16


Dreimal hatte in der Nacht das Telefon geklingelt. Aber jedes Mal, wenn Carl abgenommen hatte, war die Leitung stumm gewesen.

Beim Frühstück fragte er Jesper und Morten, ob ihnen im Haus etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei. Als Antwort sahen ihn die beiden Morgenmuffel nur schweigend an.

»Habt ihr gestern vielleicht vergessen, die Türen und Fenster zu schließen?«, hakte er nach. Irgendwo sollte doch ein Loch in den schlaftrunkenen Gedankenwindungen der beiden zu finden sein.

Jesper zuckte die Achseln. Wer um diese Zeit des Tages etwas von ihm wollte, musste bei Utopias Lotterie erst das große Los gezogen haben. Morten grunzte immerhin eine Art Antwort.

Anschließend ging Carl einmal rund ums Haus, aber ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf. Das Schloss an der Haustür zeigte keine Kratzer. Die Fenster waren so, wie sie sein sollten. Der Einbruch ging offenbar auf das Konto von Leuten, die etwas von ihrem Fach verstanden.

Nach zehn Minuten hatte er seine Untersuchung abgeschlossen. Er setzte sich in seinen Dienstwagen, der zwischen den grauen Betonhäusern parkte. Es stank nach Benzin.

»Verdammte Scheiße!«, rief er, riss die Tür des Peugeots auf und warf sich seitwärts auf den Parkplatz. Er rollte noch zwei, drei Runden weiter, bis er im Schutz eines Kastenwagens lag. Dort wartete er auf den gewaltigen Knall, der die Fensterscheiben im gesamten Magnolienvej eindrücken würde.

»Was ist passiert?«, hörte er eine ruhige Stimme. Er drehte sich um. Kenn, sein Grillkumpel, trug nur ein dünnes T-Shirt, obwohl es noch morgendlich frisch war. Ihm war offenbar gemütlich warm.

»Bleib stehen, Kenn!«, kommandierte Carl und starrte in Richtung Rønneholt Parkvej. Weit und breit rührte sich nichts - außer Kenns Augenbrauen. Vielleicht drückte beim nächsten Mal jemand auf eine Fernbedienung, wenn er sich dem Fahrzeug näherte. Vielleicht reichte schon der Funken aus, der beim Umdrehen des Zündschlüssels entstand.

»Jemand hat was mit meinem Auto angestellt«, sagte er und löste langsam den Blick von den Dächern und den Hunderten von Fenstern ringsum.

Er überlegte kurz, ob er die Polizeitechniker hinzuziehen sollte, entschied sich aber dagegen. Wer ihn einschüchtern oder aus dem Weg räumen wollte, hinterließ keine so plumpen Spuren wie Fingerabdrücke. Genauso gut konnte er die Gegebenheiten akzeptieren und den Zug nehmen.

Jäger oder Beute? Im Moment lief das auf ein und dasselbe hinaus.


Er hatte den Mantel noch nicht abgelegt, da stand Rose schon mit hochgezogenen Augenbrauen in der Tür zu seinem Büro.

»Die Mechaniker der Fahrbereitschaft sind in Allerød. Sie sagen, deinem Auto fehlt nichts. Nur eine undichte Benzinleitung. Klingt nicht wahnsinnig aufregend.« In Slow Motion verdrehte sie die Augen. Carl ignorierte den Auftritt. Höchste Zeit, dass er sich Respekt verschaffte.

»Du hast mir jede Menge Aufgaben gegeben, Carl. Sollen wir jetzt gleich darüber sprechen? Oder soll ich abwarten, bis sich der Benzindunst aus deiner Dachkammer verflüchtigt hat?«

Er steckte sich eine Zigarette an und setzte sich auf dem Stuhl zurecht. »Leg los«, sagte er und fragte sich, ob die Mechaniker wohl so geistesgegenwärtig sein würden, den Wagen ins Präsidium mitzubringen. Hoffen konnte man ja.

»Zuerst nehmen wir den Unfall draußen in der Badeanstalt von Bellahøj. Dazu gibt's nicht viel zu sagen. Der Typ war neunzehn, er hieß Kåre Bruno. War ein guter Schwimmer, aber nicht nur. Der war in allen möglichen Sportarten gut. Eltern wohnhaft in Istanbul. Aber die Großeltern wohnten in Emdrup, ganz in der Nähe der Badeanstalt. An den freien Wochenenden war er meistens bei ihnen zu Besuch.« Sie blätterte in ihren Papieren. »Der Bericht spricht von einem Unfall, an dem Kåre auch noch selbst schuld war. Unachtsamkeit auf einem Zehnmetersprungbrett ist ziemlich unvernünftig, würde ich mal behaupten.« Sie steckte sich den Kugelschreiber oben in die Haare. Lange würde er dort kaum bleiben.

»Am Vormittag hatte es geregnet. Der Typ ist also höchstwahrscheinlich auf der nassen Unterlage ausgerutscht. Als er sich vor jemandem produzieren wollte, könnte ich mir vorstellen. Es heißt, er sei allein dort gewesen. Niemand hat genau gesehen, was passiert ist. Erst als er unten auf den Kacheln lag, den Kopf um hundertachtzig Grad verdreht.«

Carl sah Rose an. Ihm lag eine Frage auf den Lippen, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Und ja, Kåre ging in dasselbe Internat wie Kirsten-Marie Lassen und die anderen aus der Clique. Er ging in die 3G, die anderen waren noch in der 2G, die waren ein Jahr jünger. Ich hab bisher noch mit niemandem aus dem Internat gesprochen, aber das kann ich eventuell später tun.« So abrupt wie eine Kugel, die gegen eine Betonwand rollt, hörte sie auf zu reden. An diese Art würde er sich wohl noch gewöhnen müssen.

»Okay. Wir sammeln jetzt erst mal alle Details zusammen. Und Kimmie, was ist mit Kimmie?«

»Du findest offenbar wirklich, dass sie wichtig war in der Clique«, konstatierte sie. »Warum das?«

Soll ich bis zehn zählen?, dachte er.

»Wie viele Mädchen gehörten insgesamt zu dieser Internatsclique?«, fragte er dann. »Und wie viele dieser Mädchen sind in der Zwischenzeit verschwunden? Doch nur eins, oder? Und dazu noch ein Mädchen, von dem man sich vorstellen könnte, dass es Lust hat, seinen gegenwärtigen Status zu verändern? Deshalb bin ich an Kimmie interessiert. Falls es sie noch gibt, könnte sie der Schlüssel zu einer Menge Informationen sein. Glaubst du nicht, dass man da etwas hinterher sein sollte?«

»Wer sagt denn, dass sie ihren derzeitigen Status aufgeben will? Viele Obdachlose kriegt man nicht wieder in die warmen Stuben, falls du das glaubst.«

Herrje, was ging ihm dieses Gequatsche auf den Keks! Schon jetzt. Er würde wahnsinnig werden, wenn die öfter so drauf war.

»Ich frag dich noch mal, Rose. Was hast du über Kimmie herausgefunden?«

»Weißt du was, Carl. Bevor wir zu dem Punkt kommen, will ich dir erst mal was sagen. Du musst zusehen, dass du einen Stuhl anschaffst, auf dem Assad und ich sitzen können, während wir hier drinnen Bericht erstatten. Wenn man die ganze Zeit in der Tür rumhängen muss, während du dich in Details ergehst, kriegt man ja Rückenschmerzen.«

Dann häng doch anderswo rum, dachte er und nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette.

»Wie ich dich kenne, hast du doch sicher in irgendeinem Katalog schon den einzig richtigen Stuhl entdeckt.« Mehr sagte er nicht.

Und sie antwortete nicht. Also würde morgen wohl ein Stuhl hier stehen, schätzte er.

»Offizielle Daten von Kirsten-Marie Lassen gibt es kaum. Sozialhilfe hat sie jedenfalls nie bekommen. In der Abschlussklasse flog sie von der Schule. Danach hat sie ihre Ausbildung in der Schweiz beendet, aber darüber hab ich nichts. Die letzte Adresse, die das Einwohnermeldeamt von ihr verzeichnet, ist bei Bjarne Thøgersen in Brønshøj. Wann sie von dort wegzog, weiß ich nicht. Aber ich glaube, das war wohl etwa um die Zeit, als der sich selbst stellte. Also kurz vorher. Irgendwann zwischen Mai und Juli 1996. Und davor, von 1992 bis 1995, war sie bei ihrer Stiefmutter gemeldet, und die wohnt in Ordrup im Kirkevej.«

»Du gibst mir sicher gleich Namen und vollständige Adresse der Dame, nicht wahr?«

Sie schob ihm einen kleinen gelben Zettel hin, noch ehe er den Satz fertig ausgesprochen hatte.

Kassandra hieß die Dame. Kassandra Lassen. Er kannte nur die Kassandrabrücke aus >The Cassandra Crossing<, diesem alten Film mit Burt Lancaster. Aber als Vornamen hatte er Kassandra noch nie gehört.

»Und was ist mit Kimmies Vater? Lebt der noch?«

»Ja, und ob«, antwortete sie. »Willy K. Lassen. Software-Pionier. Wohnt in Monte Carlo mit neuer Frau und wohl auch ziemlich neuen Kindern. Irgendwo auf meinem Tisch liegt das. Geboren irgendwann um 1930, der muss also noch ganz gut im Saft stehen, der alte Sack, oder die neue Frau ist auch nicht ohne.« Sie brachte ein Lachen zustande, das vier Fünftel des Gesichts ausfüllte. Begleitet wurde es von diesem brummenden Geräusch, das Carl früher oder später einmal die Selbstbeherrschung kosten würde. Das war absehbar.

Abrupt hörte sie auf zu lachen. »Soweit ich es sehe, hat Kimmie nie in einer dieser Unterkünfte übernachtet, in denen wir normalerweise nachfragen. Aber sie kann ja auch eine Wohnung oder so gemietet haben, die sie Vater Staat gegenüber nicht angibt, womöglich aus Steuergründen oder so. Meine Schwester überlebt auf diese Weise. Bei ihr wohnen vier auf einmal. Es gehört schließlich einiges dazu, drei Kinder und vier Katzen durchzubringen, wenn der Mann so ein Scheißkerl ist und von zu Hause abhaut, oder?«

»Rose, ich finde, du solltest mir lieber nicht zu viele Details verraten. Immerhin bin ich trotz allem ein Hüter des Gesetzes, falls du das vergessen haben solltest.«

In einer sprechenden Geste streckte sie Carl die geöffneten Hände entgegen. Herr im Himmel, sagte ihr Blick, wenn er denn glaubte, etwas Besseres zu sein, nur zu.

»Aber ich habe Informationen vom Sommer 1996. Da wurde eine Kirsten-Marie Lassen in die Klinik Bispebjerg eingeliefert. Die Krankenakte habe ich nicht. Die wühlen ja schon im Archiv rum, wenn man Informationen von vorgestern haben will. Ich habe hier nur den Zeitpunkt der Einweisung und den Zeitpunkt, zu dem sie verschwand.«

»Sie ist aus dem Krankenhaus verschwunden? Als sie dort behandelt wurde?«

»Darüber weiß ich nichts. Aber jedenfalls gibt es eine Aktennotiz, sie sei gegen den ausdrücklichen Rat der Ärzte gegangen.«

»Wie lange war sie im Krankenhaus?«

»Neun bis zehn Tage.« Rose blätterte in ihrer gelben Zettel-Sammlung. »Hier. 24. Juli bis 2. August 1996.«

»2. August?«

»Ja. Was ist damit?«

»Das ist das Datum, an dem - neun Jahre zuvor - die Rørvig-Morde begangen wurden.«

Sie schob die Lippen vor. Offenbar ärgerte es sie mächtig, dass sie nicht selbst darauf gekommen war.

»Auf welcher Station war sie? Psychiatrie?«

»Nein. Gynäkologie.«

Er trommelte auf die Tischkante. »Okay. Sieh zu, dass du die Krankenakte bekommst. Fahr hin, wenn nötig, und biete deine Hilfe an.«

Sie nickte ultrakurz.

»Und wie steht's mit den Zeitungsarchiven, Rose? Hast du die durchgesehen?«

»Ja, und die haben nichts. Nur die abschließende Gerichtsverhandlung von 1987. Und in Zusammenhang mit der Verhaftung von Bjarne Thøgersen wurde Kimmie nie erwähnt.«

Er holte tief Luft. Erst jetzt wurde es ihm so richtig bewusst. Niemand aus der Internatsclique war jemals öffentlich namentlich erwähnt worden. Vollkommen unbefleckt und in aller Stille waren die einfach immer weiter die gesellschaftliche Leiter hinaufgeklettert. Keiner hatte je Grund gehabt, auch nur eine Augenbraue hochzuziehen. Klar, dass das auch so bleiben sollte.

Aber warum zum Teufel hatten sie versucht, ihn zu erschrecken? Und noch dazu dermaßen plump? Warum hatten sie sich nicht einfach direkt an ihn gewandt und sich erklärt? Jetzt, da sie wussten, dass er den Fall untersuchte? Alles andere schuf doch nur Misstrauen und Widerstand.

»1996 ist sie verschwunden«, wiederholte er. »Gab es denn damals in den Medien keinen Suchappell? Keine Vermisstenanzeige?«

»Nee, und auch keine Fahndung seitens der Polizei. Sie verschwand einfach. Die Familie unternahm nichts.« Carl nickte. Nette Familie.

»In den Medien steht also nichts über Kimmie«, sagte er. »Aber was ist mit Empfängen und so was? Nahm sie nicht an so was teil? Leute mit ihrem Hintergrund tun das doch.«

»Keine Ahnung.«

»Also dann fang bitte an und check das. Frag die Leute bei den Illustrierten, den Klatschblättern. Frag nach beim >Gossip<. Die haben in ihren Archiven doch alles über Gott und die Welt. Irgendeine verdammte Bildunterschrift wird sich da doch wohl auftreiben lassen.«

Ihr Gesichtsausdruck sollte ihm wohl signalisieren, dass sie ihn bald als hoffnungslosen Fall aufgeben würde.

»Ihre Krankenakte zu finden, wird sicher dauern. Womit soll ich also anfangen?«

»Mit der Klinik in Bispebjerg. Aber vergiss diese Klatschblätter nicht. Leute aus ihren Kreisen sind Leckerbissen für die Geier in den Redaktionen. Hast du ihre Personalangaben?«

Sie reichte ihm den Zettel. Da stand nichts Neues. In Uganda geboren. Keine Geschwister. Während der Kindheit alle zwei Jahre ein neuer Wohnort, abwechselnd in England, den USA und Dänemark. Als sie sieben war, ließen sich ihre Eltern scheiden, und erstaunlicherweise erhielt der Vater das Sorgerecht. Im Übrigen war sie am Heiligen Abend geboren.

»Zwei Sachen hast du mich zu fragen vergessen, Carl. Das finde ich peinlich.«

Er blickte auf und sah Rose direkt an. So von unten betrachtet erinnerte sie an eine etwas mollige Ausgabe von Cruella de Ville, kurz bevor sie sich die 101 kleinen Dalmatiner schnappt. Vielleicht war die Idee von so einem Stuhl auf der anderen Seite des Tischs ja doch nicht so schlecht. Dann würde sich wenigstens die Perspektive etwas verschieben.

»Was ist peinlich?«, fragte er, war aber gar nicht scharf auf die Antwort.

»Du hast nicht nach den Tischen gefragt. Den Tischen draußen auf dem Gang. Die sind schon gekommen. Aber sie stehen dort in Pappkartons und müssen zusammengesetzt werden. Ich hätte gern, dass Assad mir hilft.«

»Ich hab nichts dagegen. Wenn er weiß, wie's geht. Aber wie du siehst, ist er nicht hier. Er ist draußen unterwegs und sucht nach der Muse.«

»Aha. Und was ist mit dir?«

Er schüttelte langsam den Kopf. Mit ihr Tische zusammenbauen? Sie hatte sie wohl nicht alle.

»Und was ist das Zweite, wonach ich nicht gefragt habe, wenn ich fragen darf?«

Sie sah aus, als hätte sie keine Lust, ihm zu antworten. »Also, wenn wir die Tische nicht zusammenbauen, kopiere ich auch den Rest von diesem Mistkram nicht, um den du mich gebeten hast. Eine Hand wäscht die andere.«

Carl schluckte. In einer Woche war sie draußen. Am Freitag konnte sie noch für die verdammten Klippfischfresser den Babysitter spielen, dann aber ab die Post.

»Ja, also das Zweite war, dass ich mit denen vom Finanzamt geredet habe. Sie wussten zu berichten, dass Kimmie von 1993-1996 einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist.«

Carl, der gerade die Zigarette zum Mund führen wollte, ließ sie mitten in der Bewegung sinken. »Ist sie? Wo?«

»Zwei Firmen existieren nicht mehr, wohl aber der letzte Arbeitsplatz. Dort hat sie auch am längsten gearbeitet. Das ist ein Zoofachhandel.«

»Ein Zoofachhandel? Hat sie Tiere verkauft?«

»Keine Ahnung. Das musst du die fragen. Die Firma hat immer noch dieselbe Adresse. Ørbækgade 62 auf Amager. Nautilus Trading A/S heißt sie.«

Carl notierte sich die Anschrift. Das musste noch ein bisschen warten.

Mit hochgezogenen Augenbrauen senkte sie den Kopf in seine Richtung. »Und ja, Carl. Das war alles.« Sie nickte ihm zu. »Ach, was ich noch sagen wollte: Danke gleichfalls.«


17


»Marcus, ich möchte gern wissen, wer meine Ermittlungen bremst.«

Der Chef der Mordkommission sah Carl über den Rand seiner Halbbrille hinweg an. Natürlich hatte er keine Lust, darauf zu antworten.

»Im Übrigen sollst du wissen, dass ich in meinem Haus ungebetene Gäste hatte. Schau dir das an.«

Er zeigte ihm das alte Foto von sich in der Paradeuniform und deutete auf die Blutflecken. »Das hängt in meinem Schlafzimmer. Gestern Abend waren die Blutflecken noch ziemlich frisch.«

Marcus Jacobsen lehnte sich etwas zurück und betrachtete das Foto. Was er sah, gefiel ihm nicht.

»Und wie interpretierst du das, Carl?«, fragte er nach einer Denkpause.

»Jemand will mich einschüchtern. Wie sonst sollte ich das interpretieren?«

»Jeder Polizist macht Sich im Laufe der Zeit Feinde. Weshalb bringst du das mit dem Fall in Verbindung, an dem du gerade arbeitest? Was ist denn mit deinen Freunden, mit der Familie? Gibt's unter denen keine Spaßvögel?«

Hübsche Idee. Carl lächelte den Chef mitleidig an. »Ich bin heute Nacht dreimal angerufen worden. Und was glaubst du: War da jemand am anderen Ende der Leitung?«

»Ja, ja, also okay! Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«

»Ich bitte dich, mir zu erzählen, wer meine Nachforschungen bremst. Aber vielleicht ist es dir ja lieber, wenn ich die Polizeipräsidentin selbst anrufe?«

»Sie kommt heute Nachmittag hierher. Dann sehen wir weiter.«

»Kann ich mich darauf verlassen?«

»Wir werden sehen.«

Carl ließ die Tür zum Büro des Chefs etwas fester als gewöhnlich hinter sich zufallen - und hatte Baks bleiche Visage direkt vor der Nase. Die schwarze Lederjacke, die normalerweise an ihm klebte wie eine zweite Haut, hing heute leger über der Schulter. Das gab's also auch.

»Na, Bak? Wie ich höre, verlässt du uns? Hast du geerbt, oder was?«

Bak schien einen Augenblick zu überlegen, ob ihr gemeinsames Arbeitsleben unterm Strich auf ein Minus oder ein Plus hinauslief. Dann drehte er den Kopf ein bisschen und sagte: »Du weißt doch, wie es ist. Entweder ist man ein verdammt guter Polizist oder ein verdammt guter Familienvater.«

Carl erwog, ihm eine Hand auf die Schulter zu legen, begnügte sich dann aber mit einem Händedruck. »Heute ist der letzte Tag! Ich wünsche dir viel Glück und alles Gute mit der Familie. Auch wenn du ein ziemliches Arschloch bist, Bak, wäre es trotzdem nicht schlecht, dich nach deiner Beurlaubung zurückzubekommen, solltest du überhaupt noch einmal Lust verspüren.«

Der müde Kollege sah ihn überrascht an. Oder sogar überwältigt? Børge Baks mikroskopische Gefühlsäußerungen waren nicht auf Anhieb zu deuten.

