16.
Was willst du?« Verständnislos starrte die Frau Rúna an. »Habe ich dich richtig verstanden? Deine Aussprache ist ungewöhnlich. Wo kommst du denn her?«
Rúna wiederholte ihr Anliegen, ohne auf die letzte Frage einzugehen. Dabei hob sie den Arm, über den sie ihre Lederhose gelegt hatte, und zeigte auf der Handfläche ein kleines, gutes Messer. Den Sarazenendolch und ihre anderen Waffen hatte sie in der Nähe in einem Eibengebüsch versteckt. Auch die Stiefel und ihre Armreife; schließlich sollte niemand auf den Gedanken kommen, sie auszurauben. Viel zu auffällig verhielt sie sich ohnehin. Sie trug nur die Tunika, um nicht ganz nackt dazustehen, hatte am Wegesrand halb verborgen herumgelungert und dann diese junge Bauersfrau oder Magd herangewinkt.
»Du willst meine Kleider?« Die Frau stemmte die Fäuste in die Seiten, lachte und warf ihren beiden Begleiterinnen einen Blick zu. »An denen hänge ich durchaus nicht«, sagte sie dann zu Rúna. »Aber was soll ich mit Beinkleidern?«
»Du hast doch sicher Brüder. Oder einen Vater. Das Leder ist gut verarbeitet und nirgends aufgescheuert.«
Die Frau befingerte die Hose. »Ja, es fühlt sich gut an. Und das Messer wäre ein schönes Geschenk für meinen Verlobten.«
»Lass die Finger davon«, riet ihr die kleine, füllige Frau, deren winzige Augen Rúna misstrauisch musterten. »Bestimmt hat sie die Sachen geklaut.«
Am liebsten wäre Rúna ihr ins feiste Gesicht gesprungen. »Das habe ich nicht«, widersprach sie ruhig. »Sie gehören mir.«
»Was noch merkwürdiger ist«, warf die Dritte ein. Sie war größer, aber ebenfalls etwas stämmig; deren Kleidung würde Rúna nicht passen. »Wo kommst du denn her, dass du als Frau so etwas trägst? Das ist schändlich. Unwürdig. Allein der Gedanke, der Pfarrer könnte mich so sehen!« Sie japste und schlug die Hand vor den Mund.
Auf diese Frage hatte sich Rúna notdürftig vorbereitet. »Ich komme aus einer abgelegenen Gegend weit im Norden. Da tragen Frauen gelegentlich Beinkleider, und niemand findet es schlimm.«
»Es ist anstößig«, beharrte die Frau.
»Naja, in den Highlands leben ja auch seltsame Leute«, befand die Jüngere. In ihrem Gesicht ließ sich der Wunsch, diese Dinge zu besitzen, deutlich erkennen. »Der Vetter eines Onkels von mir war mit der Nichte eines Clanhäuptlings verbandelt … Die soll auch in Männerkleidern herumgelaufen sein. Soll ein unerträglicher Wirbelwind gewesen sein. Und diese Dialekte da oben, grässlich! Nicht, dass deiner so schlimm wäre …« Sie lächelte Rúna entschuldigend an.
Rúna erwiderte das Lächeln. Ein Wirbelwind, genau, dachte sie. Dass man sie in den Norden Schottlands verorten könne, war nicht ihre Absicht gewesen, aber sie hatte nichts dagegen.
»Lass es«, sagte die Dicke, und die andere nickte bekräftigend.
Ziegen! Rúna wünschte sie in die Eistiefen Niflheims.
»Du kannst auch meine Tunika haben«, sagte sie schnell, als sie merkte, dass die junge Frau zögerte. »Ich wollte sie nur nicht anbieten, weil ich dann nackt dastünde.«
Kurzentschlossen nickte sie. »Einverstanden. Lass uns hinter die Büsche gehen und tauschen.«
Die beiden anderen schimpften, doch vergebens. Rúna führte die Schottin hinter einen der Felsen, die hier überall aus dem Gehölz und dem Grasland ragten, und machte sich sogleich daran, sich auszukleiden. Auch die Frau zog das Kopftuch ab, löste die Verschnürung ihres dunkelgrünen Kleides und schlüpfte hinaus. Darunter trug sie ein Unterkleid, das einmal weiß gewesen sein musste, jetzt aber verwaschen und mit alten Flecken versehen war. Sie zog es ebenfalls aus. Rúna gab ihr die Tunika, die sie rasch überwarf, die Hose und das Messer.
