, das meiste. Rose und ich haben den ganzen Nachmittag hier mit der Liste gesessen. Sie will so gern gleich mit dir darüber sprechen.«

Er wollte protestieren, aber Assad war schon weg.

Das war Carl auch, zumindest gedanklich, als Rose mit ihrem Schneidbrennerorgan loslegte.

»Ja, wir sind noch hier«, sagte sie und riss Carl aus seinen Gedanken. »Wir haben hier den ganzen Tag verbracht, mit der Liste, und ich glaube, wir haben etwas Brauchbares eingekreist. Willst du es hören?«

Herrje, was glaubte sie denn?

»Ja, bitte«, sagte er und hätte beinahe die Linksabbiegerspur in Richtung Folehaven übersehen.

»Kannst du dich daran erinnern, dass es auf Johan Jacobsens Liste einen Fall mit einem Ehepaar gab, das auf Langeland verschwand?«

Hielt sie ihn für dement?

»Ja«, antwortete er.

»Gut. Die kamen aus Kiel und waren eines Tages verschwunden. Man fand am Lindelse Nor ein paar Gegenstände, die ihnen eventuell gehört haben. Aber das wurde nie nachgewiesen. Da habe ich ein bisschen drin rumgewühlt und was rausgefunden.«

»Was meinst du damit?«

»Ich habe ihre Tochter ausfindig gemacht. Sie wohnt heute im Haus ihrer Eltern in Kiel.«

»Und?«

»Nur die Ruhe, Carl. Man wird sich ja wohl Zeit nehmen dürfen, wenn man ein verdammt gutes Stück Arbeit geleistet hat, oder?«

Er hoffte, dass sie seinen tiefen Seufzer nicht hörte. »Sie heißt Gisela Niemüller, und sie ist echt geschockt darüber, wie der Fall in Dänemark behandelt worden ist.«

»Was soll das heißen?«

»Der Ohrring, kannst du dich an den erinnern?«

»Also bitte, Rose! Wir haben erst heute Vormittag darüber geredet.«

»Vor mindestens elf oder zwölf Jahren hat sie Kontakt zur dänischen Polizei aufgenommen und denen erzählt, dass sie nun mit Sicherheit den Ohrring, den man am Lindelse Nor fand, als den ihrer Mutter identifizieren könne.«

An dem Punkt hätte Carl um Haaresbreite einen Peugeot 106 mit vier lärmenden jungen Kerlen torpediert. »Was?«, rief er und machte gleichzeitig eine Vollbremsung.

»Moment mal«, sagte er dann, fuhr auf den Bürgersteig und hielt an. »Sie konnte ihn damals nicht identifizieren. Wieso später?«

»Die Tochter war auf einem Familienfest in Albersdorf in Schleswig-Holstein. Da sah sie alte Fotos von ihren Eltern bei einem anderen Familienfest. Und was, glaubst du, baumelte da an den Ohren ihrer Mutter? Na, kleine Preisfrage?« Freudige Brummlaute kamen durch den Hörer. »Ja, genau, die Ohrringe !«

Carl schloss die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Yes!, schrie es in ihm. Genau so musste sich der Testpilot Chuck Jaeger gefühlt haben, als er zum ersten Mal die Schallmauer durchbrach.

»Das ist ja Wahnsinn!« Er schüttelte den Kopf. Das war ein Durchbruch. »Super, Rose. Irre. Hast du eine Kopie des Fotos von der Mutter mit dem Ohrring?«

»Nein, aber die Tochter sagt, sie hätte das Foto etwa 1995 der Polizei in Rudkøbing geschickt. Ich hab mit denen geredet, und sie sagen, die alten Sachen würden jetzt alle im Archiv in Svendborg liegen.«

»Sie hat denen doch wohl nicht das Original geschickt?«

»Doch.«

Ach verdammt. »Aber sie hat doch wohl selbst eine Kopie? Oder ein Negativ? Oder irgendwer hat eins?«

»Nein. Das ist einer der Gründe, weshalb sie so stinksauer ist. Sie hat nie mehr etwas von denen gehört.«

»Du rufst auf der Stelle in Svendborg an!«

Der Ton, den sie ausstieß, klang höhnisch. »Da kennst du mich aber schlecht, Herr Vizepolizeikommissar.« Damit legte sie auf.

Zehn Sekunden später hatte er wieder angerufen. »Hallo Carl«, hörte er Assad. »Was hast du zu ihr gesagt? Sie sieht merkwürdig aus.«

»Never mind, Assad. Sag ihr bloß, ich sei stolz auf sie.«

»Jetzt?«

»Ja, jetzt.«

Er warf den Hörer beiseite.

Falls nun das Foto von der verschwundenen Frau mit dem Ohrring in dem Svendborger Archiv auftauchte und falls ein Experte bestätigte, dass der am Lindelse Nor gefundene Ohrring das Gegenstück zu dem aus Kimmies Metallkiste war und obendrein derselbe Ohrring wie auf dem Foto, dann hätten sie genügend Beweise, um die Sache vor Gericht zu bekommen. Verdammt, sie saßen am längeren Hebel. Sie würden die Herren Florin, Dybbøl Jensen und Pram über den langen und schmutzigen Weg der Rechtsmaschinerie zerren. Sie mussten nur zuerst Kimmie finden, schließlich hatten sie den Metallkasten bei ihr entdeckt. Das war allerdings leichter gesagt als getan, und der Tod der Junkiefrau machte es nicht gerade einfacher. Aber sie würden sie finden.

»Ja«, meldete sich Assad da am anderen Ende zurück. »Sie hat sich gefreut. Sie hat mich ihren kleinen Sandwurm genannt.« Er lachte, dass es im Hörer kratzte.

Wer außer Assad würde eine so eklatante Beleidigung auf diese Weise nehmen?

»Carl, ich habe keine so guten Nachrichten wie Rose«, sagte er, nachdem er fertig gelacht hatte. »Du brauchst dir keine Hoffnungen zu machen, dass Bjarne Thøgersen noch einmal mit uns spricht. Und was nun?«

»Er hat sich geweigert, uns zu empfangen?«

»Ja, und zwar so, dass es keine Missverständnisse gibt.«

»Ist egal, Assad. Sag Rose, sie soll zusehen, dass sie das Ohrringfoto bekommt. Morgen machen wir frei, und dabei bleibt es.«


Carl warf einen Blick auf die Uhr, als er auf den Hendriksholms Boulevard einbog. Er war früh dran, aber das war vielleicht auch okay. Dieser Klavs Jeppesen wirkte wie einer, der eher zu früh als zu spät kam.

Das Gymnasium Rødovre bestand aus einer Ansammlung flachgedrückter, aus dem Asphalt quellender Kästen. Ein einziges Chaos von Gebäuden. Vermutlich in jenen Jahren mehrfach umgebaut, als sich Abiturienten und Studenten mit der Arbeiterklasse verbrüderten. Ein Zwischengang hier, eine Turnhalle dort, neue und alte Klinkerbauten. Den Jugendlichen aus dem westlichen Vorortgürtel Kopenhagens sollten dieselben Privilegien zugänglich sein, wie sie die aus dem Norden längst genossen.

Carl folgte den Pfeilen in Richtung des Ehemaligentreffens »Le-Sa-Sep«. Klavs Jeppesen fand er vor der Aula. Er hatte die Arme voll mit Papierservietten und unterhielt sich mit ein paar recht süßen älteren Schülerinnen. Netter Kerl. Aber mit Samtjacke und Vollbart professionell gesehen öde. Ein Studienrat mit großem S, das war er.

Er entließ seine Zuhörerinnen mit einem »Bis später«. Der Ton signalisierte »freilaufender Junggeselle«. Klavs Jeppesen brachte Carl zum Lehrerzimmer, vor dem andere Ehemalige standen und in Erinnerungen schwelgten.

»Ihnen ist bekannt, warum ich hier bin?«, fragte Carl und erhielt zur Antwort, sein nicht ganz akzentfrei sprechender Kollege habe ihn darüber informiert.

»Was wollen Sie wissen?«, fragte Klavs Jeppesen und bat Carl, in einem der betagten Designerstühle des Lehrerzimmers Platz zu nehmen.

»Ich will alles über Kimmie Lassen wissen. Und über die, mit denen sie sich umgab.«

»Ihr Kollege deutete an, der alte Rørvig-Fall würde wieder aufgerollt. Ist da was dran?«

»Ja, und wir haben Grund zu der Annahme, dass sich einer oder mehrere aus Kimmies Clique auch anderer Gewalttaten schuldig gemacht haben.«

Klavs Jeppesens Nasenflügel blähten sich, als litte er an Sauerstoffmangel.

»Gewalttaten?« Er sah vor sich hin und reagierte nicht einmal, als eine Kollegin hereinkam.

»Kümmerst du dich um die Musik, Klavs?«

Als würde er aus einer Trance erwachen, sah er sie an und nickte.

»Ich war wahnsinnig verliebt in Kimmie«, sagte er, als sie wieder allein waren. »Ich habe sie begehrt wie keine Frau sonst, weder davor noch danach. In ihr waren Teufel und Engel auf vollkommene Weise verschmolzen. So zart und jung und weich und doch so absolut dominant.«

»Sie war siebzehn, achtzehn Jahre alt, als Sie sich auf sie einließen. Eine Beziehung zu einer Schülerin Ihrer Schule! Das war wohl nicht so ganz comme il faut!«

Ohne den Kopf zu heben, sah er hinüber zu Carl. »Ich bin keineswegs stolz darauf«, sagte er. »Ich konnte nur nicht anders. Ich spüre ihre Haut noch heute, können Sie das verstehen? Und das ist zwanzig Jahre her.«

»Ja, und es ist auch zwanzig Jahre her, dass sie und ihre Freunde unter Mordverdacht gerieten. Was meinen Sie, trauen Sie denen so was zu?«

Klavs Jeppesens eine Gesichtshälfte verzerrte sich. »Das können alle gemacht haben. Könnten Sie nicht töten? Haben Sie es womöglich schon getan?« Er wandte sich ab und dämpfte die Stimme. »Es gab einige Vorfälle, die mich stutzig gemacht haben, sowohl vor als auch nach meiner Beziehung mit Kimmie. Besonders einer. Es gab an der Schule einen Jungen, an den erinnere ich mich ganz genau. Ein richtig aufgeblasener kleiner Idiot, insofern bekam er vielleicht die Abreibung, die er verdiente. Aber die Umstände waren fragwürdig. Plötzlich, eines Tages, wollte er weg. Er sei im Wald gefallen, sagte er, aber ich weiß genau, wie Verletzungen nach Schlägen aussehen.«

»Was hat das mit der Gruppe zu tun?«

»Ich weiß nicht, was das mit der Gruppe zu tun hat. Aber ich weiß, dass sich Kristian Wolf, nachdem der Junge abgereist war, täglich nach ihm erkundigte. Wo er sei. Ob wir von ihm gehört hätten. Ob er zur Schule zurückkäme.«

»Könnte das nicht Ausdruck von ehrlichem Interesse gewesen sein?«

Da wandte Klavs Jeppesen Carl sein Gesicht zu. Er war ein Studienrat, in dessen Hände rechtschaffene Eltern vertrauensvoll die Entwicklung ihrer Kinder legten. Konnte er mit diesem Gesichtsausdruck, den er im Augenblick zeigte, Eltern bei Elternabenden begrüßen? Ganz sicher nicht, denn dann würden sie ihre Kinder auf der Stelle von der Schule nehmen. Nein, Gott sei Dank sah man nur selten ein so verhärmtes Gesicht, ein Gesicht, das so von Rachedurst, Hass und Abscheu gegenüber der ganzen Menschheit gezeichnet war wie seines.

»Kristian Wolf interessierte sich nicht wirklich für jemand anderen als sich selbst«, sagte er, und Verachtung sprach aus jedem seiner Worte. »Glauben Sie mir, der war zu allem imstande. Aber er hatte Schiss davor, dass man ihn mit seinen eigenen Taten konfrontieren könnte, glaube ich. Und deshalb wollte er sich vergewissern, dass dieser Junge für immer weg war.«

»Er war zu allem fähig, sagen Sie. Haben Sie ein Beispiel?«

»Glauben Sie mir, er war es, der die Gruppe zusammengebracht hat. Er war ein Feuergeist, entzündet vom Bösen selbst. Und er verbreitete sein Feuer schnell. Er hat Kimmie und mich angezeigt. Er war schuld, dass ich die Schule verlassen und dass sie abgehen musste. Er war es, der Kimmie zu den Jungens hin schubste, die er fertigmachen wollte. Und wenn sie die in ihrem Netz hatte, dann zog er sie wieder weg. Sie war sein Spinnenweibchen, und er war es, der die Fäden zog.«

»Er ist tot, das wissen Sie doch sicher? Ein Jagdunfall, eine Kugel aus seiner eigenen Schrotflinte.«

Er nickte. »Sie glauben vielleicht, mich würde das freuen. Weit gefehlt. Er ist viel zu billig davongekommen.«

Gelächter war auf dem Gang zu hören und riss Klavs Jeppesen aus seinen Gedanken. Dann verwandelte die Wut sein Gesicht aufs Neue. »Sie haben den Jungen draußen im Wald überfallen, deshalb musste der weg. Sie können ihn selbst fragen. Vielleicht kennen Sie ihn? Kyle Basset heißt er. Heute lebt er in Spanien, aber er dürfte leicht ausfindig zu machen sein: Ihm gehört eines der größten Bauunternehmen Spaniens, KB Construcciones S.A.« Er nickte, während sich Carl den Namen notierte. »Und sie haben Kåre Bruno umgebracht. Glauben Sie mir.«

»Glauben tun wir das schon lange. Und wieso sind Sie sich da so sicher?«

»Bruno besuchte mich, nachdem die Internatsleitung mich gefeuert hatte. Erst waren wir Rivalen, dann waren wir Bundesgenossen. Er und ich gegen Wolf und Konsorten. Er vertraute mir an, dass er vor Wolf Angst habe. Dass sie sich von früher kennen würden. Dass er in der Nähe seiner Großeltern wohnte und ihn, Kåre, ständig bedrohte.«

Klavs Jeppesen nickte gedankenverloren. »Ich weiß, das ist nicht viel. Aber es reicht. Wolf bedrohte Kåre Bruno, so war das. Und Bruno starb.«

»Sie klingen, als wüssten Sie alle diese Dinge mit Sicherheit. Aber Tatsache ist, dass Sie schon von Kimmie getrennt waren, als Bruno und die Geschwister in Rørvig starben.«

»Ja. Aber davor habe ich doch mitbekommen, wie die anderen Schüler der Clique Platz machten, wenn die den Gang hinunterkam. Ich habe gesehen, wie die mit ihren Mitmenschen umsprangen, wenn sie zusammen waren. Nein, nicht mit denen aus ihrer eigenen Klasse, denn das Erste, was man auf dieser Schule lernt, ist Zusammenhalt. Aber mit allen anderen. Und dass sie den Jungen verprügelt haben, das weiß ich einfach.«

»Woher?«

»Kimmie übernachtete an den Zwischenwochenenden ein paar Mal bei mir. Sie schlief unruhig, als gäbe es in ihrem Inneren etwas, das sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Sie hat im Schlaf seinen Namen gemurmelt.«

»Wessen?«

»Den des Jungen, Kyles Namen!«

»Wirkte sie geschockt oder gequält?«

Er lachte auf. Das Lachen kam aus einer Tiefe, wo es Abwehr bedeutet und nicht eine ausgestreckte Hand. »Nein, sie wirkte nicht gequält. Überhaupt nicht. So war Kimmie nicht.«

Carl überlegte, ob er ihm den kleinen Teddy zeigen sollte, ließ sich aber von der beachtlichen Anzahl Kaffeemaschinen ablenken, die aufgereiht auf der Theke standen und zischelten. Wenn sie den Kaffee bis nach dem Essen warm halten sollten, dann würde nur noch Teer übrig sein.

»Könnten wir uns vielleicht eine Tasse nehmen?«, fragte er und wartete die Antwort gar nicht erst ab. Eine Tasse Mokka würde hoffentlich die hundert Stunden ausgleichen, in denen er nichts Vernünftiges zu essen bekommen hatte.

»Nicht für mich«, antwortete Klavs Jeppesen und unterstrich seine Worte mit ablehnender Geste.

»War Kimmie - bösartig?«, fragte Carl, als er sich Kaffee einschenkte und ihn dann inhalierte.

Er bekam keine Antwort.

Als er sich mit der Tasse vor dem Mund umdrehte, war Klavs Jeppesens Stuhl leer. Die Audienz war beendet.


29


Auf zehn unterschiedlichen Wegen war Kimmie um den See gegangen, vom Planetarium zum Vodroffsvej und zurück. Immer wieder die Treppen und Pfade rauf und runter, die den See mit dem Gammel Kongevej und dem Vodroffsvej verbanden. Immer vor und zurück, ohne jedoch der Bushaltestelle gegenüber der Theaterpassage zu nahe zu kommen. Dort würden die Männer stehen, vermutete sie.

Zwischendurch einmal setzte sie sich auf die Terrasse des Planetariums. Mit dem Rücken zu den Glasscheiben beobachtete sie das Spiel der Sonnenstrahlen in der Fontäne draußen im See. Jemand hinter ihr lobte die Aussicht, aber die war Kimmie vollkommen egal. Es war Jahre her, dass sie für so etwas Augen hatte. Ihr ging es einzig und allein darum, die zu sehen, die Tine umgebracht hatten. Die Fährte ihrer Verfolger aufzunehmen. Zu sehen, wer für die Schweine arbeitete.

Denn sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie zurückkommen würden. Genau davor hatte Tine ja Angst gehabt, sicher zu Recht. Wenn sie Kimmie wollten, und das wollten sie, würden sie sicherlich nicht so leicht aufgeben.

Und Tine war das Bindeglied. Aber Tine gab es nicht mehr.


Kimmie war schnell weg gewesen, als das Haus mit gewaltigem Knall in die Luft geflogen war. Vielleicht hatten ein paar Kinder sie gesehen, als sie an der Schwimmhalle vorbeistürmte. Sonst aber sicher niemand. Auf der anderen Seite der Gebäude an der Kvægtorvsgade hatte sie sich aus dem Mantel gewunden und ihn in den Koffer gestopft. Dann hatte sie eine Wildlederjacke angezogen und ein schwarzes Kopftuch umgebunden.