»Du warst ja noch nie wirklich nett, Carl«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Aber alles in allem bist du schon ganz okay.«

Das war eine geradezu unglaubliche Salve an Komplimenten zwischen den beiden.

Carl drehte sich um und nickte Lis zu. Sie stand hinter der Theke, auf der mindestens ebenso viele Papiere lagen wie derzeit auf dem Fußboden im Keller. Die allerdings warteten nur darauf, auf die Tische zu kommen, die Rose sicherlich schon zusammengebaut hatte.

Bak hatte die Hand bereits auf dem Türgriff zum Büro des Chefs. »Carl«, sagte er, »nicht Marcus bremst dich aus, wenn du das glaubst. Das ist Lars Bjørn.« Er hob einen Zeigefinger. »Und das hast du nicht von mir.«

Carl warf einen Blick zur Tür des Vizekriminalinspektors. Wie immer waren die Jalousien an den Scheiben zum Gang heruntergelassen, aber die Tür stand offen.

»Er ist erst um drei Uhr wieder da. So wie ich es verstanden habe, ist dann ein Treffen mit der Polizeipräsidentin anberaumt«, waren Baks letzte Worte.


Carl fand Rose Knudsen unten im Keller auf dem Fußboden des Flurs kniend. Sie sah aus wie ein ausgewachsener Polarbär, der übers Eis rutscht. Die Beine ragten nach links und rechts weg und mit den Ellbogen stützte sie sich auf ein Stück Pappe. Tischbeine, Metallstreben, diverse Inbusschlüssel und andere Werkzeuge lagen um sie herum verstreut und zehn Zentimeter unterhalb ihrer Nase jede Menge Montageanleitungen. Sie hatte vier höhen verstellbare Tische bestellt. Carl hoffte, dass bei den Anstrengungen auch wahrhaftig vier höhenverstellbare Tische herauskämen.

»Solltest du nicht nach Bispebjerg fahren, Rose?«

Sie rührte sich nicht vom Fleck, deutete nur auf Carls Tür. »Auf deinem Tisch liegt eine Kopie«, sagte sie. Dann war sie wieder in die Montageanleitungen vertieft.

Das Krankenhaus hatte ihr drei Seiten gefaxt, die tatsächlich auf Carls Schreibtisch lagen. Genau die Informationen, die er suchte, abgestempelt und datiert. Kirsten-Marie Lassen. Aufenthalt 24.07.-02.08.1996. Die Hälfte der Wörter war lateinisch, aber ihr Sinn durchaus verständlich.

»Komm mal, Rose!«, rief er.

Vom Fußboden waren eine Reihe von Flüchen und Verwünschungen zu hören, aber sie kam auf die Beine.

»Ja?« Schweißperlen liefen über ihr Gesicht, das ganz im Zeichen ihrer verheerenden Wimperntusche-Spuren stand.

»Die haben die Krankenakte gefunden!«

Sie nickte.

»Hast du sie gelesen?« Wieder nickte sie.

»Kimmie war schwanger und wurde nach einem schlimmen Sturz von der Treppe mit Blutungen eingewiesen«, sagte er. »Sie wurde behandelt und erholte sich anscheinend, verlor aber trotzdem das Kind. Es gab Anzeichen für frische Verletzungen, hast du das auch gelesen?«

»Ja.«

»Aber da steht nichts vom Vater oder von irgendwelchen Angehörigen.«

»Die sagen, mehr als das hätten sie nicht.«

»Hm.« Wieder blickte er auf die Kopien. »Sie war also im vierten Monat, als sie ins Krankenhaus kam. Nach einigen Tagen glaubte man, die Gefahr für eine Fehlgeburt sei vorüber. Aber am neunten Tag hatte sie dennoch einen Abort. Bei der anschließenden Untersuchung fand man Spuren von Schlägen gegen ihren Unterleib. Die erklärte Kimmie damit, dass sie aus dem Krankenhausbett gefallen sei.« Carl tastete nach einer Zigarette. »Das ist ja nun wirklich kaum zu glauben.«

Die Augen zusammengekniffen und eifrig mit einer Hand wedelnd trat Rose zurück. Sie mochte also keinen Rauch. Sehr schön. Dann wusste er ja, wie er sie auf Abstand halten konnte.

»Es wurde keine Anzeige erstattet«, sagte sie. »Aber das wussten wir schon vorher.«

»Da steht nichts drin, ob eine Ausschabung oder etwas in der Art vorgenommen wurde. Aber was heißt das, was hier steht?« Er deutete auf ein paar Zeilen weiter unten. »Plazenta, bedeutet das nicht Mutterkuchen?«

»Ich habe dort angerufen. Das bedeutet, dass beim Abort vermutlich nicht die gesamte Plazenta abging.«

»Wie groß ist der Mutterkuchen im vierten Monat?«

Sie zuckte die Achseln. Offenkundig gehörte das nicht zum Lernstoff auf der Berufsfachschule.

»Und man hat bei ihr keine Ausschabung gemacht?«

»Nein.«

»Meines Wissens kann das aber fatale Konsequenzen haben. Mit Blutungen und Infektionen im Unterleib ist nicht zu spaßen. Außerdem hatten die Schläge oder was auch immer sie verletzt. Und zwar heftig, denke ich mir.«

»Deshalb wollten die sie ja auch nicht gehen lassen.« Rose deutete auf die Tischplatte. »Hast du den Zettel hier gesehen?«

Es handelte sich um so ein kleines selbsthaftendes Dingens. Wie zum Teufel kam sie darauf, dass er auf seinem Schreibtisch so etwas Winziges entdecken würde? Eine Nadel im Heuhaufen war riesig dagegen.

»Ruf Assad an«, stand auf dem Zettel.

»Es ist eine halbe Stunde her, dass er angerufen hat. Er sagte, er habe wahrscheinlich Kimmie gesehen.«

Sofort spürte Carl in seinem Bauch dieses eindeutige Ziehen. »Wo?«

»Im Hauptbahnhof. Du sollst ihn anrufen.«

Er riss den Mantel vom Haken. »Bis dahin sind's nur vierhundert Meter. Bin schon weg.«


Draußen auf der Straße waren die Leute in Hemdsärmeln unterwegs. Die Schatten waren auf einmal lang und scharf, und alle Menschen schienen um die Wette zu lächeln. Es war Ende September und über zwanzig Grad warm, was gab es da eigentlich zu grinsen? Die Menschen sollten den Kopf in den Nacken legen und erschrocken zum Ozonloch hochstarren. Carl zog den Mantel aus und warf ihn sich über die Schulter. Als Nächstes wären dann im Januar Sandalen dran. Ein Hoch auf den Treibhauseffekt.

Als er Assad anrufen wollte, stellte er fest, dass der Akku mal wieder leer war und er nicht einmal an die eingespeicherte Handynummer seines Kollegen herankam. Scheißakku.

Er betrat die Bahnhofshalle und verschaffte sich einen Überblick über das Gewimmel. Sah hoffnungslos aus. Dann drehte er eine rasche Runde durch das Koffermeer. Ohne Ergebnis.

So ein Scheiß, dachte er und ging hinüber zur Polizeiwache des Hauptbahnhofs am Ausgang Reventlowsgade.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Rose anzurufen und sie um Assads Handynummer zu bitten. Er konnte schon ihr brummendes Hohngelächter hören.

Die Polizisten hinter der Theke kannten ihn nicht, deshalb holte er seine Marke vor. »Carl Mørck, hallo. Mein Handy ist tot, kann ich mal euer Telefon benutzen?«

Einer von ihnen, der gerade ein Mädchen tröstete, das seine große Schwester verloren hatte, deutete auf ein abgenutztes Ding hinter der Theke. Wie viele tausend Tage war es her, seit er Streife gegangen war und Kinder getröstet hatte! Irgendwie fand er den Gedanken traurig.

Er tippte gerade die Nummer ein, als er Assad durch die Lamellen der Jalousie entdeckte. Er stand bei der Treppe, die nach unten zu den Toiletten führte. Eine Gruppe exaltierter Gymnasiasten mit Rucksäcken verdeckte ihn fast. Gut sah er nicht aus, wie er dort in seinem schäbigen Mantel um sich spähte.

»Danke«, sagte Carl, legte auf und eilte nach draußen.

Assad stand nur fünf bis sechs Meter entfernt, und Carl wollte ihn gerade rufen, als ein Mann hinter Assad trat und ihn an der Schulter packte. Er war dunkelhäutig, um die dreißig und sah alles andere als freundlich aus. Mit einem Ruck drehte er Carls Partner herum und beschimpfte ihn. Carl verstand die Worte nicht, aber Assads Gesichtsausdruck ließ keine Fragen offen. Freunde waren die beiden nicht.

Einige Mädchen aus der Gymnasiastengruppe sahen ihnen indigniert zu. Pack! Idioten!, drückten ihre hochmütigen Mienen aus.

Da schlug der Typ nach Assad - und Assad schlug zurück, unendlich präzise und lähmend, was den Typen auf der Stelle stoppte. Einen Moment lang taumelte er noch. Die Schüler diskutierten, ob sie eingreifen sollten oder nicht.

Aber Assad schien das nicht zu kümmern. Er packte den Kerl und hielt ihn fest, bis der wieder anfing, herumzubrüllen.

In dem Moment - die Schülergruppe zog sich gerade zurück - entdeckte Assad Carl. Er reagierte prompt. Ein fester Stoß, sodass der Kerl nach ein paar weiteren schwankenden Schritten zum Stehen kam, und eine Handbewegung, die ihm bedeutete, schleunigst zu verschwinden.

Carl sah dem Mann kurz ins Gesicht, ehe der in Richtung Treppe zum Bahnsteig verschwand. Scharf ausrasierte Koteletten und glänzendes Haar. Ein schicker Typ mit einem hasserfüllten Blick. Keiner, dem man ein zweites Mal begegnen mochte.

»Was war das denn?«, frage Carl.

Assad zuckte die Achseln. »Tut mir leid, Carl. Irgend so ein Idiot.«

»Was hast du mit ihm?«

»Vergiss es, Carl. Er ist ein Idiot.«

Assads Augen flackerten, sein Blick war überall gleichzeitig, bei der Polizeiwache, bei den Schülern, bei Carl, überall. Das war ein ganz anderer Assad als der heitere Pfefferminzteekocher unten im Keller. Ein Mann, den man in die Enge getrieben hatte?

»Wenn du so weit bist, erzählst du mir, was da eben los war, okay?«

»Da war nichts. Das ist nur einer, der bei mir in der Nähe wohnt.« Dann lächelte er. Nicht überzeugend, aber fast. »Du hast meine Nachricht bekommen? Du weißt, dass dein Handy tot ist, oder?«

Carl nickte. »Woher weißt du, dass die Frau, die du gesehen hast, Kimmie ist?«

»Da war so eine von den'Drogis, die hat ihren Namen gerufen.«

»Wie sah sie aus?«

»Kimmie? Weiß ich nicht. Sie ist in einem Taxi abgehauen.«

»Ach verdammt, Assad. Du bist ihr doch wohl gefolgt?«

»Ja, klar. Mein Taxi war gleich dahinter, aber als wir zum Gasværksvej kamen, hielt ihr Taxi direkt um die Ecke am Bürgersteig und sie sprang raus. Ich kam nur eine Sekunde später, und sie war schon weg.«

Erfolg und Fiasko, alles gleichzeitig.

»Ihr Taxifahrer sagte, er hätte fünfhundert Kronen bekommen. Sie hat sich einfach ins Taxi geworfen und gerufen: >Ganz schnell zum Gasværksvej! Das Geld ist für dich! Alles!<«

Fünfhundert Kronen für fünfhundert Meter. Wie sollte man da nicht verzweifeln?

»Ich hab nach ihr gesucht, natürlich. Bin in Geschäfte rein, hab mich erkundigt, ob die was gesehen haben. Hab an den Türen geklingelt.«

»Hast du die Nummer des Taxifahrers?«

»Ja.«

»Bring ihn zur Vernehmung rein. Da ist was faul.« Assad nickte. »Ich weiß, wer diese Junkiefrau ist. Ich hab ihre Adresse.«

Er reichte ihm einen Zettel. »Den hab ich vor zehn Minuten drinnen auf der Polizeiwache bekommen. Sie heißt Tine Karlsen. Hat ein möbliertes Zimmer am Gammel Kongevej.«

»Gut, Assad. Aber wie bist du auf der Wache an die Informationen gekommen? Als wen hast du dich ausgegeben?«

»Ich hab ihnen meine ID-Karte vom Präsidium gezeigt.«

»Die gibt dir kein Recht auf diese Informationen, Assad. Du bist Zivilperson.«

»Na, aber ich hab sie trotzdem bekommen. Aber wo du mich so viel losschickst, Carl, wäre es schon gut, wenn ich eine Polizeimarke bekäme.«

»Tut mir leid, Assad. Das geht nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Du hast gesagt, die auf der Wache kennen sie. Ist sie mal verhaftet worden?«

»Ja, andauernd. Die haben die Nase ziemlich voll von ihr. In der Regel drückt sie sich am Haupteingang rum und bettelt.«


Carl blickte an dem gelben Gebäude neben der Theaterpassage hinauf: in den unteren vier Etagen jede Menge zusammenhängende Zimmer, ganz oben in der Mansarde Einzelzimmer. Nicht schwer zu erraten, wo Tine Karlsen hauste.

Ein mürrisch wirkender Mann im blauen Bademantel öffnete die Tür im fünften Stock einen Spaltbreit. »Tine Karlsen, sagen Sie? Da müssen Sie schon selbst nachsehen.« Er brachte Carl zu einem Flur mit vier bis fünf Türen auf der anderen Seite des Treppenhauses und deutete auf eine der Türen. Dabei wühlte er mit einer Hand in seinem grauen Bart. »Wir halten nicht viel von Polizeibesuch hier oben«, sagte er. »Was ist mit ihr?«

Carl kniff die Augen zusammen und bedachte ihn mit einem giftigen Lächeln. Der Kerl sahnte sicher reichlich ab, indem er seine jämmerlichen Zimmer untervermietete. Dann sollte er, verdammt, auch seine Mieter entsprechend behandeln.

»Sie ist eine wichtige Zeugin in einer heiklen Angelegenheit, vornehme Leute. Ich möchte Sie bitten, ihr alle Unterstützung zukommen zu lassen, die sie braucht. Alles klar?«

Der Kerl ließ seinen Bart los. Er sah nicht so aus, als hätte er den leisesten Schimmer, wovon Carl redete. Egal. Hauptsache, es wirkte.

Nachdem Carl ewig lange angeklopft hatte, machte Tine die Tür auf. Was für ein zerstörtes Gesicht!

Im Zimmer schlug ihm diese verbrauchte Luft entgegen, wie sie die Käfige von Haustieren verströmen, wenn sie nicht oft genug sauber gemacht werden. Carl erinnerte sich nur allzu gut an diese Phase im Leben seines Ziehsohns. Die Goldhamster hatten sich Tag und Nacht auf seinem Schreibtisch gepaart, sodass sich ihre Anzahl in null Komma nichts vervielfacht hatte. Und bei dieser Tendenz wäre es geblieben, wenn Jesper nicht das Interesse an den Tieren verloren hätte, die zum Schluss sogar angefangen hatten, sich gegenseitig aufzufressen. Der Gestank war in jenen Monaten fester Bestandteil der häuslichen Atmosphäre gewesen, bis Carl den Rest der Viecher eines Tages der Kindertagesstätte geschenkt hatte.

»Ich sehe, du hast eine Ratte«, sagte er und beugte sich über das Viech.

»Die heißt Lasso und is ganz zahm. Soll ich sie rausnehmen, damit du sie halten kannst?«

Er versuchte zu lächeln. Sie halten? Ein Minischwein mit nacktem Schwanz? Da würde er lieber ihr Futter fressen.

An dem Punkt beschloss er, seine Marke zu zeigen.

Tine warf einen desinteressierten Blick darauf und wackelte dann hinüber zum Tisch. Routiniert schob sie eine Spritze und etwas Alufolie einigermaßen diskret unter ein Blatt Papier.

»Ich habe gehört, du kennst Kimmie?«

Hätte man sie mit der Kanüle in der Ader erwischt oder bei einem Ladendiebstahl oder während sie einem Kunden einen blies - sie wäre ohne eine Miene zu verziehen damit klargekommen. Aber auf diese Frage war sie nicht gefasst gewesen und deshalb zuckte sie zusammen.

Carl zog sich an das Mansardenfenster zurück und starrte hinüber zum Sankt-Jørgens-See. Die Bäume ringsum würden bald ihr Laub verlieren. Eine Wahnsinnsaussicht, die diese Junkiefrau hier hatte.

»Ist sie eine deiner besten Freundinnen? Ich habe gehört, dass ihr euch ziemlich gut leiden könnt.«

Er lehnte sich zum Fenster vor und sah hinab auf die Spazierwege um den See. Wäre diese Tine hier nicht so kaputt, dann würde sie bestimmt zwei-, dreimal in der Woche um den See joggen, genau wie die Mädchen, die man dort gerade sehen konnte.

Dann wanderte sein Blick weiter zur Bushaltestelle am Gammel Kongevej. Neben dem Schild stand ein Mann im hellen Mantel und blickte an der Fassade hinauf. Während seiner vielen Dienstjahre hatte Carl diesen Mann von Zeit zu Zeit getroffen. Finn Aalbæk hieß er, ein mageres Gespenst. Seinerzeit in der Antonigade hatte er ihm und seinen Kollegen die Tür eingerannt, um für sein kleines Detektivbüro die eine oder andere Information abzustauben. Jetzt waren mit Sicherheit fünf Jahre vergangen, seit Carl ihn zuletzt gesehen hatte, aber er war noch genauso hässlich.

»Kennst du den da unten in dem hellen Mantel?«, fragte er Tine. »Hast du ihn schon mal gesehen?«

Sie trat ans Fenster, seufzte tief und versuchte, den Mann zu fokussieren. »Ich hab so einen in so'nem Mantel aufm Hauptbahnhof gesehen. Aber der steht so weit weg, man kann ihn gar nich richtig erkennen.«

Carl blickte in ihre riesengroßen Pupillen. Selbst wenn er ihr auf den Zehen stünde, würde sie ihn kaum erkennen.

»Und der, den du im Hauptbahnhof gesehen hast, was ist das für einer?«

Sie zog sich vom Fenster zurück und stieß gegen den Couchtisch, sodass Carl nach ihr greifen und sie festhalten musste. »Weiß nich, ob ich Lust hab, mit dir zu reden«, nuschelte sie. »Was hat'n Kimmie gemacht?«

Er führte sie zur Liege, wo sie sich auf die dünne Matratze fallen ließ.

Dann machen wir das jetzt mal anders, dachte Carl und sah sich um. Das Zimmer war vielleicht zehn Quadratmeter groß und so karg wie überhaupt nur denkbar. Abgesehen vom Rattenkäfig und den Klamottenhaufen, die in allen Ecken lagen, gab es so gut wie nichts Persönliches. Auf dem Tisch ein paar verklebte Zeitungen. Plastiktüten, die nach Bier stanken. Das Bett, auf dem eine grobe Wolldecke lag. Eine Spüle und ein alter Kühlschrank und darauf eine schmuddelige Seifenschale, ein abgenutztes Handtuch, eine umgekippte Shampooflasche und einige Haarclips. Nichts an den Wänden, nichts auf dem Fensterbrett.

Er blickte zu ihr hinunter. »Du möchtest gern langes Haar haben, oder? Ich glaube, das würde dir sehr gut stehen.«

Unwillkürlich fasste sie sich an den Hinterkopf. Also hatte er recht. Dafür waren die Haarclips gedacht.

»Du bist auch mit dem halblangen Haar hübsch, aber ich glaube, langes Haar würde dir sehr gut stehen. Du hast schönes Haar, Tine.«

Sie lächelte nicht, aber hinter den Augen jubilierte sie. Für einen Moment.

»Ich würde deine Ratte gern streicheln, aber ich bin allergisch gegen Nagetiere und so was. Tut mir echt leid. Ich kann noch nicht mal mehr unser Kätzchen halten.«

Die Bemerkung schaffte sie.