»Jetzt muss ich aber erst einmal ungesehen nach Hause!«, lachte die Frau. Leicht geduckt, die Hose an sich gedrückt, lief sie wieder auf den Weg, wo ihre Begleiterinnen sie zeternd in Empfang nahmen.
Rúna stieg in das Unterkleid. Es saß gut, war nur um weniges zu kurz. Zwar besaß sie die passende Figur, doch war sie um eine Handbreite größer. Das dunkelgrüne Oberkleid war aus dichtgewebtem Wollstoff und überall geflickt, aber sauber. Es ließ sich an den Seiten eng schnüren, besaß kurze Ärmel, sodass die hellen des Unterkleides herausschauten, und war über der Brust sehr knapp geschnitten. Zweifelnd sah Rúna an sich hinunter. Auch das Unterkleid verbarg nicht den Ansatz ihrer Brüste. Die Kette mit dem Kristall ließ sich so nicht verbergen, also brachte sie sie in ihr Versteck. Ebenso die Lederschnur mit dem Thorsanhänger, den sie beinahe vergaß, weil er ihr so vertraut war.
Sie überlegte kurz, die Stiefel wieder anzuziehen, aber so etwas trugen die Bauersfrauen nicht. Wenigstens der Sarazenendolch ließ sich in einer angenähten Seitentasche verbergen. Einigermaßen zufrieden trat Rúna zurück auf den Hohlweg und schlenderte weiter. Bald erreichte sie eine Biegung, dahinter kam Burg Daenston in Sichtweite.
Wahrhaftig war sie gut verborgen. Rúna wusste, dass Burgen oft auf Hügeln und lichten Ebenen standen, wo man weithin blicken konnte. Diese hingegen war von den Wänden einer kleinen Schlucht umringt. Jedoch überragten die Zinnen die Felswände, die ohnehin zu weit entfernt waren, als dass ein Heer von den Klippen aus hätte angreifen können. Blühender Ginster wuchs auf den Felswänden, der Stein war überzogen von Vogelkot und bunten Flechten. Auch der wuchtige viereckige Wohnturm, der die zinnenbewehrten Mauern überschattete, war derart gezeichnet. Ein Wasserfall speiste einen Bach, der sich rund um die Burg zu einem Teich verbreiterte und von einer Zugbrücke überspannt wurde.
Rúna legte den Kopf in den Nacken, um die majestätische Burg zu bestaunen. Bunte Wimpel zeigten ein golden gesticktes Bild von einer Burg und einem Drachen – vermutlich das Wappen des Earls. Diesseits der Brücke wurde in ein paar Häusern und Hütten gehämmert und geschmiedet, und aus einem mannshohen Ofen drang der Duft frischen Brotes.
Wie anders es hier doch war als auf Yotur, wo die niedrigen Häuser weit verstreut in die Hänge gebaut waren, als gehörten sie zur Natur. Yotur war schön und friedlich, manchmal fast zu friedlich. Dies jedoch war prächtig und aufregend. Und dabei war es, laut Angus, nur eine kleine unbedeutende Burg, kaum mehr als ein Jagdhäuschen.
Wie Rouwens Zuhause wohl aussah? Nicht die Komturei, das Ordenshaus der Templer, sondern sein Vatershaus? Vielleicht ganz ähnlich. Sie wünschte sich sehnlichst, es zu wissen.
Am Ende der Zugbrücke, vor den weit geöffneten Torflügeln, standen zwei bis an die Zähne Gewappnete. Sie griffen gerade unter die Plane eines hoch mit Stroh beladenen Karrens, den ein Maultier zog. Geduckt wartete der Bauer, bis sie mit ihrer Untersuchung fertig waren und sich die Strohhalme von den Handschuhen wischten. Dann winkten sie ihn hindurch. Eine Frau musste ihre Körbe abstellen und die Tücher anheben, mit denen sie sie abgedeckt hatte. Die Männer langten hinein und förderten rotbäckige Winteräpfel zutage, die sie sich gierig in die grinsenden Münder stopften. Während sich die Frau wieder die Arme belud und durchs Tor wankte, empfing sie einen deftigen Abschiedsgruß auf den Hintern.
