14.

Rúna hatte bei Rouwen gesessen, bis sich der Himmel zu röten begann. Schweigend. Und schweigend hatte sie sich von ihm verabschiedet. Wenigstens eine Stunde wollte sie noch in ihrem Zelt schlafen.

Als sie sich dem Lager näherte, kam eine Gestalt, schnell wie ein Pfeil, aus der Düsternis auf sie zu und griff nach ihr. Yngvarr. Hatte er ebenfalls die ganze Nacht kein Auge zugetan?

»Rúna«, zischte er. Sein Atem roch nach Bier, als habe er seinen Ärger ertränken müssen. »Was tust du hier?«

»Zu meinem Zelt gehen, das siehst du doch.«

Er schüttelte ihren Arm. Schmerzhaft bohrten sich seine Finger in ihr Fleisch, doch sie wagte es nicht, ihn abzuschütteln, aus Furcht, er sähe, dass sie unter dem Umhang nackt war. »Du weißt ganz genau, was ich meine! Du warst bei ihm im Zelt! Und dann hast du ewig irgendwo da draußen mit ihm gesessen. Ich hätte mit dem Schwert dazwischengehen sollen! Damit du begreifst, zu wem du gehörst. Zu mir!«

»Das traue ich dir zu.«

»Eben. Weil ich ein Krieger bin, ein Mann, wie er sein soll.«

Das ist Rouwen dreimal mehr – das eine wie das andere, dachte sie.

»Ich bin ein Mann unseres Volkes«, redete Yngvarr weiter auf sie ein. »Ein Nordmann, ein Wikinger. Und was ist er? Ein Feind. Und du vertraust ihm! Du musst wahnsinnig sein.«

»Er ist ein Ehrenmann, Yngvarr. Es mag ja sein, dass du ihn nicht magst, und das verstehe ich. Aber er wird uns nicht in den Rücken fallen.«

»Vielleicht nicht, vielleicht doch! Ich rechne mit allem. Du aber bist eine Frau, die nicht mehr klar sehen kann …«

Sie riss sich los und ging ohne ein Wort davon.

»Rúna!«, brüllte er hinter ihr her.

Dieser Schreihals! Musste er das ganze Lager aufwecken? Noch lagen die Männer im Schlaf, bis auf jene, die Wache hielten. Wenigstens verfolgte er sie nicht. Sie erreichte ihr Zelt, nickte Hallvardr zu, der Sverri abgelöst hatte, und hob die Zeltklappe. Da sah sie, wie sich die ihres Vaters öffnete. Baldvin trat aus seinem Zelt und marschierte auf sie zu, als habe er nur darauf gelauert, dass sie endlich zurückkäme. Noch ein Tadel; sie ahnte es. Über Yngvarrs Einmischung war sie zornig, doch vor dem Vater konnte sie nur den Blick zu Boden heften. Da er kleiner als sie war, musste sie den Kopf dazu tief senken. Sie kam sich vor wie ein dummes Gör.

»Rúna, Tochter, mein Wirbelwind.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter und dann an ihre Wange. Sofort schossen ihr ungewohnte Tränen in die Augen, obwohl sie nicht so recht wusste, weshalb. »Ich halte große Stücke auf dich, das weißt du. Auch dann noch, wenn du etwas, nun, Unbedachtes tust. Trotzdem mache ich mir Sorgen.«

Sie wollte einwenden, dass er das nicht musste. Aber wäre das nicht gelogen? An seiner statt würde sie sich ebenso sorgen.

»Ich vertraue dem Engländer, doch nur, weil ich ihn zur Treue gezwungen habe. Du aber tätest es wohl auch so, fürchte ich. Und das ist dumm. Das ist dir hoffentlich klar, oder?«

Sie schluckte und nickte. Inzwischen schmerzten ihre Finger von der Mühe, den Umhang vorne zusammenzuhalten.

Ihr Götter, wie viel hatte er von dieser Nacht mitbekommen? Hatte Yngvarr ihm irgendetwas gesagt? Sie wagte nicht zu fragen. Ein Wunder, dass sie ungestört bei Rouwen hatte sitzen können! Zweifellos waren Yngvarr und Baldvin stundenlang Kreise gelaufen, hatten überlegt, ob sie dazwischenplatzen sollten, und sich dabei wie Jagdhunde an unsichtbaren Ketten gefühlt.

