6
»Lis, weißt du, wie diese Akte auf meinen Schreibtisch gekommen ist?«
Lis warf kurz einen Blick auf den Aktenordner, den Carl in der Hand hielt, dann zupfte sie weiter an ihrer neuen zerzausten Frisur. Die heruntergezogenen Mundwinkel sollten sicher ein Nein bedeuten.
Carl hielt Frau Sørensen den Ordner hin. »Und Sie? Wissen Sie etwas?«
Sie brauchte fünf Sekunden, um die erste Seite der Akte zu überfliegen. »Leider nein«, sagte sie. Ihr Blick verriet ein Gefühl des Triumphs, das sich unweigerlich immer dann einzustellen schien, wenn Carl Probleme hatte. Das waren ihre großen Momente.
Weder Lars Bjørn, der stellvertretende Chef der Mordkommission, noch Jacobsen selbst oder einer der leitenden Ermittler konnten irgendetwas Erhellendes beitragen. Die Akte hatte sich offenbar von ganz allein auf Carls Schreibtisch gelegt.
»Carl, ich habe bei der Polizei von Holbæk angerufen«, rief Assad aus seinem Schuhkarton von einem Büro. »Soweit sie wissen, steht der Aktenordner im Archiv, da, wo er hingehört. Aber sobald sie Zeit haben, wollen sie mal nachsehen.«
Carl legte seine Ecco-Schuhe in Größe fünfundvierzig auf den Tisch. »Und was sagen die in Nykøbing Seeland?«
»Augenblick. Ich ruf an.« Während er die Nummer eingab, flötete Assad eines der wehmütigen Lieder seines Heimatlandes. Es klang, als pfiffe er rückwärts. Nicht gut.
Carl hob den Blick zur Pinnwand. Dort hingen die Titelseiten von vier Zeitungen in geradezu rührender Eintracht nebeneinander. Der Fall Merete Lynggaard war bravourös aufgeklärt worden. Alle waren sich einig: Das Sonderdezernat Q, diese neu eingerichtete Ermittlungseinheit für bislang unaufgeklärte »Fälle von besonderem Interesse« mit Carl Mørck als Leiter, war ein überwältigender Erfolg.
Er sah auf seine müden Hände. Sie schafften es kaum, einen Aktenordner zu halten, lausige drei Zentimeter dick, von dessen Herkunft er keine Ahnung hatte. Das Gefühl, das sich bei dem Wort »Erfolg« einstellte, war eher flau.
Er seufzte, schlug die Akte auf und überflog noch einmal die Eckpunkte des Falles. Zwei junge Menschen ermordet. Auf bestialische Weise. Unter den Verdächtigen fast nur Kinder von reichen Leuten. Nach neun Jahren meldet sich einer aus dieser Gruppe - de facto der einzige arme Schlucker dazwischen - und legt ein Schuldbekenntnis ab. Höchstens noch drei Jahre, dann kam Thøgersen wieder raus. Und wohlgemerkt mit einem Arsch voll Geld, das er im Aktienhandel verdient hatte, während er hinter Gittern saß. Durfte man das überhaupt? Wenn man im Knast saß?
Die Kopien der Vernehmungsprotokolle las er noch einmal gründlich durch, die restlichen Unterlagen vom Prozess gegen Bjarne Thøgersen überflog er nur noch. Anscheinend hatte der Mörder seine Opfer vorher nicht gekannt. Auch wenn der Verurteilte behauptete, er sei mehrmals mit den Geschwistern zusammengetroffen, konnte das nicht bewiesen werden. Ja, die Akten sagten eher das Gegenteil aus.
Wieder sah er sich die Vorderseite der Mappe an. Polizei Holbæk stand dort. Warum nicht Nykøbing? Warum hatte die Mobile Einsatztruppe der Polizei nicht mit denen zusammengearbeitet? Waren die Leute in Nykøbing womöglich zu nahe dran? Konnte es daran liegen? Oder waren sie nur nicht gut genug?
»Hallo Assad«, rief er über den Mittelgang. »Ruf mal in Nykøbing an und frag, ob jemand bei denen auf der Wache die Ermordeten persönlich kannte.«
Keine Antwort aus Assads Kämmerchen. Nur Murmeln.
Carl stand auf und ging über den Gang. »Assad, frag mal, ob jemand auf der Wache ...«
Mit einer Handbewegung bremste Assad ihn. Er war mitten in einem Telefonat. »Ja, ja, ja«, sagte er in den Telefonhörer und ließ noch zehn weitere Jas im selben Tonfall folgen.
Carl atmete schwer aus und ließ den Blick durch das Büro wandern. Auf Assads Regal hatten sich die Fotorahmen vermehrt. Ein Foto von zwei älteren Frauen kämpfte mit allen anderen Familienfotos um den Platz. Die eine Frau hatte dunklen Flaum auf der Oberlippe, die andere war in alle Richtungen ausufernd, mit üppigem Haar, das fast wie ein Motorradhelm aussah.