»Was sage ich denen nur, weshalb ich hinein will?«, murmelte Rúna.
»Sag ihnen, du bringst Stroh.«
»Was?« Sie wirbelte herum. Niemand anderer als Arien stand unschuldig grinsend vor ihr. Tatsächlich hatte er wie viele andere Bauersleute ein Strohbündel in den Armen.
»Arien!« Sie packte ihn an der Schulter. Nur um nicht die Aufmerksamkeit der Wachen zu wecken, verzichtete sie darauf, ihn kräftig durchzuschütteln. »Am liebsten würde ich dich über den nächsten Ast werfen und dir den Hintern versohlen«, zischte sie. »Wieso bist du hier?«
»Na, weil ich dir nachgeschlichen bin.«
»Odin und alle Götter! Warum? Ich habe gesagt, ich wolle jagen, und zwar ganz für mich allein!«
»Ich hab dir angesehen, dass du etwas anderes vorhast. Ich glaube, ich weiß sogar, was. Du willst den Mönch entführen, so wie du den anderen entführt hast. Stimmt’s?«
Er grinste über beide Backen. Ihr schoss durch den Kopf, dass er einmal ein hübscher Mann werden würde, nach dem sich jede Frau die Finger leckte. »Es stimmt«, gab sie zu. Dass Arien so leicht darauf gekommen war, machte ihr Sorgen. »Denkst du, Rouwen hat mich auch durchschaut?«
»Glaub ich nicht. Du hast sie alle gut getäuscht. Aber du bist halt meine Schwester; mir kannst du nichts vormachen.« Arien wirkte höchst zufrieden mit sich.
»Und du bist mir wirklich nicht nachgelaufen, um mich zurückzuhalten?«
Er hielt ihr das Stroh hin. »Nein. Du bist doch eine große Kriegerin.«
Das sagte er mit völligem Ernst, was sie freute. Sie legte sich das Bündel auf den linken Arm. Arien hatte frische, gerötete Wangen, stellte sie fest. Überhaupt wirkte er gesünder als sonst. Ihr nachzulaufen, war gewiss anstrengend gewesen. »Du hast zugesehen, wie ich mich umgezogen habe?«, fragte sie lauernd.
Er zuckte mit den Achseln. »Ja. Aber es interessiert mich nicht, wie du nackt ausschaust. Du bist ja meine Schwester. Die andere hatte übrigens lauter Leberflecke auf dem Hintern. Und ihre Schamhaare hingen ihr fast bis zu den Knien.«
Rúna lachte. »Mit deinen Beobachtungen kannst du ja später, wenn alles vorüber ist, vor den anderen Männern am Lagerfeuer prahlen. Aber jetzt geh wieder. Und wehe, du verrätst Vater oder irgendeinem anderen, was ich hier tue!«
»Ich schwöre bei Odin, dass ich den Mund erst aufmache, wenn du es erlaubst. Aber es wäre doch besser, wenn ich mit dir käme …«
»Deine Abenteuerlust ist manchmal beängstigend.«
»Wirklich! Ist dir denn nicht aufgefallen, dass die wenigsten Frauen allein herumlaufen, und wenn sie es tun, belästigt werden? Wie die da am Tor eben? Du fällst viel weniger auf, wenn du deinen Bruder bei dir hast.« Zur Bekräftigung straffte er sich. Er hätte wohl gern ›deinen großen Bruder‹ gesagt, aber noch war er einen Kopf kleiner als Rúna.
Zugegeben, sie hatte keine Lust, begafft und befingert zu werden. Trotzdem! »Vater würde mich einen Kopf kürzer machen, wüsste er, was ich vorhabe. Und um zwei, wenn er sähe, dass du auch hier bist! Nein, du bleibst hier draußen.«
Besser noch, er liefe zurück, aber das würde er sowieso nicht tun, also verlangte sie es nicht noch einmal. Sie bedachte ihn mit einem letzten strengen Blick und wandte sich der Burg zu. Die Zugbrücke war schnell erreicht. Sie war breit und kurz und so dick, dass sie sich fragte, wie viele Männer zum Heben nötig waren. Und ob die Brücke überhaupt je gehoben wurde, denn dem in den Ritzen sprießenden Unkraut nach zu urteilen, war das nicht der Fall. Die Torflügel wirkten ebenfalls wuchtig.