Noch einmal klopfte er ihr auf die Schulter, dann wandte er sich mit einem entsagungsvollen Vaterblick ab. »Schlaf noch ein wenig. Nachher bringen wir Odin ein großes Opfer dar.«

Er kehrte in sein Zelt zurück und verschloss die Klappe. Rúna musste tief Atem holen; sie hatte ihn, so schien es ihr, die ganze Zeit angehalten. Die Müdigkeit war verflogen. Wenn sie jetzt in ihr Zelt ging, würde Arien womöglich mit seiner altklugen Art ins gleiche Horn stoßen. Das fehlte ihr noch!

Sie beschloss, ganz auf Schlaf zu verzichten und stattdessen einen der Männer von seinem Wachposten abzulösen. Rasch schob sie sich ins Zelt, erleichtert, dass Arien noch schlief, raffte mit einem Griff ihr Kleiderbündel, die Stiefel und Falkenkralle und kleidete sich im Schatten des Zeltes an.

Pater Alewold schlotterte noch immer unter seinen Decken. Der arme Kerl ließ sie an einen Welpen denken, der unsinnigerweise im Freien angekettet war. Sie holte eine Tonflasche Met und rüttelte ihn an der Schulter. Leise aufkeuchend ruckte er hoch.

»Sind alle Mönche so kälteempfindlich? Ich hörte, ihr haust in eiskalten Zellen. Hier«, sie hielt ihm die Flasche vor die Nase. »Davon wird dir warm.«

Er setzte sich auf. Kurzerhand hielt sie ihm die Öffnung an den Mund, da er es mit seinen gebundenen Händen nicht selbst tun konnte. Er versuchte den Kopf zu schütteln, aber sie ließ nicht locker. Endlich trank er.

»Frau«, schnaufte er erschöpft, als sie die Flasche absetzte. »Das ist ein Sündengetränk!«

»Rede kein dummes Zeug. Du bist so durchgefroren, dass du niemals mehr warm wirst, es sei denn, du nimmst noch ein paar ordentliche Schlucke.«

Sie versorgte ihn noch einmal. Der Met lief sein Kinn hinab. Erst als er hustete, setzte sie die Flasche ab.

»Danke, aber das reicht jetzt wirklich.« Er stieß auf. »Es schmeckt sündhaft gut.«

»Ihr Mönche seid alle besessen von der Sünde, oder?« Wenn er wüsste, was sie mit Rouwen – seinem Bruder gewissermaßen – getan hatte, würde er sich wohl vor Entsetzen in Luft auflösen. Konnte er etwas mitbekommen haben? Vermutlich nicht, Rouwens Zelt stand zu weit entfernt.

Sie setzte sich zu ihm. »Was passiert mit einem Tempelritter, wenn er sich zu einer Frau legt?«

Im beginnenden Tageslicht konnte sie sehen, wie er errötete. »Frau, warum …«

»Keine Ausflüchte, ja?« Sie rüttelte ihn an der Schulter. »Sag schon.«

»Er muss Buße tun.« Seine Stimme war so leise, dass sie nah an ihn heranrücken musste, was ihn vor Schreck noch leiser werden ließ. »Das legt der Beichtvater fest, ein Kaplan; das ist, so viel ich weiß, ein Älterer, ein ehemaliger Ritter.«

»Und dann?«

Er zuckte die Achseln. Oder fror er etwa immer noch? Sie gab ihm noch einmal zu trinken, und dieses Mal wehrte er sich nicht mehr.

»Also?«

»Ja, ich weiß es nicht, ma dame. Ist er reuig? Dann fällt die Strafe milde aus. Doch kann er von der Frau nicht lassen? Dann droht die Exkommunikation.«

»Was ist das?«

»Er wird von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Das heißt, nicht allein von der Gemeinschaft der Mönche, sondern von allen Christen. Er kann dadurch sein Seelenheil verlieren.«

Ah, der Met machte ihn redseliger. Gut. »Wir glauben, dass alle Toten an denselben Ort kommen, ins Reich Hel. Dort soll es nicht schön oder schlimm sein, es ist einfach so. Ein Krieger gelangt nach Walhall, und ein besonders bösartiger Mensch nach Niflheim. Ein solcher muss Angst um sein … Seelenheil haben.« Das ungewohnte Wort kam ihr etwas zögernd über die Lippen. »Und du glaubst, dass das mit Rouwen geschehen könnte? Weil er eine Frau liebt?«