Er deutete auf die Fotos, als Assad aufgelegt hatte. »Das sind meine Tanten aus Hama. Die mit den Haaren ist jetzt tot.«
Carl nickte. Das Gegenteil hätte ihn gewundert, so wie sie aussah. »Und was haben die in Nykøbing gesagt?«
»Die haben uns die Akte auch nicht geschickt, Carl. Und das aus gutem Grund. Sie haben sie nie bekommen.«
»Aha? In der Akte steht aber, dass Nykøbing, Holbæk und die Mobile Einsatztruppe damals zusammenarbeiteten.«
»Nein. Da heißt es, Nykøbing habe für die Leichenschau gesorgt, und dann überließ man den Rest den anderen.«
»Nanu? Kommt mir ja ein bisschen komisch vor. Gibt es in Nykøbing jemanden, der persönliche Beziehungen zu den Opfern hatte, weißt du das?«
»Ja und nein.«
»Wie: ja und nein?«
»Na, die beiden Ermordeten waren die Kinder eines Kriminalkommissars.« Assad deutete auf seine Notizen. »Er hieß Henning. Henning P. Jørgensen.«
Carl sah das misshandelte Mädchen vor sich. Das war der größte Albtraum aller Polizeibeamten. Die eigenen Kinder ermordet aufzufinden.
»Das muss ja schrecklich gewesen sein. Und damit wissen wir wohl auch, warum der Fall wieder aufgenommen werden soll. Garantiert steckt ein persönliches Interesse dahinter. Aber hast du nicht gerade gesagt, ja und nein? Warum?«
Assad lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Das habe ich deshalb gesagt, weil es auf der Wache in Nykøbing Seeland niemanden mehr gibt, der mit den Kindern verwandt ist. Denn gleich nach dem Fund der Leichen fuhr der Vater der Kinder zurück auf die Wache. Er begrüßte den diensthabenden Kollegen, ging dann schnurstracks in die Waffenkammer und drückte seine Dienstpistole genau hier ab.« Mit zwei kurzen breiten Fingern deutete er auf seine Schläfe.
Die Polizeireform hatte viele Merkwürdigkeiten mit sich gebracht. Die Polizeibezirke hießen nicht mehr wie früher, die Leute hatten nicht länger dieselben Titel, die Archive waren umgezogen. Alles in allem waren die meisten Kollegen sehr damit beschäftigt, in all den Umtriebigkeiten Grund unter den Füßen zu behalten. Viele hatten die Gelegenheit auch genutzt, um abzuspringen und in den vorzeitigen Ruhestand zu wechseln.
Früher einmal war es kein Vergnügen gewesen, als Polizeibeamter in Pension zu gehen. Die durchschnittliche Restlebenszeit nach einem verschleißenden Arbeitsleben war nicht einmal zweistellig. Nur die Journalisten waren noch schlechter dran, aber durch deren Kehlen war im Schnitt sicher auch viel mehr Alkohol geflossen. Der Tod musste schließlich einen Grund haben.
Carl kannte Kriminalbeamte, denen es nicht einmal vergönnt gewesen war, den ersten Jahrestag als Pensionär zu erleben. Aber diese Zeiten waren Gott sei Dank vorbei. Sogar Polizeibeamte wollten die Welt sehen und das Abitur ihrer Enkelkinder feiern. Das hatte aber zur Konsequenz, dass viele sich auf andere Posten und vom aktiven Dienst wegbewarben.
So wie zum Beispiel Klaes Thomasen, pensionierter Polizist aus Nykøbing Seeland, der jetzt mit Hängebauch vor ihnen stand. Er nickte und meinte, fünfunddreißig Jahre in der blauschwarzen Uniform reichten. »Jetzt klappt's auch mit der Frau zu Hause wieder besser.« Obwohl Carl wusste, wie es gemeint war, versetzte ihm die Bemerkung einen kleinen Stich. Naja, formal gesehen hatte Carl Mørck ja noch eine Ehefrau. Allerdings war es inzwischen schon ziemlich lange her, dass sie ihn verlassen hatte. Und sollte er darauf bestehen, sie zurückzubekommen, würden ihre spitzbärtigen jugendlichen Liebhaber sicherlich protestieren.
Na, das war sowieso alles graue Theorie.
Assad blickte sichtlich beeindruckt durch die großen Fenster über die Felder, die den Ort Stenløse und Klaes Thomasens gepflegten Rasen umgaben. »Sie wohnen hier sehr schön«, sagte er.