Zehn Minuten später stand sie an der Rezeption des Hotels Ansgar in der Colbjørnsensgade. Sie zeigte den portugiesischen Pass, den sie vor ein paar Jahren in einem gestohlenen Koffer gefunden hatte. Das Foto ähnelte ihr nicht hundertprozentig, aber es war auch schon sechs Jahre alt, und wer veränderte sich nicht in so einem Zeitraum?

»Do you speak English, MrsTeixeira?«, fragte der freundliche Portier. Der Rest war Formsache.

Sie setzte sich für eine Stunde mit ein, zwei Drinks in den Hotelinnenhof unter einen Gasheizstrahler. Danach kannte man sie sozusagen. Anschließend schlief sie fast zwanzig Stunden mit der Pistole unter dem Kopfkissen und den Bildern einer zitternden Tine auf der Netzhaut.

Dann war sie wieder bereit. Vom Hotel aus spazierte sie zum Planetarium und nach acht Stunden Wartens hatte sie gefunden, wonach sie suchte.


Der Mann war dünn, fast mager, sein Blick hing abwechselnd an Tines Fenster im fünften Stock und dem Eingangsbereich des Hauses in der Theaterpassage.

»Da kannst du lange warten, du Scheißkerl«, murmelte Kimmie auf ihrer Bank am Gammel Kongevej vor dem Planetarium.

Gegen dreiundzwanzig Uhr wurde der Mann abgelöst. Ohne Zweifel hatte der, der kam, einen niedrigeren Status als der, der ging. Man sah es an der Art, wie er sich näherte. Er kam wie ein Hund, der gern zum Fressnapf will, aber erst Witterung aufnehmen muss, ob er auch geduldet wird.

Deshalb war er es und nicht der Erste, der die dröge Samstagnachtschicht übernehmen musste. Und deshalb beschloss Kimmie, sich lieber dem Dünnen an die Fersen zu heften.

Sie folgte ihm in angemessenem Abstand. Den Bus erreichte sie genau in dem Moment, bevor sich die Türen schlossen.

Erst da sah sie, wie zugerichtet sein Gesicht war. Die Unterlippe war aufgesprungen und über der Augenbraue war er genäht. Blutergüsse zogen sich am Haaransatz vom Ohr bis zum Hals, als hätte er sein Haar mit Henna gefärbt und die überschüssige Farbe nicht ausgespült.

Als sie in den Bus sprang, sah er aus dem Fenster. Saß nur dort und schielte zum Bürgersteig, in der Hoffnung, seine Beute im letzten Moment doch noch zu erspähen. Erst als sie fast am Peter Bangs Vej waren, entspannte er sich ein wenig.

Jetzt hat er frei, und er hat es nicht eilig, dachte sie. Niemand zu Hause, der auf ihn wartet. Man sah das an seiner Haltung. Seiner Gleichgültigkeit. Hätte ein kleines Mädchen oder ein niedlicher Welpe oder ein gemütliches Wohnzimmer auf ihn gewartet, wo man Händchen halten und lachen konnte, dann würde er tiefer und freier atmen. Nein, die Knoten in der Seele und im Zwerchfell konnte er nicht verbergen. Es gab nichts, wohin er heimkehren konnte. Nichts, wofür sich Eile lohnte.

Wie gut sie das kannte.


Am Tanzlokal Damhus Kro stieg er aus. Er erkundigte sich nicht weiter nach dem abendlichen Rahmenprogramm, dafür war er eh reichlich spät dran, und das wusste er offenbar. Viele Paare hatten sich bereits gefunden, zumindest für einen One-Night-Stand, und zwitscherten jetzt gemeinsam ab. Der Dünne gab seinen Mantel an der Garderobe ab und betrat den Tanzsaal. Er wirkte nicht so, als hätte er große Erwartungen. Wie sollte er auch, bei seinem Aussehen? Er setzte sich an die Bar, bestellte ein Bier und blickte über die Schar der Gäste. Vielleicht war ja doch eine Frau darunter, die bereit war, am Ende mit ihm mitzugehen?

Kimmie nahm das Kopftuch ab, zog die Wildlederjacke aus und bat die Dame an der Garderobe, gut auf ihre Handtasche aufzupassen. Dann betrat sie mit selbstsicher vorgeschobener Brust das Lokal. Damit sandte sie Signale an alle, die noch imstande waren zu fokussieren. Ein Orchester spielte den fummelnden, tanzenden Paaren auf. Nicht gut, aber laut. Keiner von denen auf der Tanzfläche unter dem Kristallhimmel aus Glasröhren sah aus, als hätte er oder sie den Richtigen gefunden.

Sie spürte die Blicke, die sich auf sie richteten, und die Unruhe, die sich bereits auf den Barhockern und an den Tischen breitmachte.

Sie hatte weniger Make-up aufgelegt als alle anderen Frauen, stellte sie mit einem raschen Blick in die Runde fest. Weniger Make-up und weniger Speck auf den Rippen.

Ob er mich wiedererkennt?, fragte sie sich und ließ den Blick langsam, an bittenden Augen vorbei bis zu dem hageren Kerl gleiten. Genau wie alle anderen Männer war er schon beim geringsten Zeichen auf dem Sprung und bereit. Nonchalant hob er kaum merklich den Kopf und platzierte den Ellbogen auf der Theke. Sein professioneller Blick sondierte, ob sie von jemandem erwartet wurde oder freie Beute war.

Als sie ihm über die Tische hinweg zulächelte, holte er ein einziges Mal tief Luft. Er konnte es nicht glauben, aber er wollte es so gerne.

Es vergingen keine zwei Minuten, da bewegte sie sich schon mit dem ersten Mann auf dem Tanzparkett, im selben gemächlichen Takt wie alle anderen.

Aber der Dünne hatte ihre Blicke registriert. Er spürte, dass sie sich entschieden hatte. Und er richtete sich auf, rückte die Krawatte zurecht und bemühte sich, sein mageres, verprügeltes Gesicht in dem schummerigen Licht einigermaßen attraktiv wirken zu lassen.

Mitten in einem Tanz kam er zu ihr und nahm ihren Arm. Etwas linkisch fasste er sie um den Rücken und drückte sie ein bisschen. Diese Finger hatten keine Übung, merkte sie. Sein Herz klopfte unglaublich hart an ihre Schulter.

Was für eine leichte Beute.


»Tja, das ist also mein Domizil«, sagte er und nickte verlegen. Das Wohnzimmer offenbarte vom fünften Stock die Aussicht über den S-Bahnhof von Rødovre und eine Menge Parkplätze und Straßen.

Am Eingang mit den lilafarbenen Aufzugtüren hatte er auf ein Schild gedeutet. Finn Aalbæk stand da. Und dann hatte er erklärt, das Hochhaus sei sicher und stabil, auch wenn es bald abgerissen werden sollte. Er hatte ihre Hand genommen und sie im fünften Stock auf den Balkon geführt, als sei er ein Ritter, der sie auf einer Hängebrücke sicher über schäumende Fluten geleitet. Er presste sich an seine Beute, damit die es sich nicht anders überlegte und abhaute. Schon jetzt hatte ihn seine Phantasie, befeuert von seinem entzückten, neu erworbenen Selbstbewusstsein, fummelnd unter die Decke platziert.

Er schlug ihr vor, noch ein bisschen auf dem Balkon zu bleiben und die Aussicht zu genießen, und derweil räumte er den Couchtisch ab, knipste die Lavalampen an, legte eine CD ein und drehte ruckzuck den Deckel der Ginflasche ab.

Kimmie stellte fest, dass sie sich zuletzt vor über zehn Jahren allein mit einem Mann hinter verschlossenen Türen aufgehalten hatte.

»Was ist mit dir passiert?«, fragte sie und näherte sich mit der Hand seinem Gesicht.

Er zog die geschwollenen Augenbrauen hoch. Vermutlich vor dem Spiegel einstudiert, als Teil einer Charme-Offensive.

»Na ja ... als ich Dienst hatte, bin ich ein paar Kerlen begegnet, die mich provozieren wollten. Das ist ihnen allerdings nicht so gut bekommen.« Er verzog beim Lächeln den Mund. Auch das war so ein Klischee. Er log, schlicht und einfach.

»Was machst du eigentlich, Finn?«, fragte sie schließlich.

»Ich? Ich bin Privatdetektiv.« So wie er das Wort aussprach, klang es nach anzüglicher Schnüffelei und so gar nicht nach Geheimnis und Gefahr, wie er es sicher beabsichtigt hatte.

Sie sah die Flasche, mit der er kämpfte, und spürte, wie sich ihr der Hals zuschnürte. Bleib ganz ruhig, Kimmie, flüsterten die Stimmen. Behalte die Kontrolle.

»Gin Tonic?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Hast du vielleicht Whisky?«

Er schien überrascht, aber nicht unzufrieden. Frauen, die Whisky tranken, waren hart im Nehmen, keine Mimosen.

»Na, hallo, du bist aber durstig«, sagte er, nachdem sie das Glas ex getrunken hatte. Er schenkte ihr nach und dann auch einen für sich, um den Anschluss nicht zu verlieren.

Nachdem sie noch drei Gläser gekippt hatten, war er angetrunken.

Ihr dagegen war nichts anzumerken. Sie fragte nach seinem derzeitigen Auftrag und beobachtete ihn. Der Alkohol baute seine Hemmungen ab. Langsam rückte er auf dem Sofa näher. Als seine Finger schließlich ihren Schenkel hinaufspazierten, lächelte er ihr steif zu.

»Ich suche nach einer Frau, die vielen Menschen sehr schaden kann«, antwortete er.

»Na, das klingt ja spannend. Betreibt sie Industriespionage oder ist sie ein Callgirl oder so was?«, fragte sie und untermalte ihr begeistertes Erstaunen, indem sie eine Hand auf seine legte und sie zielgerichtet zur Innenseite ihres Schenkels führte.

Sie sah seinen Mund an und wusste, sie würde kotzen, wenn er versuchte sie zu küssen. »Wer ist die Frau?«, fragte sie.

»Das ist ein Dienstgeheimnis, Schatz. Das kann ich nicht sagen.«

Schatz! Hoffentlich musste sie nicht schon eher kotzen.

»Aber wer beauftragt dich mit so einem Job?« Sie ließ ihn ein Stück weiter hinauf. Der Atem an ihrem Hals stank nicht nur nach Alkohol, er war jetzt auch heiß.

»Die Leute stehen gesellschaftlich ganz oben«, flüsterte er. Als würde ihn das in der Paarungshierarchie weiter oben ansiedeln.

»Sollen wir uns nicht noch ein Gläschen gönnen?«, fragte sie. Seine Finger fummelten in der Schambeingegend.

Er zog sich etwas zurück und betrachtete sie grinsend. Die geschwollene Seite des Gesichts verzog sich dabei. Ganz offenkundig hatte er einen Plan. Sie sollte ruhig trinken, er würde nachschenken, bis sie vollständig hinüber und bereit war.

Ihm wäre es schnurzegal, wenn sie bewusstlos umfiele. Es scherte ihn einen Dreck, ob sie auf ihre Kosten käme oder nicht, das war ihr klar.

»Wir können das heute Nacht nicht machen«, sagte sie. Seine Mundwinkel sackten nach unten und die Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Ich hab meine Mens, aber lass uns das auf jeden Fall nachholen, ja?«

Die Lüge war ihr glatt über die Lippen gegangen, dabei wünschte sie sich in ihrem Herzen nichts sehnlicher, als dass es stimmte. Es war jetzt elf Jahre her, seit sie zuletzt geblutet hatte. Nur noch Krämpfe im Bauch waren geblieben, und die waren nicht physisch. Das waren die Wut und die geplatzten Träume eines ganzen Lebens.

Der Abort, an dem sie fast gestorben wäre, hatte sie unfruchtbar gemacht. So war es.

Vielleicht wäre sonst alles ganz anders gekommen.

Sie strich vorsichtig mit dem Zeigefinger über seine gerissene Augenbraue. Aber das dämpfte weder seine aufsteigende Wut noch seine Frustration.

Sie konnte sehen, was er dachte. Er hatte die verkehrte Tussi mit nach Hause geschleppt, aber damit wollte er sich nicht abfinden. Warum zum Teufel ging sie zum Ball der einsamen Herzen, wenn sie ihren Mist hatte?

Kimmie sah, wie sich seine Gesichtszüge veränderten. Da nahm sie ihre Handtasche und stand auf, trat ans Balkonfenster und blickte über die öde Wüstenlandschaft aus Reihen- und Hochhäusern in der Ferne. Fast überall dunkel. Nur ein kalter Lichtschein von den Straßenlaternen ein Stück entfernt.

»Du hast Tine umgebracht«, sagte sie beherrscht und steckte die Hand in die Tasche.

Sie hörte, wie er sich vom Sofa hochrappelte. In einer Sekunde würde er über ihr sein. Er war nicht klar im Kopf, aber tief im Inneren erwachte sein Jagdinstinkt.

Dann drehte sie sich ganz langsam um und zog dabei die Pistole mit dem Schalldämpfer heraus.

Er sah die Waffe, als er sich hinter dem Couchtisch hervormanövrierte. Dann stand er still, verwundert über sich und die Kratzer, die seiner Berufsehre da zugefügt wurden. Er sah urkomisch aus. Sie liebte diese Mischung aus stummer Verblüffung und Angst.

»Ja«, sagte sie. »Das ist wohl nicht so gut gelaufen. Du hast die Zielperson deines Auftrages nach Hause abgeschleppt, ohne es zu merken.«

Er neigte den Kopf und betrachtete abschätzend ihr Gesicht. Verglich es mit dem Bild, das er sich von einer abgehärmten obdachlosen Frau zurechtgelegt hatte. Prüfte verwirrt sein Gedächtnis. Wie hatte er sich dermaßen irren können? Wie hatte er sich so von dieser Verkleidung an der Nase herumführen lassen können? Wie konnte er eine von der Straße attraktiv finden?

Komm schon, flüsterten die Stimmen. Schnapp ihn dir. Er ist deren Lakai, nichts weiter. Schlag zu!

»Ohne dich wäre meine Freundin noch am Leben«, sagte Kimmie und spürte jetzt den Alkohol, der im Zwerchfell brannte. Sie sah hinüber zur Flasche und ihrem goldenen Inhalt. Halb voll. Noch ein Schluck, und die Stimmen und der Brand wären weg.

»Ich hab niemanden umgebracht«, sagte er. Sein Blick suchte ihren Finger am Abzug und den Entsicherungshebel. Alles, was den Glauben stärkte, sie hätte etwas übersehen.

»Na? Fühlst du dich jetzt wie die Ratte in der Falle?« Die Frage war überflüssig, und er antwortete auch gar nicht. Er hasste es, das feststellen zu müssen. Verständlich.

Aalbæk hatte Tine verprügelt. Aalbæk hatte sie traumatisiert und verletzbar gemacht. Und Aalbæk hatte sie zu einer Gefahr für Kimmie werden lassen. Ja, vielleicht war Kimmie die Waffe gewesen, aber Aalbæk war die Hand, die sie geführt hatte. Dafür musste er büßen.

Er und die anderen, die die Befehle erteilten.

»Ditlev, Ulrik und Torsten stehen dahinter. Das weiß ich«, sagte sie, zunehmend absorbiert von der Nähe der Flasche und ihrem heilenden Inhalt.

Tu's nicht, sagte eine der Stimmen, aber sie tat es doch. Sie streckte die Hand nach der Flasche aus. Erst nahm sie seinen Körper nur wie eine Vibration in der Luft wahr, dann als ein um sich schlagendes Knäuel aus Armen und Kleidung.

Rasend vor Wut warf er sie zu Boden. Trampel auf der Sexualität eines Mannes herum, und du hast einen Feind fürs Leben, hatte sie gelernt. Wie wahr! Nun musste sie büßen für seine hungrigen Blicke und sein unterwürfiges Drängeln. Büßen dafür, dass er sich offen und verletzlich gezeigt hatte.

Er schmiss sie gegen den Heizkörper, sodass ihr Kopf gegen die Stäbe knallte. Auf dem Fußboden stand eine große Holzfigur, die riss er an sich und schlug damit gegen ihre Hüfte. Er packte sie an der Schulter und drehte sie auf den Bauch. Presste ihren Oberkörper auf den Boden und den Arm mit der Pistole auf den Rücken. Aber Kimmie ließ sie nicht los.

Seine Finger bohrten sich in ihren Oberarm. Schmerzen hatte sie so oft gefühlt. Es brauchte mehr, um sie zum Schreien zu bringen.

»Glaubst du, du kannst hierherkommen und mich heiß machen? Und mich dann austricksen?« Damit knallte er ihr die Faust ins Kreuz. Danach donnerte er die Pistole in eine Ecke und griff ihr so rabiat unters Kleid, dass Strumpfhose und Slip zerrissen.

»Du Miststück, von wegen du hast deine Tage!«, brüllte er. Dann riss er sie brutal herum und schlug ihr ins Gesicht.

Während er sie unter sich zwischen seine Knie klemmte und auf sie eindrosch, sahen sie sich direkt in die Augen. Es waren sehnige Schenkel, die sich in der abgewetzten Hose über ihr anspannten. Pochende, blutpralle Adern in seinen hämmernden Unterarmen.

Er schlug sie, bis ihre Gegenwehr nachzulassen begann. Widerstand schien vergeblich.

»Reicht's dir?«, schrie er und drohte ihr mit der Faust, die Abstrafung wieder aufzunehmen. »Bist du fertig? Oder willst du aussehen wie deine Freundin neulich?«

Fertig?, fragte er.

Fertig war man erst, wenn man zu atmen aufhörte. Niemand wusste das besser als sie.


Kristian kannte sie am besten. Er bekam mit, wenn sie diesen Sog aus Spannung spürte. Dieses chemische Gefühl, vom Boden abzuheben, während der Unterleib Lustgefühle in alle Zellen aussandte.

Und wenn sie im Dunkeln zusammensaßen und >Clockwork Orange< sahen, dann zeigte er ihr, wozu Lust führen konnte.

Kristian Wolf war derjenige mit Erfahrung. Er hatte schon früher Mädchen ausprobiert. Er kannte die Losungen zu ihren innersten Gedanken. Wusste, in welche Richtung man den Schlüssel im Keuschheitsgürtel umdrehen musste. Und plötzlich saß sie da zwischen den anderen aus der Clique, während die lüstern ihren entblößten Körper im flackernden Licht der Schreckensbilder auf dem Bildschirm betrachteten. Kristian zeigte ihr und allen anderen, wie man gleichzeitig in verschiedenen Richtungen genießen konnte. Wie Gewalt und Lust Hand in Hand gingen.