Er verzog das Gesicht. »Nur Heiden können solche Fragen stellen.«

»Verzeih«, sagte sie säuerlich. »Aber in meiner Heimat konnten die Christenpriester nicht richtig Fuß fassen. Daher habe ich nie mehr als einen Fetzen hier und einen Fetzen da gehört. Außerdem muss es mich ja nicht kümmern, ich bin keine Christin. Ich glaube …«

»Alle Menschen können ihr Seelenheil verlieren!«, unterbrach er sie inbrünstig. »Und alle, die sich vom Licht Gottes nicht anlocken lassen, werden in ewiger Finsternis enden. Was du glaubst, ist dabei völlig unerheblich!«

»Ich glaube, dass ich in Walhall einziehen werde. Berühmte Krieger werden mich empfangen und in ihre Mitte geleiten. Und dann werden wir feiern bis zur Götterdämmerung.«

»Ja, ich weiß, die gefallenen Helden feiern mit Met und Frauen. Dieser Met ist wirklich ein Teufelszeug. Was willst du denn dort in … in Walhall anfangen als Frau? Mit den anderen Frauen tanzen? Bis in alle Ewigkeit?«

Sie runzelte die Stirn. »Es sind genügend Krieger dort, das sagte ich doch.«

»Aber ich dachte, du liebst Rouwen. Er wird jedenfalls nicht dort sein. So wie er flucht, sollte er aber auch aufpassen, dass er das Himmelstor nicht verfehlt. Er hat sogar bei der Beichte geflucht!« Er lachte. Wahrhaftig, er lachte; der Met hatte eine Wirkung auf ihn, die sie überraschte. Am liebsten hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst, die ihn wieder zur Besinnung brachte.

»Na, wenigstens frierst du nicht mehr«, fauchte sie.

»Ich glaube, dieser Mann wird niemals sein Seelenheil verspielen. Jeder andere, aber nicht dieser!«, rief er glucksend. »Niemals, niemals, ma dame!«

»Ich hab’s begriffen! Ich bin eine böse Heidin, und er ist ein guter Christ.«

»Genau!«

Wütend warf sie eine der Decken über ihn, sprang hoch und stapfte zurück in ihr Zelt. Diese Christen waren ja alle verrückt! Besessen von ihrer Angst vor der Sünde und dem damit verbundenen Verlust des ›Seelenheils‹. Und sie – sie musste sich davor fürchten, dass der Mann, der einst in Walhall an ihre Seite treten würde, um mit ihr zu tanzen und zu feiern, nicht Rouwen, sondern Yngvarr war. O Freya, welch eine verzwickte Lage!

»Also, einen Schwur zu brechen, das ist eine Sünde, ja?« Rúna rüttelte den Mönch an der Schulter, damit er sich aufrichtete. Er tat es stöhnend. Sein Gesicht war grau.

Sie waren vor ein paar Stunden aufgebrochen, um auf dem Fluss Eye Water ins Landesinnere vorzustoßen. Ihr Vater hatte beschlossen, Ian MacCallums Angebot zu trauen. Schließlich diente ihnen Athelnas Leben als Unterpfand. Nun befanden sie sich auf dem Weg zum Treffpunkt mit MacCallums Führer. Dem Mönch bekam die Fahrt auf dem Schiff offensichtlich nicht allzu gut.

Er blinzelte sie träge an, bevor er antwortete. »Natürlich, ma dame.«

Rúna überlegte. In den letzten Stunden hatten ihre Gedanken immer dieselben Bahnen gedreht, wie die Himmelskörper. Sie hoffte, dass ein weiteres Gespräch mit dem Mönch ihr weiterhalf. »Sind alle Sünden gleich?«

»Nein. Es gibt lässliche und schwere Sünden.«

»Was ist denn eine schwere Sünde?«

»Jemanden töten natürlich.«

»Und eine ganz besonders schwere?«

Ermattet schloss er die geröteten Augen. »Ehebruch zum Beispiel. Die Heilige Schrift sagt ja sogar, dass allein der Gedanke daran so schlimm ist, als hätte man es schon getan.«

»Das ist schlimmer, als jemanden umzubringen?«, fragte sie fassungslos.

»Habe ich das gesagt?« Alewold griff sich an den Kopf. »Mir platzt der Schädel; bitte dränge mir nicht schon wieder einen theologischen Disput auf, ma dame!« Er warf sich wieder nach vorne und beugte sich über die Bordwand.