Und die beiden Wächter nicht minder. Zwar trugen sie nur dick gefütterte Wämser, doch an der Wand hinter ihnen hingen Topfhelme mit einigen Kerben und Beulen darin, und an ihren Waffengürteln Kampfmesser und sogar Morgensterne.
Den Kerlen wollten die Augen aus dem Kopf fallen, als sie näher trat. Lag es an dem viel zu tiefen Ausschnitt? An den offenen Haaren, da sie das Kopftuch vergessen hatte? Sie zwang sich, nicht an die Tasche zu fassen, um zu prüfen, ob der Dolch sie verräterisch ausbeulte. Den Blick gesenkt, verlangsamte sie ihren Schritt, ohne stehenzubleiben, wie sie es bei den anderen Leuten gesehen hatte. Entweder es ging gut, oder …
»Augenblick.«
Könnte Thor jetzt nicht kräftig donnern, um den Mann abzulenken? Er berührte halbwegs sanft ihre Schulter, damit sie nicht weiterging.
»Wer bist denn du?« Er klang behutsam, doch sein Blick sprach eine andere Sprache; er schien zu überlegen, wie sie wohl unter dem Kleid aussah. Sein Kumpan zog sie nicht weniger gierig mit den Augen aus.
»Ich heiße Morag«, erwiderte sie, unschlüssig, ob sie bestimmt auftreten oder schüchtern tun sollte. Sie hob den Arm, um ihm klarzumachen, dass sie wegen des Strohs kam.
»Wegen dieser armseligen Garbe hast du dich auf den Weg gemacht?«
»Ich hatte mehr, aber ich habe es verloren.«
Er lachte. »Die Bauern klauen sich gegenseitig das Stroh.« Er neigte sich zu einer Seite, dann zur anderen, als könne er ihr so unter den Rock schauen. »Dein Kleid sieht ebenso armselig wie die Garbe aus. Ich gebe dir einen Silberpenny, wenn du mit in die Wachkammer kommst. Beim nächsten Glockenschlag habe ich nämlich frei. Na, was sagst du dazu?«
Ihr lag die Frage auf der Zunge, wofür sie die Münze erhalten solle. Rechtzeitig dämmerte es ihr. Sie musste an sich halten, ihm nicht um die Ohren zu hauen, dass sie ihn für einen Dreckskerl hielt. »Ich will nicht«, antwortete sie, und ihre Stimme zitterte vor unterdrückter Wut.
»Das Mädel hat Angst vor dir.«
Was? Was? Er dachte, sie hätte Angst? Deutete er ihr Zittern so falsch? Wahrscheinlich konnten sich diese Männer nicht vorstellen, dass eine junge Frau anders als ängstlich oder freudig auf ihre Angebote reagieren konnte.
»Guck nur, wie sie die hellblauen Augen aufreißt. Sind diese vollen Lippen nicht herrlich? Und dazu die Sommersprossen … Ich mag ja Sommersprossen, habe ich dir das schon erzählt, Leofric? Ich will sie auch, wenn du fertig bist. Aber geh sanft mit ihr um. Nicht dass ich eine heulende Trauerweide im Arm halte!«
Der Mann, der sie angesprochen hatte, winkte unwirsch ab. »Jetzt erschrickst du sie, du Dummkopf. Nun, Mädchen, was sagst du? Ein Silberpenny ist doch eine Menge Geld für dich.«
Du bist anscheinend taub, du dämlicher Hornochse. Ich habe bereits abgelehnt.
Sie öffnete den Mund, um es ihm zu sagen, mit genau diesen Worten. Da drängte sich plötzlich Arien an sie. Bei Freya, war das freche Adlerjungchen ihr nachgeschlichen und hatte sich diese Schändlichkeiten angehört? Wenn das alles vorbei war, würde sie ein ernstes Wort mit ihm reden müssen.
»Da bist du ja, Schwester«, plapperte er fröhlich drauflos. »Ich dachte schon, ich hätte dich verloren.«
Er schmiegte sich an sie wie ein kleines Kind und strahlte sie an. Sie legte den Arm um ihn.