»Und vielen Dank auch, Thomasen, dass Sie sich bereit erklärt haben, uns zu treffen«, sagte Carl. »Es sind ja nicht mehr so viele übrig, die Henning Jørgensen als Polizisten gekannt haben.«
Klaes Thomasens Lächeln verschwand. »Er war der beste Kollege und Freund, den man sich denken konnte. Wir wohnten damals Tür an Tür. Meine Frau und ich sind unter anderem auch deshalb umgezogen. Als die Witwe nach alldem krank wurde und durchdrehte, mochten wir nicht länger dort wohnen. Die Erinnerungen waren zu schrecklich.«
»Habe ich das richtig verstanden, dass Henning Jørgensen nicht darauf vorbereitet war, was ihn im Sommerhaus erwartete?«
Thomasen schüttelte den Kopf. »Ein Nachbar von dort meldete sich bei uns. Er war rübergegangen, um guten Tag zu sagen, da fand er die ermordeten Kinder. Er rief sofort auf der Wache an. Ich habe darnals den Anruf entgegengenommen. Jørgensen selbst hatte an dem Tag frei. Er sah nur das Aufgebot an Streifenwagen vor seinem Sommerhaus, als er den Sohn und die Tochter abholen wollte. Die Sommerferien waren zu Ende und die Kinder sollten am nächsten Tag in der Oberprima anfangen.«
»Und Sie waren da, als er kam?«
»Ja, zusammen mit den Technikern und dem Leiter der Ermittlung.« Er schüttelte den Kopf. »Ja, der lebt auch schon nicht mehr. Autounfall.«
Assad zog einen Block aus der Tasche und machte sich Notizen. Und ehe man sich's versieht, dachte Carl, kann der Assistent schon alles allein. Na, das kann ja noch heiter werden.
»Was fanden Sie im Sommerhaus vor? Nur in groben Zügen.«
»Sämtliche Fenster und Türen standen weit offen. Verschiedene Fußabdrücke. Die Schuhe haben wir nie gefunden, aber die Herkunft des Sands am Tatort konnten wir später bestimmen. Er stammte von der Terrasse der Eltern eines der Verdächtigen. Als wir in das Zimmer mit dem Kamin kamen, fanden wir die beiden Leichen auf dem Fußboden.« Er setzte sich an den Couchtisch und bedeutete den beiden mit einer Geste, es ihm gleichzutun.
»Das Mädchen. Diesen Anblick möchte ich am liebsten vergessen, das werden Sie verstehen. Ich kannte sie doch«, sagte er, und seine graumelierte Frau schenkte Kaffee ein. Dass Assad Nein danke sagte, ignorierte sie.
»Nie zuvor hatte ich einen Körper gesehen, den man so durchgeprügelt hatte«, fuhr Thomasen fort. »Sie war doch so klein und zart. Ich habe nie begriffen, wie sie das so lange überleben konnte.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die Obduktion hat ergeben, dass sie lebte, als man sie zurückließ. Vielleicht noch eine Stunde. Die Blutungen von der Leber sammelten sich in der Bauchhöhle an. Schließlich wurde der Blutverlust zu groß.«
»Dann gingen die Mörder ja ein ziemliches Risiko ein.«
»Eigentlich nicht. Ihr Gehirn war so stark geschädigt, dass sie niemals etwas zur Aufklärung hätte beitragen können, selbst wenn sie überlebt hätte. Das sah man schnell.« Er wandte das Gesicht ab und blickte über die Felder. Carl kannte das Gefühl. Innere Bilder, bei denen man wünschte, weit über die Welt zu blicken und an ihr vorbei.
»Und das wussten die Mörder?«
»Ja. Ein solcher Schädelbruch lässt keinen Zweifel offen. Der saß mitten in der Stirn. Ganz ungewöhnlich. Also, das war leicht zu sehen.«
»Und der Junge?«
»Der lag daneben. Mit einem erstaunten, aber friedlichen Gesichtsausdruck. Er war so ein guter Junge. Ich hatte ihn doch oft zu Hause und auf der Wache getroffen. Er wollte Polizist werden, genau wie sein Vater.« Jetzt sah er Carl direkt an. Selten hatte man einen gestandenen Polizisten mit so traurigen Augen gesehen.
»Und der Vater kam dazu und sah alles?«
»Leider, ja.« Er schüttelte den Kopf. »Er wollte die Leichen der Kinder sofort mitnehmen. In seiner Verzweiflung trampelte er am Tatort herum und zerstörte natürlich viele Spuren. Wir mussten ihn mit Gewalt aus dem Haus entfernen. Das bereue ich heute von Herzen.«
»Und dann habt ihr den Fall denen in Holbæk überlassen?«
»Nein. Er wurde uns weggenommen.« Er nickte seiner Frau zu. Nun stand von allem reichlich auf dem Tisch. »Etwas Gebäck?« Die Frage klang eher so, als sollten sie eigentlich dankend ablehnen und schleunigst gehen.