Ohne Kristian hätte sie nie gelernt, mit ihrem Körper zu ködern. Ausschließlich um der Jagd willen. Was er allerdings nicht bedacht hatte, war, dass sie auf diese Weise zum ersten Mal in ihrem Leben Ereignisse in ihrer Umgebung selbst steuern konnte. Vielleicht nicht von Anfang an, aber später dann.

Und als sie aus der Schweiz zurückkam, beherrschte sie diese Kunst bis zur Vollkommenheit.

Sie ging wahllos mit Zufallsbekanntschaften ins Bett. Nahm sie sich und machte Schluss mit ihnen. Das waren die Nächte.

Tagsüber war alles Routine. Die eisige Kälte der Stiefmutter. Die Tiere auf der Arbeit bei Nautilus Trading. Der Kontakt mit den Kunden und die Wochenenden mit der Clique. Die gelegentlichen Überfälle.

Und dann kam ihr Bjarne näher und weckte neue Gefühle in ihr. Erzählte ihr, sie sei mehr als das, was sie real war. Behauptete, sie wäre jemand. Jemand, der ihm und anderen etwas geben konnte. Dass sie an ihren Taten schuldlos sei und ihr Vater ein Schwein. Dass sie sich vor Kristian hüten solle. Dass die Vergangenheit tot sei.


Aalbæk konstatierte ihre Resignation und begann sofort an seiner Hose herumzufummeln. Da lächelte sie ihn kurz an. Vielleicht glaubte er, sie lächle, weil sie es auf diese Weise mochte. Dass im Grunde alles nach ihrem Plan verlaufe. Dass sie komplizierter sei als zunächst vermutet. Dass Schläge zu ihrem Ritual gehörten.

Aber Kimmie lächelte, weil sie wusste, dass er preisgegeben war. Lächelte, als er sein Glied hervorholte. Lächelte, als sie es auf ihrem nackten Schenkel spürte und merkte, dass es nicht steif genug war.

»Bleib einen Moment still liegen, dann machen wir es«, flüsterte sie und sah ihm dabei in die Augen. »Das ist keine echte Pistole. Nur eine Attrappe. Ich wollte dich nur erschrecken. Aber das hast du ja die ganze Zeit gewusst, oder?« Sie öffnete leicht die Lippen, damit sie fülliger wirkten. »Ich glaube, du wirst mich mögen«, sagte sie und rieb sich an ihm.

»Das glaube ich auch.« Sein stumpfer Blick hing an ihrem Dekollete.

»Du bist stark. Ein toller Mann.« Sie kam ihm mit den Schultern zärtlich entgegen und spürte, wie seine Beine sie nicht mehr ganz so fest umklammerten. Da konnte sie ihren Arm freibekommen und seine Hand zwischen ihre Beine ziehen. Daraufhin ließ er sie endgültig los und sie konnte mit der anderen Hand seinen Schwanz packen.

»Hiervon sagst du Pram und den anderen nichts, oder?«, sagte sie und bearbeitete ihn, bis er nach Luft schnappte.

Wenn er etwas nicht berichten würde, dann das hier.

Die forderte man nicht heraus. Das wusste sogar er.


Kimmie und Bjarne hatten ein halbes Jahr zusammengewohnt, als Kristian das nicht mehr hinnehmen wollte.

Sie merkte das eines Tages, als er die Gruppe mit zu einem Überfall hinausgelockt hatte. Dieser Überfall hatte sich anders entwickelt als sonst. Kristian hatte die Kontrolle verloren. Und beim Versuch, diese zurückzugewinnen, hatte er dafür gesorgt, dass sich die anderen gegen sie, Kimmie, wandten.

Ditlev, Kristian, Torsten, Ulrik und Bjarne. Einer für alle, alle für einen.

An all das erinnerte sie sich nur zu deutlich, als Aalbæk über ihr nicht länger warten konnte und im Begriff war, sie mit Gewalt zu nehmen.

Und sie hasste es und liebte es gleichzeitig. Nichts verlieh mehr Stärke als Hass. Nichts vermochte die Maßstäbe deutlicher zurechtzurücken, die Begriffe schneller zu klären als Rachsucht.

Sie zog sich mit aller Kraft zurück und halbwegs an der Wand hoch. Die Holzfigur, mit der er sie geschlagen hatte, hatte sie unter sich. Da packte sie aufs Neue sein halbsteifes Glied, bearbeitete es und zerrte daran, bis er fast weinte.

Und als er schließlich auf ihrem Schenkel kam, steckte ihm die Luft in den Lungen fest. Er war ein Mann, der an diesem Abend viele Male überrumpelt worden war. Und er war ein Mann, der bessere Tage kannte und zwischenzeitlich vergessen hatte, wie groß der Unterschied zwischen einsamem Onanieren und der Nähe einer Frau doch war. In diesem Moment war er völlig verloren. Seine Haut war feucht, aber die Augen starrten trocken und blind einen Punkt an der Decke an. Aber von dort wollte einfach keine Antwort kommen: Wie konnte es sein, dass sie von ihm geglitten war und plötzlich mit gespreizten Beinen über ihm stand, die Pistole direkt auf seinen noch immer pochenden Unterleib gerichtet?

»Das Gefühl, das du gerade in dir spürst, genieß es, denn du spürst es zum letzten Mal, du Schwein.« Sein Sperma lief an ihrem Schenkel herunter. Tiefe Verachtung und das Gefühl, besudelt worden zu sein, erfüllten sie.

Wie jedes Mal, wenn die, denen sie vertraute, sie im Stich gelassen hatten.

Wie bei den Schlägen ihres Vaters, wenn sie sich nicht korrekt benahm. Wie bei den unvorhersehbaren Zurechtweisungen und Ohrfeigen der Stiefmutter, wenn Kimmie begeistert von was auch immer sprach. Wie bei ihrer längst vergessenen Mutter, die, wenn sie nicht zu besoffen war, kratzte und haute und sie mit Wörtern wie Korrektheit, Zurückhaltung und Anstand traktierte. Wörter, deren Wichtigkeit das kleine Mädchen verstand, noch ehe es ihre Bedeutung kannte.

Und wie damals, als Kristian und Torsten und die anderen ihr das angetan hatten. Die, denen sie am allermeisten vertraut hatte.

Ja, sie kannte das Gefühl, besudelt, geschändet zu sein, und sie wollte es. Das Leben hatte sie abhängig gemacht davon. Das war der weitere Weg. So konnte sie handeln.

»Steh auf«, sagte sie und zog die Balkontür auf.

Es war eine stille, feuchte Nacht. Rufe in einer fremden Sprache aus den Reihenhäusern gegenüber pflanzten sich in der Landschaft aus Beton wie ein Echo fort.

»Steh auf!« Sie unterstrich ihre Worte mit der Pistole und sah, wie sich ein Lächeln auf seinem geschwollenen Gesicht breitmachte.

»War das nicht bloß eine Attrappe?« Er zog den Reißverschluss seiner Hose hoch und kam langsam auf sie zu.

Sie wandte sich der Holzfigur auf dem Fußboden zu und gab einen einzigen Schuss ab. Es war verblüffend, wie leise es ploppte, als sich die Kugel in den Rücken der Figur bohrte.

Auch überraschend für Aalbæk.

Er zog sich zurück, wurde aber wieder zum Balkon hin dirigiert.

»Was willst du?«, fragte er dort draußen, jetzt aber mit einem ganz anderen Ernst. Das Geländer hielt er fest umklammert.

Sie sah über die Brüstung nach unten. Die Dunkelheit unter ihnen war wie ein alles verschlingendes Loch. Aalbæk wusste das und er begann zu zittern.

»Erzähl mir alles«, sagte sie und zog sich in den Schatten der Mauer zurück.

Und er erzählte. Es kam langsam, aber in der richtigen Reihenfolge. Die Ergebnisse einer systematischen, professionellen Observation. Denn was galt es jetzt noch zu verbergen? Es war ja nur ein Job. Hier ging es um mehr.

Kimmie sah ihre alten Freunde vor sich, während Aalbæk um sein Leben redete. Ditlev, Torsten und Ulrik. Hieß es nicht, mächtige Männer herrschten nur über die Ohnmacht der anderen? Nein, sie herrschten auch über ihre eigene Ohnmacht. Das zeigte die Geschichte die ganze Zeit.

Und als der Mann vor ihr nichts mehr zu berichten hatte, sagte sie kalt: »Du hast die Wahl. Springen oder die Knarre. Es sind fünf Stockwerke bis unten. Wenn du springst, hast du gute Chancen zu überleben. Das Gebüsch dort unten, du weißt schon. Pflanzt man das nicht deshalb so dicht am Haus?«

Er schüttelte den Kopf. Das hier konnte einfach nicht wahr sein. Er hatte schon so viel überlebt. So etwas passierte einfach nicht.

Das Lächeln, zu dem er sich durchrang, war jämmerlich. »Dort unten ist kein Gebüsch. Nur Beton und Rasen.«

»Erwartest du Gnade von mir? Hast du Tine vielleicht Gnade gewährt?«

Er antwortete nicht, stand nur völlig starr da. Krampfhaft versuchte er sich einzureden, dass sie das nicht ernst meinen konnte. Sie hatte doch gerade mit ihm geschlafen. Oder jedenfalls etwas in der Richtung.

»Spring, oder ich schieße dir in den Unterleib. Das wirst du auf keinen Fall überleben, das verspreche ich dir.«

Er ging einen Schritt weiter und beobachtete panisch, wie die Pistole gesenkt wurde und sich der Finger krümmte.

Hätte nicht der viele Alkohol in seinen Adern pulsiert, dann hätte es mit einem Schuss geendet.

So aber umklammerte er das Geländer und warf sich mit einem Ruck in die Tiefe. Und vielleicht hätte er sich tatsächlich auf den Balkon der Etage darunter schleudern können, wenn Kimmie ihm nicht mit dem Pistolenschaft so fest auf die Fingerknöchel geschlagen hätte, dass es knirschte.

Als er unten landete, gab es einen dumpfen Laut. Keinen Schrei.

Kimmie drehte sich zur Balkontür um und trat in die Wohnung. Sie starrte kurz die misshandelte Figur an, die auf dem Boden lag und lachte. Da lächelte Kimmie zurück, bückte sich, sammelte die leere Patronenhülse auf und steckte sie in ihre Tasche.

Als sie die Wohnungstür hinter sich zuknallte, war sie zufrieden.

Eine ganze Stunde hatte sie die Gläser, die Flasche und alles Mögliche andere gründlich abgewaschen. Die Holzfigur stand auf dem Heizkörper, hübsch umwickelt mit einem Geschirrhandtuch.

Wie ein Koch, der bereit ist, die nächsten Gäste des Etablissements zu empfangen.


30


Aus dem Wohnzimmer hörte man es knirschen, krachen und rumpeln, als stampfte eine Horde Elefanten über Carls strapazierte Ikea-Möbel hinweg. Bei Jesper war also Party.

Carl rieb sich die Schläfen und bereitete innerlich eine Standpauke vor.

Der Lärm wurde ohrenbetäubend, als er die Tür aufstieß. Nur das flimmernde Bild des Fernsehers spendete Licht, Morten und Jesper hockten jeweils an den äußersten Enden der Couch.

»Was zum Teufel ist hier los?«, schrie Carl, konsterniert von der Allgegenwart des Radaus und der Leere des Wohnzimmers.

»Surround-Sound«, teilte Morten stolz mit, nachdem er die Lautstärke mittels Fernbedienung etwas reduziert hatte.

Jesper deutete auf die Runde der Lautsprecher, die sich hinter den Sesseln und im Bücherregal verbargen. Cool, was?, signalisierte sein Blick.

Damit war der Familienfrieden im Hause Mørck endgültig passé.

Sie schoben ihm ein lauwarmes Tuborg hin. Die Anlage sei ein Geschenk der Eltern von einem von Mortens Freunden. Die könnten sie nicht gebrauchen. Mit dieser Information versuchte Morten Carls mürrische Miene zu glätten.

Kluge Leute, diese Eltern.

An dem Punkt bekam Carl Lust, den Spieß umzudrehen. »Ich soll dich etwas fragen, Morten! Hardy hatte die Idee, dass du ihn vielleicht hier zu Hause pflegen könntest. Gegen Bezahlung natürlich. Sein Bett müsste dort stehen, wo jetzt euer Basslautsprecher steht. Den könnten wir ja hinterm Bett platzieren, da drauf könnte dann auch gleich die Pinkeltüte liegen.«

Er trank einen Schluck und freute sich auf die zeitverzögerte Wirkung seiner Worte, wenn die Information erst einmal in ihre müden Samstagabendhirne vorgedrungen war.

»Gegen Bezahlung?«, wiederholte Morten.

»Hardy soll hier wohnen?«, fuhr Jesper maulend dazwischen. »Na, mir egal. Wenn ich nicht bald im Gammel Amtsvej eine Jugendwohnung kriege, ziehe ich zu Mutter ins Gartenhaus.«

Das wollte Carl erleben, bevor er es glaubte. »Was meinst du, wie viel springt dabei raus?«, fuhr Morten fort.

An der Stelle ging das Pochen im Kopf richtig los.

Zweieinhalb Stunden später wachte er auf. Der Radiowecker zeigte SUNDAY 01:39:09, und der Kopf war voller Bilder von silbernen Amethystohrringen und Namen wie Kyle Basset, Kåre Bruno und Klavs Jeppesen.

In Jespers Zimmer war das New York der Gangsta Rapper auferstanden und Carl fühlte sich, als habe er einen mutierten Grippevirus in hoher Dosis inhaliert. Trockene Schleimhäute, Augenhöhlen, als wäre Sand hineingeraten, und eine tonnenschwere Müdigkeit in Kopf und Gliedern.

Lange lag er einfach da und kämpfte mit sich, bis er schließlich die Beine aus dem Bett schwang. Vielleicht konnte ja eine richtig heiße Dusche die Dämonen vertreiben.

Stattdessen schaltete er den Radiowecker ein und erfuhr aus den Nachrichten, dass eine weitere Frau schwer verletzt aufgefunden worden war. In einem Abfallcontainer, halb totgeprügelt. Dieses Mal in der Store Søndervoldstræde, aber die Umstände entsprachen haargenau denen in der Store Kannikestræde.

Irgendwie witzig, diese Übereinstimmung von zweiteiligen Straßennamen, dachte er. Beide fangen mit Store an und enden auf -stræde. Gab es im Bezirk von Dezernat A eigentlich noch mehr von der Sorte?

Alles in allem war er deshalb bereits wach, als Lars Bjørn anrief.

»Ich denke, es wäre gut, wenn du dich anziehst und zu mir nach Rødovre kommst«, sagte er.

Carl wollte etwas Entschiedenes entgegnen, im Sinne von, Rødovre gehöre nicht zu ihrem Bezirk, oder etwas von ansteckenden epidemischen Krankheiten. Aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, als Lars Bjørn ihm mitteilte, man habe Privatdetektiv Finn Aalbæk tot aufgefunden, fünf Stockwerke unter seinem Balkon auf dem Rasen.

»Der Kopf sieht ihm noch ähnlich. Aber der Körper ist sicher einen halben Meter kürzer. Er muss auf den Füßen gelandet sein. Es hat ihm die Wirbelsäule geradewegs in den Schädel gerammt.« Seit wann drückte Bjørn sich so drastisch aus?

Irgendwie machte diese Nachricht etwas mit Carls Kopfschmerzen. Vielleicht vergaß er sie aber auch nur.

Carl entdeckte Lars Bjørn vor der Giebelwand des Hochhauses. Die mannshohen Graffiti an der Wand hinter ihm - Kill your mother and rape your dog! - ließen ihn nicht gerade munterer wirken.

Lars Bjørn hatte westlich von Valby Bakke einen Scheißdreck zu suchen, was machte er also hier? Der sollte doch für seinen Fehltritt büßen.

»Was machst du hier draußen, Lars?«, fragte Carl. Dabei ließ er den Blick zu den hell erleuchteten Fenstern einiger Flachbauten im Avedøre Havnevej schweifen. Sie lagen nicht einmal hundert Meter entfernt hinter ein paar Bäumen, die ihr Laub schon halb abgeworfen hatten. Das war das Gymnasium von Rødovre, wo er erst vorhin gewesen war. Das Fest für die Ehemaligen zog sich also noch hin.

Merkwürdiges Gefühl. Vor gerade mal sechs Stunden war er noch dort drüben gewesen und hatte mit Klavs Jeppesen geredet. Und jetzt lag Aalbæk hier auf der anderen Seite der Straße. Was um Himmels willen ging hier vor?

Lars Bjørn sah ihn düster an. »Du erinnerst dich ja vielleicht noch, dass einer der Verantwortungsträger und hier anwesenden Mitarbeiter des Präsidiums erst vor Kurzem eine Anzeige wegen Körperverletzung im Amt gegenüber dem Verstorbenen am Hals hatte. Deshalb waren Marcus und ich der Meinung, es wäre wichtig, an Ort und Stelle zu überprüfen, worum es sich in diesem Fall hier handelt. Aber das weißt du vielleicht, Carl?«

Was war denn das für ein Ton in einer dunklen, kalten Septembernacht?

»Wenn ihr ihn beschattet hättet, wie ich euch gebeten habe, wüssten wir ja vielleicht ein bisschen mehr, nicht wahr?«, knurrte Carl. Dabei versuchte er herauszufinden, was an dem Klumpen, der sich zehn Meter entfernt ins Gras gebohrt hatte, oben und unten war.

»Die Typen da drüben haben ihn gefunden«, sagte Bjørn. Er deutete zu einer Gruppe von Einwandererjungen in Jogginghosen mit weißen Streifen und blassen dänischen Mädchen in ultrastrammen Jeans. Ganz offenkundig fanden nicht alle von ihnen, dass das hier cool war. »Die wollten auf den Spielplatz des Kindergartens oder der Krippe, oder was immer das auch ist, und sich da rumdrücken. Aber so weit kamen sie dann nicht.«

»Wann ist das passiert?«, fragte Carl den Amtsarzt, der bereits zusammenpacken wollte.

»Tja, es ist heute Nacht ja recht kühl. Aber er hat hier im Schutz des Hauses gelegen. Vielleicht zwei bis zweieinhalb Stunden?« Er hatte müde Augen und sehnte sich vermutlich nach der Bettdecke und dem warmen Rücken seiner Frau.