»Schön, dass du wieder da bist. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Jetzt bleibst du aber bei mir, ja?«
Der Mann namens Leofric runzelte unwillig die Stirn, und der andere sagte: »Deinen Bruder wirst du doch wohl eine Weile allein lassen können …«
»Aber er ist krank«, sagte sie. Zur Bekräftigung begann Arien in die Richtung der Männer zu husten und zu röcheln. Sie wichen einen langen Schritt zurück. Und da die Götter in diesem Augenblick eine lärmende Familie schickten, die in die Burg wollte, winkte Leofric angewidert ab.
»Hinein mit euch. Verschwindet schon«, knurrte er.
Rúna beeilte sich, Arien durchs Tor zu ziehen. »Danke«, zischte sie in sein Ohr. »Das hast du gut gemacht. Auch wenn ich dich trotzdem lieber draußen wüsste!«
Sie gelangten auf einen Vorplatz, der ein wenig an den Markt in Eastfield erinnerte, nur nicht so groß und auch nicht gar so belebt. Weiter voraus gab es eine weitere Mauer mit einem zweiten Tor. Mägde und Knechte liefen umher, übernahmen Lieferungen und zerrten auch Rúna das Stroh ungefragt aus den Händen, ohne sie weiter zu beachten. In einer offenen Hütte wurde ein Pferd beschlagen, und vor einer anderen hatten sich einige Menschen versammelt. Ein Mann hielt eine Zange erhoben und stolzierte um einen anderen, der auf einem Hocker saß, herum.
»Ich werde ihm seinen faulen Backenzahn ohne Schmerzen ziehen!«, verkündete er. »Wer will mit mir wetten, dass er keinen Laut von sich geben wird?«
»Kein Bader ist so gut, dass er das könnte«, widersprach eine Frau und verschränkte bekräftigend die Arme vor der üppigen Brust.
»Die Wette verlierst du, Weib!«
Zwischen den streitenden Leuten hockte der Kranke wie ein armer Tropf. »Ich bleibe hier und sehe mir das an«, schlug Arien vor.
»Nein! Du wartest noch einen Augenblick und siehst dann zu, dass du wieder hinauskommst, hast du verstanden?«
»Jaaa.« Er rollte die Augen.
Rúna ging weiter, auch wenn sie ein schlechtes Gefühl dabei hatte, Arien zurückzulassen. Sie umrundete mehrere Gewappnete, die einen jungen Burschen schalten, weil aus dem Pfeilbündel, das er trug, unbemerkt zwei Pfeile gerutscht waren. Ein anderer, wichtig aussehender Mann hielt auf der erhobenen Hand, die ein gepolsterter Handschuh schützte, einen Habicht. Der Vogel spreizte die Schwingen und flatterte, doch eine Lederschnur, die der Mann zwischen den Fingern hielt, hinderte ihn daran fortzufliegen. Ein gefleckter Welpe, der wohl einmal ein Jagdhund werden sollte, tollte hinter einem Jungen her, der an einer Tragstange zwei Wasserkübel schleppte. Zwei andere Knaben übten sich im Kampf mit Holzschwertern. Rúna blieb stehen, um ihnen zuzusehen. In dem Trubel fiel sie zum Glück nicht weiter auf. Ob Rouwen auch mit seinem Bruder gefochten hatte, dem jungen wissbegierigen Aelfred, der vielleicht ganz ähnlich wie Arien gewesen war – weniger aufs Kämpfen denn aufs Wissen aus und trotzdem fürchterlich leichtsinnig?
Ob auch diese Burg eine Bibliothek besaß? Eine wie jene, in der das schreckliche Unglück geschehen war? Unwillkürlich stellte sich Rúna diese beiden Jungen dort vor, wie sie zwischen Truhen voller Bücher tollten und dann ein großer Kandelaber auf den kleineren, schmächtigen fiel …
Sie schüttelte den Kopf, um dieses schreckliche Bild zu vertreiben. Wieder ersehnte sie, die Arme um Rouwen zu legen. Ihm Trost zu spenden.
Denk jetzt nicht an ihn, ermahnte sie sich. Denk an deine Aufgabe!
Wie sollte sie hier den Mönch finden? Sie ging zu einer alten Frau, die mit einem Reisigbesen dem Dreck im Hof Herr zu werden versuchte.