»Dann haben Sie dafür gesorgt, dass die Akte jetzt bei uns gelandet ist?«
»Nein, nein.« Er trank einen Schluck Kaffee und blickte auf Assads Notizen. »Aber ich bin froh, dass der Fall neu aufgerollt wird. Jedes Mal, wenn ich diese Schweine im Fernsehen sehe, Ditlev Pram und Torsten Florin und diesen Börsenmakler, dann kocht in mir alles wieder hoch.«
»Sie haben eine klare Meinung in der Schuldfrage, das höre ich.«
»Darauf können Sie Gift nehmen.«
»Und der verurteilte Bjarne Thøgersen, was ist mit dem?«
Der Fuß des pensionierten Polizisten beschrieb Kreise auf dem Parkett unter dem Tisch, aber sein Gesicht war ruhig. »Diese sechs Schnösel aus reichem Elternhaus, die haben das zusammen gemacht, glauben Sie mir. Ditlev Pram, Torsten Florin, der Börsenmensch und dieses Mädchen, das sie dabei hatten. Bjarne Thøgersen, dieser kleine Scheißer, der war sicher auch dabei, klar. Aber das waren sie alle zusammen. Auch Kristian Wolf, der Sechste in der Runde. Und der ist auch nicht einfach nur an einer Herzattacke gestorben. Wenn Sie meine Theorie hören wollen, dann haben die anderen ihn verschwinden lassen, weil er irgendwie kalte Füße bekam. Das war Mord. Das auch.«
»Meines Wissens kam Kristian Wolf bei einem Jagdunfall ums Leben. War das nicht so? Ich habe gelesen, er hätte sich selbst in den Schenkel geschossen und sei verblutet. Kein anderer der Jagdteilnehmer befand sich zum Zeitpunkt des Unfalls in der Nähe.«
»Da glaube ich nicht im Traum dran. Nein, das war Mord.«
»Und worauf bauen Sie diese Theorie?« Assad lehnte sich über den Tisch und nahm sich einen Keks. Dabei sah er Thomasen unverwandt an.
Klaes Thomasen zuckte die Achseln. Intuition eines Polizisten. Was wusste dieser Assistent schon davon?, dachte er vermutlich.
»Na, aber haben Sie denn etwas, worauf wir im Zusammenhang mit den Rørvig-Morden achten können? Vielleicht etwas, was wir an anderen Orten nicht finden können?«, fuhr Assad fort.
Klaes Thomasen schob die Keksschale etwas näher zu Assad hin. »Ich glaube nicht.«
»Wer dann?«, fragte Assad und schob die Schale zurück. »Wer könnte uns weiterhelfen? Wenn wir das nicht erfahren, kommt die Akte wieder zurück auf den großen Stapel.«
Eine überraschend eigenmächtige Bemerkung.
»Ich würde versuchen, Hennings Frau zu erwischen, Martha Jørgensen. Versuchen Sie es mit ihr. In den Monaten nach den Morden und dem Suizid ihres Mannes rannte sie den Ermittlern förmlich die Türen ein. Versuchen Sie es mit Martha.«
7
Über den Eisenbahnanlagen hing grauer Nebel. Hinter dem Spinnengewebe aus Oberleitungen brummten seit Stunden schon die gelben Postautos der Postzentrale hin und her. Die S-Bahn-Züge, die Kimmies Zuhause zum Beben brachten, waren brechend voll mit Menschen auf dem Weg zur Arbeit.
Es hätte der Auftakt zu einem ganz gewöhnlichen Tag sein können. Aber in Kimmies Innerem waren die Dämonen los. Sie waren wie Fieberphantasien: Unheil verkündend, drohend, aufsässig. Lästig.
Für einen Moment kniete sie sich hin. Sie betete, die Stimmen möchten verstummen. Aber heute hatten die höheren Mächte wohl wieder mal ihren freien Tag. Da nahm sie einen großen Schluck aus der Whiskyflasche, die neben ihrer provisorischen Pritsche stand.
Als sich die Hälfte des Whiskys schließlich durch ihre Organe gebrannt hatte, beschloss sie, den Koffer stehen zu lassen. Sie hatte an Hass, Ekel und Wut schwer genug zu tragen.
Torsten Florin würde als Nächster dran sein, er stand ganz oben auf der Liste. So war es schon seit Kristian Wolfs Tod. Viele Male war ihr dieser Gedanke durch den Kopf gegangen.
Sie hatte Torstens Fuchsgesicht in einer Illustrierten gesehen. Auf dem Foto thronte er stolz vor dem renovierten und preisgekrönten Glaspalast, seinem Modehaus am Indiakaj im alten Freihafen. Und genau dort wollte sie ihn mit der Realität konfrontieren.
Mit schmerzendem Rücken rutschte sie von der elenden Pritsche und schnupperte an ihren Achselhöhlen. Der Schweißgeruch war noch nicht beißend, das Bad oben im Fitnesscenter des DGI-By konnte also noch warten.
Sie rieb sich die Knie. Dann tastete sie mit der Hand unter die Pritsche, zog die kleine Kiste hervor und öffnete den Deckel.
»Hast du gut geschlafen, mein kleiner Liebling?«, fragte sie und streichelte das Köpfchen mit einem Finger. Wie weich die Haare doch sind und wie lang die Wimpern, dachte sie jeden Tag aufs Neue. Dann lächelte sie das Kleine liebevoll an, schloss vorsichtig den Deckel und schob das Kistchen wieder an seinen Platz. Das war immer der schönste Augenblick des Tages.