Carl wandte sich an Lars Bjørn. »Gegen sieben heute Abend war ich drüben im Gymnasium von Rødovre. Damit du Bescheid weißt. Ich habe mit einem ehemaligen Freund von Kimmie gesprochen. Das ist ein absoluter Zufall, aber nimm in den Bericht auf, dass ich selbst das angegeben habe.«

Bjørn zog die Hände aus der Lederjacke und schlug den Kragen hoch. »Bist du je oben in seiner Wohnung gewesen, Carl?«

»Nein, war ich nicht.«

»Bist du ganz sicher?«

Also mal ehrlich, dachte Carl und spürte, wie die Kopfschmerzen in ihrer Ecke frohlockten.

»Also mal ehrlich«, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. »Jetzt mach mal halblang. Seid ihr schon oben in der Wohnung gewesen?«

»Die Polizei von Glostrup ist oben und Samir.«

»Samir?«

»Samir Ghazi. Den wir für Bak bekommen haben. Er kommt von der Polizei Rødovre.«

Samir Ghazi? Da bekam Assad ja einen Geistesverwandten. Mit dem könnte er dann seine klebrige Brühe teilen.

»Seid ihr über einen Abschiedsbrief gestolpert?«, fragte Carl, nachdem er eine raue Hand geschüttelt hatte.

Jeder, der auf Seeland zur Polizei gehörte und eine gewisse Anzahl Dienstjahre auf dem Buckel hatte, würde an dem Händedruck sofort Polizeikommissar Antonsen wiedererkennen. Wenige Sekunden in diesem Schraubstock, und man war nicht mehr derselbe. Irgendwann mal würde Carl seinem Kollegen sagen, er könne ruhig an der Hydraulik sparen.

»Abschiedsbrief? Nein, da war nichts. Und du kannst mir in den Arsch treten, wenn da nicht jemand oben gewesen ist und ein bisschen nachgeholfen hat.«

»Wie meinst du das?«

»Da drinnen gibt es fast keinen verdammten Fingerabdruck. Nichts am Handgriff der Balkontür. Nichts an der vordersten Reihe der Gläser im Küchenschrank. Nichts an der Kante des Couchtischs. Allerdings haben wir einen Satz sehr deutlicher Fingerabdrücke draußen auf dem Balkongeländer. Garantiert die von Aalbæk. Aber warum sich so verdammt am Geländer festklammern, wenn man doch beschlossen hat zu springen?«

»Vielleicht hat er seinen Entschluss in letzter Sekunde bereut? Und er hatte einfach nicht mehr die Kraft, sich hochzuziehen. Wäre ja nicht das erste Mal, dass wir das erleben.«

Antonsen gluckste. Das tat er jedes Mal, wenn er einen Ermittler außerhalb seines eigenen Distriktes traf. Sehr versöhnlicher Ausdruck von Herablassung - wenn es denn schon sein musste.

»Am Geländer klebt Blut. Nicht viel, nur eine Andeutung. Und ich möchte fast wetten, dass wir an seinen Händen Spuren von einem Schlag sehen werden, wenn wir gleich nach unten gehen. Nee, du, das hier, das stinkt.«

Er dirigierte ein paar Techniker aus dem Badezimmer und zog dann einen nett aussehenden dunklen Mann zu Carl und Lars Bjørn herüber.

»Einer meiner besten Leute, und ausgerechnet den klaut ihr mir. Seht uns wenigstens beide in die Augen und sagt, dass ihr es okay findet, so einen Scheiß zu verzapfen!«

»Samir«, stellte sich der Mann vor und streckte Bjørn die Hand hin. Die beiden waren sich demnach also noch nicht begegnet.

»Ich sag euch eins: Wenn ihr Samir nicht anständig behandelt, dann bekommt ihr es mit mir zu tun«, sagte Antonsen und haute seinem Mitarbeiter auf die Schulter.

»Carl Mørck«, sagte Carl und sein Händedruck stand dem des anderen in nicht viel nach.

»Ja, das ist er.« Antonsen nickte Samir auf dessen fragenden Blick hin zu. »Der Mann, der den Merete-Lynggaard-Fall aufgeklärt hat und von dem es heißt, er habe Aalbæk eins auf die Nuss gegeben.« Er lachte. Finn Aalbæk hatte sich dort im Westen offenbar auch nicht sonderlich beliebt gemacht.

»Die Splitter dort auf dem Teppich«, sagte einer der Techniker und deutete auf irgendwelche mikroskopisch kleinen Dinger vor der Balkontür, »die machen nicht gerade den Eindruck, als würden sie schon lange da liegen. Die liegen ja sozusagen auf dem Dreck drauf.« Er kniete sich in seinem weißen Overall hin und besah sie sich aus nächster Nähe. Merkwürdige Leute, diese Techniker. Aber gründlich, das musste man ihnen lassen.

»Können die von einem Schlagholz stammen?«, fragte Samir.

Carl sah sich in der Wohnung um. Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf, bis auf die dicke, recht kunstvoll geschnitzte Holzfigur mit Bowlerhut und Geschirrhandtuch um den Bauch, die auf dem Heizkörper stand. Das war Dick, der dazugehörige Doof stand in der Ecke und wirkte nur halb so aktiv. Irgendetwas stimmte da nicht.

Carl bückte sich, nahm das Handtuch ab und tippte die Figur an. Das schien vielversprechend.

»Ihr müsst sie selbst umdrehen. Aber soweit ich das beurteilen kann, geht es dem Rücken dieser Figur nicht sonderlich gut.«

Jetzt standen alle um die Holzfigur herum. Sie schätzten die Größe des Einschusslochs ab und die Masse des eingedrückten Holzes.

»Verhältnismäßig kleines Kaliber. Das Projektil ist nicht einmal durchgegangen. Das steckt noch«, sagte Antonsen, und die Techniker nickten.

Carl war derselben Meinung. Bestimmt eine Zweiundzwanziger. Aber wenn man wollte, verdammt tödlich.

»Hat einer der Nachbarn etwas gehört? Ich meine, Schreie oder einen Schuss?«, fragte er und schnupperte am Einschussloch.

Sie schüttelten den Kopf.

Merkwürdig und auch wieder nicht. Das Hochhaus war in desolatem Zustand und stand größtenteils leer. Kaum mehr als ein paar Bewohner auf dem Stockwerk. Garantiert wohnte auch niemand im Stockwerk darüber und darunter. Die Tage des roten Kastens waren gezählt. Schon der nächste Sturm konnte das Ding zum Einsturz bringen.

»Es riecht noch frisch«, sagte Carl und zog den Kopf zurück. »Aus etwa einem Meter Entfernung abgefeuert, und zwar heute Abend. Was meint ihr?«

»Das kommt hin«, sagte der Techniker.

Carl ging auf den Balkon und sah über das Geländer. Hübsche Fallhöhe!

Er starrte in die hell erleuchteten Flachbauten gegenüber. Jetzt waren in jedem Fenster Gesichter zu sehen. Neugier ließ sich auch von pechschwarzer Nacht nicht kleinkriegen.

Da klingelte Carls Handy.

Sie nannte ihren Namen erst gar nicht, wozu auch? »Du glaubst es nicht, Carl«, sagte Rose. »Aber die Nachtschicht unten in Svendborg hat den Ohrring gefunden. Der Wachhabende wusste gleich, wo im Ablagesystem der zu finden sein musste. Ist das nicht phantastisch?«

Er sah auf die Uhr. Am phantastischsten war, dass sie glaubte, er sei um diese Uhrzeit bereit für Neuigkeiten.

»Du hast doch wohl nicht geschlafen?«, fragte sie, wartete die Antwort aber gar nicht erst ab. »Ich mach mich gleich auf den Weg ins Präsidium. Die mailen uns ein Foto.«

»Kann das nicht warten, bis es hell wird? Oder bis Montag?« Jetzt pochte es wieder in seinem Kopf.

»Irgendeine Idee, wer ihn gezwungen haben könnte, sich übers Geländer zu schwingen?«, fragte Antonsen, als Carl das Handy zusammenklappte.

Carl schüttelte den Kopf. Tja, wer könnte das gewesen sein? Bestimmt einer, dem Aalbæk mit seiner Schnüffelei das Leben ruiniert hatte. Einer, der fand, dass er zu viel wusste. Ja, das war eine Möglichkeit.

Aber es könnte auch einer aus der Clique gewesen sein. Ideen hatte Carl jede Menge, jedoch dummerweise keine Beweise, nichts, was er hinausposaunen konnte.

»Habt ihr sein Büro überprüft?«, fragte er. »Unterlagen zu Klienten, Terminkalender, Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, E-Mails?«

»Wir haben Leute dorthin geschickt. Die sagen, das sei nur ein leerer, alter Schuppen mit einem Briefkasten.«

Carl runzelte die Augenbrauen und sah sich um. Dann ging er zum Schreibtisch an der Wand, griff sich eine von Aalbæks Visitenkarten von der Schreibunterlage und gab die Nummer des Detektivbüros ein.

Keine drei Sekunden später klingelte im Eingangsflur ein Handy »Da! Jetzt wissen wir, wo sein Büro wirklich liegt«, sagte Carl und sah sich um. »Genau hier.«

Das war wahrhaftig nicht zu erkennen. Kein Ringbuch, keine Mappe mit Quittungen. Nichts dergleichen. Nur Clubausgaben von Büchern, Nippes und etliche CDs mit Musik von Helmut Lotti und ähnlichen Knallköpfen.

»Stellt die Wohnung auf den Kopf«, sagte Antonsen. Das würde dauern.


Carl lag noch keine drei Minuten im Bett, alle Grippesymptome hatten sich zurückgemeldet, da rief Rose wieder an. Ihre Stimme dröhnte geradezu aus dem Hörer.

»Carl, es ist dieser Ohrring! Der zu dem passt, der am Lindelse Nor gefunden wurde! Nun können wir mit Sicherheit den Ohrring aus Kimmies Plastikhülle mit den beiden Verschwundenen von Langeland in Verbindung bringen. Genial, oder?«

Doch, ja. Aber es war nicht ganz leicht, ihrem Tempo hinterherzuhecheln.

»Und das ist noch nicht alles, Carl. Ich hab Antwort auf ein paar E-Mails bekommen, die ich am Samstagnachmittag rausgeschickt hab. Du kannst hinfahren, um mit Kyle Basset zu reden. Cool, was?«

Mühsam schob sich Carl am Kopfende des Betts hoch in eine halbwegs sitzende Position. Kyle Basset? Der Knabe aus dem Internat, den die Clique schikaniert hatte? Doch, ja, das war ... cool.

»Er kann dich morgen Nachmittag treffen. Wir haben Glück, denn normalerweise ist er nie im Büro. Aber Sonntagnachmittag eben doch. Ihr trefft euch um vierzehn Uhr, sodass du um 16 Uhr 20 zurückfliegen kannst.«

An der Stelle saß er schlagartig senkrecht im Bett. »Fliegen? Verdammt, was redest du da, Rose?«

»Na, der ist in Madrid. Du weißt schon, sein Büro ist in Madrid.«

Carl riss die Augen auf. »Madrid! Ich flieg ums Verrecken nicht nach Madrid. Das kannst du selbst machen.«

»Ich hab das Flugticket schon gebucht, Carl. Du fliegst um 10 Uhr 20 mit der SAS. Wir treffen uns dort anderthalb Stunden vorher. Du bist bereits eingecheckt.«

»Nein, nein, nein, ich werde überhaupt nirgendwohin fliegen.« Er versuchte zu schlucken. »Im Traum nicht!«

»Wow! Carl, hast du Flugangst?« Sie lachte. So ein Lachen, das jede plausible Antwort unmöglich machte.

Er hatte Flugangst, und wie. Jedenfalls, soweit er wusste. Denn er hatte es nur ein einziges Mal versucht. Da musste er zu einem Fest nach Aalborg. Prophylaktisch war er sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückflug so besoffen gewesen, dass Vigga sich mit ihm hatte abschleppen müssen. Noch vierzehn Tage später hatte er sich im Schlaf an sie geklammert. An wen sollte er sich dieses Mal klammern?

»Ich hab keinen Pass, Rose. Ich mach es nicht. Stornier das Ticket.«

Wieder lachte sie. Eine echt unangenehme Mischung, diese Kombination aus Kopfschmerzen, nagender Furcht und ihrem brummenden Lachen im Gehörgang.

»Das mit dem Pass hab ich mit der Flughafenpolizei schon geregelt«, sagte sie. »Morgen liegt da draußen etwas für dich bereit. Immer mit der Ruhe, Carl. Du bekommst von mir ein paar Pillen. Frisium. Du musst nur unbedingt anderthalb Stunden vor Abflug in Terminal drei sein. Die Metro fährt direkt dorthin, und du musst nicht mal eine Zahnbürste mitnehmen. Aber denk an die Kreditkarte, ja?«

Dann knallte sie den Hörer auf und Carl saß allein in der Dunkelheit. Außerstande, sich zu erinnern, ab wann das alles dermaßen aus dem Ruder gelaufen war.


31


»Nimm einfach zwei von den Frisium«, hatte sie gesagt, ihm daraufhin zwei Minipillen in den Rachen gesteckt und zwei für den Rückflug zum Teddybären in die Brusttasche gestopft.

In der Halle hatte er verwirrt um sich geblickt und an den Schaltern nach einer autoritären Seele Ausschau gehalten, die etwas an ihm auszusetzen hätte. Falsche Kleidung, falsche Ausstrahlung, irgendwas! Hauptsache, es bewahrte ihn davor, mit dieser verdammten Rolltreppe geradewegs in die Verdammnis zu fahren.

Rose hatte ihm einen Ausdruck mit der Anschrift von Kyle Bassets Unternehmen in die Hand gedrückt, wo auch die Reiseroute ausführlich dargestellt war, sowie einen Minisprachführer. Dann hatte sie ihn noch einmal eindringlich ermahnt, die beiden letzten Pillen auf keinen Fall zu schlucken, ehe er nicht für den Rückflug eingecheckt hatte. Und eine ganze Litanei anderer Dinge hatte sie ihm auch noch mit auf den Weg gegeben, von denen er in fünf Minuten nicht mal die Hälfte würde wiedergeben können. Wie auch, wo er doch die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte und in den unteren Regionen mehr und mehr ein mulmiges Gefühl verspürte, Vorbote eines hochexplosiven Dünnschisses.

»Kann sein, dass die dich ein bisschen dösig machen«, sagte sie zum Schluss. »Aber die wirken, glaub mir. Mit denen hast du vor gar nichts mehr Angst. Da kann das Flugzeug abstürzen, ohne dass es dir was ausmacht.«

Er sah noch, dass sie sich über den letzten Satz ärgerte. Dann wurde er mit seinem vorläufigen Reisepass und der Bordkarte in der Hand zur Rolltreppe geführt.


Schon auf der Startbahn war Carl schweißgebadet. Sein Hemd wurde zusehends dunkler und die Füße rutschten in den Schuhen. Zwar merkte er, dass die Pillen langsam wirkten, aber noch klopfte sein Herz so stark, dass er den Herzinfarkt schon auf sich zukommen sah.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte die Dame neben ihm vorsichtig und reichte ihm ihre Hand.

Danach kam es ihm vor, als hielte er da oben in zehntausend Metern Höhe die ganze Zeit die Luft an. Das Einzige, was er mitbekam, waren die Erschütterungen und das unerklärliche Knacken und Knarren im Rumpf der Maschine.

Er drehte die Frischluftdüse auf und wieder zu. Kippte die Rückenlehne zurück. Fühlte nach, ob die Schwimmweste unter dem Sitz lag, und sagte Nein danke, sobald die Stewardess auch nur in seine Nähe kam.

Und dann war er weg.

»Schauen Sie, da unten liegt Paris«, sagte die Dame neben ihm irgendwann. Die Stimme drang von weither zu ihm durch. Er öffnete die Augen und erinnerte sich an den Albtraum, die Müdigkeit, die Grippesymptome und schließlich an eine Hand, die auf die Schatten von etwas deutete, von dem die Besitzerin der Hand behauptete, es seien der Eiffelturm und der Place de l'Étoile.

Carl nickte. Das war ihm so was von scheißegal. Paris konnte ihn sonst wo. Er wollte nur raus.

Sie sah das und nahm wieder seine Hand, und die hielt sie immer noch, als er mit einem Ruck aufwachte, weil das Flugzeug auf der Landebahn aufsetzte.

»Sie waren vielleicht groggy«, sagte sie und deutete auf das Metro-Schild.

Er klopfte auf seinen kleinen Talisman in der Brusttasche und danach auf die Innentasche der Jacke, wo das Portemonnaie steckte. Einen müden Moment lang fragte er sich, ob er die Visa-Karte wohl auch an einem so entlegenen Ort wie diesem benutzen könne.

»Ganz einfach«, sagte die Frau. »Sie kaufen sich das Metro-Ticket gleich hier, und dann fahren Sie mit der Rolltreppe nach unten. Fahren Sie in die Stadt bis Nuevos Ministerios, dort steigen Sie um in die Linie sechs und fahren bis Cuatro Caminos, dann mit der Linie zwei weiter bis zur Oper und dann mit der fünf nur noch eine Haltestelle bis Callao. Von da sind es nur noch hundert Meter bis dorthin, wo Sie Ihr Treffen haben.«

Carl sah sich nach einer Bank um, wo er Gehirn und Beine, beides bleischwer, ausruhen konnte.

»Ich zeige Ihnen den Weg, ich muss selbst fast bis dahin, wohin Sie müssen. Ich habe gesehen, wie es Ihnen im Flugzeug ging«, sagte eine freundliche Seele in bestem Dänisch, und Carl richtete den Blick auf einen Mann von unzweifelhaft asiatischer Herkunft. »Ich heiße Vincent«, sagte er und trottete davon, sein Handgepäck hinter sich herziehend.

So hatte er sich einen ruhigen Sonntag nicht vorgestellt, als er sich vor nur zehn Stunden müde ins Bett gelegt hatte.


Nach einer halb bewusstlosen Fahrt mit der Metro tauchte Carl aus den labyrinthischen Tiefen der Metro-Station Callao ans Tageslicht. Wie riesige Eisberge ragten ringsum die monumentalen Gebäude der Gran Via empor. Kolosse, neoimpressionistisch, klassizistisch, funktionalistisch, wenn er es später beschreiben sollte. Er hatte nie etwas Ahnliches gesehen. Lärm, Gerüche, Hitze und ein Gewimmel von dunkelhaarigen Menschen, die es eilig hatten. Einem einzigen fühlte Carl sich verbunden, einem fast zahnlosen Bettler, der dort auf der Straße saß. Vor ihm lagen eine Unmenge bunter Plastikdeckel. An jedem war angegeben, wofür man spenden konnte, und in allen lagen Münzen und Geldscheine aus aller Herren Länder. Carl verstand nicht die Hälfte. Sollten das Spenden für Bier, für Wein, Schnaps oder Zigaretten sein? Such dir was aus, sagte der Blick des Mannes, dessen Augen ironisch funkelten. Such dir was aus.