»Verzeih, gute Frau«, begann sie vorsichtig. Die Alte hob den Kopf. Ihre runden Augen erinnerten an eine aus dem Schlaf geweckte Eule. »Gibt es hier eine Kirche?«
»Was willst du denn da?«, gab die Frau muffig zurück.
Wie hatte Rouwen das Gespräch mit Pater Alewold genannt? Verzweifelt suchte Rúna in ihrem Gedächtnis. »Beichten!«, rief sie. »Ich möchte beichten.«
Die Eule zeigte ein fast zahnloses Lächeln. »Das möchte ich glauben, dass eine, die so sündhaft hübsch ist wie du, viel zu beichten hat. Mit deinen zweifellos aufregenden Erlebnissen wirst du allerdings den Pfaffen in deiner Dorfkirche behelligen müssen. Aber warum machst du es nicht wie alle und beichtest erst zu Ostern? Das ist doch bald. Oder hältst du dich für besonders fromm?«
Ostern? War das nicht dieses Fest, das die Christen begingen, weil an diesem Tag der Christengott von dem Kreuz gestiegen war, an das ihn die Römer genagelt hatten? »Was macht denn der Burgherr, wenn er beichten will? Da geht er doch sicher nicht ins nächste Dorf?«
»Für den gibt es hier eine Kapelle. Der hat ja sogar seinen eigenen Kaplan. Aber da hast du doch nichts zu suchen, Mädchen.«
»Ich möchte wenigstens kurz beten …«
Die Eule rollte die Augen. »Wenn es dir so wichtig ist – na schön. Will ja nicht dran Schuld sein, wenn du dich aus Verzweiflung in einen reißenden Bach stürzt.« Den Besen hinter sich herschleifend, ging sie zum inneren Tor, nickte den Wachen zu, die Rúna ebenso geifernd anstarrten wie die ersten beiden, und schubste sie in Richtung eines kleinen Gebäudes neben dem Turm. Die Kapelle sah aus wie eine winzige Kirche.
»Wenn du erwischt wirst … ich hab dich nicht geschickt, ja?«
»Keinesfalls«, murmelte Rúna, aber die Eule achtete schon nicht mehr auf sie und schlurfte zurück.
Auch auf diesem Platz übte man sich im Kampf, doch diesmal mit echten Schwertern. Die beiden Männer waren gestandene Krieger, angetan mit klirrenden Kettenhemden, sporenbewehrten Stiefeln, Topfhelmen und Schwertern, so schwer, dass sie die Griffe mit beiden Händen umfassen mussten, um sie schwingen zu können. Bei jedem Hieb stießen sie Laute aus, die ihre Anstrengung verrieten. Erneut musste Rúna an Rouwen denken, doch diesmal an jenen, der im sogenannten Heiligen Land sein Leben für eine Sache gewagt hatte, die sie nicht recht verstand.
Zwei Knappen standen bereit und hielten buntbemalte Holzschilde in der einen und die Zügel kräftiger Schlachtrösser in der anderen Hand. Plötzlich rannte einer der Ritter an die Seite seines Pferdes, stellte einen Fuß in den Steigbügel und wuchtete sich hoch. Dann ritt er eine Runde durch den Hof. Es war eine Übung, die die Blicke aller Anwesenden auf sich zog. Rúna nutzte die Gelegenheit, um unbemerkt in die Kapelle zu huschen. Doch außer einer Heiligenfigur, einem Kreuz und ein paar spärlichen Einrichtungsgegenständen befand sich nichts darin.
Sie verließ die Kapelle und ihr Blick fiel auf den Wohnturm. Sie zögerte nicht – schnell, doch nicht überhastet, ging sie die fünf Stufen hinauf, die zur zweiflügeligen Tür des Turms führte. Sollte es auch hier zwei Wachen geben, die eine junge Frau als Freiwild ansahen …
Doch niemand hielt sie auf. Sie konnte die Klinke herunterdrücken und einen düsteren Treppenaufgang betreten. Eine breite Tür führte in eine Halle. Ein Junge war damit beschäftigt, Stroh auf dem Boden auszulegen, aber er bemerkte Rúna nicht. Für die Böden also wurde das viele Stroh benötigt. Wandteppiche und Schilde bedeckten die Wände, und an einer Seite erhob sich ein Podest mit einem herrschaftlichen Stuhl. Eine Empfangshalle offenbar, doch auch hier war der Mönch nicht.