Aus dem Klamottenhaufen zog sie die wärmsten Strumpfhosen heraus, denn an der Dachpappe unter der Decke zeigten sich Schimmelflecken wie zur Warnung. Der Herbst war dieses Jahr launisch.
Als sie fertig war, öffnete sie vorsichtig die Tür ihres Häuschens. Sie starrte direkt auf die Gleisanlagen. Keine anderthalb Meter trennten sie und die Wagenreihen der S-Bahn-Züge, die fast rund um die Uhr vorbeidonnerten.
Niemand sah sie.
Sie schlüpfte aus dem Haus, schloss die Tür ab, knöpfte den Mantel zu. Umrundete nach zwanzig Schritten das stahlgraue Transformatorenhaus, nach dem die Angestellten von der Bahn nur selten einmal sahen, und ging weiter den asphaltierten Pfad entlang. Er führte direkt zur Gittertür an der Ingerslevsgade. Sie schloss auf.
Den Schlüssel zu dieser Gittertür zu besitzen, war einmal ihr größter Traum gewesen. Anfangs hatte sie zu ihrem Bahnhaus nur kommen können, indem sie ab der Haltestelle Dybbølsbro oben am Zaun entlang auf dem Schotter ging. Und es musste nachts sein, denn sonst hätte man sie entdeckt. So waren ihr immer nur drei, vier Stunden Schlaf geblieben, bevor sie das Häuschen aus gelben Ziegelsteinen wieder verlassen musste. Hätte man sie dort gesehen, wäre sie sofort weggebracht worden, das wusste sie. So wurde die Nacht zu ihrem Gefährten. Und das war so bis zu jenem Morgen, als sie zum ersten Mal das Schild an der Gittertür zur Ingerslevsgade entdeckte. Gunnebo, Løgstrup Hegn Zäune & Toranlagen stand da.
Sie rief in der Zaunfirma an und stellte sich als Lily Carstensen von der Materialabteilung der Dänischen Staatsbahn vor. Dann verabredete sie ein Treffen mit dem Schlosser auf dem Bürgersteig vor der Gittertür. Zu dem Anlass hatte sie einen gut gebügelten dunkelblauen Hosenanzug angezogen, und als der Schlosser kam, ähnelte sie zum Verwechseln einer Führungskraft der gehobenen Verwaltungsebene. Sie bekam zwei Kopien des Schlüssels ausgehändigt und eine Rechnung, die sie sofort bar bezahlte. Von nun an konnte sie kommen und gehen, wann sie wollte.
Solange sie gut aufpasste und die Dämonen sie in Ruhe ließen, war alles okay.
Im Bus hinaus nach Østerport spürte sie, wie die Blicke der Menschen an ihr klebten. Sie wusste ganz genau, dass sie vor sich hin murmelte. Hör auf, Kimmie!, betete sie im Stillen, aber das verdammte Mundwerk wollte einfach nicht gehorchen.
Manches Mal hörte sie ihren Worten zu, als spräche ein Fremder, und so war es auch an diesem Tag. Als sie ein kleines Mädchen anlächelte, zog dieses eine Grimasse und sah weg.
Dann war es also besonders schlimm.
Mit zehntausend Augen im Rücken stieg sie einige Haltestellen zu früh aus. Das war das letzte Mal, dass du Bus gefahren bist, versprach sie sich selbst. In Bussen kamen die Menschen einfach zu dicht an sie ran. Da war die S-Bahn schon besser.
»Viel besser«, sagte sie laut und spähte die Store Kongensgade hinunter. Es waren kaum Fußgänger und Autos unterwegs. Auch fast keine Stimmen mehr im Hinterkopf zu hören.
Sie erreichte das Gebäude am Indiakaj nach der Mittagspause. Der Parkplatz, der einem Emailleschild zufolge Torsten Florin gehörte, war leer.
Sie öffnete ihre Handtasche und starrte hinein. Die hatte sie im Foyer des Palads-Kinos einem Mädchen geklaut, das sich völlig selbstvergessen in seinem Taschenspiegel betrachtet hatte. Die dumme Pute hieß Lise-Maja Petterson, das war auf der Krankenversicherungskarte zu lesen.
Kimmie schob die Handgranate an die Seite. Dann zündete sie sich eine von Lise-Majas irre guten Peter-Jackson-Kippen an. Smoking Causes Heart Disease stand auf der Packung.
Sie lachte laut auf und nahm einen tiefen Lungenzug. Sie rauchte, seit sie aus dem Internat geflogen war, und ihre Pumpe arbeitete immer noch tadellos. An einer Herzattacke würde sie nicht sterben, mit Sicherheit nicht.
Nach ein paar Stunden war die Packung leer und sie hatte die ausgetretenen Kippen auf den Gehwegplatten ringsum verteilt. Als wieder ein junges Mädchen beschwingt durch die Glastür kam, griff Kimmie nach ihrem Ärmel.
»Weißt du, wann Torsten Florin kommt?«
Die junge Frau reagierte mit Schweigen und einem missbilligenden Blick.