»Ich lieb die Ratte. Sie heißt Lasso.« Sie lächelte und zeigte dabei das, was einmal eine Reihe weißer Zähne gewesen war. »Manchmal nenn ich sie Kimmie, aber das hab ich Kimmie noch nie gesagt. Wegen dieser Ratte nennen mich alle Ratten-Tine. Is das nich schön, wenn man weiß, dass man von ihr seinen Namen hat?«

Carl versuchte, das nachzuvollziehen.

»Kimmie hat nichts gemacht, Tine«, sagte er. »Wir suchen nur nach ihr, weil es jemanden gibt, der sie vermisst.«

Sie biss sich in die Wange. »Also, wo sie wohnt, weiß ich nich. Aber wenn ich sie seh, sag mir einfach, wie du heißt, dann sag ich's ihr weiter.«

Er nickte. Jahrelange Kämpfe mit Behörden hatten sie Vorsicht gelehrt. Total weggetreten durch die Scheißdrogen und trotzdem auf der Hut. Ziemlich beeindruckend und mindestens genauso ärgerlich. Es würde der Sache bestimmt nicht dienen, wenn sie Kimmie zu viel sagte. Das Risiko war zu groß, dass sie dann ganz und gar verschwand. Seine lange Erfahrung in dem Job und das, was Assad bei ihrer Verfolgung erlebt hatte, sagten Carl, dass sie dazu imstande wäre.

»Okay, Tine. Ich will dir gegenüber ganz ehrlich sein. Kimmies Vater ist schwer krank, und wenn sie hört, dass die Polizei nach ihr sucht, dann sieht ihr Vater sie nie mehr, und das wäre traurig. Kannst du ihr nicht einfach sagen, sie soll diese Nummer hier anrufen? Sag nichts von der Krankheit und der Polizei. Bitte sie nur, anzurufen.«

Er notierte seine Handynummer auf ein Stück Papier und gab ihr den Zettel. Nun musste er aber wirklich zusehen, das Ding aufzuladen.

»Und wenn sie fragt, wer du bist?«

»Dann sagst du einfach, das wüsstest du nicht. Aber dass ich gesagt hätte, es wäre etwas, worüber sie sich freuen würde.«

Tines Lider schlossen sich langsam. Ihre Hände lagen schlaff auf den dünnen Knien.

»Hast du gehört, Tine?«

Sie nickte mit geschlossenen Äugen. »Mach ich.«

»Gut. Da bin ich sehr froh. Ich muss jetzt gehen. Ich weiß, dass dort auf dem Hauptbahnhof einer hinter Kimmie her war. Weißt du, wer das war?«

Ohne den Kopf zu heben, sah sie ihn an. »Das war doch nur einer, der gefragt hat, ob ich Kimmie kenne. Der wird bestimmt auch wollen, dass sie ihren Vater anruft, oder?«

Unten auf dem Gammel Kongevej fing er Aalbæk von hinten ab. »Alter Bekannter im Sonnenschein unterwegs«, sagte Carl und ließ eine Hand schwer auf die Schulter des Mannes fallen.

Aalbæks Augen mochten ja leuchten, aber sicher nicht vor Wiedersehensfreude.

»Ich warte auf den Bus«, sagte er und drehte sich weg.

»Okay.« Carl betrachtete ihn. Merkwürdige Reaktion. Warum log er? Warum sagte er nicht einfach: Bin im Dienst. Beschatte wen. Das war doch sein Job und das wussten sie beide. Es hatte ihn doch niemand angeklagt. Er musste seinen Auftraggeber ja gar nicht verraten.

Nein. Aber jetzt hatte er sich verraten. Zweifellos. Aalbæk wusste ganz genau, dass er Carls Fährte kreuzte.

Ich warte auf den Bus. Was für ein Idiot!

»In Ihrem Job kommt man ziemlich weit rum, oder? Sie haben nicht zufällig gestern einen Ausflug nach Allerød unternommen und ein Foto von mir eingesaut? Na, Aalbæk? Waren Sie das?«

Aalbæk drehte sich in aller Ruhe um und sah Carl an. Er war der Typ Mensch, den man schlagen und treten konnte, ohne dass er eine Reaktion zeigte. Carl kannte einen, der war mit unterentwickeltem Stirnlappen auf die Welt gekommen, dem fehlte die Fähigkeit, wütend zu werden. Falls es im Gehirn einen ähnlichen Bereich für Stress gab, existierte bei Aalbæk an der Stelle nur ein Hohlraum.

Carl versuchte es noch einmal. Was zum Teufel konnte schon passieren?

»Wollen Sie mir nicht erzählen, Aalbæk, was Sie hier machen? Müssten Sie nicht in Allerød sein und Hakenkreuze in meine Bettpfosten ritzen? Denn zwischen dem, was Sie derzeit umtreibt, und dem, was mich beschäftigt, besteht doch wohl ein Zusammenhang, nicht wahr, Aalbæk?«

Entgegenkommen war es nicht, was Aalbæks Miene ausdrückte. »Sie sind immer noch dasselbe ewig schlecht gelaunte Arschloch, Mørck. Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie reden.«

»Dann möchte ich doch mal wissen, warum Sie hier stehen und zum fünften Stockwerk hochglotzen? Nicht zufällig, weil Sie hoffen, Kimmie Lassen käme auf einen Sprung vorbei, um Tine Karlsen dort oben Guten Tag zu sagen? Schließlich rennen Sie doch die ganze Zeit im Hauptbahnhof rum und fragen die Leute nach ihr aus!« Er trat noch einen Schritt näher auf Aalbæk zu. »Heute haben Sie Tine Karlsen da oben in der Mansarde mit Kimmie Lassen in Verbindung gebracht, stimmt's?«

Das Spiel der Kaumuskeln des hageren Mannes war deutlich sichtbar unter der dünnen Haut seiner Wangen. »Keine Ahnung, wovon Sie quatschen, Mørck. Ich stehe hier, weil es Eltern gibt, die gern wissen wollen, was ihr Sohn bei den Moonies im ersten Stock zu suchen hat.«

Carl nickte. Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie aalglatt Aalbæk war. Natürlich war der in der Lage, schnell eine Geschichte aus dem Ärmel zu schütteln.

»Wäre vielleicht eine gute Idee, mal einen Blick in Ihre Arbeitsunterlagen der letzten Zeit zu werfen. Ob nicht einer Ihrer Auftraggeber ausgesprochen interessiert daran ist, diese Kimmie zu finden? Das glaube ich nämlich. Ich weiß nur noch nicht so recht, warum. Wollen Sie mir das freiwillig erklären, oder muss ich mir Ihre Unterlagen abholen?«

»Holen Sie sich doch ab, was Sie wollen. Aber vergessen Sie nicht den Durchsuchungsbefehl.«

»Aalbæk, alter Knabe.« Carl haute ihm so fest gegen die Schulter, dass die Schulterblätter zusammenstießen. »Seien Sie doch so gut und sagen Sie Ihren Auftraggebern einen schönen Gruß. Je mehr sie mich privat belästigen, desto dichter bin ich ihnen auf den Fersen. Alles klar?«

Aalbæk bemühte sich sehr, nicht nach Luft zu schnappen, aber das würde er mit Sicherheit tun, sobald Carl verschwunden war. »Klar ist mir, Mørck, dass Sie im Kopf nicht ganz frisch sind. Lassen Sie mich in Ruhe.«

Carl nickte. Das war der Nachteil, der Chef der absolut kleinsten Ermittlungseinheit des Landes zu sein. Stünden ihm Männer zur Verfügung, würde er zwei davon auf Finn Aalbæk ansetzen. Vieles sprach seiner Meinung nach dafür, dieses magere Gespenst zu beschatten. Aber wer sollte das tun? Rose?

»Sie hören von uns«, sagte Carl und ging den Vodroffsvej hinunter.

Kaum war er außer Sicht, bog er, so schnell er konnte, links in die Tværgade ab und dann wieder links, sodass er hinter das Codan-Gebäude kam und schließlich vor dem Vaernedamsvej wieder am Gammel Kongevej herauskam. Ein, zwei kurzatmige Sätze über die Straße, und er befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Aalbæk unten am Seeufer in sein Handy sprach.

Möglicherweise geriet Aalbæk nicht schnell in Stress, aber so richtig entspannt wirkte er auch nicht.


18


In all den Jahren, in denen Ulrik als Börsenanalyst arbeitete, hatte er mehr Investoren reich gemacht als irgendwer sonst in der Branche. Die Schlüsselwörter seines Erfolgs lauteten »Information« und »Insiderwissen«. In dieser Szene wurde niemand durch Zufall und schon gar nicht durch Glück reich.

Es gab keine Branche, zu der Ulrik keine Kontakte hatte, und keinen Medienkonzern, in dem keine Vermittler von ihm saßen. Er war äußerst risikobewusst und prüfte die börsennotierten Unternehmen mit allen erdenklichen Mitteln, ehe er die Rentabilität ihrer Aktien einschätzte. Manchmal war er so gründlich, dass die Unternehmen ihn baten, zu vergessen, was er in Erfahrung gebracht hatte. Seine Bekanntschaften mit Leuten, die in der Klemme steckten oder jemanden kannten, der Hilfe brauchte, breiteten sich aus wie konzentrische Kreise im Wasser, bis hin zum Meer, in dem die großen Fische der Gesellschaft schwammen.

In manch anderem Land hätte das Ulrik zu einem äußerst gefährlichen Mann und zum Gegenstand blühender Mordphantasien gemacht. Nicht so in Klein-Dänemark. Wenn man hier etwas gegen Leute in der Hand hatte, dann zogen die sofort mit etwas ebenso Kompromittierendem gegen einen ins Feld. Wenn man nicht Stillschweigen wahrte, färbte die Schuld des anderen rasch auf einen selbst ab, weshalb man niemals etwas über jemand anderen sagte, nicht mal, wenn man ihn auf frischer Tat ertappte. Ein ungeheuer praktisches und kluges Prinzip.

Wer wollte schon für Insiderhandel sechs Jahre ins Kittchen wandern? Wer wollte schon den Ast ansägen, auf dem er selbst saß?

Und in diesem langsam wachsenden Geldbaum hockte Ulrik ganz oben im eng verzweigten Geäst, das in besseren Kreisen gerne auch als »Netzwerk« bezeichnet wurde. Ein wunderbares, paradoxes System, das nur dann nach Plan funktionierte, wenn mehr Leute durch die Maschen des Netzes fielen als hängen blieben.

Ulrik machte mit seinem Netzwerk ausgesprochen gute Beute. Denn zu seinem Netzwerk gehörten Leute, über die man sprach. Leute, die man respektierte. Die absolute Spitze. Allesamt solche, die sich von den soliden Wurzeln entfernt hatten und jetzt dort oben schwebten, wo sie das Sonnenlicht nicht mit dem ganzen Pack zu teilen brauchten.

Mit denen ging er auf Jagd. Mit denen betrat er Arm in Arm die Logen, denn sie alle wussten, dass man am besten mit seinesgleichen spielt.

Insofern war Ulrik ein wichtiges Mitglied der Internatsclique. Er war der Leutselige, den alle kannten, und hinter ihm standen seine Schulfreunde Ditlev Pram und Torsten Florin. Sie bildeten eine starke, aber auch sehr heterogene Truppe. Als Triumvirat wurden sie in der Stadt mit Einladungen überschüttet, und sie kreuzten überall dort auf, wo sich die Teilnahme lohnte.

Für sie hatte der Spaß an diesem Nachmittag begonnen. Im Stadtzentrum hatten sie am Empfang einer Galerie teilgenommen, die Kontakte sowohl zur Theaterszene als auch zum Königshaus pflegte. Inzwischen waren sie bei einer großen Soiree zwischen Galauniformen, Medaillen und Ritterkreuzen gelandet. Leute hielten exzellent vorbereitete Reden, verfasst von nicht eingeladenen untergeordneten Sekretären, dazwischen mühte sich ein Streichquartett, die Gesellschaft an Brahms' Welt teilhaben zu lassen. Der Champagner und das Selbstlob flossen in Strömen.

»Stimmt es, was ich höre, Ulrik?«, fragte der Landwirtschaftsminister neben ihm und versuchte, mit alkoholverschleiertem Blick den Abstand zum Glas zu fokussieren. »Torsten soll in diesem Sommer bei einer Jagd zwei Pferde mit der Armbrust getötet haben? Stimmt das? Einfach so, auf offenem Feld?« Er versuchte noch einmal, in das allzu hohe Glas nachzuschenken.

Ulrik streckte die Hand aus und unterstützte die Bemühungen. »Wissen Sie was? Glauben Sie nicht alles, was Sie hören. Im Übrigen: Warum nehmen Sie nicht einmal an einer unserer Jagden teil? Dann können Sie sich selbst ein Bild machen.«

Der Minister nickte. Genau das wollte er, und es würde ihm gefallen. Ulrik wusste so etwas. Ein weiterer wichtiger Mann im Netz.

Er wandte sich seiner Tischdame zu, die sich schon seit langem bemühte, Blickkontakt zu ihm aufzunehmen.

»Isabel, Sie sind heute Abend wunderschön«, sagte er und legte ihr die Hand auf den Arm. In einer Stunde würde sie wissen, wozu sie ausersehen war.

Ditlev hatte ihn auf die Aufgabe angesetzt. Nicht jedes Mal biss eine an, aber dieses Mal war es völlig sicher. Isabel würde tun, worum sie sie baten - sie wirkte, als sei sie für alle Spielarten zu haben. Natürlich würde sie unterwegs jammern, aber Jahre voller Langeweile und Mangel an Befriedigung würden sich gewiss als ein Pluspunkt erweisen. Vielleicht würde ihr Torstens Umgang mit dem weiblichen Körper mehr Probleme bereiten als anderen. Andererseits hatten sie schon Beispiele erlebt, wo es ausgerechnet Torsten gelang, sie abhängig zu machen. Torsten kannte die Sinnlichkeit der Frauen besser als andere Männer. Sie würde unter allen Umständen hinterher dichthalten, Vergewaltigung hin oder her. Warum riskieren, der vielen Millionen verlustig zu gehen, über die ihr impotenter Mann verfügte?

Ulrik streichelte ihren Unterarm und fuhr den seidenen Ärmel hinauf. Wie er diesen kühlen Stoff liebte, den hauptsächlich heißblütige Frauen trugen!

Er nickte Ditlev zu, der ihm schräg gegenüber an einem der anderen Tische saß. Das sollte das Signal sein, aber ein Mann stand vorgebeugt neben Ditlev und zog dessen Aufmerksamkeit ab. Dann flüsterte dieser Mann Ditlev, der die Lachsmousse auf der Gabelspitze balancierte und alles andere ignorierte, etwas zu. Stirnrunzelnd blickte Ditlev starr ins Nichts. Die Warnsignale waren unübersehbar.

Mit einer passenden Entschuldigung erhob sich Ulrik und gab Torsten einen Klaps auf die Schulter, als er an dessen Tisch vorbeikam.

Die vernachlässigte Frau musste bis zu einer anderen Gelegenheit warten.

Hinter sich hörte Ulrik, wie sich Torsten bei seiner Tischdame entschuldigte. Gleich würde er ihre Hand küssen. Man erwartete so etwas von einem Mann wie Torsten Florin. Ein heterosexueller Mann, der Damen einkleidete, wusste doch wohl auch, wie man sie am besten auskleidete. Sie trafen sich im Foyer.

»Wer war der Kerl, mit dem du geredet hast?«, frage Ulrik.

Ditlev griff nach seiner Fliege. Er hatte sich noch nicht von der Nachricht erholt, die ihm gerade zugeflüstert worden war. »Das war einer meiner Caracas-Leute. Er kam, um mir zu sagen, Frank Heimond habe mehreren Krankenschwestern erzählt, du und ich, wir hätten ihn überfallen.«

Das war genau das, was Ulrik hasste. Hatte Ditlev nicht beteuert, er habe die Situation unter Kontrolle? Thelma habe versprochen, sie würde dichthalten, wenn alles mit der Scheidung und Heimonds plastischen Operationen glattginge?

»So ein Scheiß.« Das war Torsten.

Ditlev ließ den Blick von einem zum anderen wandern. »Heimond stand noch unter den Nachwirkungen der Narkose. Das nimmt keiner weiter ernst.« Er sah zu Boden. »Das kommt in Ordnung. Aber da ist noch etwas. Mein Mann hatte auch eine telefonische Nachricht von Aalbæk. Offenbar hatte keiner von uns sein Handy eingeschaltet.«

Er reichte ihnen den Zettel und Torsten las über Ulriks Schulter.

»Das Letzte versteh ich nicht«, sagte Ulrik. »Was heißt das?«

»Du kannst so schwer von Begriff sein, Ulrik.« Torsten sah ihn respektlos an - was Ulrik hasste wie die Pest.

»Kimmie ist irgendwo da draußen unterwegs«, ging Ditlev zur Abkühlung der Gemüter dazwischen. »Du hast es noch nicht gehört, Torsten. Aber sie wurde heute auf dem Hauptbahnhof gesehen. Einer von Aalbæks Männern hörte, wie eine der Junkieladies ihren Namen rief. Er hat sie nur von hinten gesehen, sie aber wohl schon früher am Tag beobachtet. Sie war teuer angezogen und sah gut aus. Sie hat eine Stunde oder anderthalb an einem der Cafetische gesessen. Er hatte geglaubt, sie sei halt eine, die auf einen Zug wartet. Einmal, als Aalbæk seine Leute briefte, ist sie sogar ganz dicht an ihnen vorbeigegangen.«

»Verdammte Scheiße«, war alles, was Torsten einfiel.

Das Letzte hatte Ulrik auch noch nicht gehört. Das war gar nicht gut. Vielleicht wusste sie ja, dass sie hinter ihr her waren.

Verdammt. Natürlich wusste sie das. Schließlich war sie Kimmie.

»Die geht uns wieder durch die Lappen, ich weiß es genau«, sagte er. Das wussten sie alle drei.

Torstens Fuchsgesicht wurde noch schmaler. »Aalbæk weiß, wo die Junkielady wohnt?« Ditlev nickte.

»Er kümmert sich doch sicher um sie?«

»Naja, die Frage ist nur, ob es dafür nicht schon zu spät ist.«

Ulrik massierte sich den Nacken. Wahrscheinlich hatte Ditlev sogar recht. »Die letzte Zeile in der Nachricht versteh ich trotzdem noch nicht. Bedeutet das, dass derjenige, der in dem Fall ermittelt, weiß, wo sich Kimmie aufhält?«

Ditlev schüttelte den Kopf. »Aalbæk kennt den Bullen in- und auswendig. Wenn der es wüsste, hätte er die Junkietussi mit aufs Präsidium genommen, nachdem er bei ihr war. Das kann er natürlich später immer noch machen, also, die Möglichkeit müssen wir einkalkulieren. Versuch dich lieber mal an der Zeile darüber zu orientieren, Ulrik. Wie verstehst du die?«

»Dass Carl Mørck hinter uns her ist. Das wissen wir doch schon die ganze Zeit.«

»Lies noch mal, Ulrik. Aalbæk schreibt: >Mørck hat mich gesehen. Er ist hinter uns her.<«

»Wo ist das Problem?«

»Dass er alles, Aalbæk und uns und Kimmie und den alten Fall, miteinander in Verbindung bringt. Und warum tut er das, Ulrik? Woher weiß er von Aalbæk? Hast du etwas gemacht, wovon wir nichts wissen? Du hast gestern mit Aalbæk gesprochen, was hast du ihm gesagt?«

»Nur das Übliche, wenn einem Leute in die Quere kommen. Dass er dem Ordnungshüter ruhig mal eine Warnung zukommen lassen solle.«

»Du Idiot«, zischte Torsten.

»Und diese Warnung? Wann hattest du vor, uns davon zu erzählen?«

Ulrik sah Ditlev an. Seit dem Überfall auf Frank Heimond tat er sich schwer, aus dem Rausch rauszukommen. Er war am nächsten Tag zur Arbeit gegangen und hatte sich unüberwindbar gefühlt. Der Anblick des zu Tode erschrockenen und blutüberströmten Heimond war wie ein Lebenselixier für ihn gewesen. An dem Tag lief der Aktienhandel wie geschmiert, jeder Index ging in seine Richtung. Nichts konnte oder sollte ihn aufhalten. Auch kein Scheißbulle, der in Sachen herumwühlte, die ihn nichts angingen.