Die Menschen ringsum lächelten, und einer zückte einen Fotoapparat und fragte den Bettler, ob er ihn fotografieren dürfe. Darauf machte sich ein zahnloses Grinsen auf dessen Gesicht breit und er hielt ein Schild hoch.

Fotos 280 Euro stand darauf.

Das wirkte. Nicht nur auf die Umstehenden, sondern auch auf Carls erschlafftes Inneres und seine eingerosteten Lachmuskeln. Sein Lachanfall war so überraschend wie befreiend. Diese Selbstironie übertraf jede Erwartung. Der Bettler drückte ihm sogar eine Visitenkarte mit Webadresse in die Hand: www.lazybeggars.com. Und Carl schüttelte den Kopf und lachte und steckte die Hand in die Innentasche, obwohl er Bettlern für gewöhnlich nichts gab.

In diesem Augenblick war Carl jäh in der Wirklichkeit angekommen. Und jede Faser seines Körpers war erfüllt von dem Wunsch, einer gewissen Mitarbeiterin des Sonderdezernats Q einen gehörigen Tritt zu versetzen.

Da stand er nun in einem Land, das er nicht kannte. Vollgestopft mit Pillen, die sein Hirn lahmgelegt hatten. Alle Glieder schmerzten vom Abwehrkampf gegen die anbrandende Grippe. Sein Leben lang hatte er sich lächelnd Geschichten von leichtsinnigen Touristen angehört. Und jetzt war es ihm passiert, ihm, dem Vizepolizeikommissar, der überall Gefahren witterte und zweifelhafte Gestalten sah. Wie blöd darf man sein, dachte er. Und das an einem Sonntag.

Keine Brieftasche. Nicht einmal mehr Wollflusen in seiner Jackentasche. Dreißig Minuten dicht an dicht in einer überfüllten Metro hatten ihren Preis. Keine Kreditkarte, kein vorläufiger Reisepass, kein Führerschein, keine glänzenden Fünfziger, keine Metro-Tickets, keine Telefonliste, keine Versicherungskarte, kein Flugticket.

Tiefer konnte man nicht sinken.


In irgendeinem der Büros von KB Construcciones S.A. gaben sie ihm schließlich eine Tasse Kaffee und ließen ihn in Ruhe. Dort saß er vor den ziemlich schmutzigen Fenstern und nickte ein. Eine Viertelstunde vorher war er unten im Foyer an der Gran Via 31 vom Portier aufgehalten worden. Da er keinerlei Legitimation vorweisen konnte, weigerte sich dieser Türhüter lange, zu überprüfen, ob Carls Angaben korrekt waren und er tatsächlich einen Termin beim Chef hatte. Der Kerl redete wie ein Buch, nur verstand Carl kein Wort. Schließlich hatte er wütend den Kopf geschüttelt und dem Typen mindestens zehnmal das urdänische Rødgrød med fløde an den Kopf geknallt. Die Rote Grütze half.

»Kyle Basset«, drang eine Stimme kilometerweit entfernt an Carls Ohr. Er war gerade eingenickt.

Carl öffnete vorsichtig die Augen. Er nahm an, gerade im Fegefeuer aufzuwachen, so sehr schmerzten Kopf und Glieder.

Nun saß er vor den gigantischen Fenstern in Bassets Büro und bekam noch eine Tasse Kaffee. Er sah sich einem Mann von Mitte dreißig gegenüber, der offenbar haargenau wusste, worum es ging. Reichtum, Macht und strammes Selbstbewusstsein.

»Ihre Mitarbeiterin hat mich über die Situation informiert«, sagte Basset. »Sie ermitteln in einer Serie von Morden. Und möglicherweise gibt es eine Verbindung zu den Personen, die mich seinerzeit im Internat überfallen haben. Ist das korrekt?«

Er sprach Dänisch mit Akzent. Carl sah sich um. Das Büro war gewaltig. Unten auf der Gran Via stürmten die Leute aus Geschäften, die Sfera oder Lefties hießen. In dieser Umgebung war es ein Wunder, dass Basset überhaupt noch Dänisch verstand.

»Dass es sich um eine Serie von Morden handelt, ist möglich. Noch wissen wir es nicht.« Carl kippte den Kaffee runter. Sehr dunkler Geschmack. In Anbetracht seiner gärenden Eingeweide nicht unbedingt das Richtige. »Sie sagen rundheraus, die hätten Sie überfallen. Warum haben Sie das nicht gesagt, als die angeklagt waren?«

Basset lachte. »Das habe ich schon viel früher gemacht. Gegenüber dem Richtigen.«

»Und das war?«

»Mein Vater. Alter Internatskumpel von Kimmies Vater.«

»Ach ja? Und was haben Sie damit erreicht?«

Er zuckte die Achseln und öffnete ein Zigarettenetui aus massivem Silber. Solche Dinge gab es also tatsächlich noch. Er bot Carl eine Zigarette an. »Wie viel Zeit haben Sie?«

»Mein Flug geht um sechzehn Uhr zwanzig.«

Er sah auf die Uhr. »Oh. Da haben wir nicht viel Zeit. Sie nehmen sicher ein Taxi?«

Carl inhalierte den Rauch tief. Das half etwas. »Ich hab ein kleines Problem«, sagte er dann. Es war ihm wahnsinnig peinlich.

Er erklärte Basset das Problem. Taschendiebe in der Metro. Kein Geld, kein vorläufiger Pass, kein Flugticket.

Kyle Basset drückte einen Knopf der Sprechanlage. Seine Anweisung klang nicht eben freundlich. Offenbar war das sein Tonfall gegenüber den Untergebenen.

»Ich mache es kurz.« Basset sah zu dem weißen Gebäude gegenüber. Vielleicht konnte man in seinem Blick Erinnerungen an einen alten Schmerz erkennen. Aber der Ausdruck war so versteinert und hart, dass sich das schwer sagen ließ.

»Mein Vater und Kimmies Vater trafen eine Abmachung: Zu gegebener Zeit würde sie bestraft werden. Bis dahin sollte die Sache ruhen. Mir war das recht. Ich kannte ihren Vater Willy K. Lassen gut. Ich kenne ihn im Übrigen immer noch. Er hat in Monaco eine Wohnung, nur zwei Gehminuten entfernt von meiner. Er ist ziemlich kompromisslos. Kein Mensch, den man herausfordern sollte. Also früher jedenfalls. Der arme Teufel ist nämlich todkrank. Nicht viel Leben in ihm übrig.« An der Stelle lächelte er. Sonderbare Reaktion.

Carl presste die Lippen zusammen. Also war Kimmies Vater tatsächlich sehr krank, genau wie er es dieser Tine gegenüber behauptet hatte. Schon erstaunlich. Aber das hatte er schon gelernt, dass die Wirklichkeit und die Phantasie sich oft sehr nahe kommen konnten.

»Und warum Kimmie?«, fragte er. »Sie nennen nur sie. Waren die anderen nicht genauso beteiligt? Ulrik Dybbøl Jensen, Bj arne Thøgersen, Kristian Wolf, Ditlev Pram, Torsten Florin? Waren die damals nicht allesamt dabei?«

Basset faltete die Hände, die qualmende Zigarette hing an seiner Lippe. »Glauben Sie vielleicht, die hätten mich bewusst als ihr Opfer ausgewählt?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß von der ganzen Geschichte nicht sehr viel.«

»Dann will ich es Ihnen sagen. Dass die sechs ausgerechnet mich verprügelten, war reiner Zufall. Davon bin ich überzeugt. Und ein ebensolcher Zufall war es, dass die Prügelei so ausartete.« Er legte sich eine Hand auf den Brustkorb und lehnte sich vor. »Drei Rippen gebrochen. Auch das Schlüsselbein. Anschließend habe ich tagelang Blut gepinkelt. Die hätten mich ohne weiteres umbringen können. Und dass das nicht passiert ist, auch das war reiner Zufall.«

»Aha. Aber worauf wollen Sie hinaus? Das erklärt noch nicht, wieso Ihre Rache nur Kimmie Lassen treffen sollte.«

»Wissen Sie was, Mørck? An dem Tag, als die über mich hergefallen sind, diese Schweine, hab ich von denen eine wichtige Sache gelernt. In gewisser Weise bin ich ihnen für die Lektion sogar ganz dankbar.« Er pochte bei jedem Wort des nächsten Satzes auf den Tisch. »Wenn sich die Gelegenheit bietet, schlägst du zu, habe ich gelernt. Ob Zufall oder nicht. Ohne Rücksicht auf Angemessenheit oder auf die Schuld oder Unschuld anderer Menschen. Das ist das A und O der Geschäftswelt, wissen Sie. Schärfe deine Waffen und mache davon Gebrauch. Jederzeit. Schlag einfach zu. Und meine Waffe war in diesem Fall, dass wir auf Kimmies Vater einwirken konnten.«

Carl atmete tief durch. In den Ohren eines Jungen vom Land klang das nicht sonderlich sympathisch. Er kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, so richtig begriffen habe ich es immer noch nicht.«

Basset schüttelte den Kopf. Das hatte er auch nicht erwartet. Sie beide stammten von verschiedenen Planeten.

»Ich sage nichts weiter als das Folgende: Da ich Kimmie ohne weiteres treffen konnte, bekam eben sie die Rache zu spüren.«

»Und die anderen waren Ihnen gleichgültig?«

Er zuckte die Achseln. »Hätte ich die Möglichkeit gehabt, hätte ich es auch ihnen jederzeit heimgezahlt. Die hatte ich nur nie. Die und ich, wir haben unsere eigenen Reviere, könnte man sagen.«

»Also war Kimmie nicht aktiver beteiligt als die anderen? Und was würden Sie sagen, wer war denn der Motor dieses Klüngels?«

»Kristian Wolf, natürlich. Aber wenn alle Teufel auf einmal aus der Hölle entkämen, dann würde ich mich von Kimmie am entschiedensten fernhalten.«

»Wie meinen Sie das?«

»Anfangs war sie noch neutral. Es waren vor allem die drei — Florin, Pram und Wolf. Aber als die sich ein bisschen zurückzogen, denn ich blutete ja aus einem Ohr, was sie wohl ein bisschen erschreckte, da kam Kimmie.«

Seine Nasenflügel weiteten sich, als würde er ihre Gegenwart noch immer spüren. »Sie heizten ihr ein, verstehen Sie? Besonders Kristian Wolf. Er und Pram betatschten sie, bis sie den Kopf in den Nacken legte. Und dann schubsten sie Kimmie zu mir rüber.« Er presste die Hände zusammen, die er noch immer gefaltet hatte. »Sie gab mir einen Klaps, und dann immer mehr. Als sie merkte, wie weh das tat, riss sie die Augen immer weiter auf und atmete immer heftiger und schlug immer fester zu. Sie hat mir den Tritt ins Zwerchfell versetzt. Mit der Schuhspitze, ganz tief.« Er drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher aus, der der Bronzefigur auf dem Dach gegenüber zum Verwechseln ähnlich sah. Bassets Gesicht wirkte sehr faltig. Erst jetzt, in dem grellen Sonnenlicht von der Seite, fiel es Carl auf. Ziemlich früh für einen so jungen Kerl.

»Hätte Wolf nicht eingegriffen, dann hätte sie weitergemacht, bis ich tot gewesen wäre. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Und die anderen?«

»Und die anderen, tja.« Er nickte in Gedanken. »Die waren schon ganz scharf auf das nächste Mal, würde ich meinen. Wie Zuschauer bei einem Stierkampf. Sie können mir glauben, das kenne ich!«

Die Sekretärin, die Carl den Kaffee gebracht hatte, kam ins Büro. Schlank und gut gekleidet. So dunkel wie ihre Haare und ihre Augenbrauen. In der Hand hielt sie einen kleinen Umschlag, den sie Carl reichte. »Now you have some Euros and a boarding pass for the trip home«, sagte sie und lächelte ihn freundlich an.

Dann drehte sie sich zu ihrem Chef um und gab ihm einen Zettel, den er sekundenschnell überflog. Die Wut, die das auslöste, erinnerte Carl an das Bild von Kimmie mit den aufgerissenen Augen, das Basset gerade eben von ihr gezeichnet hatte.

Ohne zu zögern, zerriss Basset den Zettel und überschüttete die Sekretärin mit einem Schwall von Schimpfworten. Seine Gesichtszüge waren verzerrt, die Falten noch tiefer eingegraben. Eine extrem heftige Reaktion, auf die hin die Frau zu zittern anfing und beschämt zu Boden sah. Wahrhaftig kein angenehmer Anblick.

Als sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, sah Basset Carl lächelnd an, als sei nichts geschehen. »Eine dumme kleine Büromaus. Um die müssen Sie sich nicht sorgen. Haben Sie jetzt alles, was Sie brauchen, um nach Dänemark zu kommen?«

Carl nickte stumm und bemühte sich, in irgendeiner Form Dankbarkeit zu zeigen, aber das fiel ihm nicht leicht. Kyle Basset war keinen Deut besser als diejenigen, die ihm seinerzeit so übel mitgespielt hatten. Ohne jedes Mitgefühl. Das hatte die Kostprobe eben gezeigt. Was für ein widerliches Pack, er und seinesgleichen.

»Und die Strafe?«, fragte Carl schließlich. »Kimmies Strafe. Wie gestaltete sich die?«

Basset lachte. »Ach, das war im Grunde auch ein Zufall. Sie hatte eine Fehlgeburt gehabt und war total durchgeprügelt und insgesamt ziemlich krank. Da bat sie ihren Vater um Hilfe.«

»Und die bekam sie nicht, wenn ich das richtig verstehe.« Carl sah die junge Frau vor sich, der ihr Vater im Moment größter Not seine Hilfe verweigert. War es dieser Mangel an Liebe, der sich auf dem alten Illustriertenfoto schon im Gesicht des kleinen Mädchens zeigte, wie sie da zwischen Vater und Stiefmutter stand?

»Ach, das war ziemlich unappetitlich, habe ich gehört. Ihr Vater wohnte damals im D'Angleterre. Das tut er immer, wenn er zu Hause in Dänemark ist. Und dann kreuzte sie dort an der Rezeption auf. Ja, was zum Teufel hatte sie auch erwartet?«

»Er ließ sie rauswerfen?«

»Mit dem Kopf voran, das kann ich Ihnen sagen.« Er lachte. »Aber zuerst durfte sie ein bisschen auf dem Fußboden herumkriechen und die Tausendkronenscheine auflesen, die er ihr hingeworfen hatte. Ein bisschen hat sie also doch bekommen. Aber danach hieß es: Good bye and farewell for good.«

»Ihr gehört ja das Haus in Ordrup. Warum ging sie nicht dorthin, wissen Sie das?«

»Das tat sie ja, und dort bekam sie dieselbe Behandlung.« Basset schüttelte den Kopf. Es war ihm von Herzen egal. »Nun, Carl Mørck. Wenn Sie mehr wissen wollen, müssen Sie einen späteren Flug nehmen. Sie müssen hier im Süden nämlich sehr früh einchecken. Und wenn Sie den Flug um sechzehn Uhr zwanzig schaffen wollen, dann müssen Sie jetzt los.«

Carl holte tief Luft. Schon jetzt spürte er das Beben des Flugzeugs tief in seinem Angstzentrum. Da fielen ihm die Pillen in der Brusttasche ein und er zog den kleinen Teddy heraus. Die Tabletten waren natürlich ganz nach unten gerutscht. Er legte den Teddy auf den Tisch und trank einen Schluck Kaffee, um die Pillen hinunterzuspülen.

Über den Rand der Kaffeetasse hinweg blickte er quer durch das Papierinferno auf dem Schreibtisch zu den geballten Händen des Mannes mit den weißen Knöcheln. Erst da hob er den Blick zu Kyle Bassets Gesicht und sah einen Mann, der sich vermutlich zum ersten Mal seit Ewigkeiten seiner Erinnerung an den beißenden Schmerz unterwerfen musste, den Menschen sich und anderen so ungeheuer effektiv zufügen können.

Bassets Blick war starr auf den unschuldigen kleinen Teddy gerichtet. Es war, als hätte ein Blitzschlag aus verdrängten Gefühlen ihn getroffen.

Dann sank er in seinen Stuhl zurück.

»Sie kennen den Teddy?«, fragte Carl, dem die Pillen irgendwo zwischen Schlund und Stimmband klebten.

Er nickte und dann kam ihm auch schon die Wut zu Hilfe und übernahm wieder das Ruder. »Ja, der baumelte im Internat immer an Kimmies Handgelenk. Keine Ahnung, warum. Er trug um den Hals ein rotes Seidenband, damit war er festgebunden.«

Für einen kurzen Moment glaubte Carl, Kyle Basset würde nachgeben und weinen. Aber dann versteinerte sich dessen Gesicht und ihm saß wieder der Mann gegenüber, der eine Büromaus zwischen zwei Flüchen zermalmen konnte.

»Doch, ja, ich erinnere mich nur allzu gut an ihn. Der baumelte auch an ihrem Handgelenk, als sie auf mich einschlug. Wo haben Sie den her?«


32


Es war schon fast zehn Uhr, als Kimmie am Sonntagvormittag im Hotel Ansgar aufwachte. Der Fernseher am Fußende des Bettes lief noch immer, jetzt wiederholten sie die Nachrichten über die Ereignisse der Nacht. Trotz des riesigen Einsatzes war man mit der Aufklärung der Explosion an der Haltestelle Dybbølsbro nicht weitergekommen. Deshalb war das nun etwas in den Hintergrund getreten. Jetzt ging es um das amerikanische Bombardement von Rebellen in Bagdad und um Kasparows Kandidatur für das Präsidentenamt in Russland, in erster Linie aber um einen Todesfall vor einem baufälligen roten Hochhaus draußen in Rødovre.

Es handelte sich dabei höchstwahrscheinlich um Mord. Dafür sprachen mehrere Indizien, erklärte der Sprecher der Polizei. Insbesondere der Umstand, dass sich das Opfer an das Balkongeländer geklammert habe, ihm aber offensichtlich mit einem stumpfen Gerät auf die Finger geschlagen worden sei. Eventuell mit der Pistole, die am selben Abend auf eine Holzfigur in der Wohnung abgefeuert wurde. Die Polizei hielt sich mit Informationen zurück. Einen Verdächtigen hatte man noch nicht.