»Weißt du's?« Energisch rüttelte Kimmie sie am Arm.
»Lass mich los!«, rief das Mädchen, packte mit beiden Händen Kimmies Arm und begann ihn zu verdrehen.
Kimmie kniff die Augen zusammen. Sie hasste es, wenn Leute an ihr zerrten. Hasste es, wenn sie nicht antworteten. Hasste ihre Blicke. Deshalb ließ sie ihren freien Arm in einer gleitenden Bewegung pendeln, nahm von der Hüfte aus Schwung und knallte dem Mädchen die Faust aufs Jochbein.
Die fiel wie ein nasser Sack um. Einerseits war das ein gutes Gefühl, andererseits aber auch nicht. So etwas tat man einfach nicht, das wusste Kimmie.
Sie beugte sich über die geschockte Frau. »Also noch mal: Weißt du, wann Torsten Florin kommt?«
Als diese zum dritten Mal ihr Nein hervorstammelte, machte Kimmie auf dem Absatz kehrt. Wohl wissend, dass sie sich jetzt eine ganze Weile hier nicht mehr blicken lassen konnte.
Vor der abgestoßenen Betonecke von Jacob's Full House an der Skelbækgade lief sie Ratten-Tine direkt in die Arme. Die stand mit ihrer Plastiktüte unter einer Angebotstafel des Geschäfts: Pilze der Saison. Die Schminke war längst verwischt. Die ersten Kunden, denen sie in den Nebenstraßen einen blies, bekamen ihr Äußeres noch mit scharf nachgezogenen Augenlidern und rot getünchten Wangen serviert, aber die letzten mussten sich mit weniger zufriedengeben. Jetzt stand sie da mit verschmiertem Lippenstift und deutlichen Spuren von Sperma auf den Ärmeln, mit denen sie es weggewischt hatte. Tines Kunden benutzten keine Kondome. Es war Jahre her, dass Tine das hatte verlangen können. Dass sie überhaupt etwas hatte verlangen können.
»Hallo Kimmie-Schätzchen, hallo! Toll, dich zu sehen«, nuschelte sie und wackelte Kimmie auf ihren knochigen Beinen entgegen.
»Hab nach dir gesucht, Schätzchen«, sagte sie und wedelte mit der Zigarette, die sie sich gerade angezündet hatte. »Aufm Hauptbahnhof laufen Leute rum und fragen nach dir, hast du das gewusst?«
Sie packte Kimmie und zog sie über die Straße zu den Bänken beim Café Yrsa.
»Wo bist'n du in der letzten Zeit gewesen? Hab dich so scheiße doll vermisst«, sagte Tine und fischte zwei Flaschen Bier aus der Plastiktüte.
Kimmie sah in Richtung Fisketorvet, während Tine die Bierflaschen öffnete.
»Wer hat nach mir gefra'gt?« Sie schob die Flasche zu Tine zurück. Bier tranken nur Proleten. Das hatte sie zu Hause gelernt.
»Ach, nur so'n paar Männer.« Tine stellte Kimmies Bier unter die Bank. Sie freute sich, hier zu sitzen, das wusste Kimmie. So lebte sie meistens. Bier in der Hand, Geld in der Tasche und gelbe Finger, zwischen denen eine Zigarette klemmte.
»Erzähl mir alles, Tine.«
»Ach Kimmie, du weißt doch, dass ich'n Gedächtnis hab wie'n Sieb. Der Stoff, weißte? Dann läuft es da oben nich so gut.« Sie tippte sich an den Kopf. »Aber ich hab nix gesagt. Nur, dass ich keinen Schimmer hab, wer du bist.« Sie fing an zu lachen. »Die haben mir ein Foto von dir gezeigt, Kimmie.« Sie schüttelte den Kopf. »Verdammt, was warst du da schick, Kimmie-Schätzchen.«
Sie machte einen tiefen Lungenzug. »Ich war auch mal hübsch, aber hallo. Einer hat das mal gesagt. Der hieß ...« Sie sah zum Himmel. Der Name war auch weg.
Kimmie nickte. »War mehr als einer da, der nach mir gefragt hat?«
Tine nickte und trank noch einen Schluck. »Zwei. Aber nich gleichzeitig. Einer kam mitten in der Nacht, kurz bevor der Bahnhof dicht ist. Gegen vier oder so. Kommt das hin, Kimmie?«
Kimmie zuckte die Achseln. Es war im Grunde gleichgültig. Sie wusste jetzt, dass es zwei waren.
»Was soll das kosten?« Die Stimme kam von oben. Eine Gestalt stand direkt vor Kimmie, aber sie reagierte nicht. Das war Tines Revier.
»Was kriegst du fürs Blasen?«
Sie spürte Tines Ellbogen in der Seite. »Der fragt dich, Kimmie«, sagte sie apathisch. Für heute hatte sie schon verdient, was sie brauchte.