»Ich hab zu Aalbæk nur gesagt, dass er den Druck ruhig mal ein bisschen erhöhen könne«, sagte er. »Eine oder zwei Warnungen an Stellen platzieren, wo sie Eindruck auf den Mann machen könnten.«

Torsten drehte sich um und wandte ihnen den Rücken zu. Er starrte hinüber zu der Marmortreppe, die sich aus dem Foyer wand. Man musste nur seinen Rücken ansehen, dann wusste man, was in ihm vorging.

Ulrik räusperte sich und erzählte, was passiert war: nichts Besonderes, nur ein paar Anrufe und ein paar Kleckse Hühnerblut auf einem Foto. Bisschen Voodoo halt. Wie gesagt, nichts Besonderes.

Da sahen ihn beide an.

»Ulrik, hol Visby«, fauchte Ditlev.

»Ist der hier?«

»Hier springen Leute aus sämtlichen Ministerien herum. Womit zum Teufel hast du gerechnet?«

Visby, Ministerialdirektor im Justizministerium, hatte lange um einen besseren Job gebuhlt. Trotz seiner Qualifikationen konnte er nicht damit rechnen, Staatssekretär zu werden. Auch den üblichen Karriereweg für Topjuristen hatte er längst verlassen und sich damit den Zugang zu den Posten bei Gericht in den höheren Instanzen verbaut. So suchte er nun mit aller Macht nach neuen Knochen, die er abnagen konnte, ehe ihn das Alter und der lange Schatten seiner Sünden einholten.

Ditlev hatte er auf einer Jagd kennengelernt, und sie hatten die Absprache getroffen, dass er, gegen einige wenige Gefälligkeiten, sich schon jetzt darauf einstellen konnte, den Job ihres Anwalts Bent Krum zu übernehmen, wenn sich dieser sehr bald in den Ruhestand verabschieden würde. Kein Job mit schönen Titeln, dafür aber kurze Arbeitstage und ein exorbitant gutes Honorar.

Und Visby war ihnen tatsächlich in ein paar Angelegenheiten nützlich gewesen. Die Wahl hatte sich als goldrichtig erwiesen.

»Wir brauchen noch einmal Ihre Hilfe«, sagte Ditlev, als Ulrik ihn in die Empfangshalle gebracht hatte.

Der Ministerialdirektor sah sich um, als hätten die Kronleuchter Augen und die Tapeten Ohren.

»Gleich hier?«, fragte er.

»Carl Mørck ermittelt immer noch in dem Fall. Er muss aufgehalten werden, ist das klar?«, sagte Ditlev.

Visby tastete nach seiner dunkelblauen Krawatte mit den eingewebten Jakobsmuscheln, dem Symbol des Internats. Sein Blick suchte die Halle ab. »Ich habe getan, was ich konnte. Ich kann keine weiteren Anweisungen im Namen anderer herausgeben, ohne dass die Justizministerin anfängt nachzubohren. Bisher kann es immer noch wie ein Fehler wirken.«

»Müssen Sie den Weg über die Polizeipräsidentin nehmen?«

Er nickte. »Indirekt, ja. Ich kann in dem Fall nicht mehr tun.«

»Sind Sie sich darüber im Klaren, was Sie da gerade sagen?«, hakte Ditlev nach.

Visby presste die Lippen zusammen. Er hatte sein Leben schon verplant, Ulrik konnte es ihm ansehen. Die Frau zu Hause erwartete etwas Neues. Zeit und Reisen. Das, wovon alle träumen.

»Wir können Mørck vielleicht suspendieren lassen«, überlegte Visby. »Jedenfalls für eine Weile. Nachdem er den Merete-Lynggaard-Fall aufgeklärt hat, wird das allerdings nicht leicht. Aber nach einer Schießerei vor knapp einem Jahr war er ziemlich abgestürzt. Vielleicht könnte ihn ja ein Rückfall ereilen. Jedenfalls auf dem Papier. Ich kümmere mich drum.«

»Ich könnte Aalbæk dazu bringen, ihn wegen einer Handgreiflichkeit auf offener Straße anzuzeigen«, sagte Ditlev. »Wäre das eine Idee?«

Visby nickte. »Handgreiflichkeit? Gar nicht schlecht. Aber es muss Zeugen geben.«


19


»Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Einbrecher vorgestern bei mir zu Hause Finn Aalbæk war«, sagte Carl. »Wir müssen seine Stundenabrechnung einsehen. Sorgst du für einen Durchsuchungsbefehl oder soll ich das tun?«

Marcus Jacobsen studierte gerade Fotografien von der Frau, die in der Store Kannikestræde überfallen worden war. Sie sah, gelinde gesagt, entsetzlich aus. Die Schläge zeichneten sich als blaue Streifen auf ihrem Gesicht ab, die Partie um die Augen war stark geschwollen. »Gehe ich recht in der Annahme, dass es da eine Verbindung zu deinen Ermittlungen im Rørvig-Fall gibt?«, fragte er, ohne aufzusehen.

»Mir geht es lediglich darum, zu erfahren, wer Aalbæk angeheuert hat, nichts weiter.«

»Carl, du stellst in dem Fall keine weiteren Ermittlungen an, darüber haben wir bereits gesprochen.«

Erste Person Mehrzahl? Hatte der Idiot eben »wir« gesagt? Kriegte der die Einzahl nicht konjugiert? Warum zum Teufel ließ er ihn nicht einfach in Ruhe?

Carl holte tief Luft. »Deshalb komme ich doch zu dir. Wenn sich nun herausstellt, dass Aalbæks Kunden zu den Verdächtigen im Rørvig-Fall gehören? Würde dich das nicht stutzig machen?«

Jacobsen nahm seine Halbbrille ab und legte sie vor sich auf den Tisch. »Carl! Erstens tust du, was die Polizeipräsidentin gesagt hat. Dem Fall wird oben im System eine andere Priorität gegeben und es wurde eine Verurteilung ausgesprochen. Zweitens will ich nicht, dass du hier heraufkommst und einen auf dumm machst. Du glaubst doch selber nicht, dass Leute wie Pram und Florin und dieser Börsenanalyst so blöd sind, Aalbæk ganz traditionell einzustellen? Falls, und das betone ich, falls sie überhaupt etwas mit ihm zu tun haben. Und jetzt lass mich bitte damit in Ruhe. Ich treffe mich in zwei Stunden mit der Polizeipräsidentin.«

»Ich dachte, das sei gestern gewesen?«

»Ja, und heute auch. Nun geh schon, Carl.«


»Carl!«, rief Assad aus seinem Büro. »Komm mal her und schau dir das an.«

Carl schob sich von seinem Stuhl hoch. Als Assad vorhin aufgetaucht war, hatte man ihm nichts anmerken können. Aber Carl sah es noch genau vor sich: diesen kalten Blick des Kerls, der Assad auf dem Hauptbahnhof an der Schulter gepackt hatte. So ein Blick musste sich in jahrelangem Hass aufgebaut haben. Wie konnte er da zu einem gestandenen Polizisten sagen, das hätte nichts zu bedeuten?

Carl stieg über Roses halbfertige Tische, die wie gestrandete Wale verstreut auf dem Fußboden herumlagen. Sie musste schleunigst zusehen, dass die da wegkamen. Carl wollte nicht die Verantwortung übernehmen, falls einer von denen dort oben sich zufällig nach hier unten verirrte und über den Mist stolperte.

Assad strahlte.

»Ja, was ist?«, fragte Carl.

»Wir haben ein Foto, Carl. Ein richtiges Foto.«

»Ein Foto? Wovon?«

Assad tippte kurz auf seiner Tastatur herum und auf dem Bildschirm erschien ein Foto. Nicht scharf, nicht von vorn, aber das war eindeutig Kimmie Lessen. Carl konnte sie sofort von den alten Fotos her wiedererkennen.

Kimmie, wie sie heute aussah. Ein Schnappschuss von der Seite. Eine knapp vierzigjährige Frau, die sich umdrehte. Ein ausgesprochen charakteristisches Profil. Stupsnase, sehr volle Unterlippe, magere Wangen und trotz der Make-up-Maske deutlich sichtbare Fältchen. Geschickt, wie die Kollegen waren, würden sie den alten Fotos von ihr diese Alterungsattribute hinzufügen. Kimmie war noch immer attraktiv, sah aber verbraucht aus. Gelang es den Computerspezialisten, mit den Bildbearbeitungsprogrammen zu spielen, dann hatten sie taugliches Fahndungsmaterial.

Nun fehlte ihnen nur noch ein triftiger Grund, sie zur Fahndung auszuschreiben. Ob vielleicht jemand aus der Familie darum ersuchen könnte? Das musste so bald wie möglich überprüft werden.

»Ich hab ein neues Handy. Deshalb wusste ich nicht, ob ich das Bild im Kasten hab. Ich hab gestern einfach abgedrückt, als sie vor mir weglief. Reflex, du weißt schon. Gestern Abend habe ich versucht, das auf den Bildschirm zu bekommen, aber irgendwas muss ich falsch gemacht haben.«

Konnte er das tatsächlich?

»Was sagst du dazu, Carl? Ist das nicht phantastisch?«

»Rose!«, rief Carl in den Kellerflur.

»Sie ist nicht da. Ist unterwegs. Vigerslev Allé.«

»Vigerslev Allé?« Carl schüttelte den Kopf. »Was zum Teufel treibt sie denn da?«

»Hast du ihr nicht gesagt, sie solle schauen, ob in den Illustrierten irgendwas über Kimmie zu finden ist?«

Carl blickte auf die Rahmen mit den Fotos von Assads mürrischen alten Tanten. Nicht mehr lange, dann würde er genauso aussehen.

»Wenn sie wiederkommt, gibst du ihr das Foto. Zusammen mit ein paar von den alten kann sie das zur Bildbearbeitung bringen. Hast du gut gemacht, Assad. Gute Arbeit.« Er klopfte seinem Partner auf die Schulter und hoffte, dass der ihm im Gegenzug nicht etwas von diesem Pistazienzeugs anbieten würde, auf dem er selbst herumkaute. »Wir sind in einer halben Stunde im Staatsgefängnis in Vridsløselille verabredet. Da sollten wir uns schleunigst auf den Weg machen.«


Schon auf dem Egon Olsens Vej, wie die alte Gefängnisstraße inzwischen hieß, spürte Carl das zunehmende Unbehagen seines Partners. Nicht, dass er schwitzte oder widerstrebend wirkte. Er wurde nur so unerträglich still. Und er starrte so gedankenverloren auf die Türme am Eingangsportal, als warteten die nur darauf, sich auf ihn zu stürzen.

Carl ging es mit dem Staatsgefängnis ganz anders. Er betrachtete den Knast in Vridsløselille wie eine praktische Schublade, in die man die übelsten Arschlöcher dieses Landes hineinstopfen konnte - um sie dann mit Schmackes zuzuschieben. Addierte man die Strafzeit aller knapp zweihundertfünfzig Gefängnisinsassen, so kam man auf mehr als zweitausend Mannjahre. Was für eine Vergeudung von Lebens- und Arbeitskraft! Das hier war mit Sicherheit einer der hinterletzten Orte, wo man seine Zeit verbringen wollte. Aber die meisten, die dort saßen, verdienten es, hier zu sein. Davon war er noch immer fest überzeugt.

»Wir müssen gleich hier rechts rein«, sagte Carl, als die Formalitäten überstanden waren.

Seit sie durch das Tor gegangen waren, hatte Assad kein Wort gesagt. Und seine Taschen hatte er ohne Aufforderung geleert. Folgte blindlings allen Anweisungen. Offensichtlich kannte er die Prozedur.

Carl deutete über den Hof zu einem grauen Gebäude mit weißem Schild. Besucher stand darauf.

Hier erwartete sie Bjarne Thøgersen. Bestimmt ein Meister im Drumherumreden. In zwei bis drei Jahren war er draußen. Die Klappe zu halten, war das Beste für ihn, alles andere wäre ungesund.


Er sah erheblich besser aus, als Carl erwartet hatte. Elf Jahre im Gefängnis hinterlassen normalerweise überall Spuren. Bittere Züge um den Mund, ausweichende Blicke. Die tief verwurzelte Erkenntnis, dass einen niemand braucht, drückt sich nach so langer Zeit selbst in der Haltung aus. Doch stattdessen saß da ein Mann mit klarem Blick. Zwar mager und auf der Hut, aber einer, der offenbar gut zurechtkam.

Bjarne Thøgersen stand auf und reichte Carl die Hand. Keine Fragen oder Erklärungen. Jemand hatte ihm offenkundig berichtet, was ihn erwartete. So etwas fiel Carl auf.

»Carl Mørck, Vizepolizeikommissar«, stellte er sich trotzdem vor.

»Das kostet mich zehn Kronen die Stunde«, antwortete der Macker und lächelte. »Ich hoffe, es ist wichtig.«

Assad begrüßte er nicht, aber damit hatte Assad auch nicht gerechnet. Der nahm sich nur einen Stuhl und rückte ihn ein ganzes Stück nach hinten, ehe er sich setzte.

»Sie arbeiten unten in der Werkstatt?« Carl sah auf die Uhr. Viertel vor elf. Ja, das war tatsächlich mitten in der Arbeitszeit.

»Worum geht es?«, fragte Bjarne Thøgersen und nahm dabei einen Tick zu langsam auf seinem Stuhl Platz. Auch das ein wohlbekanntes Signal. Also doch ein wenig nervös. Gut so.

»Ich bin nicht so viel mit den anderen Insassen zusammen«, berichtete er ungefragt. »Deshalb kann ich Ihnen auch keine Informationen geben, wenn Sie das von mir wollen. An sich wäre es schon gut, wenn man einen kleinen Deal machen könnte, sodass man ein bisschen schneller rauskommt.« Er lachte auf und versuchte Carls ruhige Art zu sondieren.

»Bjarne Thøgersen, Sie haben vor zwanzig Jahren zwei junge Menschen umgebracht. Sie haben die Tat gestanden, sodass wir über Einzelheiten des Falls nicht mehr sprechen müssen. Aber ich habe da eine Person, die verschwunden ist und über die ich gern etwas mehr wüsste.«

Thøgersen runzelte die Stirn und nickte. Etwas guter Wille und etwas Erstaunen - eine gute Mischung.

»Ich spreche von Kimmie. Sie waren befreundet, habe ich gehört.«

»Korrekt. Wir waren zusammen auf dem Internat, und dann waren wir zu einem Zeitpunkt auch ein bisschen zusammen.« Er lächelte. »Verdammt geile Frau.« Das würde er nach zwölf Jahren ohne richtigen Sex wahrscheinlich von jeder sagen. Der Wachmann hatte es Carl berichtet: Bjarne Thøgersen bekam nie Besuch. Niemals. Dieser Besuch heute war seit Jahren der erste.

»Lassen Sie uns ruhig von vorn anfangen. Ist das für Sie okay?«

Thøgersen zuckte die Achseln und senkte kurz den Blick. Natürlich war es nicht okay.

»Warum flog Kimmie vom Internat, können Sie sich daran erinnern?«

Da legte er den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke. »Es hieß, sie sei mit einem der Lehrer zusammengekommen. Das ist nicht erlaubt.«

»Und was passierte dann anschließend mit ihr?«

»Dann wohnte sie ein Jahr zur Miete irgendwo in Næstved und arbeitete in einer Grillbude.« Er lachte. »Ihre Alten wussten nichts davon. Die glaubten, sie ginge weiterhin zur Schule. Aber dann bekamen sie es irgendwann doch raus.«

»Sie kam in ein Schweizer Internat?«

»Ja, sie war vier, fünf Jahre in der Schweiz. Nicht nur im Internat, sondern auch auf der Uni. Verdammt, wie hieß die noch mal?« Er schüttelte den Kopf. »So ein Scheiß, fällt mir jetzt nicht ein. Jedenfalls studierte sie Tiermedizin. Hallo, na klar, Bern! Das war in Bern. Uni Bern.«

»Sie sprach also ausgezeichnet Französisch?«

»Nein, Deutsch. Das war alles auf Deutsch, sagte sie.«

»Hat sie einen Abschluss gemacht?«

»Nein, sie ist nicht ganz fertig geworden. Ich weiß nicht, warum, aber aus irgendeinem Grund musste sie aufhören.«

Carl warf einen Blick in Assads Richtung. Der notierte alles auf seinem Block.

»Und danach? Wo hat sie dann gewohnt?«

»Sie kam nach Hause. Wohnte eine Zeitlang in Ordrup bei den Eltern, also bei ihrem Vater und der Stiefmutter. Und dann zog sie bei mir ein.«

»Wir wissen, dass sie eine Zeitlang in einem Zoofachhandel gearbeitet hat. War das nicht unter ihrem Niveau?«

»Warum? Sie war doch keine fertige Tierärztin.«

»Und Sie, wovon haben Sie gelebt?«

»Ich habe in der Holzhandlung meines Vaters gearbeitet. Aber das steht doch alles in den Akten. Das wissen Sie doch.«

»Hatten Sie das Geschäft nicht 1995 geerbt? Es ging dann kurze Zeit später in Flammen auf? War da nicht so etwas? Danach waren Sie arbeitslos, oder?«

Offenbar konnte der Mann sogar gekränkt aussehen. Geliebte Kinder haben viele Namen, ungeliebte Kinder viele Gesichtsausdrücke, pflegte sein alter Kollege Kurt Jensen, der jetzt im Folketing saß, immer zu sagen.

»Das ist doch dummes Zeug«, protestierte Thøgersen. »Ich bin niemals wegen des Feuers angeklagt worden. Und was sollte ich denn auch davon haben? Das Geschäft meines Vaters war nicht versichert.«

Nein, dachte Carl. Das hätte er vorher nachprüfen müssen.

Carl schwieg eine Weile und starrte die Wand an. Unzählige Male schon hatte er in diesem Raum gesessen. Diesen Wänden waren tonnenweise Lügen zu Ohren gekommen. Tonnenweise faule Ausreden und Verharmlosungen, an die eh keiner glaubte.

»Was für ein Verhältnis hatte Kimmie zu ihren Eltern?«, fragte Carl. »Wissen Sie das?«

Bjarne Thøgersen streckte sich. Er war jetzt schon viel ruhiger. Das hier war Small Talk. Es ging nicht um ihn, und das gefiel ihm. Er war auf sicherem Grund.

»Ein verdammt schlechtes«, sagte er. »Die Alten waren so richtige Arschlöcher. Ich glaub nicht, dass der Vater überhaupt je zu Hause war. Und die Alte, mit der er verheiratet war, das war eine absolut widerliche Ziege.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ach, Sie wissen schon. So eine, die nichts anderes im Kopf hat als Geld. Ein Gold Digger.« Er ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen. Offenbar ein Ausdruck, der in seiner Welt nicht sonderlich gebräuchlich war.

»Die stritten sich?«

»Und wie. Wegen irgendwas hatten die sich immer in den Haaren, sagte Kimmie.«

»Was hat Kimmie eigentlich gemacht, während Sie die beiden umgebracht haben?«

Die plötzliche Rückblende zu den Ereignissen in Rørvig ließ den Blick des Mannes förmlich an Carls Hemdkragen festfrieren. Wären Elektroden an Bjarne Thøgersen befestigt gewesen, hätten alle Messgeräte ausgeschlagen.

Er schwieg, offenbar wollte er nicht antworten. Doch dann sagte er: »Sie war zusammen mit den anderen im Sommerhaus von Torstens Vater. Warum fragen Sie danach?«

»Haben die anderen Ihnen nichts angemerkt, als Sie zurückkamen? Ihre Kleidung muss doch ziemlich viel Blut abbekommen haben.«

Carl ärgerte sich über seine letzte Frage. So hatte er es nicht geplant, er hatte nicht so konkret werden wollen. Jetzt würde das Verhör eine Weile im Leerlauf bleiben. Bjarne Thøgersen würde antworten, dass er den anderen erzählt habe, er habe einen Hund retten wollen, der überfahren worden war. So stand es in der Akte.

»Das mit dem ganzen Blut, fand Kimmie das gut?« Das kam aus der Ecke von Assad, noch ehe Thøgersen hatte antworten können.