Ein starker Wind ließ das Schiff auf dem Wasser tanzen. Auch wenn es Rúna drängte, Antworten auf ihre Fragen zu finden, damit sich die Verwirrung in ihrem Kopf löste, beschloss sie, dem Mönch Ruhe zu gönnen. Sie wanderte auf dem Deck hin und her, wo sich die Männer mit ihren starken Armen ins Zeug legten, die Windjägerin den Fluss hinaufzubringen. Alle wirkten angespannt; jeder schien darüber nachzugrübeln, ob eine Falle auf sie wartete. Wie gewohnt stand Rúnas Vater auf der Ruderplattform, und Arien, dick in einen Umhang gehüllt, betrachtete das vorbeiziehende Land. Die Ufer waren von sumpfigen Waldstreifen gesäumt, hinter denen das saftige Frühlingsgras der Äcker und Weiden leuchtete. Dahinter erstreckten sich Hügelketten, auf deren Kämmen Nebel lag. Es war schwer zu sagen, wie hoch sie sein mochten oder wie weit entfernt. Rúna wusste nur, dass Schottland insgesamt sehr bergig sein sollte, obwohl das an der Küste bisher nicht zu sehen gewesen war. Baldvin hatte ihr erzählt, dass Wilhelm der Raue, der König Schottlands, nach einer Schlacht in englische Gefangenschaft geraten war. Er hatte den König von England als seinen Herrn anerkennen und für die Kosten der englischen Besatzer aufkommen müssen. Ein Engländer wäre bei der Bevölkerung demnach nicht wohlgelitten, aber ob das der Grund für Rouwens trübselige Miene war?

Wohl eher nicht.

Er saß wie die anderen am Riemen und schaute so verkniffen, als müsse er das Ruderblatt durch dicken Schlick bewegen. Die Schilde hatte man von der Reling und den Drachenkopf vom Bugsteven genommen, damit das Schiff keinen feindlichen Eindruck machte. Das gestreifte Rahsegel lag zusammengerollt an Deck, der Mast war umgelegt. Trotzdem wirkte die Windjägerin allein durch ihre schnittige Bauweise fremdartig, und hier und da konnte man einen Fischer in seinem Boot oder Frauen sehen, die am Ufer Wäsche wuschen; sie hielten in ihren Tätigkeiten inne und glotzten erstaunt.

In früheren Zeiten wären sie schreiend davongelaufen, dachte Rúna. Ich bin zu spät geboren, in einer Zeit, in der sich alles längst vermischt hat. Früher hätte ich mir keinen Kopf um einen Mann machen müssen, dem die Sündenstrafe im Nacken sitzt.

»Wie sieht denn das ewige Leben für einen im Kampf gefallenen englischen Ritter aus?«, stellte sie nun doch die nächste Frage. Ihr zielloses Umherstreifen hatte sie wieder an die Seite des Mönchs geführt.

»Wer in den Himmel kommt, wird ein weißes Gewand tragen und auf ewig Gott preisen«, erwiderte er. Ein seliges Lächeln milderte die Qual in seinem Gesicht.

»Das klingt aber nicht sehr erstrebenswert.«

Sofort verdüsterte sich seine Miene. »Paulus sagt, dass das irdische Dasein eine Zeit des Leidens ist, im Vergleich zur Herrlichkeit später.«

Paulus, ah ja. Das war auch so ein Missionar gewesen, wenn sie sich recht erinnerte. »Ich ziehe es vor, auch in der Ewigkeit mein Schwert am Gürtel zu tragen. Ein weißes Gewand mag dir ja stehen, mir aber nicht, und Rouwen auch nicht.«

Sie dachte daran, wie sie am Morgen vom Opferplatz zurückgekehrt war. Sie hatte Falkenkralles Klinge in das Blut des in der Umgegend geraubten und von Baldvin getöteten Pferdes getaucht, wie auch die anderen Schwertmänner. Zurück im Lager hatte Rouwen sie auf eine seltsame Art angesehen. Ein bitterer Ausdruck lag in seinen Augen, und sein schöner Mund war verkniffen. Er hatte begriffen, was sie getan hatte – und sich abgewendet.

Heftig sehnte sie sich danach, wieder an seiner Seite zu sitzen. So sehr, dass sie die Hände zu Fäusten ballen und die Nägel tief in ihre Handflächen graben musste, um nicht zu ihm zu gehen.