Das brachten sie in den Nachrichten.

Kimmie drückte ihr Bündelchen an sich.

»Jetzt wissen sie es, Mille. Jetzt wissen die Jungs, dass ich hinter ihnen her bin.« Sie versuchte zu lächeln. »Meinst du, die hocken jetzt zusammen? Meinst du, Torsten und Ulrik und Ditlev beraten gerade, was sie machen sollen, wenn Mama ihnen immer dichter auf den Pelz rückt? Ob sie Angst haben?«

Sie wiegte das kleine Bündel in ihrem Arm. »Ich finde, das sollen sie. Nach dem, was sie uns angetan haben, oder? Und weißt du was, Mille? Dazu haben sie auch allen Grund.«

Der Kameramann versuchte, die Männer des Rettungsdienstes beim Abtransport des Leichnams heranzuzoomen. Aber es war eindeutig zu dunkel.

»Weißt du was, Mille? Ich hätte den anderen nichts von dem Metallkasten sagen sollen. Das war ein Fehler.« Sie wischte sich die Augen. Die Tränen waren so plötzlich gekommen.


Sie war mit Bjarne Thøgersen zusammengezogen, und das war ein Sakrileg gewesen. Wenn sie schon vögeln musste, dann entweder heimlich oder mit der ganzen Gruppe. Andere Möglichkeiten gab es nicht. Und dann dieser fatale Bruch mit allen Regeln. Nicht nur hatte sie einen aus der Gruppe allen anderen vorgezogen. Obendrein hatte sie ausgerechnet den gewählt, der in der Hierarchie ganz unten stand. Das war nicht in Ordnung.

»Bjarne?«, hatte Kristian Wolf gedonnert. »Was zum Teufel willst du denn mit dem, diesem Versager?« Er wollte, dass alles so blieb, wie es immer gewesen war. Dass sie. gemeinsam auf Tour gingen und dass Kimmie ihnen allen jederzeit zugänglich war.

Doch trotz Kristians Drohungen und des Drucks, den er ausübte, blieb Kimmie stur. Sie hatte sich für Bjarne entschieden. Die anderen mussten sich mit Erinnerungen begnügen.

Eine Zeitlang machte die Clique noch mit ihren Meetings weiter. Etwa alle vier Wochen trafen sie sich, schnüffelten Kokain und sahen Gewaltfilme. Dann fuhren sie gemeinsam mit Torstens oder Kristians großen Jeeps herum, auf der Jagd nach Leuten, die sie schikanieren und durchprügeln konnten. Manchmal einigten sie sich nachträglich mit ihren Opfern und gaben ihnen Blutgeld für die Demütigungen und Schmerzen. Manchmal überfielen sie die Opfer aber auch einfach von hinten und schlugen sie bewusstlos, bevor diese ihren Angreifern ins Gesicht sehen konnten. Und selten einmal wussten sie sofort, dass das Opfer nicht mit dem Leben davonkommen würde. Wie damals, als sie einen alten Mann entdeckten, der mutterseelenallein am Esrum-See stand und angelte.

Überfälle dieses Typs waren ihnen die liebsten. Wenn die Umstände stimmten und sie das volle Programm durchziehen konnten. Wenn sie alle sechs ihre Rollen bis zum Letzten ausleben konnten.

Aber am Esrum-See ging es schief.

Sie hatte gesehen, wie erregt Kristian war. Das war er zwar immer, aber dieses Mal war sein Gesicht dunkel und verkniffen. Keine geöffneten Lippen und schweren Augenlider. Er kehrte die Frustration nach innen, stand viel zu still und passiv da und betrachtete die Bewegungen der anderen und wie Kimmies Sachen an ihr klebten, als sie den Mann ins Wasser zogen.

»Jetzt nimm sie schon, Ulrik«, rief er auf einmal, als sie mit triefendem Sommerkleid im Schilf hockte und zusah, wie die Leiche hinausschwamm und sank. Und Ulrik sah sich mit funkelnden Augen der Möglichkeit gegenüber, fürchtete aber gleichzeitig, es wieder nicht hinzukriegen. Bevor sie in die Schweiz gegangen war, hatte er oft aufgeben müssen, hatte es nicht geschafft, in sie einzudringen. Stattdessen kamen die anderen zum Zug. Irgendwie schien dieser Cocktail aus Gewalt und Sex für ihn nicht so zu passen wie für die anderen. Als müsste der Puls erst wieder runter, ehe er wieder hochkommen konnte.

»Nun mach schon, Ulrik«, riefen die anderen. Bjarne dagegen schrie und fluchte, sie sollten aufhören. Da packten ihn Ditlev und Kristian und hielten ihn zurück.

Sie sah, wie Ulrik die Hosen runterließ, und auch, dass er tatsächlich bereit zu sein schien. Was sie nicht sah, war Torsten, der sich von hinten auf sie warf und zu Boden zwang.

Hätte sich Bjarne nicht losgerissen und Ulrik seine Manneskraft nicht gleich wieder eingebüßt, hätten sie Kimmie an jenem Tag vor dem Dickicht aus Rohrkolben vergewaltigt.

Danach dauerte es nicht lange, bis Kristian sich angewöhnte, sie systematisch aufzusuchen. Er scherte sich einen Dreck um Bjarne oder die anderen. Hauptsache, er konnte sie haben, dann war er zufrieden.

Bjarne veränderte sich. Wenn er und Kimmie sich unterhielten, wirkte er unkonzentriert. Erwiderte ihre Zärtlichkeiten nicht wie früher und war meist nicht zu Hause, wenn sie nach der Arbeit freihatte. Gab Geld aus, das er nicht hatte. Telefonierte, wenn er glaubte, sie schliefe.

Währenddessen warb Kristian immer massiver um sie. Bei Nautilus, auf dem Heimweg von der Arbeit oder zu Hause bei Bjarne, wo er oft freie Bahn hatte, weil die anderen Bjarne mit irgendwelchen Handlangerjobs auf Trab hielten.

Und Kimmie verhöhnte ihn. Verhöhnte Kristian Wolf für seine Abhängigkeit und seinen mangelnden Realitätssinn.

Sie merkte schnell, wie die Wut in ihm wuchs. Wie der Stahl in seinem Blick härter wurde und sie durchbohrte.

Aber Kimmie fürchtete ihn nicht. Was sollte er denn mit ihr machen, was nicht schon so oft gemacht worden war?


Es geschah schließlich an jenem Tag im März, als der Komet Hyakutake so klar und deutlich am Sternenhimmel über Dänemark zu sehen war. Bjarne hatte von Torsten ein Teleskop bekommen und Ditlev hatte ihm sein Segelboot zur Verfügung gestellt. Der Plan war, dass Bjarne mit ausreichend Bier und dem Gefühl von Größe auf dem See sitzen sollte, während Kristian, Ditlev, Torsten und Ulrik in die Wohnung eindrangen.

Wie sie sich den Schlüssel beschafft hatten, fand Kimmie nie heraus. Aber plötzlich standen sie da - mit verengten Pupillen und vom Koks gereizten Nasenlöchern. Sie sagten nichts, sondern gingen ihr sofort an die Wäsche. Sie drückten sie an die Wand und rissen ihr die Klamotten vom Leib, bis sie hinreichend zugänglich war.

Aber sie schafften es nicht, ihr auch nur einen einzigen Ton zu entlocken. Kimmie wusste, dass sie das nur noch wilder machen würde. Das hatte sie schließlich oft genug gesehen, wenn sie alle auf jemanden eingedroschen hatten.

Die Männer aus der Clique hassten weinerliches Getue. Genau wie Kimmie es hasste.

Sie knallten sie auf den Couchtisch, ohne sich erst die Mühe zu machen, ihn abzuräumen. Die Vergewaltigung begann damit, dass sich Ulrik rittlings auf ihren Bauch setzte, mit seinen großen Pranken ihre Knie packte und ihre Beine spreizte. Erst hämmerte sie mit ihren Fäusten auf seinen Rücken, aber sein Rausch und seine Fettschicht nahmen ihren Schlägen die Wirkung. Und was nützte es auch? Sie wusste ja, dass Ulrik das liebte. Prügel, Demütigung, Zwang. Alles, was dazu angetan war, die gängige Moral herauszufordern. Für Ulrik war nichts tabu. Kein Fetisch, den er nicht probiert hatte. Nicht einer. Und trotzdem konnte er ihn nicht wie alle anderen zum Stehen bringen.

Kristian stellte sich zwischen ihre Beine und paukte seinen Willen durch bis zum Gehtnichtmehr, bis ihm die Selbstzufriedenheit aus allen Poren leuchtete. Ditlev war Nummer zwei und blitzschnell fertig, wie immer, mit diesem merkwürdigen krampfartigen Zittern. Dann kam Torsten.

Und gerade als dieser hagere Typ in ihr zugange war, stand Bjarne plötzlich in der Tür. Sie sah ihm direkt ins Gesicht. Aber in dem Moment war er sich seiner Unterlegenheit bewusst und der Zusammenhalt der Männer brach ihm das Rückgrat, sodass auch er in ihren Bann geriet.

Kimmie schrie, er solle gehen, aber Bjarne ging nicht.

Und nachdem sich Torsten herausgezogen hatte, verwandelte sich der keuchende Atem der Männer in triumphierendes Gegröle, als Bjarne mitmachte.

Kimmie starrte in sein verschlossenes, blaurotes Gesicht. Zum ersten Mal sah sie ganz klar, welche Richtung ihr Leben genommen hatte.

Da resignierte sie. Sie schloss die Augen und glitt davon.

Das Lachen der Gruppe, als Ulrik einen weiteren Versuch startete und aufgeben musste, war das Letzte, was sie hörte. Dann war sie in die schützenden Nebel des Unbewussten abgetaucht.

Als Gruppe sah Kimmie sie damals zum letzten Mal.


»Mein Schätzlein, nun zeigt Mama dir, was sie für dich hat.«

Sie wickelte das Menschlein aus dem Stoff und betrachtete es mit größter Zärtlichkeit. Ein solches Werk Gottes. Diese Fingerchen und die kleinen Zehen, diese winzigen Nägel.

Dann wickelte sie ein Paket aus und hielt den Inhalt über dem eingetrockneten kleinen Körper in die Höhe.

»Schau mal, Mille, hast du so was schon mal gesehen? Ist das nicht genau das, was man an einem solchen Tag braucht?«

Mit einem Finger berührte sie die kleine Hand. »Findest du, dass Mama sehr warm ist?«, fragte sie. »Ja, Mama ist ganz warm.« Sie lachte. »Das ist Mama ja immer, wenn sie angespannt ist. Das weißt du ja.«

Sie sah aus dem Fenster. Es war Ende September. Wie damals vor zwölf Jahren, als sie bei Bjarne eingezogen war. Nur dass es damals nicht geregnet hatte.

Soweit sie sich erinnerte.


Nachdem sie Kimmie vergewaltigt hatten, ließen sie sie auf dem Couchtisch liegen, streckten sich im Halbkreis auf dem Fußboden aus und zogen sich Lines rein, bis sie vollständig dicht waren. Als Kristian ihr ein paar Mal fest auf die nackten Schenkel haute, schrien sie vor Lachen.

»Nun komm schon, Kimmie«, rief Bjarne. »Sei nicht so prüde. Das sind doch nur wir.«

»Es ist aus«, knurrte sie. »Das war's.«

Kimmie sah, dass sie ihr nicht glaubten. Dass sie meinten, sie wäre zu abhängig von ihnen und würde nach einer Weile schon wieder angekrochen kommen. Aber das würde sie nicht. In der Schweiz war sie auch ohne sie zurechtgekommen.

Es dauerte, bis sie aufstehen konnte. Der Damm brannte, die Hüftgelenke waren verrenkt, der Hinterkopf schmerzte. Und die Demütigung lastete auf ihr.

Dieses Gefühl wurde überreichlich aufgefrischt, als Kassandra sie im Haus in Ordrup voller Hohn empfing: »Bringst du denn auf dieser Welt überhaupt irgendetwas zustande, Kimmie?«

Am nächsten Tag musste Kimmie feststellen, dass Torsten Florin ihren Arbeitsplatz gekauft hatte, Nautilus Trading A/S, und sie nun ohne Job dastand. Einer der Angestellten übergab ihr einen Scheck. Von dem hatte sie bisher geglaubt, er sei ein Freund. Er teilte ihr auch mit, dass sie leider die Firma auf der Stelle verlassen müsse. Torsten Florin habe den Personalwechsel veranlasst, sagte er. Wenn sie sich also bei jemandem beschweren wolle, müsse sie sich direkt an ihn wenden.

Sie ging zur Bank, um den Scheck einzulösen. Dort erfuhr sie, dass Bjarne ihr Konto leer geräumt und dann aufgelöst hatte.

Sie sollte unter keinen Umständen ihren Fangarmen entkommen. Das war der Plan.

In den folgenden Monaten lebte sie im Haus in Ordrup oben in ihrem Zimmer. Holte sich nachts unten in der Küche etwas zu essen und schlief am Tag. Lag da, mit angezogenen Beinen, und drückte ihren kleinen Teddy. Oft stand Kassandra vor der Tür und zeterte. Aber Kimmie war taub für die Welt.

Denn Kimmie schuldete niemandem etwas. Kimmie war schwanger.


»Ich habe mich so doll gefreut, als ich entdeckte, dass ich dich haben sollte«, sagte sie und lächelte die Kleine an. »Ich wusste sofort, dass du ein Mädchen wirst und wie du heißen solltest. Mille. Das war dein Name von Anfang an. Ist das nicht komisch?«

Sie schäkerte ein wenig mit ihr und hüllte sie dann wieder in das Tuch. Sie lag da wie ein winziges Jesuskind in dem weißen Stoff.

»Ich hatte mich so doll auf dich gefreut. Wir hätten im Haus gewohnt und ein ganz normales Leben gehabt. Gleich nach deiner Geburt wollte Mama sich eine Arbeit suchen. Und sobald Mama dich aus der Kinderkrippe abgeholt hätte, wären wir die ganze Zeit zusammen gewesen.«

Sie holte ihre Tasche, stellte sie aufs Bett und drückte eins der Hotelkopfkissen tief hinein. Warm und geborgen sah das aus.

»Ja, du und ich, wir hätten ganz allein im Haus gewohnt. Kassandra hätte verschwinden müssen.«


Kristian Wolf begann sie anzurufen. Das war in den Wochen vor seiner Hochzeit. Der Gedanke, bald gebunden zu sein, machte ihn wahnsinnig, genauso wie ihre Zurückweisung.

Der Sommer war zwar grau, aber voller Freude, und Kimmie bekam langsam ihr Leben unter Kontrolle. All das Fürchterliche, das sie getan hatten, ließ Kimmie hinter sich zurück. Jetzt war sie für ein neues Leben verantwortlich.

Die Vergangenheit war tot.

Erst als eines Tages Ditlev Pram und Torsten Florin bei Kassandra im Wohnzimmer standen und auf sie warteten, wurde ihr bewusst, wie unmöglich das war. Als sie ihre forschenden Blicke sah, erinnerte sie sich daran, wie gefährlich sie werden konnten.

»Du hast Besuch von deinen alten Freunden«, zwitscherte Kassandra in ihrem fast durchsichtigen Sommerkleid. Sie protestierte, als sie aus ihrer Domäne geführt wurde, My Room. Aber worüber nun geredet werden sollte, war nicht für ihre Ohren bestimmt.

»Keine Ahnung, warum ihr hier seid. Aber ich will, dass ihr wieder geht«, sagte Kimmie. Dabei wusste sie genau, worum es bei dieser Begegnung ging. Ihre Worte leiteten nur die Verhandlung ein, bei der sich entscheiden würde, wer die Arena am Ende aufrecht verlassen und wer im Staub liegen würde.

»Kimmie, du hängst viel zu tief mit drin«, sagte Torsten. »Wir können nicht zulassen, dass du dich zurückziehst. Wer weiß, auf was für Ideen du noch kommst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Was wollt ihr damit sagen? Dass ich mich mit Selbstmordgedanken trage und hässliche Briefe hinterlasse?«

Ditlev nickte. »Zum Beispiel. Wir könnten uns auch andere Sachen vorstellen, die du tun könntest.«

»Wie was?«

»Ist das nicht egal?«, entgegnete Torsten und trat näher auf sie zu.

Falls die sie wieder packen wollten, würde sie sich eine der chinesischen Vasen greifen, die in den Ecken standen und ordentlich schwer waren.

»Wir wollen nur wissen, ob wir uns auf dich verlassen können, wenn du mit uns zusammen bist. Komm schon, dir fehlt es doch auch. Gib's doch zu, Kimmie«, fuhr er fort.

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Vielleicht wirst du Vater, Torsten. Oder vielleicht du, Ditlev.« Sie hatte das nicht sagen wollen, aber ihre erstarrenden Mienen waren es wert. »Warum sollte ich mit euch gehen?« Sie legte eine Hand auf den Bauch. »Glaubt ihr vielleicht, das sei gut fürs Kind? Wohl kaum.«

Als die beiden Männer sich anschauten, wusste sie genau, was die dachten. Beide hatten Kinder und beide hatten Scheidungen und Skandale hinter sich. Ein Skandal mehr oder weniger machte ihnen nichts aus. Womit die beiden sich schwertaten, war allein Kimmies Rebellion.

»Das Kind musst du wegmachen«, sagte Ditlev unerwartet hart.

Das musst du wegmachen. Nach diesen vier Worten wusste sie, dass das Kind in Lebensgefahr war.

Sie hob eine Hand, wie um Distanz zu schaffen.

»Kümmert euch um euch selbst und lasst mich in Ruhe, klar? Endgültig in Ruhe.«

Zufrieden sah sie, wie die zwei, von Kimmies Sinneswandel überrascht, die Augen zusammenkniffen.

»Und wenn ihr das nicht tut... Es gibt da einen kleinen Kasten, müsst ihr wissen, der euer Leben zerstören kann. Dieser Kasten ist meine Lebensversicherung. Ihr könnt sicher sein, dass sein Inhalt ans Licht kommt, wenn mir etwas zustößt.« Das stimmte nicht, sie hatte nichts Derartiges arrangiert. Sie hatte wohl einen Kasten versteckt. Aber sie hatte nie daran gedacht, ihn jemandem zu zeigen. Darin lagen einfach nur ihre Trophäen. Jeweils ein kleiner Gegenstand, der für jedes Leben stand, das sie ausgelöscht hatten. Wie der Skalp bei den Indianern. Die Stierohren bei den Toreros. Die herausgerissenen Herzen der Inka-Opfer.