Verwirrt sah dieser den kleinen Mann an. Man hätte in seinem Blick Missbilligung erwartet, aber nicht dieses Nackte, Unverhüllte, das so deutlich zeigte, dass Assad ins Schwarze getroffen hatte. So einfach war das - man musste nur die richtige Frage stellen! Ob die Geschichte auf Dauer hielt oder nicht, war erst einmal zweitrangig. Wichtig war, dass sie jetzt wussten, dass Kimmie Blut mochte. Ausgesprochen unpassend für eine, die vorgehabt hatte, ihr Leben der Rettung von Tieren zu widmen.

Carl nickte Assad kurz zu. Gerade deutlich genug, um Thøgersen mitzuteilen, dass seine Reaktion registriert worden war. Dass er falsch und zu heftig reagiert hatte.

»Gut?«, wiederholte Bjarne Thøgersen in dem Versuch, zu glätten. »Das glaube ich nicht.«

»Sie zog also bei Ihnen ein«, fuhr Carl fort. »Das war doch 1995, nicht wahr, Assad?«

Der saß in seiner Ecke und nickte.

»Ja. 1995, am 29. September. Wir hatten uns eine Zeitlang regelmäßig getroffen. Verdammt geile Frau.« Das hatte er schon mal gesagt.

»Warum erinnern Sie sich so genau an das Datum? Das ist ja nun wirklich viele Jahre her.«

Thøgersen hielt in einer großen Geste beide Hände hoch. »Ja, aber was ist seither in meinem Leben schon passiert? Für mich gehört das zum Letzten, was ich erlebt hab, ehe ich hier reinkam.«

»Na klar.« Carl bemühte sich, Entgegenkommen zu zeigen. Dann wechselte er jäh den Tonfall: »Waren Sie der Vater ihres Kindes?«

An dieser Stelle sah Bjarne Thøgersen hoch zur Uhr. Seine blasse Haut wurde einen Hauch rot. Es war nicht zu übersehen, dass ihm eine Stunde unendlich lang vorkam.

»Das weiß ich nicht.«

Carl erwog kurz, laut zu werden, hielt sich aber doch zurück. Das hier war weder der rechte Ort noch die rechte Zeit dafür. »Sie wissen es nicht, sagen Sie. Was meinen Sie damit, Bjarne? Hatte Kimmie etwa noch andere Männer außer Ihnen, als Sie zusammenlebten?«

Er wandte den Kopf zur Seite. »Natürlich nicht.«

»Also waren Sie es, der sie geschwängert hat.«

»Sie ist ausgezogen, oder? Woher zum Teufel soll ich wissen, mit wem sie dann ins Bett ging?«

»Unseren Ermittlungen zufolge hatte sie einen Abort. Der Fötus war circa achtzehn Wochen alt. Demnach muss sie noch bei Ihnen gewohnt haben, als sie schwanger wurde.«

Da stand Bjarne Thøgersen mit einem Ruck auf und drehte den Stuhl um hundertachtzig Grad herum. Diese kühne Attitüde lernte man im Gefängnis, alle lernten das. Lässiges Schlendern durch das Hauptgebäude. Entspanntes Gliederschütteln als Zeichen von Gleichgültigkeit. Locker an den Lippen hängende Zigaretten, draußen am Sportplatz. Und dann diese Art, den Stuhl umzudrehen und die nächsten Fragen mit den Armen auf der Rückenlehne und breit gespreizten Beinen zu erwarten. Frag mich doch, was du willst, ist mir eh scheißegal, sollte diese Haltung wohl signalisieren. Blödes Bullenarschloch, von mir erfährst du sowieso nichts.

»Ist es nicht eigentlich scheißegal, von wem es war?«, fragte er. »Das Kind ist doch tot.«

Zehn zu eins, dass es nicht seins war.

»Und außerdem ist sie ja abgehauen.«

»Ja, sie hat die Klinik verlassen. Total idiotisch.«

»Sah es ihr denn ähnlich, so was zu tun?«

Er zuckte die Achseln. »Verdammt, woher soll ich das denn wissen? Soweit ich weiß, hat sie vorher nicht versucht, das Kind loszuwerden.«

»Haben Sie nach ihr gesucht?«, ließ sich Assad vernehmen.

Der Blick, den Bjarne Thøgersen ihm zuwarf, besagte, dass ihn das nichts anginge.

»Und, haben Sie?«, hakte Carl nach.

»Wir waren schon eine Weile nicht mehr zusammen. Nein, hab ich nicht.«

»Warum waren Sie nicht mehr zusammen?«

»Das war eben so. Das ging nicht.«

»War sie Ihnen untreu?«

Noch einmal sah Bjarne Thøgersen zur Uhr. Seit dem letzten Mal war erst eine Minute vergangen. »Warum glauben Sie, dass sie untreu war?«, fragte er und dehnte den Nacken.

Fünf Minuten lang kauten sie die Beziehung durch, ohne dass etwas dabei herauskam. Der Mann war aalglatt.

In der Zwischenzeit war Assad mit seinem Stuhl unmerklich immer weiter herangerückt.

Jedes Mal, wenn er etwas fragte, kam er ein kleines bisschen näher. Schließlich war er fast am Tisch angekommen. Zweifelsohne ärgerte er Bjarne Thøgersen damit.

»Wie wir sehen konnten, haben Sie auf dem Aktienmarkt ziemliches Glück gehabt«, sagte Carl. »Ihrer Steuererklärung zufolge sind Sie inzwischen recht wohlhabend, nicht wahr?«

Die Mundwinkel gingen nach unten. Selbstzufrieden. Darüber wollte Bjarne Thøgersen gern reden. »Ich kann nicht klagen«, sagte er.

»Wer hat Ihnen das nötige Kapital verschafft?«

»Das können Sie den Steuerunterlagen entnehmen.«

»Na, ich trage Ihre Steuerunterlagen ja nun nicht immer in der Hosentasche mit mir herum. Deshalb meine ich, Bjarne, dass Sie mir das selbst erzählen sollten.«

»Ich hab mir das Geld geliehen.«

»Donnerwetter! Nicht schlecht für jemanden, der gerade im Kittchen sitzt. Risikobereite Kreditgeber, würde ich mal sagen. Einer von den Drogenhaien hier drinnen?«

»Ich hab es von Torsten Florin geliehen.«

Bingo, dachte Carl. Er hätte jetzt gern Assads Gesichtsausdruck gesehen, ließ Thøgersen aber keine Sekunde aus den Augen.

»Aha. Sie sind also Freunde geblieben, obwohl Sie Ihr Geheimnis damals für sich behalten haben? Also, dass Sie die Kinder umgebracht haben? Dieses widerwärtige Verbrechen, für das unter anderem Torsten seinerzeit unter Anklage stand? Wenn das kein Freund ist! Aber vielleicht war er Ihnen ja auch einen Gefallen schuldig?«

Bjarne Thøgersen, der merkte, worauf das hinauslief, schwieg.

»Sie kennen sich also aus mit Aktien?« Assads Stuhl stand jetzt fast am Tisch. Mit den unmerklichen Bewegungen eines Reptils war er herangerückt.

Bjarne Thøgersen zuckte die Achseln. »Besser als so manch anderer, ja.«

»Auf fünfzehn Millionen Kronen ist es angewachsen.« Assad wirkte verträumt. »Und es wächst immer noch. Man sollte sich ein paar Tipps von Ihnen holen. Geben Sie Tipps?«

»Wie informieren Sie sich über den Markt?«, ergänzte Carl. »Ihre Möglichkeiten, mit der Umwelt zu kommunizieren, sind doch wohl eher begrenzt? Und umgekehrt ebenso.«

»Ich lese Zeitungen und schicke und empfange Briefe.«

»Dann kennen Sie vielleicht auch die Kaufen-und-Halten-Strategie? Oder die TA-7-Strategie? Ist es so was?«, fragte Assad ruhig.

Carl wandte ihm langsam den Kopf zu. Redete der Blödsinn, oder was?

Bjarne Thøgersen lächelte kurz. »Ich verlasse mich auf meinen guten Riecher und KFX-Aktien. Dann kann es nicht so ganz schiefgehen.« Wieder lächelte er. »Es war eine gute Phase.«

»Wissen Sie was, Bjarne Thøgersen?«, sagte Assad. »Sie müssten mal mit meinem Vetter reden. Der hat mit fünfzigtausend Kronen angefangen. Jetzt sind drei Jahre um und er hat immer noch fünfzigtausend Kronen und keine mehr. Dem würden Sie gefallen, glaub ich.«

»Ich finde, Ihr Vetter sollte vom Aktienhandel die Finger lassen«, sagte Bjarne Thøgersen verärgert und wandte sich an Carl. »Hatten wir nicht über Kimmie reden wollen? Was haben meine Aktiengeschäfte damit zu tun?«

»Das stimmt schon. Trotzdem noch eine letzte Frage wegen meinem Vetter.« Assad war beharrlich. »Ist Grundfos eigentlich eine gute Aktie im KFX-Index?«

»Ja, die steht nicht so schlecht.«

»Okay. Danke. Ich hätte nicht gedacht, dass Grundfos überhaupt an der Börse notiert ist. Aber Sie wissen es sicher besser.«

Touché, dachte Carl, während ihm Assad offen zublinzelte. Wie es Bjarne Thøgersen im Moment ging, konnte man sich unschwer vorstellen. Also war es eben doch Ulrik Dybbøl Jensen, der für ihn investierte. Ohne jeden Zweifel. Bjarne Thøgersen hatte keine Ahnung von Aktien, aber er sollte eine Lebensgrundlage haben, wenn er wieder rauskam. Eine Hand wäscht die andere.

Mehr brauchten sie eigentlich nicht zu wissen.

»Wir haben hier ein Foto, das Sie sich anschauen sollten«, sagte Carl. Er legte den Ausdruck von Assads Foto vor Thøgersen auf den Tisch. Sie hatten es ein bisschen bearbeitet. Es war messerscharf.

Beide schauten sie Bjarne Thøgersen an, als er das Foto betrachtete. Natürlich hatten sie eine gewisse Neugier erwartet. Zu sehen, wie sich eine alte Flamme im Lauf der Zeit entwickelt hatte, war doch immer spannend. Womit sie allerdings nicht gerechnet hatten, war die Intensität seiner Reaktion. Dieser Typ, der jahrelang inmitten von Schwerkriminellen gelebt hatte. Zehn Jahre Erniedrigung. Der ganze Scheiß, und zwar hautnah. Hackordnung, Homosexualität, Übergriffe, Drohungen, Erpressung, Verrohung. Der Mann, der trotzdem noch gut und gern fünf Jahre jünger aussah als Gleichaltrige, er wurde aschgrau. Sein Blick irrte von Kimmies Gesicht zur Seite und wieder zurück. Carl und Assad kamen sich vor wie die Zuschauer einer Hinrichtung, die sie nicht sehen wollten, aber deren Zeugen sie nun zwangsläufig waren. Eine furchtbare Gemütsbewegung. Carl hätte sonst was darum gegeben, zu verstehen, was da gerade abging.

»Sie scheinen nicht sonderlich erfreut zu sein, sie zu sehen. Dabei sieht sie doch wirklich gut aus«, sagte Carl. »Finden Sie nicht?«

Zwar nickte Bjarne Thøgersen langsam, aber sein zuckender Kehlkopf verriet seinen inneren Aufruhr. »Es ist nur so merkwürdig«, sagte er.

Er versuchte zu lächeln, als sei es Wehmut, die ihn beschäftigte. Aber das war keine Wehmut.

»Wie können Sie ein Foto von ihr haben, wenn Sie nicht wissen, wo sie ist?«

Er war also durchaus noch in der Lage, scharfsinnige Überlegungen anzustellen. Aber seine Hände zitterten. Seine Stimme war brüchig. Sein Blick flackerte.

Er hatte Angst.

Kimmie hatte ihn zu Tode erschreckt, nicht mehr und nicht weniger.

»Sie sollen nach oben zum Chef kommen, Marcus Jacobsen wartet auf Sie«, sagte der Wachhabende, als Carl und Assad im Präsidium am »Käfig« vorbeigingen. »Die Polizeipräsidentin ist auch da.«

Während Carl die Stufen hinaufstieg, sammelte er mit jedem Schritt weitere Argumente. Er würde sich verdammt noch mal nichts bieten lassen. Wer kannte die Polizeipräsidentin nicht? Was war sie denn anderes als eine stinknormale Juristin, die auf dem Weg zu einem Richteramt nicht weitergekommen war?

»Oh, oh.« Frau Sørensen hinter der Theke war wie immer ermunternd. Er würde ihr dieses »Oh, oh« ein andermal zurückgeben.

»Gut, dass du kommst, Carl. Wir haben das Ganze gerade noch einmal ventiliert.« Oben in seinem Büro deutete Marcus Jacobsen auf einen freien Stuhl. »Das sieht gar nicht gut aus.«

Carl runzelte die Stirn. War das nicht ein bisschen zu dick aufgetragen? Er nickte der Polizeipräsidentin zu, die in vollem Ornat erschienen war. Sie teilte sich mit Lars Bjørn eine Kanne Tee. Klar, Tee.

»Du weißt ja, worum es geht«, fuhr Marcus Jacobsen fort. »Mich wundert nur, dass du es heute Morgen nicht von selbst angesprochen hast.«

»Wovon redest du? Dass ich immer noch die Rørvig-Morde untersuche? Ist das nicht etwa genau das, was ich tun soll? Selbst zu entscheiden, welchen der alten Fälle ich aufrolle? Wie wär's, wenn ihr mich einfach machen ließet?«

»Zum Teufel, Carl. Jetzt hör doch endlich auf, um den heißen Brei herumzureden.« Lars Bjørn richtete sich auf, um neben der imposanten Erscheinung der Polizeipräsidentin nicht noch schmächtiger zu wirken. »Wir reden über Finn Aalbæk, Inhaber von Detecto, den du gestern auf dem Gammel Kongevej niedergeschlagen hast. Uns liegt hier die Darstellung des Falls durch seinen Anwalt vor. Du kannst es selbst nachlesen.«

Welcher Fall? Wovon redeten die? Carl riss das Papier an sich und warf einen Blick darauf. Was zum Teufel hatte Aalbæk da inszeniert? Carl hätte ihn angegriffen, da stand es schwarz auf weiß. Glaubten die diesen Scheiß tatsächlich?

Sjölund & Virksund war auf dem Briefbogen zu lesen. Mannomann, die High-Society-Gauner warfen sich ja ordentlich ins Zeug, um die Lügenmärchen dieses Versagers aufzupolieren.

Der Zeitpunkt stimmte: genau, als Carl Aalbæk an der Bushaltestelle überrumpelt hatte. Auch der Dialog war in etwa richtig wiedergegeben. Aber der Klaps auf den Rücken war umgewandelt in wiederholte harte Faustschläge ins Gesicht. Und an den Klamotten hätte er herumgezerrt. Fotos belegten die Verletzungen. Da sah Aalbæk wahrhaftig nicht gut aus.

»Dass der so verprügelt aussieht, das haben Pram, Dybbøl Jensen und Florin sich einiges kosten lassen«, verteidigte sich Carl. »Die haben Aalbæk gebeten, sich für die Prügel zur Verfügung zu stellen, damit sie mich von dem Fall wegkriegen - dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«

»Sehr gut möglich, dass Sie so denken, Mørck. Aber nichtsdestotrotz sind wir gezwungen, darauf zu reagieren. Sie kennen das Verfahren bei Anzeigen von Körperverletzung im Amt.« Die Polizeipräsidentin sah ihn an. Ihre Augen neutralisierten ihn für einen Moment.

»Wir wollen Sie nicht suspendieren«, fuhr sie fort. »Schließlich haben Sie bisher noch nie Leute misshandelt. Aber Anfang des Jahres hatten Sie ein tragisches und traumatisches Erlebnis. Vielleicht wirkt sich das doch stärker auf Sie aus, als Sie es wahrhaben wollen. Glauben Sie nicht, wir hätten dafür kein Verständnis.«

Carl lächelte sie kurz zerstreut an. Bisher noch nie Leute misshandelt, hatte sie gesagt. Gut, wenn sie das glaubte.

Der Chef der Mordkommission sah ihn nachdenklich an. »Natürlich wird es jetzt eine Untersuchung geben. Aber die Zeit bis dahin wollen wir nutzen und dir eine intensive Behandlung zukommen lassen. Dabei wird man sich gründlich mit dem auseinandersetzen, was du im letzten Halbjahr durchmachen musstest. Währenddessen ist es dir nicht gestattet, andere als rein administrative Aufgaben wahrzunehmen, die hier im Haus anfallen. Du kannst kommen und gehen wie gehabt, aber wir müssen dich natürlich bitten, und das bedauere ich, in dieser Zeit deine Dienstmarke und deine Pistole abzugeben.« Er streckte die Hand vor. Was war das sonst, wenn nicht eine Suspendierung!

»Die Pistole findest du oben in der Waffenkammer«, sagte Carl und gab ihm seine Dienstmarke. Als wenn ihn das Fehlen der Dienstmarke an was auch immer hindern würde. Das sollten sie doch wissen. Aber vielleicht waren sie ja genau darauf aus. Dass er sich zum Narren machte. Bei Dienstvergehen geschnappt wurde. War es das? Wollten die, dass er sich zum Narren machte, damit sie ihn ein für alle Mal loswurden?

»Ich kenne Rechtsanwalt Tim Virksund. Ich werde ihm erklären, dass Sie nicht mehr an dem Fall arbeiten, Mørck. Das wird ihm wohl genügen. Er weiß um die provozierende Art seines Klienten. Und dass dies hier vor Gericht kommt, davon hat keiner etwas«, sagte die Polizeipräsidentin. »Das löst im Übrigen auch das Problem, dass es Ihnen so schwerfällt, Anweisungen Folge zu leisten, nicht wahr?« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. »Dieses Mal sind Sie nun dazu gezwungen. Und Sie sollen gleich wissen, dass ich es künftig nicht mehr dulden werde, wenn Sie den Dienstweg umgehen, Mørck. Ich hoffe, wir verstehen uns. Der Fall wurde durch eine Verurteilung abgeschlossen. Wir wünschen, dass Sie sich anderen Fällen zuwenden, das haben wir Ihnen deutlich erklärt. Wie oft müssen wir das wiederholen?«

Er nickte und sah kurz aus dem Fenster. Wie er solche Scheißerklärungen hasste! Von ihm aus konnten die drei auf der Stelle aufstehen und dort hinausspringen.

»Ist es unbillig zu fragen, warum dieser Fall tatsächlich ausgebremst werden soll?«, fragte er dann. »Von wem kommt die Anweisung? Von politischer Seite? Und mit welcher Begründung? Meines Wissens sind hierzulande vor dem Gesetz alle gleich. Das gilt doch wohl auch für diejenigen, die wir verdächtigen? Oder habe ich da etwas falsch verstanden?«

Mit den schneidenden Blicken von Inquisitionsrichtern gaben die drei ihm zu verstehen, was sie von seiner Frage hielten.

Als Nächstes würden sie ihn wohl ins Meer werfen, um zu testen, ob er womöglich der Antichrist war und oben schwamm.


»Carl, ich hab was für dich. Aber was, das errätst du nie.« Rose klang begeistert. Er warf einen Blick in den Kellerflur. Mit den zusammengebauten Tischen hatte ihre Begeisterung jedenfalls nichts zu tun.

»Eine Kündigung, hoffe ich«, entgegnete er trocken und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

Bei dieser Bemerkung schien die dicke Schicht Wimperntusche noch schwerer zu werden. »Ich hab zwei Stühle für dein Büro.« Er warf einen erstaunten Blick auf die andere Seite des Tischs. Wie in aller Welt sollte auf den freien zehn Quadratmetern noch Platz für zwei Stühle sein?

»Damit warten wir«, sagte er. »Was gibt's sonst noch?«

»Und dann habe ich Illustriertenfotos, und zwar aus >Gossip< und >Hendes Liv<.« Roses Tonfajl war unverändert, aber sie knallte die Kopien der Zeitungsartikel nachdrücklicher als üblich auf den Tisch.

Carl sah desinteressiert darauf. Was ging ihn das jetzt noch an? Der Fall war ihm entzogen. Er sollte sie eigentlich bitten, den ganzen Kram einzupacken und sich dann eine naive Seele zu suchen, die ihr für gute Worte und ein bisschen Wangentätscheln half, die Scheißtische zusammenzubauen.

Dann nahm er die Kopien in die Hand.