Kimmie hob den Kopf und sah einem ganz normalen Kerl ins Gesicht. Die Hände hatte er in den Manteltaschen vergraben. Was für ein kläglicher Anblick.
»Hau ab«, sagte sie und warf ihm einen Killerblick zu. »Hau ab, ehe ich dir eine lange.«
Er zog sich zurück und richtete sich auf. Dann lächelte er scheu, als wäre schon die Drohung an sich Befriedigung genug.
»Fünfhundert. Fünfhundert, wenn du dir zuerst den Mund ausspülst. Ich will keine Spucke von dir an meinem Schwanz haben, klar?«
Er zog das Geld aus der Tasche und wedelte damit. Die Stimmen in Kimmies Kopf wurden lauter. Na, los, flüsterte eine. Der will es doch nicht anders, rief der Chor, und sie zog die Flasche unter der Bank hervor und setzte sie an. Der Typ versuchte die ganze Zeit, ihren Blick festzuhalten.
Als sie den Kopf in den Nacken legte und ihm das Bier ins Gesicht spuckte, zuckte er erschrocken zurück. Das Erstaunen war wie auf seine Gesichtszüge gemeißelt. Dann sah er wütend auf seinen Mantel, bevor er erneut ihren Blick suchte. Kimmie wusste, dass er jetzt gefährlich war. Überfälle auf der Skelbækgade waren keine Seltenheit. Und der Tamile, der vorn an der Kreuzung Gratiszeitungen verteilte, würde sich kaum einmischen.
Deshalb richtete sie sich halb auf und schlug dem Mann die Bierflasche auf den Kopf, sodass die Scherben bis zu dem schiefen Briefkasten auf der anderen Straßenseite flogen. Über einem Ohr breitete sich ein Delta aus Blut aus und rann über den Mantelkragen. Der Mann starrte stumm auf den abgebrochenen Flaschenhals, der auf ihn gerichtet war. Bestimmt überlegte er jetzt fieberhaft, wie er das seiner Frau, seinen Kindern und den Kollegen erklären sollte. Dann rannte er los in Richtung Bahnhof, wohl wissend, dass jetzt der Einsatz eines Arztes und ein neuer Mantel gefragt waren, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen.
»Ich hab den Idioten früher schon mal gesehen«, nuschelte Tine neben Kimmie. Dabei starrte sie auf den Bierfleck, der sich auf den Platten ausbreitete. »Verdammt, Kimmie. Jetzt muss ich doch zum Aldi und noch mal Bier holen, oder? Scheißschade um das schöne Bier. Warum muss dieser Idiot auch grad hier vorbeilatschen, wo wir hier sitzen und es so scheißgemütlich haben.«
Kimmie sah dem Mann nicht länger nach. Sie ließ den Flaschenhals los, steckte die Finger in die Hose und fischte einen Brustbeutel aus Waschleder heraus. Die Zeitungsausschnitte, die sie zutage förderte, waren noch ziemlich neu. Sie tauschte sie ab und zu aus, um möglichst genau zu wissen, wie die anderen inzwischen aussahen. Dann faltete sie die Ausschnitte auseinander und hielt sie Tine vors Gesicht.
»War einer von denen hier der Mann, der nach mir gefragt hat?« Sie deutete auf ein Pressefoto, unter dem stand: »Ulrik Dybbøl Jensen, Chef des Instituts für Börsenanalysen UDJ, lehnt Zusammenarbeit mit Expertengruppe der Konservativen ab.«
Ulrik war inzwischen ein großer Mann geworden. Nicht nur physisch.
Tine sah sich den Zeitungsausschnitt durch eine weißblaue Wolke aus Zigarettenrauch an. Sie schüttelte den Kopf. »So dick war keiner von denen.«
»Der hier vielleicht?« Der Ausschnitt stammte aus einer Frauenzeitschrift, die Kimmie in einem Papierkorb an der Øster Farimagsgade gefunden hatte. Mit seinen langen Haaren und der glänzenden Haut wirkte Torsten Florin ziemlich schwul, aber das war er nicht. Das konnte sie garantieren.
»Den da hab ich schon mal gesehen. Im Fernsehen oder so. Was mit Mode, oder?«
»War es der, Tine?«
Sie kicherte, als wäre es ein Spiel. Torsten war es also auch nicht.
Nachdem Tine auch bei Ditlev Prams Foto abgewunken hatte, stopfte Kimmie alles wieder zurück in den Brustbeutel und in die Hose. »Was haben die Männer über mich gesagt?«
»Nur, dass sie nach dir suchen, Schätzchen.«
»Würdest du sie wiedererkennen, wenn wir mal an einem Tag hineingehen und nach ihnen suchen würden?«
Sie zuckte die Achseln. »Die sind nich jeden Tag da.«
Kimmie biss sich auf die Unterlippe. Sie musste jetzt aufpassen. Die anderen rückten näher.