»Was für ein Kasten?«, fragte Torsten, und die Falten in seinem Fuchsgesicht vertieften sich.

»Ich habe von jedem Tatort etwas mitgenommen. Alles, was wir getan haben, wird mit dem Inhalt dieses Kastens ans Licht kommen. Und wenn ihr mich oder mein Kind anrührt, dann sterbt ihr hinter Gittern, das verspreche ich euch.«

Ditlev biss ganz offenkundig an. Torsten hingegen wirkte skeptisch.

»Nenn ein Beispiel.«

»Der eine Ohrring von der Frau auf Langeland. Kåre Brunos Gummiarmband aus dem Schwimmbad. Wisst ihr noch, wie Kristian ihn packte und über den Rand stieß? Dann erinnert ihr euch vielleicht auch daran, wie er anschließend mit dem Armband in der Hand vor Bellahøj stand und grinste. Ich glaube, dem wird das Grinsen vergehen, wenn er hört, dass dieses Gummiarmband zusammen mit zwei Trivial-Pursuit-Karten aus Rørvig in meinem Kasten liegt. Glaubt ihr nicht auch?«

Torsten Florin sah in eine andere Richtung. Als wollte er sich versichern, dass auf der anderen Seite der Tür niemand lauschte.

»Ja, Kimmie, das glaube ich auch«, sagte er.


Kristian kam in einer Nacht zu Kimmie, als Kassandra schwer betrunken und längst außer Gefecht war.

Er stand an ihrem Bett und beugte sich über sie. Er sprach so langsam und betont, dass sich jedes seiner Worte tief in ihr Gedächtnis einätzte.

»Sag mir, wo der Kasten ist, Kimmie. Sonst bringe ich dich auf der Stelle um.«

Er schlug so brutal und so lange zu, bis er kaum noch die Arme heben konnte. Prügelte auf ihren Unterleib ein, ihr Zwerchfell, ihren Brustkorb, bis die Knöchel knackten. Aber sie verriet nicht, wo der Kasten war.

Schließlich ging er. Er hatte seine Aggressionen vollständig entladen und war sich hundertprozentig sicher, dass sein Unternehmen beendet und der Kasten mit den Beweisstücken reine Erfindung war.

Als Kimmie aus der Bewusstlosigkeit erwachte, rief sie selbst den Krankenwagen.


33


Sie wachte mit leerem Magen auf, aber ohne Appetit. Es war Sonntagnachmittag, und sie befand sich immer noch im Hotel. Eine Stunde lang hatten Träume ihr verheißen, dass nun endlich alles in einer höheren Einheit aufgehen würde. Wozu brauchte sie da also noch Nahrung?

Sie wendete sich der Tasche mit dem Bündel zu, die auf dem Bett neben ihr stand.

»Heute bekommst du ein Geschenk von mir, kleine Mille. Du sollst das Beste haben, was ich in meinem ganzen Leben besessen habe, du sollst meinen kleinen Teddy bekommen«, sagte sie. »Mama hat so oft daran gedacht, und heute ist es so weit. Freust du dich?«

Sie spürte, wie die Stimmen im Hintergrund auf eine Schwäche von ihr lauerten. Aber da legte sie die Hand auf das Bündel in der Tasche und ließ den liebevollen Gefühlen in ihr freien Lauf.

»Ja, mein Schatz, jetzt bin ich ruhig. Ganz ruhig. Heute kann uns nichts und niemand etwas anhaben.«


Man hatte sie mit heftigen Blutungen in die Klinik Bispebjerg eingeliefert. Das Krankenhauspersonal befragte sie immer wieder, was ihr Schreckliches passiert sei. Einer der Oberärzte schlug sogar vor, die Polizei einzuschalten. Aber das redete sie ihm aus. Die Prellungen und blauen Flecke auf ihrem Körper seien das Ergebnis eines Sturzes. Sie sei eine lange, steile Treppe hinuntergefallen, beruhigte sie die Schwestern und Ärzte. Sie leide schon länger an gelegentlichen Schwindelanfällen. Auf der obersten Treppenstufe habe sie das Gleichgewicht verloren. Nein, niemand trachte ihr nach dem Leben, das garantiere sie ihnen. Sie lebe mit ihrer Stiefmutter allein im Haus. Das sei nur Pech gewesen, leider mit schrecklichen Folgen.

Am nächsten Tag hatten ihr die Krankenschwestern versichern können, das Kind würde es schaffen, und sie glaubte ihnen. Erst als die Schwestern ihr Grüße von ihren alten Freunden aus dem Internat überbrachten, wusste sie, dass sie auf der Hut sein musste.

Am vierten Tag kam Bjarne zu ihr. Sie lag in einem Einzelzimmer. Natürlich war das kein Zufall, dass sie ausgerechnet ihn zu ihrem Laufburschen auserkoren hatten. Bjarne war nicht prominent wie die anderen, das war das eine. Und außerdem war er am ehesten in der Lage, ein Gespräch jenseits von leeren Worthülsen und geschmeidigen Lügen zu führen.

»Kimmie, du hast Beweise gegen uns, hast du gesagt. Stimmt das?«

Sie antwortete nicht. Starrte nur aus dem Fenster auf die pompösen, altgedienten Gebäude.

»Kristian entschuldigt sich für das, was er mit dir gemacht hat. Er fragt, ob du in eine Privatklinik überführt werden möchtest. Dem Kind geht es doch gut, oder?«

Sie sah ihn so lange verachtend an, bis er die Augen niederschlug. Er wusste genau, dass er kein Recht hatte zu fragen, wonach auch immer.

»Sag Kristian, das ist das letzte Mal gewesen, dass er mich angefasst hat. Klar?«

»Kimmie, du kennst Kristian. Den wird man so nicht los. Er sagt, du hast ja nicht mal einen Anwalt. Du hast keinen Anwalt, dem du was auch immer über uns anvertraut haben könntest, Kimmie. Er sagt auch, er habe seine Meinung geändert. Er glaube nun, dass es diesen Kasten mit den Sachen tatsächlich gibt, wie du behauptet hast. Das sehe dir ähnlich. Er lachte sogar, als er mir das sagte.« Bjarne versuchte Kristians grunzendes Lachen nachzumachen, doch das ging völlig daneben. Und an Kimmie prallte er sowieso ab, denn sie wusste, dass Kristian nie über etwas gelacht hätte, was ihn bedrohen könnte.

»Und wenn du keinen Anwalt hast, wer ist denn dann dein Verbündeter, fragt Kristian. Du hast keine Freunde, Kimmie. Außer uns hast du niemanden, das wissen wir doch alle.« Er berührte ihren Arm, aber sie zog ihn blitzschnell zurück. »Ich finde, du solltest einfach sagen, wo der Kasten ist. Ist der bei euch im Haus, Kimmie?«

»Glaubst du, ich hätte sie nicht alle?«, brauste sie auf.

Ganz offenkundig biss er an.

»Sag Kristian, solange er die Finger von mir lässt, könnt ihr von mir aus so weitermachen wie bisher. Ich bin schwanger, Bjarne. Ist das noch nicht bis zu euch vorgedrungen? Wenn die Sachen aus dem Kasten ans Licht kommen, dann bin ich auch mit dran. Und was ist dann mit meinem Kind? Der Kasten ist für mich lediglich eine Sicherheit, die letzte Karte, die ich ausspielen kann, wenn ihr mich dazu zwingt.«

Das war nun ausgerechnet das Letzte, was sie hätte sagen dürfen.

Karte ausspielen. Wenn Kristian sich durch etwas bedroht fühlen konnte, dann durch diese zwei Worte.

Nach Bjarnes Besuch schlief sie nachts nicht mehr. Sie lag da im Dunkeln und wachte, eine Hand auf dem Bauch und die andere an der Klingelschnur.


In der Nacht zum zweiten August kam Kristian in einem weißen Kittel.

Nur für wenige Sekunden war sie eingeschlummert. Da spürte sie seine Hand auf dem Mund und den harten Druck seines Knies auf dem Brustkorb. Ohne Umschweife sagte er: »Wer weiß, wohin du verschwindest, wenn du hier entlassen wirst, Kimmie. Wir beobachten dich, aber man weiß ja nie. Sag, wo der Kasten ist, dann lass ich dich in Ruhe.«

Sie antwortete nicht.

Da schlug er mit aller Kraft auf ihren Unterleib. Und als sie immer noch nichts sagte, schlug er weiter, so lange, bis die Wehen einsetzten, die Beine zuckten und das Bett wankte.

Er hätte sie totgeschlagen. Wenn nicht der Stuhl neben dem Bett mit infernalischem Getöse umgefallen wäre. Wenn nicht die Lichter eines Krankenwagens vor dem Haus den Raum erhellt und Kristian in all seiner grausamen Erbärmlichkeit entblößt hätten. Wenn sie nicht den Kopf in den Nacken gelegt und unter Schock das Bewusstsein verloren hätte.

Wenn er nicht vollständig überzeugt gewesen wäre, dass sie bereits im Sterben lag.

Sie checkte nicht aus. Ließ den Koffer im Hotelzimmer stehen und nahm nur die Tasche mit dem Bündelchen und ein paar andere Sachen und ging zum Hauptbahnhof. Es war Nachmittag, fast zwei Uhr. Jetzt würde sie ihr Versprechen einlösen und für Mille den kleinen Teddy holen. Und außerdem wollte sie ein Vorhaben zu Ende bringen.

Es war ein klarer Herbsttag, die S-Bahn gerammelt voll mit Familien. Vielleicht waren Eltern und Kinder im Museum gewesen und fuhren nun nach Hause. Vielleicht wollten Großeltern und Enkel für ein paar Stunden in den Tiergarten. Vielleicht hatten die Kleinen auf dem Heimweg rote Backen und lebhafte Eindrücke von buntem Laub und Damwildrudeln.

Aber da oben im Himmel würde es noch viel schöner sein, wenn Mille und sie erst einmal vereint wären. Da könnten sie sich die ganze Zeit ansehen und zusammen lachen. Bis in alle Ewigkeit.

Sie nickte. Der Blick aus dem Fenster ging über die Svanemøllen-Kaserne weiter in Richtung der Klinik Bispebjerg.

Vor elf Jahren hatte sie sich aus ihrem Krankenhausbett erhoben und das kleine Kind genommen, das unter dem Tuch auf dem Stahltisch am Fußende des Betts lag. Sie hatten sie nur für einen kurzen Augenblick allein gelassen, weil sich bei einer anderen Frau während der Entbindung Komplikationen ergeben hatten.

Sie hatte sich angezogen und ihr Kind in das Tuch gehüllt. Und eine Stunde später, nachdem ihr Vater sie im Hotel D'Angleterre gedemütigt hatte, hatte sie in dem gleichen Zug nach Ordrup gesessen wie jetzt.

Sie wusste damals genau, dass sie nicht in dem Haus bleiben konnte, denn die anderen würden sie dort als Erstes suchen, und noch einmal würde sie nicht mit dem Leben davonkommen.

Aber sie wusste auch, dass sie unbedingt Hilfe brauchte. Sie blutete noch immer und die Schmerzen im Unterleib waren so unerträglich, dass sie fast unwirklich schienen.

Deshalb wollte sie Kassandra um Geld bitten.

Doch an jenem Tag bekam sie wieder zu spüren, wozu Menschen, deren Name mit K beginnt, fähig sind.

Lächerliche zweitausend Kronen steckte Kassandra ihr in die Hand. Bebend vor Zorn natürlich. Zweitausend von ihr und zehntausend von ihrem Vater, das war alles, was Kassandra und Willy K. Lassen für sie erübrigen konnten. Ein Witz. Das reichte natürlich hinten und vorne nicht.

Danach wurde sie aufgefordert, das Haus zu verlassen, und stand nun in diesem Villenviertel buchstäblich auf der Straße. Mit dem Bündel unter dem Arm und der blutdurchtränkten Binde zwischen den Beinen wusste Kimmie nur eines: dass eines Tages alle, die sie missbraucht und gedemütigt hatten, dafür büßen würden.


Jetzt stand sie zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder vor diesem Haus im Kirkevej. Alles war wie immer: die Kirchenglocken, die die Spießbürger zum Sonntagsgottesdienst riefen, die Häuser, die so unverschämt emporragten, und die Schwelle zu ihrem eigenen Haus, die so unüberwindbar schien.

Als Kassandra die Tür öffnete, erkannte Kimmie nicht nur deren mühsam konserviertes Gesicht sofort. Auch die Pose, die Kimmies Anwesenheit in ihr hervorrief, war unverändert.

Wann die Feindschaft zwischen ihnen beiden entstanden war, wusste Kimmie nicht. Vermutlich bereits damals, als Kassandras Kindererziehung darin bestand, Kimmie in dunkle Schränke einzusperren und mit harten Worten abzukanzeln, die das kleine Mädchen nur zur Hälfte verstand. Dass Kassandra in der Gefühlskälte des Hauses selbst Schaden erlitt, stand auf einem anderen Blatt. Das rief in gewissem Maß Verständnis hervor, war aber keine Entschuldigung. Kassandra war ein Aas.

»Du kommst hier nicht rein, du nicht!«, fauchte sie jetzt und wollte ihr die Tür vor der Nase zuknallen. Genau wie an dem Tag nach der Fehlgeburt.

Damals wurde sie zur Hölle gejagt, und was sie erwartete, war tatsächlich die Hölle. Trotz ihres elenden Zustands, für den Kristians Schläge und die Fehlgeburt gleichermaßen verantwortlich waren, hatte sie tagelang auf der Straße herumirren müssen, ohne dass jemand Anstalten machte, sich ihr zu nähern, geschweige denn ihr zu helfen.

Die Menschen sahen nur ihre aufgesprungenen Lippen und das strähnige Haar. Sie wichen vor ihren Händen und Armen zurück, die braun waren von verschorftem Blut und ein abstoßendes Bündel umklammerten. Sie sahen nicht den fiebernden Menschen in Not. Sie sahen nicht den Menschen, der da gerade zugrunde ging.

Und sie selbst hatte gedacht, das sei ihre Strafe, ihr persönliches Fegefeuer, die Sühne für ihre Untaten.

Eine Fixerin in Vesterbro rettete sie schließlich. Einzig und allein Tine scherte sich nicht um den Gestank, der von dem Bündel ausging, und um die getrocknete Spucke in Kimmies Mundwinkeln. Sie hatte weit Schlimmeres gesehen und brachte Kimmie in ein Zimmer in einer Nebenstraße in Sydhavn. Dort hauste ein anderer Junkie, der einmal Arzt gewesen war.

Seine Tabletten bekamen die Entzündung in den Griff und die Ausschabung, die er vornahm, stoppte die Blutungen - allerdings für immer.

In der darauffolgenden Woche, etwa zu der Zeit, als das Bündelchen nicht mehr ganz so stank, war Kimmie bereit für ein neues Leben, ein Leben auf der Straße.

Alles andere war fortan Geschichte.


Es war, wie in einem Albtraum zu erstarren. In den Zimmern hing Kassandras schweres Parfüm und von den Wänden grinsten Kimmie die Gespenster der Vergangenheit an - nichts hatte sich geändert.

Kassandra führte eine Zigarette zum Mund. Die Farbe ihres Lippenstifts war längst an den zig vorangegangenen Zigaretten kleben geblieben. Ihre Hand zitterte leicht, aber ihr Blick folgte Kimmie aufmerksam durch den Rauch hindurch, als sie die Tasche auf dem Boden absetzte. Kassandra fühlte sich eindeutig unwohl. Jeden Moment konnten ihre Augen zu flackern beginnen. Einen solchen Auftritt hatte sie nicht erwartet.

»Was willst du hier?«, fragte sie mit denselben Worten wie damals vor elf Jahren.

»Würdest du gern hier im Haus wohnen bleiben, Kassandra?«, drehte Kimmie den Spieß um.

Ihre Stiefmutter legte den Kopf in den Nacken. Saß einen Moment ganz still und dachte nach. Der Rauch waberte um ihr ergrauendes Haar.

»Bist du deshalb gekommen? Bist du hier, um mich rauszuschmeißen?«

Wie sie kämpfte, um die Ruhe zu bewahren! Herrlich! Dieser Mensch, der die Möglichkeit gehabt hatte, ein kleines Mädchen an der Hand zu nehmen und es aus dem Schatten einer kalten Mutter hervorzuholen. Diese jämmerliche, egozentrische Frau, die Kimmies Gefühle und ihr Vertrauen missbraucht und sie jeden Tag aufs Neue so schmählich im Stich gelassen hatte. Diese Frau, die mit ihrem Selbsthass Kimmies Leben geformt und sie letztlich dorthin gebracht hatte, wo sie heute stand. Misstrauen, Hass, Gefühlskälte und Mangel an Mitgefühl.

»Ich habe zwei Fragen, Kassandra, und wenn du schlau bist, beantwortest du sie ganz kurz.«

»Und dann gehst du wieder?« Aus einer Karaffe, die sie vermutlich zu leeren versucht hatte, ehe Kimmie kam, schenkte sie sich ein Glas Portwein ein. Mit bemüht kontrollierten Bewegungen führte sie das Glas zum Mund und trank einen Schluck.

»Ich verspreche nichts«, antwortete Kimmie. »Was willst du wissen?« Kassandra inhalierte den Rauch ihrer Zigarette so tief, dass sie nichts davon wieder ausatmete.

»Wo ist meine Mutter?«

»Ach Gott, ist das die Frage?« Mit leicht geöffnetem Mund legte sie den Kopf zurück. Dann wandte sie sich jäh zu Kimmie um. »Aber Kimmie, die ist tot. Seit dreißig Jahren! Die Ärmste. Haben wir dir das nie erzählt?« Wieder legte sie den Kopf zurück und stieß dabei einen Laut aus, der wohl Erstaunen ausdrücken sollte. Als sie Kimmie ihr Gesicht wieder zuwandte, war es hart, gnadenlos. »Dein Vater gab ihr Geld. Sie trank. Muss ich noch mehr sagen? Unglaublich, dass wir dir das nie erzählt haben. Aber jetzt weißt du es. Bist du nun froh?«

Das Wort »froh« hallte in Kimmie wider. Froh?!