Der eine Artikel widmete sich Kimmies Kindheit. Die Illustrierte >Hendes Liv< hatte ein Porträt vom Leben der Familie Lassen zusammengestellt. Die Überschrift lautete: »Ohne die Geborgenheit des Zuhauses kein Erfolg. Eine Huldigung an Kassandra Lassen, die schöne Ehefrau von Willy K. Lassen«. Aber das Foto zeigte etwas anderes: den Vater im grauen Anzug mit schmal geschnittener Hose und die Stiefmutter in grellen Farben und mit dem aufdringlichen Make-up der späten Siebzigerjahre. Gepflegte Menschen, sie etwa Mitte dreißig, er zehn Jahre älter. Selbstbewusst und mit harten Gesichtszügen. Dass die kleine Kirsten-Marie zwischen beiden eingeklemmt dastand, schienen sie nicht einmal wahrzunehmen. Aber Kimmie nahm es wahr, das war klar zu erkennen. Große ängstliche Augen. Ein Mädchen, das halt da war.

Auf dem Foto im >Gossip< siebzehn Jahre später sah Kimmie vollkommen anders aus. Vor welchem Lokal es aufgenommen war, konnte man nicht genau erkennen, wahrscheinlich vor dem Café Victor. Eine Kimmie, die bester Laune war. Enge Jeans, Boa um den Hals und offenbar total zugedröhnt. Trotz des Schnees auf dem Bürgersteig war sie tief dekolletiert. Sie lachte hinreißend. Rings um sie bekannte Gesichter, darunter Kristian Wolf und Ditlev Pram. Alle trugen riesige Mäntel. Die Bildunterschrift war gnädig. »Der Jetset gibt Gas. Der Abend des Dreikönigsfestes bekam seine eigene Königin. Hat Kristian Wolf, 29, Dänemarks begehrtester Junggeselle, endlich eine Lebensgefährtin gefunden?«

»Die da bei >Gossip< waren echt klasse«, erklärte Rose. »Vielleicht finden sie für uns noch mehr Artikel.«

Er nickte kurz. Wenn sie die Geier beim >Gossip< echt klasse fand, dann war sie echt naiv. »In den nächsten Tagen wirst du die Tische draußen auf dem Flur zusammenbauen, Rose. Okay? Was du zu dem Fall noch findest, legst du dort draußen bereit, und ich hole es mir dann, wenn ich es brauche. Alles klar?«

Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war es das mit Sicherheit nicht.

»Was ist oben bei Jacobsen passiert, Chef?«, war eine Stimme an der Tür zu hören.

»Was da passiert ist? Sie haben mich tatsächlich suspendiert. Aber sie wollen, dass ich mich trotzdem hier aufhalte. Wenn ihr also in dem Fall etwas von mir wollt, schreibt es auf einen Zettel und legt den auf den Tisch vor der Tür. Ich kann nicht darüber sprechen, sonst schmeißen sie mich einfach raus. Und Assad, hilf Rose beim Zusammenbauen dieser idiotischen Tische.« Er deutete auf den Flur. »So, und nun klappt noch einmal eure Löffel auf und hört mir gut zu: Wenn ich euch etwas zu dem Fall sagen oder euch Anweisungen dazu geben will, dann bekommt ihr das auf solchen Zetteln hier.« Er deutete auf seine Kalkulationsbögen. »Mir sind nämlich hier nur noch administrative Sachen gestattet, damit ihr Bescheid wisst.«

»Scheißladen.« Das war Assad. Blumiger ließ es sich nicht ausdrücken.

»Und außerdem muss ich noch eine Therapie machen. Deshalb bin ich vielleicht nicht immer im Büro. Tja, wollen mal sehen, welche Idioten sie dieses Mal auf mich ansetzen.«

»Ja, das wollen wir dann mal«, klang es unerwartet vom Flur her.

Voll banger Ahnungen sah Carl hinüber zur Tür.

Doch ja, das war Mona Ibsen. Immer zur Stelle, wenn die Nebelhörner tuteten. Und immer dann, wenn man die Hosen gerade ganz weit runtergelassen hatte.

»Das wird dieses Mal eine längere Angelegenheit, Carl«, sagte sie und schob sich an Assad vorbei.

Sie streckte ihm eine Hand entgegen. Die war warm und schwer loszulassen.

Ganz zart und ohne Trauring.


20


Kimmie fand den Zettel, den Tine ihr hinterlassen hatte, ohne Probleme. Wie besprochen steckte er unter dem Schild der Autovermietung in der Skelbækgade, und zwar gleich über der untersten Schraube, in dem schwarzen Teil. Durch die Feuchtigkeit fingen die Buchstaben schon an zu verlaufen.

Für die ungeschulte Tine war es schwer gewesen, auf dem kleinen Blatt Papier Platz für all die großen Blockbuchstaben zu finden. Aber Kimmie war im Dechiffrieren der Hinterlassenschaften von Leuten geübt.


HALLO. DIE POLIZEI WAR GESTERN BEI MIR - ER HEISST CARL MØRCK - UND NOCHN ANDERER UNTEN AUF DER STRASSE DER NACH DIR SUCHT - DER VOM HAUPTBAHNHOF. WEISS NICHT WER DAS IST - SEI VORSICHTIG - BIS BALD AUF DER BANK.T. K.


Sie las die Sätze mehrfach. Beim K. machte sie jedes Mal eine Vollbremsung wie ein Güterzug vorm roten Signal. Der Buchstabe brannte sich in die Netzhaut ein. Woher kam das K?

Der Polizist hieß Carl. Carl mit C. Der Buchstabe war besser. Besser als K, auch wenn sie sich gleich anhörten. Vor ihm hatte sie keine Angst.

Sie lehnte sich gegen den weinroten Nissan, der schon seit Urzeiten unter dem Schild stand. Tines Worte pflanzten eine ungeheure Müdigkeit in sie hinein. Als drängten Teufel in ihr Innerstes vor und saugten das Leben aus ihr heraus.

Ich geh nicht von meinem Haus weg, dachte sie. Die kriegen mich nicht.

Aber woher konnte sie wissen, ob es nicht doch so weit kam? Tine redete offenbar mit Menschen, die nach ihr, Kimmie, suchten. Menschen fragten Tine aus. Über Sachen, die nur Tine von Kimmie wusste. Viele verschiedene Sachen. Und damit war Tine nicht mehr einfach nur Ratten-Tine, die für sich selbst eine Gefahr darstellte. Nun war sie auch für Kimmie gefährlich.

Die soll mit keinem reden, dachte sie. Wenn ich ihr die tausend Kronen gebe, muss ich ihr das sagen, damit sie es begreift.

Instinktiv drehte sie sich um und entdeckte die hellblaue Nylonweste eines Zeitungsverteilers von einer dieser Gratiszeitungen.

Haben sie den darauf angesetzt, mich zu beobachten?, dachte sie. War das denkbar? Die wussten jetzt, wo Tine wohnte. Die wussten offenbar auch, dass sie Kontakt hatten. Und wenn Tine bis zu dem Schild beschattet worden war, als sie den Zettel darunterklemmte? Und wenn diejenigen, die nach ihr suchten, den Zettel auch gelesen hatten?

Sie versuchte, ihre Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Hätten sie ihn dann nicht weggenommen? Doch, klar. Und trotzdem: Hätten die?

Wieder sah sie zu dem Zeitungsverteiler hinüber. Dieser dunkle Mann versuchte, von seinem undankbaren Job zu leben. Warum sollte er ein paar zusätzliche Kronen ablehnen? Er brauchte ihr ja bloß mit den Augen zu folgen, die Ingerslevsgade hinunter und den Bahndamm entlang. Dafür musste er nur dort hinübergehen, wo es zur Haltestelle Dybbølsbro hinunterging. Eine bessere Aussicht gab es doch gar nicht. Ja, von dort oben würde der Typ genau beobachten können, wo sie hinging. Bis zu ihrem Gittertor und dem kleinen Haus waren es höchstens fünfhundert Meter. Höchstens.

Sie biss sich auf die Unterlippe und zog den Wollmantel enger um sich.

Dann überquerte sie die Straße und trat zu ihm. »Hier«, sagte sie und gab ihm fünfzehn Tausendkronenscheine. »Jetzt kannst du doch gut nach Hause gehen, oder?«

Nur in frühen Tonfilmen konnte man schwarze Männer mit aufgerissenen Augen sehen, die so groß und so weiß waren wie bei dem hier. Als wäre die schmächtige Hand, die ihm entgegengestreckt wurde, die Materialisierung und Erfüllung eines lange gehegten Traums. Die Kaution für die Mietwohnung. Für den kleinen Laden. Die Fahrkarte nach Hause, zu einem Leben unter brennender Sonne zwischen anderen schwarzen Männern.

»Heute ist Mittwoch. Was hältst du davon, wenn du bei deiner Arbeit anrufst und denen erzählst, du kämst erst Ende des Monats zurück? Verstehst du, was ich meine?«


Wie ein Rausch drängte sich der Nebeldunst in die Stadt und den Enghavepark und legte sich um sie. Die Umgebung verschwand in einem weißen Film. Erst die vielen Fenster des Kongens Bryghus, dann die Häuserblöcke davor, dann die Bühnenkuppel am Ende des Parks, dann der Springbrunnen. Feuchter Dunst mit dem Duft von Herbst.

Die Männer müssen sterben, sagten die Stimmen in ihrem Kopf.

Morgens hatte Kimmie den Hohlraum in der Mauer geöffnet und die Handgranaten herausgenommen. Sie hatte die teuflischen Apparaturen betrachtet und alles ganz klar vor sich gesehen. Sie mussten sterben, jeder für sich. Einer nach dem anderen. Dann würden Furcht und Reue die Übriggebliebenen verrückt machen.

Sie lachte ein bisschen. Ballte ihre eiskalten Hände, steckte sie tief in die Manteltaschen. Sie fürchteten sich ja schon jetzt vor ihr, diese Schweine, das stand fest. Und setzten alles daran, sie zu finden. Rückten immer näher. Koste es, was es wolle. Feige, wie sie waren.

Da hörte sie auf zu lachen. Das Letzte hatte sie bisher nicht bedacht.

Die waren doch feige! Eindeutig. Und feige Menschen warten nicht. Die rennen um ihr Leben, solange noch Zeit ist.

»Ich muss sie alle auf einmal erledigen«, sagte sie laut. »Irgendwie muss ich das hinkriegen, sonst verschwinden die. Ich muss, ich muss.« Und sie wusste, dass sie es konnte, aber die Stimmen in ihr wollten etwas anderes. Die waren starrsinnig. So waren sie. Es war zum Verrücktwerden.

Sie hatte auf der Parkbank gesessen, aber nun stand sie auf und kickte nach den Möwen, die sich um sie herum scharten.

In welche Richtung sollte sie jetzt gehen?

Mille, Mille. Liebe kleine Mille, lautete ihr inneres Mantra. Heute war ein schlechter Tag. Viel zu viel, zu dem sie Stellung beziehen musste.

Sie senkte den Blick und sah, wie der Nebel auf ihren Schuhen eine feuchte Spur hinterließ. Dann fielen ihr wieder die Buchstaben auf Tines Zettel ein. T. K. Aber woher kam dieses K.?


Sie waren in der 2G. Die Ferien zur Vorbereitung auf die Prüfungen standen unmittelbar bevor, und es war erst wenige Wochen her, seit Kimmie Kåre Bruno - am Boden zerstört durch ihr Gerede, sie fände ihn mittelmäßig, unbegabt und langweilig - hatte abblitzen lassen.

In den darauffolgenden Tagen hatte Kristian angefangen, sie aufzuziehen.

»Du traust dich nicht, Kimmie«, flüsterte er ihr jeden Tag bei der Morgenversammlung zu.

Und jeden Tag knuffte er sie und klopfte ihr auf die Schulter, während der Rest der Gruppe zuschaute. »Du traust dich nicht, Kimmie!«

Aber Kimmie traute sich durchaus, das wussten sie. Und sie passten genau auf, was sie tat. Beobachteten ihren Eifer in den Stunden. Ihre zwischen die Stuhlreihen ausgestreckten Beine, den hochgerutschten Rock. Die Grübchen beim Lächeln, ganz besonders, wenn sie nach vorn ging. Die dünnen Blusen und die einschmeichelnde Stimme. Sie brauchte vierzehn Tage, bis sie in dem einzigen Lehrer der Schule, den mehr oder weniger alle mochten, das Begehren geweckt hatte. Es so nachdrücklich geweckt hatte, dass es zum Lachen war.

Er war als Letzter dazugekommen. Glatte Haut und dennoch ein richtiger Mann. Das beste Diplom für das Dänischstudium an der Kopenhagener Universität, hieß es. Nicht der Prototyp eines Internatslehrers, überhaupt nicht. Er war ein gesellschaftskritischer Mensch und gab ihnen ausgewogene, vielschichtige Lektüre zu lesen.

Und Kimmie ging zu ihm und fragte ihn, ob er sie auf die Prüfungen vorbereiten würde. Die erste Stunde war noch nicht um, da war er schon verloren. Gemartert von den Rundungen, die ihr dünnes Baumwollkleidchen so freigebig offenbarte.

Er hieß Klavs mit v, was er gerne mit der geringen Urteilskraft seines Vaters und dessen übertriebenem Interesse an der Disney-Welt erklärte. Trotzdem traute sich keiner, ihn Klavs Krikke zu nennen.

Bereits nach drei Stunden führte er nicht mehr Buch über Kimmies zusätzliche Stunden. Er empfing sie in seiner Wohnung, schon halbwegs entkleidet, bei voll aufgedrehten Heizkörpern. Angeturnt von unersättlichem Begehren. Unkontrollierte Küsse, ruhelose Hände auf ihrer nackten Haut, das Gehirn vollständig ausgeschaltet. Gleichgültig gegenüber lauschenden Ohren, neidischen Blicken, Reglementierungen und Sanktionen.

Sie hatte eigentlich vorgehabt, dem Hausvater zu erzählen, er habe sie gezwungen. Einfach nur, um zu sehen, wohin das führen würde. Weil sie wissen wollte, ob sie die Situation ein weiteres Mal lenken konnte.

Aber so weit kam es nicht.

Der Rektor rief beide zur gleichen Zeit zu sich. Ließ sie stumm und nervös nebeneinander im Vorraum sitzen. Die Sekretärin war ihre Anstandsdame.

Und Klavs und Kimmie redeten nach diesem Tag nie wieder miteinander. Was aus ihm wurde, kümmerte sie nicht.


Beim Rektor wurde Kimmie mitgeteilt, sie könne ihre Sachen packen, der Bus nach Kopenhagen gehe in einer halben Stunde. Sie brauche sich nicht die Mühe zu machen, in Schuluniform zu fahren, im Gegenteil, er wünsche, sie möge es nicht tun. Sie könne sich mit augenblicklicher Wirkung als von der Schule verwiesen betrachten.

Kimmie sah lange auf die rot gesprenkelten Wangen des Rektors, ehe sie den Blick auf seine Augen richtete.

»Es ist ja durchaus möglich, dass du ...« Sie machte eine Pause, lange genug, um die unverzeihliche Anrede wirken zu lassen. »... dass du mir nicht glaubst, dass er mich gezwungen hat. Aber wie kannst du dir so sicher sein, dass die Boulevardzeitungen das auch so sehen? Kannst du dir den Skandal nicht ausmalen? Lehrer vergewaltigt Schülerin in ... Kannst du dir das nicht vorstellen?«

Die Bedingung für ihr Schweigen war simpel: Sie wollte gehen. Einfach ihre Sachen packen und die Schule sofort verlassen. Ihr selbst war der Schulverweis vollkommen egal, Hauptsache, die Schule informierte ihre Eltern nicht. Das war ihre Bedingung.

Der Rektor protestierte. Erwähnte, wie unanständig es wäre, wenn die Schule sich für etwas bezahlen ließe, was sie nicht leistete. Respektlos griff sich Kimmie ein Buch vom Schreibtisch, riss eine Seite heraus und notierte eine Nummer darauf.

»Hier«, schob sie ihm den Zettel zu. »Das ist meine Kontonummer. Du überweist das Schulgeld einfach an mich.«

Er seufzte schwer. Und dieses Zettelchen befreite sie vom Joch jahrzehntelanger Autorität.

Sie hob den Blick und spürte die Ruhe, die sie erfüllte. Doch dann drangen vom Spielplatz helle Kinderstimmen zu ihr herüber und begannen, an ihr zu nagen.

Dort waren überhaupt nur zwei Kinder mit ihrem Kindermädchen. Kleine Kinder mit unbeholfenen Bewegungen, die zwischen den herbstlich stillen Spielgeräten Fangen spielten.

Sie trat aus dem Nebel auf sie zu und betrachtete sie. Das kleine Mädchen hielt etwas in der Hand, was der Junge haben wollte.

So ein kleines Mädchen hatte sie auch einmal gehabt.

Sie merkte, wie das Kindermädchen den Blick starr auf sie gerichtet hatte und aufstand. Die Alarmbereitschaft war in dem Augenblick ausgelöst worden, als Kimmie in schmutzigen Sachen und mit ungekämmten Haaren aus dem Gebüsch auftauchte.

»So habe ich gestern nicht ausgesehen, da hättest du mich sehen sollen!«, rief sie dem Kindermädchen zu.

Wäre sie herausgeputzt in den Klamotten vom Hauptbahnhof, wäre die Sache anders verlaufen. Alles hätte anders ausgesehen. Vielleicht hätte das Kindermädchen sogar mit ihr gesprochen. Hätte ihr zugehört.

Aber das Kindermädchen hörte nicht zu. Sie kam angerannt und schnitt Kimmie mit ausgebreiteten Armen resolut den Weg zu den Kindern ab. Denen rief sie zu, sie sollten sofort zu ihr kommen. Nur wollten die Kinder das nicht. So kleine Kobolde gehorchen nicht immer, wusste sie das denn nicht? Das amüsierte Kimmie.

Da schob sie den Kopf vor und lachte dem Kindermädchen ins Gesicht.

»Kommt endlich«, schrie das Mädchen hysterisch und sah Kimmie an wie den letzten Abschaum.

Deshalb trat Kimmie einen Schritt vor und schlug zu. Die sollte aus ihr kein Ungeheuer machen.

Und das Mädchen lag auf der Erde und schrie, sie solle verdämmt noch mal sofort aufhören, sonst würde sie eine Abreibung bekommen, dass ihr Hören und Sehen vergehe. Sie kenne viele, die das gerne übernehmen würden.

Da trat Kimmie sie in die Seite. Erst einmal und dann noch einmal, dann war sie still.

»Komm zu mir, meine Kleine, und zeig mir, was du in der Hand hast«, lockte Kimmie. »Hast du da ein Zweiglein?«

Aber die Kinder standen wie angewurzelt da. Standen einfach nur da und heulten, Camilla sollte kommen.

Kimmie trat näher. Was für ein süßes kleines Mädchen, auch wenn es weinte. Sie hatte so schönes langes Haar. Braunes Haar, genau wie die kleine Mille.

»Komm, meine Kleine, und zeig mir, was du in der Hand hast«, wiederholte sie und ging auf das Kind zu.

Von hinten hörte sie ein Pfeifen, aber obwohl sie sich blitzschnell umdrehte, gelang es ihr nicht, den harten, verzweifelten Schlag gegen ihren Hals abzuwehren.

Sie fiel mit der Nase in den Kies und schlug mit dem Unterleib gegen einen Markierungsstein am Wegrand.

Derweil rannte das Kindermädchen wortlos um sie herum und schnappte sich die Kinder, auf jeder Seite eins. Eine richtig dumme Ziege. Enge Hosen und lange Haare.

Kimmie hob den Kopf und sah die verheulten Kindergesichter mit ihrer Camilla hinter dem Gebüsch verschwinden.

So ein kleines Mädchen wie dieses da hatte sie auch einmal gehabt. Jetzt lag es zu Hause in dem Kistchen unter der Liege. Geduldig wartend.

Bald würden sie wieder vereint sein.


21


»Ich möchte, dass wir dieses Mal ganz offen über die Dinge sprechen«, sagte Mona Ibsen. »Letztes Mal sind wir ja nicht ganz so weit gekommen, wie wir sollten, nicht wahr?«

Carl schaute sich in ihrer Welt um. Poster mit schönen Naturszenen, Palmen und Bergen. Klare Farben, Sonne. Stühle aus edlen Hölzern, zarte Pflanzen.