Rúna erschien es sinnlos und gefährlich, auf gut Glück in die oberen Stockwerke zu laufen. Sie entschloss sich, einfach einen der Ritter zu fragen. Warum sollten sie einer jungen Bauersfrau misstrauen?
Sie griff nach der hohen Türklinke. Von draußen erklangen Schritte auf den Stufen. Hastig wich sie zurück und senkte den Kopf, um kleiner und unscheinbarer zu wirken.
Es war ein Mönch, der eintrat. Ein großer, vierschrötiger Mönch, mit einem stechenden Blick, in dem der Ärger der ganzen Welt zu liegen schien. Über seine pockennarbige Wange zogen sich drei gerötete Narben. Unwillkürlich fragte sich Rúna, ob sie von den Fingernägeln ihrer Mutter stammten, als sie sich gegen ihn gewehrt hatte.
Sie starrte ihn an. Wollte ihn fragen: Bruder Oxnac? Doch es war nicht nötig – sie kannte die Antwort.
Er war es.
Er sah sie an, als sei sie ein Käfer, der es gewagt hatte, auf seinen Schuh zu fliegen. Mit einer ärgerlichen Handbewegung hieß er sie, beiseite zu treten, und stapfte die Treppe hinauf.
Rúna stieß den angehaltenen Atem aus. Ein Geschenk der Götter! Ihre Füße machten keinen Laut, als sie ihm in angemessenem Abstand folgte. Er ging geduckt und wirkte gehetzt, sah sich jedoch nicht um.
Rúna fühlte sich ganz benommen. Was wagte sie hier? Und wie sollte es ihr gelingen? Dieser Mann war anders als der junge verhuschte Alewold. Oxnac strahlte einen harten Willen aus. Auf seinem kahl geschorenen Hinterkopf leuchtete ebenfalls eine Narbe. Diese konnte nicht von der Mutter stammen. Eher vom Hieb eines Ziemers. Der Haarkranz war verfilzt, und der ganze Mann zog eine Wolke üblen Geruchs hinter sich her. Als wüsste er, dass seine Seele verloren war, und er sähe keinen Sinn mehr darin, sich noch um den Körper zu kümmern.
War er bereits so gewesen, als er die Mutter ermordet hatte? Seit Jahren hatte Rúna nicht mehr um Ingvildr geweint; sie hatte es sich verboten. Jetzt spürte sie die Tränen in sich aufsteigen. Unbändiger Zorn brandete ihre Kehle hinauf, sodass sie an sich halten musste, dem Mann nicht laut schreiend in den Rücken zu springen. Sie musste stehen bleiben, musste Atem schöpfen und sich zur Ruhe zwingen.
Das war ein Fehler. Sie ahnte es, als er außer Sicht geriet und sie eine Tür leise klappen hörte. Hastig nahm sie zwei Stufen auf einmal und gelangte auf einen Treppenabsatz. Hier gab es zwei Türen – welche war die richtige?
Dieses verdammte Zögern machte es nicht besser! Das Tageslicht wurde zusehends trüber, und sobald es dämmerte, musste sie aus der Burg heraus sein. Wenn Bauern und Händler die Burg verlassen hatten, würde ihre Anwesenheit hier sehr bald auffallen. Ebenso wie ihre Abwesenheit im Lager.
Sie zog die erste Tür auf.
Das Erste, was sie sah, waren zwei kräftige Hände auf nackten Brüsten. Auf einer von vielen Truhen hockte ein Mann mit heruntergelassener Hose, und auf ihm, den Hintern ihm zugewandt, ritt eine nackte Frau. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, und ihr Gesicht war vor Wonne verzerrt. Dem Gewand nach zu urteilen, das gebauscht am Boden lag, war sie keine Bauersfrau, auch keine Magd, sondern eine hohe Dame. Der Mann hingegen schien zu den Wachleuten zu gehören. Rúna dankte schon den Göttern, dass die beiden miteinander beschäftigt waren und sie nicht bemerkten, und wollte leise die Tür schließen. Da fiel der Blick der Frau auf Rúna. Ihre vor Lust verengten Augen weiteten sich.