»Und was ist mit Vater? Hast du von ihm gehört? Wo ist er?«

Kassandra hatte ganz genau gewusst, dass diese Frage auftreten würde, und Ekel überkam sie. Allein schon das Wort »Vater«! Wenn jemand Willy K. Lassen hasste, dann sie.

»Ich verstehe beim besten Willen nicht, warum du das wissen willst. Könnte er von dir aus nicht in der Hölle schmoren? Oder willst du dich nur versichern, dass er das wirklich tut? Dann kann ich dir eine Freude machen: Dein Vater leidet derzeit tatsächlich Höllenqualen.«

»Ist er krank?« Vielleicht stimmte es ja tatsächlich, was der Typ von der Polizei Tine erzählt hatte.

»Krank?« Kassandra drückte ihre Zigarette aus und streckte die Arme mit gespreizten Fingern von sich. »Wie gesagt: Der brennt schon in der Hölle, der hat in sämtlichen Knochen Krebs. Ich habe nicht mit ihm gesprochen, aber von anderen weiß ich, dass er entsetzlich leidet.« Sie spitzte die Lippen und atmete so schwer aus, als entließe sie damit den Teufel selbst. »Er stirbt noch vor Weihnachten. Und ich hab damit kein Problem, mir geht's gut damit.«

Sie strich sich übers Kleid und zog dann das Portweinglas auf dem Tisch näher zu sich heran.

Also waren nur noch Kimmie und Mille und Kassandra übrig. Zweimal das verdammte K und der kleine Schutzengel.

Kimmie hob die Tasche vom Fußboden auf und stellte sie auf den Tisch, neben Kassandras Portweinkaraffe.

»Warst du das damals, als ich die Kleine hier erwartete, die Kristian reingelassen hat? Sodass er zu mir hochkommen konnte?«

Kassandra sah zu, wie Kimmie die Tasche halb öffnete.

»Gott im Himmel! Du willst doch nicht etwa sagen, dass du dieses ... dieses ... in der Tasche dort hast.« Doch an Kimmies Gesicht konnte sie ablesen, dass es sich genau so verhielt. »Du bist krank im Kopf, Kimmie. Nimm das weg.«

»Warum hast du Kristian ins Haus gelassen? Warum hast du zugelassen, dass er zu mir kam, Kassandra? Du hast doch gewusst, dass ich schwanger war. Ich hatte doch gesagt, dass ich meine Ruhe haben will.«

»Warum? Du und dein Hurenkind, ihr wart mir so was von egal. Was hast du denn gedacht?«

»Und du hast einfach hier unten gesessen, während er mich verprügelte. Du musst die Schläge doch gehört haben. Du musst doch mitbekommen haben, wie er auf mich eingedroschen hat. Warum hast du nicht die Polizei gerufen?«

»Ich wusste, dass du es verdient hattest, ganz einfach.«

Ich wusste, dass du es verdient hattest. Die Stimmen in Kimmies Kopf wurden laut.

Schläge. Dunkle Zimmer. Hohn. Anschuldigungen. Das alles lärmte in ihrem Kopf. Und jetzt war Schluss damit!

Kimmie sprang auf, packte Kassandras hochgestecktes Haar und zwang ihren Kopf nach hinten. So konnte sie ihrer Stiefmutter den restlichen Portwein in den Hals gießen. Die starrte verwirrt und verblüfft zur Decke, während die Substanz den Weg zu ihrer Luftröhre fand. Dann begann sie zu husten.

Da presste Kimmie Kassandras Mund fest zu und hielt wie ein Schraubstock den Kopf fest. Das Husten nahm zu und das Würgen ebenfalls.

Kassandra griff nach Kimmies Unterarm, um ihn wegzudrücken. Aber vom Leben auf der Straße bakam man starke Sehnen. Jedenfalls weitaus stärkere, als wenn man seine Umgebung herumkommandierte und obendrein eine alte Frau war. Panik trat jetzt in Kassandras Augen. Ihr Magen zog sich zusammen und schickte Magensäure nach oben in das Katastrophengebiet zwischen Luft- und Speiseröhre.

Ein paar heftige vergebliche Versuche, durch die Nase einzuatmen, verstärkten die Panik in dem alten Körper, der sich nun in alle Richtungen wand. Aber Kimmie hielt fest und verschloss dem Sauerstoff jeden Zugang. Kassandra wurde von Krämpfen erfasst, ihr Brustkorb zitterte, ihr Wimmern erstarb.

Und dann war sie still.

Kimmie ließ sie direkt an Ort und Stelle fallen, am Schauplatz ihres letzten Kampfes. Das zerbrochene Portweinglas, der verschobene Couchtisch und die Flüssigkeit, die aus dem Mund der Frau floss, sollten für sich sprechen.

Kassandra Lassen hatte das, was das Leben an Gutem zu bieten hatte, ordentlich genossen, und die Zutaten hatten ebenso ordentlich geholfen, sie umzubringen.

Ein Unglücksfall, würden manche sagen. Vorhersehbar, würden andere ergänzen.


Das waren genau die Worte, mit denen einer von Kristian Wolfs alten Jagdfreunden zitiert wurde, als sie Kristian mit zerschossener Oberschenkelarterie auf seinem Gut auf Lolland fanden. Ein Unglücksfall, ja, aber vorhersehbar. Kristian war immer leichtsinnig gewesen mit seiner Schrotflinte. Früher oder später musste das danebengehen, hatte der Betreffende gesagt. Aber es war kein Unglücksfall.

Kristian hatte Kimmie seit dem Tag, als er sie zum ersten Mal sah, unter seiner Kontrolle. Er hatte sie und die anderen erpresst, bei seinen Spielen mitzumachen. Und er hatte ihren Körper ausgenutzt. Er hatte sie in Beziehungen hineingedrängt und wieder herausgezerrt. Er hatte sie dazu gebracht, Kåre Bruno mit dem Versprechen auf einen Neuanfang nach Bellahøj zu locken. Er hatte sie aufgehetzt, bis sie rief, er, Kristian, solle Kåre über den Rand stoßen. Er hatte sie vergewaltigt und sie erst einmal und dann noch ein zweites Mal verprügelt, sodass sie ihr Kind verlor. Er hatte ihr Leben vielfach verändert - und jedes Mal zum Schlechteren.

Als sie bereits sechs Wochen auf der Straße lebte, sah sie ihn auf der Titelseite einer Illustrierten. Er lächelte, er hatte ein paar phantastische Geschäfte abgeschlossen und jetzt wollte er einige Tage auf seinem Gut auf Lolland abschalten. »Kein Stück Wild auf meinem Grund und Boden kann sich vor meiner Flinte sicher fühlen«, so hatte er sich ausgedrückt.

Kimmie klaute ihren ersten Koffer und bestieg, tadellos gekleidet, den Zug nach Lolland. In Søllested stieg sie aus und ging die letzten fünf Kilometer in der Dämmerung zu Fuß, bis das Gut vor ihr lag.

Die Nacht verbrachte Kimmie im Gebüsch, während Kristian im Haus herumschrie, bis seine junge Frau schließlich nach oben verschwand. Er schlief im Wohnzimmer. Nur wenige Stunden später war er bereit, seine tief sitzenden Aggressionen und Frustrationen an den ausgesetzten Fasanen auszulassen und überhaupt an allem, was ihm vor die Flinte kam.

Die Nacht war eiskalt gewesen, aber Kimmie hatte nicht gefroren. Der Gedanke an Kristians Blut, das bald fließen würde, ließ es ihr geradezu sommerlich warm vorkommen. Belebend und erhebend.

Schon seit der Internatszeit wusste sie, dass Kristian, von innerlicher Unruhe gepeinigt, immer in aller Frühe aufwachte, vor allen anderen. Und ein paar Stunden, ehe eine Jagd normalerweise anfing, drehte er bereits eine Runde. Um das Revier kennenzulernen, damit Treiber und Jäger optimal zusammenarbeiten konnten. Noch mehrere Jahre nach seiner Ermordung konnte sie sich daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte, Kristian Wolf an jenem Morgen endlich zu erblicken. Als er durch das Tor des Gutes trat und zu den Feldern hinüberging. Perfekt eingekleidet und ausgerüstet. So, wie ein Killer nach Meinung der Oberklasse auszusehen hatte. Wie geleckt, geckenhaft und mit glänzenden Schnürstiefeln. Aber was wusste die Oberklasse schon von richtigen Killern?

Mit einigem Abstand folgte sie ihm im Schutz der Hecken und blieb immer wieder erschrocken stehen, wenn kleine Zweige unter ihren Schuhen knackten. Wenn er sie entdeckte, würde er ohne zu zögern schießen. Ein versehentlicher Schuss, würde er später sagen. Eine Fehleinschätzung. Er habe geglaubt, ein Stück Rotwild sei aus dem Unterholz hervorgebrochen.

Aber Kristian hörte sie nicht. Erst in dem Augenblick, als sie sich auf ihn warf und ihm das Messer in die Geschlechtsorgane stieß.

Da fiel er aber auch schon vornüber und wand sich mit weit aufgerissenen Augen auf dem Boden. Ihm war völlig bewusst, dass das Gesicht über ihm das Letzte sein würde, was er zu sehen bekam.

Sie nahm die Schrotflinte an sich und ließ ihn verbluten. Das ging schnell.

Dann rollte sie den Toten herum, wischte das Gewehr mit ihrem Ärmel ab, steckte es ihm in die Hand, den Lauf in Richtung Unterleib gedreht, und drückte ab.

Nach sorgfältiger Rekonstruktion des Vorfalls tippte man auf einen versehentlich gelösten Schuss, der die Oberschenkelarterie zerfetzt hatte. Todesursache: Verbluten. Kein Unglücksfall in dem Jahr erhielt mehr Aufmerksamkeit.

Während sich in Kimmie eine selten gekannte Ruhe breitmachte, waren ihre alten Freunde weniger entspannt. Kimmie war wie vom Erdboden verschluckt, und ihnen war völlig klar, dass es bei Kristians Tod unmöglich mit rechten Dingen zugegangen sein konnte.

Unerklärlich, sagte man von Kristians Tod.

Für Ditlev, Ulrik, Torsten und Bjarne war es das nicht.


Kurz darauf erstattete Bjarne eine freiwillige Selbstanzeige.

Vielleicht wusste er, dass er der Nächste sein würde. Vielleicht hatte er auch mit den anderen eine Absprache getroffen. Egal.

Kimmie verfolgte in der Presse, wie Bjarne die Schuld für die Morde in Rørvig auf sich nahm, und wusste, dass sie jetzt in Frieden mit der Vergangenheit leben konnte.

Sie rief Ditlev Pram an und erklärte ihm, dass sie ihr einen hübschen Batzen Geld zukommen lassen müssten, wenn sie selbst auch in Frieden leben wollten.

Das Prozedere wurde vereinbart und die Männer hielten Wort.

Das war klug von ihnen, denn auf diese Weise blieben ihnen wenigstens noch ein paar Jahre, ehe das Schicksal sie einholte.


Kimmie blickte einen Moment auf Kassandras Leiche und wunderte sich, warum sie keine größere Befriedigung empfand.

Weil du noch nicht fertig bist, sagte eine der Stimmen. Keiner kann auf  halbem Weg zum Paradies schon Freude empfinden, sagte eine andere.

Und die dritte schwieg.

Sie nickte und nahm das Bündel aus der Tasche. Langsam ging sie hinauf in den oberen Stock. Dabei erzählte sie der Kleinen, wie sie auf der Treppe gespielt hatte und das Geländer hinuntergerutscht war, wenn es niemand sah. Und wie sie immer wieder dasselbe Lied gesummt hatte, wenn Vater und Kassandra es nicht hörten.

Kleine Augenblicke aus dem Leben eines Kindes.

»Du kannst hier liegen, mein Schatz, während Mama den Teddy für dich holt«, sagte sie und legte das Bündel vorsichtig auf das Kissen.

Ihr Zimmer war unverändert. Hier hatte sie ein paar Monate lang gelegen und gespürt, wie der Bauch wuchs. Jetzt war sie zum letzten Mal hier.

Sie öffnete die Balkontür und fühlte in der Dämmerung nach dem losen Ziegel. Ja, er befand sich genau an der Stelle, an die sie sich erinnerte. Und er gab erstaunlich leicht nach, das hätte sie nicht gedacht. Wie eine Tür mit frisch geschmierten Scharnieren. Da beschlich sie eine bange Ahnung und ihre Haut wurde kalt. Und aus der Kälte wurden Hitzewellen, als sie die Hand in den Hohlraum steckte und fühlte, dass er leer war.

Fieberhaft suchten ihre Augen die umliegenden Ziegel ab. Aber ihr war vollkommen klar, dass sie nichts finden würde.

Denn es war der richtige Ziegel, der richtige Hohlraum. Und der Kasten war weg.

Alle entsetzlichen Ks aus ihrem Leben bauten sich jetzt vor ihr auf und alle Stimmen in ihr heulten und lachten hysterisch und beschimpften sie. Kyle, Willy K., Kassandra, Kåre, Kristian, Klavs und all die anderen, die ihren Weg gekreuzt hatten. Wer hatte ihn noch gekreuzt und den Kasten entfernt? Waren es die, denen sie die Beweise in den Rachen stecken wollte? Die Überlebenden? Ditlev, Ulrik und Torsten? Hatten die den Kasten tatsächlich gefunden?

Zitternd spürte sie, wie sich die Stimmen zu einer einzigen vereinigten. Wie sie die Adern auf ihrem Handrücken pochen ließen.

Zum ersten Mal seit Jahren waren sich die Stimmen vollkommen einig: Die drei mussten sterben.

Erschöpft legte sie sich aufs Bett neben das Bündelchen, erfüllt von den Demütigungen der Vergangenheit, der Unterwerfung. Die ersten harten Schläge ihres Vaters. Der Alkoholatem ihrer Mutter, der zwischen feuerroten Lippen hindurchdrang. Die spitzen Fingernägel. Das Kneifen. Das Reißen an Kimmies feinen Haaren.

Wenn sie Kimmie schlimm geschlagen hatten, dann hatte die sich anschließend in die Ecke gesetzt und den kleinen Teddy gedrückt. Das gab ihr Trost. So klein der Teddy auch war, er sprach große Worte.

Bleib ruhig, Kimmie. Das sind einfach böse Menschen. Eines Tages verschwinden sie. Irgendwann sind sie plötzlich weg.

Als sie älter wurde, veränderte sich der Ton. Jetzt konnte dem Teddy einfallen, ihr zu sagen, sie solle sich niemals mehr damit abfinden, jemals wieder geschlagen zu werden. Sie solle sich nichts mehr gefallen lassen. Wenn jemand schlug, dann sollte sie das sein.

Und jetzt war der Teddy weg. Das einzige Erinnerungsstück an die einzigen glücklichen Momente ihrer Kindheit.

Sie wendete sich dem Bündel zu, streichelte es zärtlich und sagte, vollkommen erschüttert, weil sie ihr Versprechen nicht halten konnte: »Jetzt bekommst du deinen Teddy nicht, mein kleiner Liebling. Das tut mir so schrecklich leid.«


34


Wie üblich war Ulrik am besten über die neuesten Nachrichten informiert. Allerdings hatte er auch nicht sein Wochenende darauf verwendet, sich im Armbrustschießen zu üben. Darin waren sie sehr verschieden, und das waren sie schon immer gewesen. Wenn es sich machen ließ, nahm Ulrik den bequemeren Weg durchs Leben.

Als das Handy klingelte, hatte Ditlev mit Blick auf den Öresund schon ganze Serien von Bolzenpfeilen auf eine Scheibe geschossen. Anfangs waren etliche Pfeile an der Schießscheibe vorbeigeflogen und wie Steine übers Wasser gehüpft. Aber in den beiden letzten Tagen hatte kaum noch ein Pfeil seine Armbrust verlassen, ohne genau dort zu landen, wo er ihn haben wollte. Heute, am Montag, hatte er sich damit amüsiert, Muster ins Mittelfeld der Scheibe zu schießen, gerade versuchte er sich an einem Kreuz. Ulriks panische Stimme machte dem Spaß ein Ende.

»Kimmie hat Aalbæk umgebracht«, sagte er. »Ich hab's in den Nachrichten gehört. Ich weiß einfach, dass sie das war.«

Im Bruchteil einer Sekunde drang diese Information in ihrer ganzen Tragweite zu Ditlev vor.

Wie ein Vorbote des Todes.

Konzentriert hörte er Ulrik zu, der kurz und ziemlich unzusammenhängend die Umstände von Aalbæks fatalem Sturz schilderte.

Die Polizei hatte nur nebulöse Andeutungen gemacht. Der Interpretation der Medien zufolge war Selbstmord nicht vollkommen auszuschließen. Auf gut Dänisch hieß das, für die Polizei kam auch Mord in Betracht.

Das waren verdammt ernste Neuigkeiten.

»Wir drei müssen jetzt zusammenstehen, das ist dir doch klar?« Ulrik flüsterte, als hätte Kimmie bereits seine Fährte aufgenommen. »Wenn wir jetzt nicht zusammenhalten, knöpft sie sich einen nach dem anderen vor.«

Ditlev betrachtete die Armbrust, die am Lederriemen von seinem Handgelenk baumelte. Ulrik hatte recht. Es wurde ernst.

»Okay«, sagte er. »Bis auf weiteres machen wir das, was wir verabredet haben. Morgen früh treffen wir uns bei Torsten zur Jagd. Anschließend besprechen wir alles. Denk dran, dass sie in mehr als zehn Jahren erst zum zweiten Mal zuschlägt. Nach meinem Gefühl, Ulrik, haben wir noch Zeit.«

Er blickte über den Öresund, ohne wirklich etwas zu sehen. Verdrängen und Schönreden nützten nichts. Es lief alles auf das eine hinaus: entweder Kimmie oder sie.

»Hör mal zu, Ulrik«, fuhr er nach kurzer Pause fort. »Ich rufe Torsten an und sag ihm Bescheid. Häng du dich inzwischen ans Telefon und versuch so viel wie möglich rauszufinden. Ruf zum Beispiel Kimmies Stiefmutter an und informiere sie über die Situation. Bitte die Leute, sich zu melden, wenn sie etwas hören. Egal was.«

»Und, Ulrik«, sagte er nachdrücklich, »bleib, soweit es geht, im Haus, bis wir uns sehen, klar?« Dann legte er auf.

Er hatte das Handy noch nicht in die Tasche gesteckt, da klingelte es wieder.

»Herbert hier.« Die Stimme klang distanziert.