Dazu diese unglaubliche Ordnung. Nichts Zufälliges. Nichts, was stören konnte. Und dann trotz allem diese enorme Ablenkung, wenn man auf der Couch lag, alle Sinne weit offen, und an nichts anderes denken konnte. Als der Frau die Kleider vom Leib zu reißen.

»Ich werd's versuchen«, sagte er. Er wollte alles tun, worum sie ihn bat. Er hatte sowieso nichts anderes zu tun.

»Sie haben gestern einen Mann angegriffen. Können Sie mir erklären, warum?«

Er protestierte, beteuerte seine Unschuld. Aber sie sah ihn trotzdem an, als lüge er.

»Wir kommen bei Ihnen wohl nur weiter, wenn wir ein wenig in der Zeit zurückgehen und die Ereignisse von damals aufrollen. Möglicherweise finden Sie das unangenehm, aber es muss sein.«

»Schießen Sie los«, sagte er. Die Augen hatte er so weit geschlossen, dass er gerade noch sehen konnte, was die Atmung mit ihren Brüsten anstellte.

»Im Januar dieses Jahres sind Sie auf Amager in eine Schießerei geraten. Darüber haben wir früher schon mal gesprochen. Können Sie sich an das genaue Datum erinnern?«

»Das war am 26. Januar.«

Sie nickte, als wenn es sich um ein besonders gutes Datum handelte. »Sie selbst kamen recht glimpflich davon. Anders als Ihre Kollegen. Der eine, Anker, starb, und der andere liegt gelähmt in der Klinik. Wie kommen Sie damit heute, acht Monate später, zurecht, Carl?«

Er sah zur Decke. Wie er damit zurechtkam? Keine Ahnung. Es hätte halt einfach nicht passieren dürfen.

»Das, was da passiert ist, tut mir natürlich leid.« Er sah Hardy vor sich, dort in der Klinik. Traurige, stille Augen. 120 Kilo Lebendgewicht.

»Quält es Sie?«

»Ja, ein bisschen.«

Er versuchte ein Lächeln, aber sie sah in die Papiere vor sich.

»Hardy hat mir von seinem Verdacht erzählt. Er meint, derjenige, der auf Sie geschossen hat, habe Sie dort draußen auf Amager erwartet. Hat er Ihnen das auch gesagt?«

Das konnte Carl bestätigen.

»Und er glaubt auch, dass die Warnung entweder von Ihnen oder von Anker ausgegangen sei.«

»Ja.«

»Wie geht es Ihnen bei diesem Gedanken?«

Jetzt versuchte sie ihn einzuschätzen. Nach seinem Dafürhalten blitzten ihre Augen vor Erotik. Ob sie auch nur ahnte, wie sehr das ablenkte?

»Vielleicht hat er recht«, antwortete er.

»Sie waren es natürlich nicht, das kann ich Ihnen ansehen. Stimmt's?«

Und selbst wenn doch, was konnte sie denn anderes erwarten, als dass er es bestritt? Für wie dumm hielt sie die Leute denn? Was glaubte sie denn, wie viel man an einem Gesicht ablesen konnte?

»Natürlich nicht, nein.«

»Aber wenn es Anker war, dann ist für ihn etwas ganz fürchterlich schiefgegangen, oder?«

Mag ja sein, dass ich scharf auf dich bin, dachte er. Aber wenn du willst, dass ich bei der Stange bleibe, dann stell verdammt noch mal ein paar richtige Fragen.

»Ja klar«, sagte er und hörte seine eigene Stimme wie ein Flüstern. »Hardy und ich müssen die Möglichkeit in Erwägung ziehen. Im Moment bin ich allerdings Opfer eines verlogenen Schnüfflerschweins, und einige Machtmenschen versuchen, mir ein Bein zu stellen. Aber sowie das abgehakt ist, legen wir los.«

»Im Präsidium nennen sie den Fall nach der Mordwaffe den Druckluftnagler-Fall. Hatte man dem Opfer nicht in den Kopf geschossen? Das hatte den Anschein einer Hinrichtung.«

»Vielleicht. Ich habe nicht so sehr viel sehen können - was in der Natur der Sache lag. Ich "habe mich seit damals nicht mehr mit dem Fall befasst. Im Übrigen gibt es eine Folgegeschichte, aber das wissen Sie sicher. In Sorø wurden zwei junge Männer auf dieselbe Weise ermordet. Man geht davon aus, dass es sich um dieselben Täter handelt.«

Sie nickte. Klar wusste sie davon. »Carl, dieser Fall quält Sie, nicht wahr?«

»Nein, dass er mich quält, kann ich nicht behaupten.«

»Was quält Sie dann?«

Er packte die Seite der ledernen Liege. Das war die Gelegenheit überhaupt. »Was mich quält? Dass Sie mir einen Korb geben, wann immer ich versuche, Sie einzuladen. Das quält mich.«


Ziemlich aufgedreht verließ er Mona Ibsen. Liebe Zeit, wie hatte sie ihn beschimpft. Und dann mit Fragen überhäuft, Fragen voller Anklagen und Zweifel. Oft wäre er am liebsten aufgesprungen und hätte sie bestürmt, an ihn zu glauben. Aber Carl blieb liegen und antwortete höflich. Am Ende hatte sie sich ohne große emotionale Anteilnahme und mit einem gestressten Lächeln auf eine Zusage eingelassen. Wenn sie mit ihm als Klient fertig sei.

Vielleicht glaubte sie, mit diesem vagen Versprechen in sicherem Fahrwasser zu sein. Vielleicht vertraute sie darauf, dass er auf immer und ewig unter Verdacht stehen und entsprechend endlos in Therapie sein würde. Aber Carl wusste es besser. Er würde dafür sorgen, dass sie ihr Versprechen einlöste.

Er blickte die Jægersborg Alle hinunter durch den malträtierten Ortskern von Charlottenlund. Fünf Minuten bis zum Bahnhof, eine halbe Stunde S-Bahn-Fahrt, und schon würde er wieder passiv auf seinem justierbaren Bürostuhl in einem Winkel des Kellers sitzen. Keine besonders geeignete Kulisse für seinen neu gewonnenen Optimismus.

Es musste etwas passieren. Aber dort unten im Keller würde garantiert nichts passieren, nada.

Als er an die Stelle kam, wo der Lindegårdsvej einmündet, sah er die Straße hinauf. An ihrem Ende begann der Stadtteil Ordrup. Es machte Sinn, jetzt gleich dorthin zu spazieren, das wusste er ganz genau.

Dann gab er auf seinem Handy Assads Nummer ein. Automatisch kontrollierte er den Ladezustand des Akkus. Gerade aufgeladen und trotzdem schon halb leer. Ärgerlich.

Assad klang erstaunt. Durften sie überhaupt miteinander reden?

»So ein Quatsch, Assad. Wir sollten nur im Präsidium nicht an die große Glocke hängen, dass wir noch zugange sind. Hör mal zu, kannst du nicht mal ein bisschen nachforschen, mit wem wir im Internat reden können? In der großen Mappe liegt ein Jahrbuch. Da kannst du nachlesen, mit wem sie in eine Klasse gingen. Entweder das, oder du findest einen der Lehrer, die in der Zeit von '85 bis '87 dort angestellt waren.«

»Ich hab mir das Buch angeschaut«, antwortete er. Wer zum Teufel hätte auch etwas anderes angenommen?

»Ein paar Namen hab ich schon, Chef, aber ich mach noch weiter.«

»Gut. Und jetzt stell mich zu Rose durch, ja?« Es verging eine Minute, dann hörte er ihr atemloses »Ja!«. In ihrer Rhetorik hatten Cheftitel keinen Platz.

»Du baust Tische zusammen, nehme ich an?«

»Ja!« Wenn jemand in der Lage war, mit einem so kurzen Wort Ärger, Anklage und Kälte auszudrücken, dann war es Rose Knudsen. Es war nicht zu überhören, wie genervt sie war, bei einer so wichtigen Tätigkeit unterbrochen zu werden.

»Ich brauche die Adresse von Kimmie Lassens Stiefmutter. Ich weiß, dass du mir einen Zettel gegeben hast, aber den habe ich nicht bei mir. Gib mir nur die Adresse, ja? Und bitte keine Fragen nach dem Wie und Warum.«

Er stand vor der Filiale der Danske Bank, wo gepflegte Damen und ebensolche Herren geduldig Schlange standen. An einem Zahltag wie heute war das hier offenbar nicht anders als in Brøndby und draußen in Tåstrup. Aber dort konnte er das besser verstehen. Warum in aller Welt standen wohlhabende Menschen wie die Bewohner von 2920 Charlottenlund in der Bank Schlange? Hatten die nicht ihre Leute, um Rechnungen zu bezahlen? Kannten die kein Internetbanking? Oder hatte er vielleicht doch keine Ahnung von den Gewohnheiten reicher Menschen? Vielleicht kauften sie am Lohntag für das gesamte Kleingeld Aktien? So wie die Penner in Vesterbro Bier und Zigaretten kauften?

Jeder Vogel piepst mit seinem Schnabel, dachte er. Er sah hinüber zur Fassade der Apotheke und registrierte im Fenster des Gebäudes das Schild des Rechtsanwalts Bent Krum. Zulassung für den Obersten Gerichtshof stand dort. Bei Klienten wie Pram, Dybbøl Jensen und Florin brauchte man so eine Zulassung wohl auch.

Er seufzte tief.

An diesem Büro einfach vorbeizugehen, das wäre so, als könnte man sämtliche biblischen Versuchungen auf einmal ignorieren. Da würde wahrscheinlich sogar der Teufel lachen. Andererseits - würde er klingeln, hineingehen und Bent Krum befragen, dann hätte er keine zehn Minuten später die Polizeipräsidentin an der Strippe. Und nach dem Telefonat könnte er direkt den Hut nehmen und das Sonderdezernat Q dichtmachen.

Einen Augenblick stand er unentschlossen vor der Tür - und vor der Entscheidung: die unfreiwillige Frühpensionierung riskieren oder eine andere, womöglich bessere Gelegenheit für die Konfrontation abwarten?

Klüger wäre es, vorbeizugehen, dachte er. Unterdessen entwickelte sein Finger ein Eigenleben und drückte energisch auf die Türklingel. Zum Teufel auch, wenn jemand meinte, seine Ermittlungen ausbremsen zu können. Er musste hier auf den Busch klopfen. Und zwar lieber früher als später.

Er schüttelte den Kopf und ließ die Klingel los. Jetzt hatte ihn wieder das eingeholt, was schon der Fluch seiner Jugend gewesen war: Niemand außer ihm allein hatte über ihn zu bestimmen.

Eine dunkle Frauenstimme teilte ihm kurz mit, er müsse etwas warten. Nach einer Weile waren Schritte auf der Treppe zu hören, dann kam hinter der Glastür eine Frau in Sicht. Sie trug einen zünftigen Pelzmantel und um die Schultern ein Designertuch. Mindestens vier Fünftel ihres Zusammenlebens hatte Vigga so einen Mantel in den Schaufenstern von Birger Christensen in der Østergade bewundert. Als wenn er bei Vigga jemals so gesessen hätte. Und hätte sie ihn bekommen, wäre er zum gegenwärtigen Zeitpunkt höchstwahrscheinlich längst von einem ihrer Künstlerliebhaber für eine abgefahrene Installation zerschnippelt und ausgeschlachtet worden.

Die Frau öffnete die Tür und schenkte ihm ein so strahlendes Lächeln, wie es nur für Geld zu erlangen war.

»Es tut mir außerordentlich leid, aber ich war schon fast aus der Tür. Mein Mann ist donnerstags nicht hier. Vielleicht können Sie für einen anderen Tag einen Termin vereinbaren.«

»Nein, ich ...« Instinktiv griff Carl nach der Polizeimarke in der Tasche, fand aber nichts als Wollfusseln. Eigentlich hatte er sagen wollen, er sei im Rahmen einer Ermittlung gekommen. Irgendetwas von wegen, ihr Mann solle nur ein paar Routinefragen beantworten und ob er nicht in einer oder zwei Stunden wiederkommen könne, falls es passe. Nur kurz. Aber er sagte etwas anderes.

»Ist Ihr Mann auf dem Golfplatz?«

Sie sah ihn verständnislos an. »Meines Wissens spielt mein Mann nicht Golf.«

»Okay.« Er holte tief Luft. »Ich bedauere sehr, Ihnen das sagen zu müssen. Aber Sie und ich, wir werden betrogen. Ihr Mann und meine Frau haben sich gefunden, so ist es leider. Und ich will nun gern wissen, wo ich stehe.« Er beobachtete, wie schmerzlich er die unschuldige Frau getroffen hatte, und versuchte derweil, selbst ganz verzagt auszusehen.

»Entschuldigung«, sagte er. »Es tut mir so leid.« Er legte ihr vorsichtig die Hand auf den Arm. »Das war falsch von mir, bitte entschuldigen Sie vielmals.«

Dann trat er zurück auf den Bürgersteig und ging schnellen Schrittes in Richtung Ordrup. Er war schockiert, wie sehr ihn die impulsiven Attacken seines syrischen Kollegen angesteckt hatten.


Kassandra Lassen wohnte im Kirkevej gegenüber der Kirche. Drei Carports, zwei Treppentürme, ein Gärtnerhaus aus Klinkersteinen, Hunderte Meter frisch verputzte Gartenmauer und obendrein fünf- bis sechshundert Quadratmeter Villa. Mehr Messing an den Türen als auf der gesamten königlichen Yacht »Dannebrog«. Bescheidenheit war etwas anderes.

Erfreut beobachtete Carl die Schatten, die sich hinter den Scheiben im Parterre bewegten. Es gab also eine Chance.

Die Hausangestellte wirkte abgearbeitet. Sie willigte ein, Kassandra Lassen zur Tür zu bringen - falls möglich.

Dieses »Zur-Tür-Bringen« schien sich schwieriger zu gestalten, als es ohnehin schon klang.

Doch dann verstummte der lautstarke Protest aus dem Hintergrund plötzlich und Carl hörte eine Frauenstimme fragen: »Ein junger Mann, sagst du?«

Kassandra Lassen war der Inbegriff einer Frau aus der Oberschicht, die bessere Tage und Männer gesehen hatte. Keine Spur mehr von der schlanken Frau aus dem Illustriertenartikel. In dreißig Jahren kann wirklich eine Menge passieren, das war mal sicher. Sie trug einen japanischen Kimono, der so lose saß, dass die Seidenunterwäsche einen Großteil des Gesamteindrucks ausmachte. Sie gestikulierte ausufernd. Sie hatte sofort erfasst, dass sie einen richtigen Mann vor sich hatte. Denen war sie anscheinend noch nicht abhold.

»Bitte treten Sie doch ein«, sagte sie entgegenkommend. Ihre Fahne kam nicht nur von einem Schlückchen. Aber gute Herkunft, Malt Whisky, tippte Carl. Ein Kenner hätte vermutlich den Jahrgang ergänzen können, so kräftig war die Fahne.

Er wurde an ihrem Arm ins Haus geführt. Genauer genommen dirigierte sie ihn, während sie sich an ihn klammerte. Schließlich landeten sie in dem Teil des Erdgeschosses, den sie mit tieferer Stimme My Room nannte.

Er musste in einem Sessel Platz nehmen, der dicht neben ihrem stand und so ausgerichtet war, dass Carl direkt mit ihren schweren Augenlidern und den noch schwereren Brüsten konfrontiert war. Es war bemerkenswert.

Auch hier hielt die Freundlichkeit - oder das Interesse, könnte man vielleicht sagen - nur so lange an, bis Carl sein Anliegen vorgebracht hatte.

»Sie wollen von mir etwas über Kimmie erfahren?« Sie legte die Hand mit den langen Fingernägeln auf die Brust. Was bedeuten sollte, dass nun entweder er oder sie zu Boden ging -

Da versuchte er es mit einer anderen Gangart.

»Ich habe gehört, in diesem Haus wisse man, was sich schickt. Hier könne man mit einer guten Behandlung rechnen, egal in welcher Angelegenheit man anklopft. Deshalb bin ich gekommen.« Wirkung: gleich null.

Da griff er nach der Karaffe und schenkte ihr nach. Vielleicht löste ihr das die Zunge.

»Lebt das Mädchen überhaupt noch?«, fragte sie. In ihrer Stimme war nicht der Hauch von Mitgefühl zu hören.

»Ja, in Kopenhagen. Sie lebt auf der Straße. Ich habe ein Foto von ihr, wollen Sie es sehen?«

So wie sie die Augen schloss und wegsah, hätte man meinen können, er habe ihr Hundescheiße vor die Nase gehalten. Herr im Himmel, das brauchte sie nun wirklich nicht.

»Können Sie mir sagen, was Sie und ihr damaliger Mann dachten, als Sie 1987 vom Verdacht gegen Kimmie und ihre Freunde hörten?«

Wieder führte sie eine Hand zur Brust. Dieses Mal, um sich zu konzentrieren, so sah es jedenfalls aus. Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und der Whisky schien seine Wirkung zu tun. »Wissen Sie was, mein Lieber? Wir haben uns ehrlich gesagt nicht sonderlich um all das gekümmert. Wir sind recht viel gereist, müssen Sie wissen.« Mit einem Ruck wendete sie den Kopf und sah ihn an. Es dauerte einen Moment, bis sie die Orientierung wiedergefunden hatte. »Reisen ist ein Lebenselixier, heißt es. Und mein Mann und ich sind unterwegs immer wunderbaren Menschen begegnet. Die Erde ist so herrlich, finden Sie nicht auch, Herr ...?«

»Mørck. Carl Mørck.« Er nickte. Um noch ein zweites dermaßen abgestumpftes Wesen zu finden, musste man auf die Grimmschen Märchen zurückgreifen. »Ja, da haben Sie ganz recht.« Sie brauchte ja nicht zu wissen, dass er sich nur einmal weiter als neunhundert Kilometer von Valby Bakke entfernt hatte. Mit dem Reisebus an die Costa Brava. Damals hatte er, Carl, zwischen lauter Pensionären am Strand geschmort, während Vigga die lokalen Künstler aufgesucht hatte.

»Sind Sie der Meinung, am Verdacht gegen Kimmie könnte etwas dran gewesen sein?«, fragte er.

Sie zog die Mundwinkel herunter. Vermutlich ein Versuch, seriös zu wirken. »Wissen Sie was? Kimmie war ein furchtbares Mädchen. Sie brachte es fertig, einen zu schlagen! Ja, sogar schon, als sie noch ganz klein war. Manchmal, wenn ihr etwas gegen den Strich ging, bewegten sich ihre Arme wie Trommelstöcke! Sehen Sie, so etwa.« Sie versuchte, es ihm vorzumachen, und der Malt spritzte in alle Richtungen.

Welches normal entwickelte Kind tut das nicht?, dachte Carl. Besonders bei solchen Eltern.

»Aha. War sie auch noch so, als sie älter wurde?«

»Ha! Sie war eklig! Beschimpfte mich auf übelste Weise. Das können Sie sich gar nicht vorstellen!«

Oh, das konnte er sehr wohl.

»Und außerdem war sie ein - leichtes Mädchen.«

»Leicht? Inwiefern?«

Sie massierte die feinen blauen Äderchen auf ihrem Handrücken. Erst jetzt entdeckte er die Gicht, die sich in ihren Gelenken eingenistet hatte. Er blickte zu ihrem Glas, das fast schon wieder leer war. Schmerzlinderung hat viele Gesichter, dachte er.

»Als sie aus der Schweiz zurückkam, brachte sie alle möglichen Leute mit nach Hause und ... ja, ich sage es, wie es war ... wie ein Tier bumste sie mit denen bei offener Tür, während ich durchs Haus ging.« Sie schüttelte den Kopf. »Es war kaum möglich, allein zu sein, Herr Mørck.« Sie senkte den Kopf und sah ihn ernst an. »Ja. Zu dem Zeitpunkt hatte Willy, also Kimmies Vater, schon seine Sachen gepackt und war abgehauen.« Sie nippte an ihrem Glas. »Als hätte ich ihn halten wollen. Dieser lächerliche ...«

Dann drehte sie den Kopf wieder zu ihm hin. Wenn sie sprach, sah man, dass der Rotwein die Zähne verfärbt hatte. »Gehen Sie allein durchs Leben, Herr Mørck?« Ihre Bewegung mit der Schulter und die offensichtliche Einladung fänden in jedem Groschenroman ihren Platz.