»Fergus!« Sie entwand sich ihm und sprang auf. »Ich dachte, du hast den Riegel vorgeschoben?«
Das hatte Fergus in seiner Gier wohl vergessen. Rúna legte einen Finger auf die Lippen und sah sie verschwörerisch an, um ihr klarzumachen, dass sie sich nicht im Geringsten für dieses Techtelmechtel interessierte. Vergeblich. In Windeseile war die Frau bei ihren Kleidern und zerrte sie an sich hoch.
»Was willst du noch, warum verschwindest du nicht?«, zischte sie. Plötzlich kreischte sie laut: »Du bist ja eine Hure!«
»Was bin ich?«
Die dunkelbraunen Locken der Frau erbebten wie in einem Sturm, als sie ihre prächtige Mähne zurückwarf. »Nur eine Hure würde mit so anstößigem Schmuck herumlaufen.«
Verwirrt sah Rúna an sich hinunter. Sie hatte die Kristallkette und den Thorshammer doch abgelegt? Aber nicht die Zehenringe – die hatte sie ganz vergessen!
»Verschwinde endlich!«, kreischte die Frau.
»Was ist denn hier los?«, hörte Rúna hinter sich eine düstere, raue Stimme. Sie fuhr herum. Niemand anderer als der Mönch Oxnac stand hinter ihr. Er besaß blaue Augen, die das Gesicht jedes anderen Mannes anziehend gemacht hätten. Seines aber wirkte dadurch nur mehr kälter.
»Eine Hure hat sich in die Wäschekammer geschlichen«, behauptete die Dame. Rúna sah über die Schulter. Geschickt hatte sie sich wieder geordnet, und von dem Kerl war nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich hockte er hinter einer der Wäschetruhen.
»Was willst du hier?«, fragte der Mönch.
Rúna erkannte, dass sie sich verrannt hatte. Jetzt gab es nichts mehr zu überlegen. Ihr blieb nur noch, zu handeln. Die Götter mochten ihr beistehen – sie war bereit, ihn hier und jetzt zu töten, falls es nicht anders möglich war. Selbst auf die Gefahr hin, das eigene Leben zu verlieren.
Sie riss den Sarazenendolch aus der Tasche und drückte die Spitze an seinen Bauch.
»Dich«, erwiderte sie. »Wenn du friedlich mit mir kommst, werde ich dir nichts tun.«
Ich spreche nur für mich. Nicht für meinen Vater, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Und warum sollte ich?« Er wirkte ein wenig verblüfft, wie jemand, der langsam aus einem langen, schweren Traum erwachte. »Wer bist du?«
»Eine Hure!«, kreischte die Frau, dass es Rúna in den Ohren schmerzte. »Sie schmückt ihre nackten Füße wie eine Babylonierin!«
Von der Klinge scheinbar unbeeindruckt, blickte er hinunter. Er blinzelte und bückte sich ein wenig. »Sind das Runen auf deinen Ringen?« Er richtete sich wieder auf und verengte die Augen. »Du bist eine Heidin.«
»Ja, eine Heidin und Wikingerkriegerin, und ich hoffe, dass ein Skalde dereinst von meinen Taten singen wird«, sagte Rúna stolz.
Da vernahm sie hinter sich trampelnde Schritte. Fergus. Sie würde sich umdrehen und seiner erwehren müssen, doch dann konnte Oxnac fliehen. Besser, wenn sie sich darauf konzentrierte, dem Mönch die Klinge in den Leib zu stoßen. Dann würde Fergus sie überwältigen können, und sie wäre des Todes, doch die Rache wäre vollendet.
Aber sie merkte, dass sie viel zu sehr am Leben hing. Sie liebte es, sie liebte den Vater, Arien – Rouwen! Sie durfte nicht sterben! Den Bruchteil eines Herzschlags gingen ihr diese Gedanken durch den Kopf, und das Zögern besiegelte ihr Scheitern.
Fergus stieß seine Liebschaft so grob beiseite, dass sie jammernd zu Boden fiel, und warf sich auf Rúna. Mit einem kräftigen Hieb schlug er ihr den Dolch aus der Hand. Ihre Linke grub sich in sein Haar, und ineinander verkeilt rollten sie über den Boden, sodass sie die Treppe hinabzustürzen drohten. Ihr Kopf schlug gegen die Steinwand. Ist es meiner Mutter so ähnlich ergangen?, fragte sie sich noch. Dann fiel sie in tiefe Schwärze.