Allvater Odin, Mutter Freya, hatte sie während des Opfers in Gedanken gefleht. Helft mir, dieser Verstrickung zu entkommen. Lasst mich mit Rouwen zusammenkommen – oder reißt diese Liebe aus mir heraus!

Ein Dorf kam in Sichtweite. Der Treffpunkt. An einem wacklig wirkenden, von Vogelkot übersäten Steg lagen mehrere Boote unterschiedlicher Größe. Enten hockten auf den Bohlen und hüpften schimpfend nacheinander ins Wasser, als der Reiter, der am Rande einer Kuhwiese gewartet hatte, sein Pferd gemächlich heranschreiten ließ. Er hob die behandschuhte Hand zum Gruß. Dies war offensichtlich der Führer, der sie zu der Burg bringen sollte, in der sich Bruder Oxnac versteckt hielt. Stolz, diese Abmachung mit dem Earl getroffen zu haben, stand Yngvarr an der Reling. Als einziger der Männer hatte er, von Baldvin abgesehen, nicht gerudert, sondern sein Kettenhemd poliert, damit es glänzte. Unter dem Arm trug er einen Brillenhelm; an seinem Gürtel hingen sein Schwert und das lange Kampfmesser, das einmal Rouwen gehört hatte.

»Gott zum Gruß!«, rief der Schotte.

»Odin sei mit dir!«, erwiderte Yngvarr.

Auch Baldvin hatte sich gerüstet. Im Gegensatz zu Yngvarr sah er jedoch keine Notwendigkeit, sich zu brüsten, und er bewegte so geschickt wie gelassen die Ruderpinne, um den Ruderern zu helfen, das Schiff an den Steg zu bringen. Ein paar Männer sprangen auf, um ein Seil um die Pfosten zu werfen und die Laufplanke über die Reling zu schieben. Rúna hielt den Atem an, als Yngvarr Anstalten machte, als Erstes darüber hinwegzulaufen. Doch er besann sich und trat zurück, um seinem Häuptling den Vortritt zu lassen.

Ihr Herz quoll über vor Stolz, als ihr Vater in seinem prächtigen Schuppenpanzer vor den hoch zu Ross wartenden Schotten trat und höflich eine Hand hob. Der Mann sprang von seinem Rappen, und die Männer umfassten ihre Unterarme. Baldvin war anderthalb Köpfe kleiner als der kräftige Schotte, dafür sah er jünger aus. Das Gesicht des anderen war von Falten und Pockennarben übersät; seine Stirn zog sich bis zum Hinterkopf und endete in langen grauen Strähnen. Als er lächelte, entblößte er drei verbliebene Zähne. Doch auch er war gerüstet und bewaffnet, und er sah aus wie einer, der schon viele Schlachten überstanden hatte. Über dem Kettenhemd trug er einen weißen Umhang mit einer kostbaren Rundfibel.

»Mein Name ist Angus, ich diene Lord Ian MacCallum als Edelknecht«, sagte er freundlich und mit einer eigentümlichen Aussprache. »Als er mir erklärte, mit welcher Aufgabe er mich betraut, wollte ich es nicht so recht glauben. Ihr seid tatsächlich Wikinger?« Bevor Baldvin antworten konnte, fiel Angus’ Blick auf Rúna. »Heilige Notburga! Und bei euch stehen die Weiber nicht am Herdfeuer, wie es scheint.«

Rúna hatte auf ihr Kettenhemd verzichtet, um nicht noch mehr aufzufallen, als sie es ohnehin tat. Sie trug eine ihrer Hosen aus weichem Hirschleder, pelzverbrämte Stiefel und eine blaue, knielange Tunika. An ihrem Gürtel hingen Falkenkralle und der Sarazenendolch, an ihrem Rücken lag der Köcher mit den Pfeilen, und ihren Bogen hielt sie in der Hand. Ihre Arme waren ganz nach Kriegerart mit silbernen Reifen geschmückt. Das einzige Zugeständnis an ihre Weiblichkeit war die Kette mit dem Kristall, der zwischen ihren Brüsten hing. Sie wusste selbst nicht, warum sie dieses Schmuckstück gewählt hatte. Weshalb sie es überhaupt mitgenommen hatte. Vielleicht, um Rouwen ein Zeichen zu geben, dass sie gerne die Seine wäre …