»Du erzählst mir, wenn du sie wieder siehst, ja? Pass gut auf, wie sie aussehen, okay? Schreib es auf, damit du dich erinnern kannst.« Sie legte eine Hand auf Tines Knie, das sich wie ein Messerrücken unter der verschlissenen Jeans abzeichnete. »Wenn du Informationen hast, steck sie unter das gelbe Schild dort drüben.« Sie deutete auf das Schild mit der Aufschrift Autovermietung - Schnäppchenpreise.
Tine hustete und nickte gleichzeitig.
»Du kriegst jedes Mal tausend Kronen für deine Ratte, wenn du ein paar gute Infos für mich hast. Was hältst du davon, Tine? Dann kannst du deiner Ratte einen neuen Käfig kaufen. Du hast sie immer noch oben in deinem Zimmer, oder?«
Fünf Minuten stand sie unten beim Parkplatzschild vor der Giebelwand von C. E. Bast Talgsmelteri, bis sie ganz sicher war, dass Tine sie nicht mehr im Auge hatte. Dann erst überquerte sie die Straße in Richtung Gittertor. Niemand wusste, wo sie wohnte, und so sollte es auch bleiben.
Sie merkte, wie die Kopfschmerzen kamen, und außerdem spürte sie ein Stechen unter der Haut. Wut und Frustration zur gleichen Zeit, das hassten ihre Dämonen.
Aber als sie mit der Whiskyflasche in der Hand auf ihrer schmalen Pritsche saß und sich in dem sparsam beleuchteten kleinen Raum umsah, kam sie langsam zur Ruhe. Das hier war ihre Welt. Hier war sie sicher, hier war alles, was sie brauchte. Das Kistchen mit ihrem allerliebsten kleinen Schatz unter der Bank, das Plakat mit den spielenden Kindern an der Innenseite der Tür, das Foto des kleinen Mädchens, die Zeitungen, die sie zum Isolieren an die Wände geklebt hatte. Der Kleiderhaufen, der Topf auf dem Fußboden, der Stapel Zeitungen dahinter, zwei batteriebetriebene Mini-Leuchtstoffröhren und auf dem Regal ein Paar zusätzliche Schuhe. Mit all dem konnte sie machen, was sie wollte, und wenn sie etwas Neues haben wollte, war auch dafür Geld da.
Als sie die Wirkung des Whiskys spürte, lachte sie. Dann checkte sie die Hohlräume hinter den drei Ziegeln in der Wand. Das tat sie fast immer, wenn sie in ihr kleines Haus zurückkehrte. Erst den Hohlraum mit den Kreditkarten und den letzten Ausdrucken der Geldautomaten, dann den mit dem Bargeld.
Jeden Tag machte sie eine Aufstellung, wie viel noch übrig war. Seit elf Jahren lebte sie auf der Straße, und es waren immer noch eine Million dreihundertvierundvierzigtausend Kronen übrig. Wenn sie weitermachte wie bisher, würde sie die nie aufbrauchen. Allein das Geld ihrer Diebstähle konnte im großen Ganzen den täglichen Bedarf decken. Kleidung stahl sie auch. Sie aß nicht sonderlich viel, aber sie trank, denn die sogenannte gesundheitsbewusste Regierung hatte dafür gesorgt, dass Alkohol spottbillig geworden war. In diesem wunderbaren Land konnte man sich mittlerweile schon zum halben Preis zu Tode saufen. Wieder lachte sie, nahm die Handgranate aus der Tasche und legte sie in den dritten Hohlraum zu den anderen. Dann steckte sie die Ziegelsteine so sorgsam wieder an ihren Platz, dass man die Ritzen ringsum fast nicht mehr erkennen konnte.
Dieses Mal überfiel die Angst sie ohne jede Ankündigung. So war das normalerweise nicht. In der Regel warnten innere Bilder sie. Hände, die zum Schlag gehoben wurden. Manchmal Blut und misshandelte Körper. Dann wieder flüchtige Erinnerungen an Lachen vor langer, langer Zeit. Geflüsterte Versprechen, die dann gebrochen wurden. Aber dieses Mal schafften die Stimmen es nicht, sie zu warnen.
Sie begann zu zittern und spürte, wie die Krämpfe im Unterleib ihre Eingeweide zusammenpressten. Übelkeit und Tränen waren die unvermeidliche Folge. Früher hatte sie versucht, den Feuersturm der Gefühle im Alkohol zu ersäufen. Aber der machte es nur noch schlimmer.
Jetzt wartete sie in solchen Augenblicken nur noch auf das gnädige Dunkel, manchmal allerdings stundenlang.
Wenn in ihrem Kopf alles geklärt war, wollte sie aufstehen. Hinunter zur Haltestelle Dybbølsbro gehen. Dann würde sie den Aufzug zu Bahnsteig drei nehmen und am anderen Ende abwarten, bis einer der durchgehenden Züge vorbeiraste. Sie würde die Arme ausstrecken, sich ganz dicht an den Rand des Bahnsteigs stellen, und dann würde sie sagen: »Ihr entkommt mir nicht, ihr Schweine.«
Danach würde sie die Stimmen in ihrem Kopf entscheiden lassen.