»Ja. Das tue ich«, sagte er und nahm die Aufforderung an. Sah ihr direkt in die Augen und hielt ihren Blick so lange fest, bis sie langsam die Augenbrauen hochzog und noch einmal am Glas nippte. Nur ihre Wimpern waren über dem Rand des Glases zu sehen. Es war lange her, dass ein Mann sie so angesehen hatte.

»Wussten Sie, dass Kimmie schwanger wurde?«, fragte er da.

Sie atmete tief ein. Einen Augenblick wirkte es, als sei sie weit weg. Aber die Nachdenklichkeit war ihr wie auf die Stirn geschrieben. Als wenn sie eher das Wort »schwanger« schmerzte als die Erinnerung an eine gescheiterte menschliche Beziehung. Sie selbst hatte keine Kinder bekommen, soweit Carl wusste.

»Ja«, sagte sie kalt. »Ja, sie wurde schwanger, dieses Flittchen. Nicht verwunderlich.«

»Und was dann?«

»Ja, dann wollte sie natürlich Geld.«

»Und, hat sie es bekommen?«

»Nicht von mir!« Sie beendete den Flirt. Aus ihrer Stimme sprach jetzt kalte Verachtung. »Ihr Vater gab ihr zweihundert-fünfzigtausend Kronen. Und forderte sie auf, sich nie wieder bei ihm zu melden.«

»Und Sie? Haben Sie von ihr gehört?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen sagten: zum Glück.

»Wer war der Vater des Kindes, wissen Sie das?«

»Ach, das wird dieser kleine Versager gewesen sein, der die Holzhandlung seines Vaters abgefackelt hat.«

»Sie meinen Bjarne Thøgersen? Der wegen der Morde ins Gefängnis kam?«

»Sicher. Wie er hieß, weiß ich nun wirklich nicht mehr.«

»Ah ja.« Das war unter Garantie gelogen. Whisky oder nicht. So etwas vergaß man nicht einfach so. »Kimmie wohnte eine Weile hier, und Sie sagen, das sei nicht leicht für Sie gewesen?«

Ungläubig starrte sie ihn an. »Sie glauben wohl, ich hätte diesen Zirkus lange mitgemacht? Nein, in der Phase zog ich es vor, an der Küste zu wohnen.«

»An der Küste?«

»An der Costa del Sol. Fuengirola. Wunderbare Dachterrasse direkt gegenüber der Promenade. Wunderbarer Ort. Kennen Sie Fuengirola, Herr Mørck?«

Er nickte. Bestimmt war sie wegen ihrer Gicht dort. Aber an sich gingen dorthin eher Menschen mit kleinem Vermögen und einer Leiche im Keller. Hätte sie Marbella gesagt, das hätte er besser verstanden. Sie verfügte doch wohl über ein gewisses Vermögen.

»Glauben Sie, es könnte hier im Haus noch irgendetwas geben, das Kimmie gehört?«, sagte er.

In diesem Moment machte sie dicht. Sie saß nur stumm da und trank in aller Ruhe aus. Als das Glas leer war, war es das Gehirn ebenfalls.

»Ich glaube, Kassandra muss jetzt ruhen«, sagte da die Hausangestellte. Sie hatte sich die ganze Zeit stand-by im Hintergrund gehalten.

Carl hob die Hand, um sie zu bremsen. Ein Verdacht war in ihm aufgekeimt.

»Frau Lassen, gestatten Sie mir, Kimmies Zimmer zu sehen? Ich habe gehört, es sei noch genau so wie damals.«

Das war einfach ein Schuss ins Blaue gewesen. Eine dieser Fragen, wie sie bei gewieften Polizisten in dem Karton liegen, auf dem »einen Versuch wert« steht. Sie werden immer mit diesem »Ich habe gehört ...« eingeleitet.

In Notfällen stets ein guter Anfang.

Die Hausangestellte bekam zwei Minuten, um die Dame des Hauses auf ihr vergoldetes Lager zu betten. In der Zwischenzeit sah sich Carl um. Ob Kimmie hier als Kind gelebt hatte oder nicht - als Zuhause für ein Kind war diese Villa völlig ungeeignet. Keine Ecke, wo man spielen konnte. Viel zu viel Krimskrams, viel zu viele japanische und chinesische Vasen. Gestikulierte man zu heftig, riskierte man einen Versicherungsfall mit sechs Nullen. Eine sehr ungemütliche Atmosphäre, die sich garantiert in all den Jahren nicht verändert hatte. Ein richtiges Kindergefängnis, so empfand er es.

»Ja«, sagte die Hausangestellte auf der Treppe hinauf in den zweiten Stock. »Kassandra wohnt hier ja nur. Gehören tut das Haus Kimmie. Deshalb ist im zweiten Stock noch alles so, wie es zuletzt war.«

Kassandra Lassen lebte also von Kimmies Gnaden in dieser Villa. Entschied sich Kimmie, in die Gesellschaft zurückzukehren, konnte Kassandra sehen, wo sie blieb. Was für Irrungen des Schicksals! Die reiche Frau, die auf der Straße lebte, und die Arme, die den Parnass hütete. Deshalb also wohnte Kassandra in Fuengirola und nicht in Marbella. Das beruhte gar nicht auf ihrer freien Entscheidung.

»Es ist unordentlich, ich warne Sie«, sagte die Hausangestellte und stieß die Tür auf. »Aber wir haben beschlossen, es so zu lassen. Die Tochter soll nicht kommen können und behaupten, Kassandra habe geschnüffelt. Und ich finde, damit hat sie ganz recht.«

Carl nickte. Wo fand man heutzutage noch solche loyalen Dienstboten, blind auf beiden Augen? Dabei sprach sie nicht einmal ausländisch.

»Kannten Sie Kimmie?«

»Lieber Himmel, nein. Als könnte ich schon seit 1995 hier sein!« Sie lachte herzlich. Aber so wie sie aussah, hätte sie das durchaus sein können.

Es handelte sich um eine abgeschlossene Wohnung. Carl hatte mit ein paar Zimmern gerechnet, aber nicht mit einer kompletten Mansardenwohnung im Stil des Pariser Quartier Latin. Sogar den typischen Balkon gab es. In die schrägen Wände waren Gauben eingelassen. Zwar waren die kleinen Sprossenfenster schmutzig, aber insgesamt war alles sehr apart. Wenn die Hausangestellte das hier unordentlich fand, würde sie beim Anblick von Jespers Zimmer umkippen.

Ein bisschen schmutzige Wäsche lag herum, das war alles. Nichts deutete daraufhin, dass hier einmal eine junge Frau gelebt hatte, kein Papier auf dem Schreibtisch oder irgendetwas auf dem Couchtisch vor dem Fernseher.

»Sie können sich ein bisschen umschauen. Aber zuerst möchte ich eigentlich gern Ihre Dienstmarke sehen, Herr Mørck. Das ist doch so üblich, nicht wahr?«

Er nickte und wühlte alle Taschen durch. Dieses eifrige Dickerchen. Schließlich fand er eine Visitenkarte, die er schon seit hundert Jahren in der Tasche herumtrug und die entsprechend aussah. »Bedaure, aber die Dienstmarke liegt im Präsidium, das tut mir leid. Wie Sie sehen, bin ich der Chef des Sonderdezernats, deshalb komme ich nicht so oft raus. Aber hier ist meine Visitenkarte, bitte sehr. Da können Sie sehen, wer ich bin.«

Sie sah sich die Nummer an und die Anschrift und befühlte dann die Karte, als sei sie eine Expertin für Fälschungen. »Einen Moment«, sagte sie und nahm den Hörer eines Bang & Olufsen-Telefons ab, das auf dem Schreibtisch stand.

Sie stellte sich als Charlotte Nielsen vor und fragte, ob ein Vizepolizeikommissar namens Carl Mørck bekannt sei. Sie wartete einen Moment, während sie offenbar weiterverbunden wurde.

Dann wiederholte sie ihre Frage und bat anschließend um eine Beschreibung dieses Carl Mørck. Sie lachte kurz, während sie zu ihm hinsah, und legte dann mit einem Lächeln auf.

Was zum Teufel war daran so komisch? Zehn zu eins, dass sie mit Rose gesprochen hatte.

Ohne den Grund für ihre Heiterkeit zu erläutern, zog sie sich zurück. Carl blieb mit sämtlichen Fragezeichen in der verlassenen Wohnung einer jungen Frau allein, die anscheinend nichts preiszugeben hatte.


Mehrfach hatte er alles durchsucht, und ebenso oft hatte die Hausangestellte in der Tür gestanden. Sie hatte die Aufgabe übernommen, achtzugeben und glaubte, das am besten bewerkstelligen zu können, indem sie ihn wie eine hungrige Mücke beobachtete, die sich auf der Hand niedergelassen hat. Aber sie machte keinen Stich. Carl hatte weder herumgewühlt noch etwas in die Jackentasche gesteckt.

Das Unterfangen schien absolut fruchtlos. Kimmie hatte die Räume zwar offenbar schnell verlassen, war sie vorher aber gründlich durchgegangen. Alles, was Fremde nicht sehen sollten, war garantiert unten in die Mülltonnen gewandert. Die konnte man vom Balkon aus in der gepflasterten Einfahrt stehen sehen.

Das galt auch für ihre Kleidung. Auf dem Stuhl neben dem Bett lagen zwar einige Kleidungsstücke, aber keine Unterwäsche. In den Ecken lagen zwar Schuhe, aber keine schmutzigen Strümpfe. Offenbar hatte sie genau überlegt, was okay und was zu intim war.

Sogar die Wanddekoration fehlte, und die sagte normalerweise eine Menge über den Geschmack und die Gesinnung eines Bewohners aus. In dem kleinen Marmorbadezimmer gab es nicht mal eine Zahnbürste. Keine Tampons im Schrank oder Q-Tips im Abfalleimer neben dem WC. Kein noch so kleiner Rest von Stuhlgang in der Toilettenschüssel, keine Zahnpastareste im Waschbecken.

Kimmie hatte diesen Ort, was Persönliches anging, absolut klinisch rein hinterlassen. Eine Frau hatte hier gelebt, das war eindeutig. Aber das hätte ebenso gut eine aus dem Chor der Heilsarmee sein können wie eine schrille High-Society-Lady.

Carl hob das Bettzeug an und versuchte, ihren Geruch zu finden. Er schaute unter der Schreibunterlage nach versteckten Zettelchen. Er suchte am Boden des leeren Papierkorbs, schaute in die hintersten Winkel der Küchenschubladen, steckte den Kopf in die Abseite. Nichts.

»Es wird bald dunkel«, sagte die Hausangestellte Charlotte und meinte damit wohl, er solle sich mal einen anderen Ort suchen, wo er Polizist spielen konnte.

»Gibt es irgendwo da oben einen Dachboden?«, erkundigte er sich hoffnungsvoll. »Eine Luke oder Treppe, die ich von hier drinnen nicht sehen kann?«

»Nein, es gibt nur das hier.«

Carl blickte auf. Okay. Wieder Fehlanzeige.

»Ich mache noch eine Runde«, sagte er.

Dann hob er alle Teppiche an, um nach losen Fußbodendielen zu suchen. Lockerte die Kräuterposter in der Küche, um zu schauen, ob sie einen Hohlraum abdeckten. Klopfte auf Möbel und den Boden des Kleider- und des Küchenschranks. Nichts.

Er schüttelte den Kopf und machte sich über sich selbst lustig. Warum sollte denn da auch irgendwo was sein?

Er schloss die Wohnungstür hinter sich und blieb einen Moment auf dem Treppenabsatz stehen. Einerseits, weil er sehen wollte, ob es dort draußen etwas Interessantes gab, was jedoch nicht der Fall war. Andererseits, weil er das Gefühl nicht loswurde, dass er doch etwas übersehen hatte, und das ärgerte ihn.

Da holte ihn das Klingeln seines Handys zurück in die Realität.

»Marcus hier«, hörte er. »Warum bist du nicht in deinem Büro, Carl? Und warum macht das den Eindruck, den es macht? Der ganze Flur da unten steht voller Teile für ich weiß nicht wie viele Tische. Und in deinem Büro kleben überall gelbe Zettel. Wo bist du, Carl? Hast du vergessen, dass du morgen Besuch aus Norwegen bekommst?«

»Mist!«, sagte Carl ein bisschen zu laut. Ja, das hatte er tatsächlich glücklich verdrängt.

»Okay?«, war aus dem Telefon zu hören. Er kannte dieses »Okay« des Chefs.

»Ich bin auf dem Weg zum Präsidium.« Er sah auf die Uhr, es war schon nach vier.

»Jetzt?! Nein, jetzt brauchst du dich um gar nichts mehr zu kümmern.« Jacobsen klang nicht, als ob das zur Diskussion stünde. Er war stinksauer. »Ich übernehme den Besuch morgen, und die kommen auf gar keinen Fall in dieses Chaos, das da unten herrscht.«

»Um welche Uhrzeit kommen sie?«

»Um zehn. Aber das kannst du dir sparen, Carl. Ich übernehme, und du hältst dich für Fragen bereit, falls deine Meinung gewünscht wird.«

Nachdem Marcus aufgeknallt hatte, betrachtete Carl einen Moment lang das Telefon in seiner Hand. Bis zu dem Moment hätten ihn die Klippfisch-Scheichs mal sonst wo gekonnt. Aber jetzt nicht mehr. Zum Teufel! Der Chef wollte die Sache an sich reißen? Kam gar nicht in die Tüte!

Er fluchte ein paar Mal und sah zum Oberlicht. Es beschloss das beeindruckende Treppenhaus nach oben hin. Die Sonne knallte noch immer in die Fenster. Feierabend hin oder her, er hatte keine Lust, nach Hause zu gehen.

Der Kopf war noch überhaupt nicht bereit für den Heimweg und Mortens Fleischtöpfe, die sicher schon zu Hause warteten.

Er sah, wie sich der Schatten scharf an der Einfassung der Fenster abzeichnete. Und gleichzeitig spürte er, wie sich eine Falte tief auf seiner Stirn eingrub.

Bei Häusern dieses Alters waren Fenstereinfassungen an den Schrägen häufig dreißig Zentimeter tief. Aber diese hier waren tiefer. Viel tiefer. Auf jeden Fall mindestens fünfzig Zentimeter. Wenn man ihn fragte, dann war dieses Haus in späteren Jahren nachisoliert worden.

Er legte den Kopf in den Nacken. Am Übergang zwischen der Decke und der abgeschrägten Wand zeichnete sich ein feiner Riss ab. Er folgte dem Riss durch den ganzen Raum, bis er schließlich wieder zum Ausgangspunkt kam. Ja, die Abschrägungen hatten sich etwas gesetzt, das Haus hatte eindeutig nicht von Anfang an so gut isolierte Wände gehabt. Mindestens fünfzehn Zentimeter zusätzliche Isolierung plus Gipsplatten waren dazugekommen. Gute Spachtel- und Malerarbeit. Aber solche Risse entstehen nach einer gewissen Zeit einfach.

Dann drehte er sich um und öffnete noch einmal die Tür zur Wohnung. Ging schnurstracks zur Außenwand und untersuchte alle schrägen Wände. Auch hier sah er jetzt oben diese Risse, aber sonst nichts Besonderes.

Es musste irgendwie einen Hohlraum geben, aber anscheinend keine Möglichkeit, darin etwas zu verstecken. Jedenfalls nicht von innen.

Jedenfalls nicht von innen - sein Blick fiel auf die Balkontür. Er packte den Türgriff, öffnete die Tür und trat auf den Balkon hinaus. Die schrägen Dachziegel bildeten einen pittoresken Hintergrund.

»Denk dran, es ist lange her«, flüsterte er vor sich hin, als er mit den Augen eine Ziegelreihe nach der anderen absuchte. Das hier war die Nordseite des Hauses. Die Grünalgen hatten aus dem Regenwasser alle Nahrung aufgesogen und bedeckten nun wie ein Requisit aus dem Theaterfundus fast das ganze Dach. Er drehte sich zu den Ziegeln auf der anderen Seite der Tür um. Da entdeckte er die kleine Unregelmäßigkeit sofort.

Die Ziegel lagen ganz gleichmäßig, und auch hier hatten sich überall Grünalgen breitgemacht. Nur einer der Ziegelsteine lag etwas verschoben zwischen den anderen, und zwar ein Stückchen über der Stelle, wo das Geländer an der Dachkonstruktion befestigt war. Es handelte sich um Hohlpfannen, überlappend angeordnet und mit einer kleinen Erhöhung auf der Unterseite, damit sie nicht von der Latte rutschten. Aber eben genau dieser eine Ziegel sah aus, als würde er rutschen. Fast so, als hätte man die Erhöhung abgeschlagen, lag er zwischen den anderen Ziegeln nur lose auf der Latte.

Entsprechend problemlos ließ er sich anheben.

Carl atmete die kalte Septemberluft tief ein.

Im ganzen Körper machte sich das Gefühl breit, vor etwas Einzigartigem zu stehen. Ein seltsames Gefühl. So ähnlich musste es Howard Carter ergangen sein, als es ihm gelungen war, die Tür der Grabkammer ein wenig zu öffnen, und er plötzlich in Tutanchamuns letzter Ruhestätte stand. Denn dort vor Carl, im Hohlraum der Steinwolle unter dem Dachziegel, lag in durchsichtige Plastikfolie eingewickelt ein Metallkasten von der Größe eines Schuhkartons.

Carls Herzfrequenz erhöhte sich signifikant. Er rief die Hausangestellte.

»Schauen Sie mal, den Kasten hier.«

Unwillig beugte sie sich vor und sah unter die Ziegelsteine. »Ja, da liegt ein Kasten. Was ist das?«

»Ich weiß es nicht. Aber Sie können bezeugen, dass Sie ihn hier haben liegen sehen.«

Sie sah ihn verärgert an. »Wird man jetzt auch noch beschuldigt, keine Augen im Kopf zu haben?«

Er richtete sein Handy auf den Hohlraum und fotografierte ihn mehrfach. Dann zeigte er ihr die Fotos.

»Sind wir uns einig, dass es sich bei den Fotografien um diesen Hohlraum handelt?«

Da stemmte sie die Hände in die Seiten. Offenbar hatte sie die Nase voll von seinen Fragen.

»Ich nehme ihn jetzt heraus und mit aufs Revier.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Sonst würde sie womöglich nach unten rennen und Kassandra wecken. Und das würde nur Ärger geben.

Dann durfte die Hausangestellte gehen. Kopfschüttelnd und mit angeknackstem Vertrauen in die Intelligenz der Autoritäten ließ sie ihn stehen.

Einen Augenblick erwog er, die Polizeitechniker zu rufen. Aber als er sich die kilometerlangen Plastikbänder und all die Männer in weißen Overalls vorstellte, verabschiedete er sich schnell von dem Gedanken. Die hatten genug zu tun, und er konnte nicht warten.

Dann zog er Handschuhe an, hob den Kasten vorsichtig heraus und legte den Ziegel wieder an seinen Platz. Drinnen zog er die Handschuhe aus, stellte den Kasten auf den Tisch, packte ihn aus der Folie und öffnete ihn mühelos. Alles in einer zusammenhängenden großen und unbewussten Bewegung.

Obenauf lag ein kleiner Teddybär. Nicht viel größer als eine Streichholzschachtel. Ganz hell, fast goldgelb. Das Fell an Gesicht und Armen war abgeschabt. Vielleicht einst Kimmies allerliebster Besitz und einziger Freund. Vielleicht aber auch der eines anderen Menschen. Dann hob er eine Zeitungsseite unter dem Teddy hoch. Berlingske Tidende, 29. September 2995 stand in einer Ecke. An dem Tag war sie bei Bjarne Thøgersen eingezogen. Sonst stand auf der Zeitungsseite nichts Interessantes. Nur reihenweise Stellenanzeigen.

Er blickte erwartungsvoll in den Kasten. Hoffte wohl, Tagebucheintragungen oder Briefe zu finden, die Aufschluss über Gedanken und Taten geben konnten. Stattdessen fand er sechs kleine Plastikhüllen, solche, in denen man Briefmarken oder Rezeptkarten aufbewahrt. Instinktiv griff er in die Jackeninnentasche, zog das Paar weiße Baumwollhandschuhe wieder heraus, streifte sie über und nahm die Hüllen aus dem Metallkasten.