Der schottische Edelknecht schüttelte noch einmal den Kopf, dann riss er sich von Rúnas Anblick los. »Ich bin hier, um Euch zu Bruder Oxnac zu führen, Herr Baldvin«, versicherte er ihrem Vater. »Mein Herr erklärte mir, dass er die Fehde beenden will, weil er sich nach seiner Tochter sehnt und eingesehen hat, wie schlimm die Tat des Mönchs war. Ich soll Euch sagen, dass er all das zutiefst bedauert. Wie geht es Lady Athelna?«

Baldvin nickte. »Gut, mein Wort darauf. Wie weit ist es bis zu Oxnacs Versteck?«

»Da ihr keine Pferde habt …«, der Edelknecht ließ den Blick über die Besatzung schweifen. »Nun, morgen Abend dürften wir Burg Daenston erreicht haben. Ein Stück können wir weiter den Eye Water hinauffahren, danach müsst ihr laufen. Ich nehme mein Pferd mit, wenn’s recht ist.«

Baldvin kehrte aufs Schiff zurück und nahm Rouwen beiseite. »Kann man ihm trauen?«, hörte Rúna ihn leise fragen.

Yngvarr, der nur drei Schritte entfernt stand, zischte: »Du fragst ihn?«

»Ich würde ihm nicht trauen«, sagte Rouwen. Es klang ein wenig, als meinte er Yngvarr.

Baldvin zwirbelte den sauber geflochtenen und mit goldenen Ringen geschmückten Bartzopf. »Wir nehmen ihn an Bord«, entschied er. »Und werden doppelt wachsam sein.«

Rouwen half dem Schotten, das Pferd – das ihr riesenhaft vorkam – über die Laufplanke zu führen. Frigg, die kleine Ponystute, war im Vergleich zu diesem schwarzen Berg aus Muskeln ein niedliches Schoßtier. Selbst Yngvarrs Schlachtross sah dagegen harmlos aus, und es war mit Abstand das größte Tier auf Yotur. Bewundernd sah Rúna zu, wie Rouwen das fremde Pferd handhabte. Ganz ohne Furcht. Er tätschelte den mächtigen Hals und scheute sich auch nicht, die Hand auf das Maul mit den kräftigen Zähnen zu legen und die zart wirkenden Nüstern zu streicheln. Er führte das Tier in die Mitte des Schiffes und band es am Kielschwein fest. Angus, der breitbeinig auf den Planken stand, sah ihm wohlwollend zu.

»Du verstehst dich auf Pferde.« Er schien zu überlegen, ob er fragen solle, wer der Fremde war, der sich durch seine gebräunte Haut und das Silberkreuz an seinem Hals so deutlich von den Wikingern unterschied. Doch dann entschied er sich offensichtlich, besser nicht zu erkunden, wie dieser Mann hierher geraten war.

Der Schotte fühlte sich unter den Kriegern scheinbar wohl; er schäkerte mit Arien, der sich in die schmale Brust warf und leidenschaftlich erklärte, diese Reise mitzumachen, um zu lernen. Angus’ Lachen klang ähnlich wie das des Vaters, tief, rau und herzlich.

Die Mienen der Männer entspannten sich. Rúna dachte, dass sie sich, hätte sie an des Earls statt entscheiden müssen, wer die Wikinger in die Falle locken sollte, ebenfalls für einen solchen Mann entschieden hätte.

Lediglich Yngvarr blickte weiterhin so finster drein wie sonst auch.

»Rúna! Rúna! Sieh doch mal!« Es war Arien, der sie an der Schulter rüttelte.

Rúna setzte sich mit einem Ruck auf. Dann rieb sie sich den Schlaf aus den Augen. »Was ist denn?« Ihr tat der Rücken weh, als sei sie eine alte Frau. Sie streckte sich und betrachtete missmutig die Bordwand. Erschöpft von der schlaflosen Nacht hatte sie sich an den Rand der Ruderplattform gesetzt, die Beine baumeln lassen und die Schulter an die Bordwand gelehnt. Trotz der Müdigkeit hatte sie es wieder einmal bedauert, eine Frau zu sein, da sie nicht kräftig genug war, ihren Beitrag an den Riemen zu leisten. Rouwen schien den Schlaf nicht zu vermissen, denn er hatte so kraftvoll wie alle anderen gerudert. Irgendjemand – Sverri – hatte ein Lied angestimmt, und dann hatten sie der Rhythmus der Ruderblätter und die sanfte Schaukelei einschlafen lassen.

»Jetzt schau doch«, drängte Arien. »Da!« Er deutete ans Ufer. Eine schwarzgekleidete Gestalt lief über eine Wiese.

Rúna brauchte eine Weile, bis sie begriff: Die Windjägerin hatte am seichten Ufer festgemacht; Seile lagen um eine Ulme, die schräg über dem Wasser wuchs. Das Ende der Laufplanke lag auf einer sandigen Stelle, und dort hatten die Sandalen des Priestermönchs tiefe Spuren hinterlassen. Er hatte sich eine mit schmutzigem Gebüsch bewachsene Böschung hinaufgekämpft und flüchtete nun, das Gewand bis über die Knie gerafft.

»Wer hat ihn denn laufen lassen?«, begann sie noch ganz verwirrt. Da hörte sie Yngvarr brüllen.

»Warum hast du das getan, Engländer?« Er stieß Rouwen an der Schulter an. »Hast du deinen Schwur vergessen?«

»Den, dass ich mich nicht gegen euch stelle?«, schnaubte Rouwen. »Keineswegs.«

Rúna rappelte sich hoch, sprang von der Plattform und eilte auf die beiden Männer zu. Ihr entging nicht, dass Angus interessiert zusah. Sie drängte sich zwischen Yngvarr und Rouwen. »Ich habe Alewold gefangen, also ist es an mir, zornig zu sein«, fuhr sie Yngvarr an.

Alle starrten sie an, als warteten sie darauf, dass sie es nun würde. Sie drehte sich zu Rouwen um.

»Pater Alewold kann uns weder gefährlich werden, noch kann er uns helfen«, erklärte er. »Daher habe ich ihn laufen lassen, sowie das Schiff angelegt hat.«

Insgeheim hatte ihr der arme Alewold längst leid getan, daher war sie ganz froh, dass er fort war. Außerdem war sie sein Gerede über verlorene Seelen leid. Also nickte sie brüsk. »Er war unnütz. Aber das nächste Mal frag vorher!«

»Gut«, schnaubte Baldvin, der sich die Sache mit ungeduldig verschränkten Armen angehört hatte. »Dann packt eure Sachen. Vier Männer bleiben beim Schiff, der Rest macht sich marschbereit. Arien, du bleibst hier.«

»Vater!« Arien drängelte sich zu ihm vor und sah anklagend zu ihm auf. »Was soll ich denn hier machen? Die Vogelnester im Schilf zählen?«

Er gab ihm eine sanfte Backpfeife. »Wir laufen, und zwar bis morgen Abend; ist das noch nicht zu dir durchgedrungen? Das ist zu viel für dich. Außerdem wissen wir nicht, was uns am Ziel erwartet. Es könnte gefährlich werden.«

»Aber hier in der Wildnis zurückzubleiben, ist doch auch gefährlich.«

»Sverri wird bei dir bleiben.«

Arien blähte die Backen. »Bitte!«

»Es ist nicht gefährlich«, warf Angus ein. »Außerdem kann er vor mir im Sattel sitzen.«

Baldvin ließ Arien los und warf dem Schotten einen durchdringenden Blick zu. »Schwöre bei deinem Gott und allem, was dir heilig ist, dass uns keine Hinterlist erwartet.«

Angus hob eine wuchtige, narbenübersäte Pranke. Fest sah er Baldvin in die wasserblauen Augen. »Ich schwöre es bei Gott und allen schottischen Heiligen.«

Sein Blick zuckte zu Rouwen, als dieser näher trat.

»Mir liegt schon seit gestern die Frage auf der Zunge, weshalb man Bruder Oxnac nicht einfach holt und Baldvin übergibt. Wozu die Mühe dieses Marsches?« Rouwen klang ganz entspannt, als wäre die Antwort auf diese Frage nicht weiter von Bedeutung. Aber Rúna sah die Anspannung hinter der gelassenen Miene.

Angus lächelte, doch seine Augen erreichte das Lächeln nicht. »Es wurde nicht nach ihm geschickt, um ihn nicht zu warnen. Wir müssen uns Burg Daenston vorsichtig nähern, damit er keine Gefahr wittert und flüchtet. So wie der da.« Er nickte in die Richtung, die Pater Alewold genommen hatte.

»Wem gehört diese Burg?«

»Sie ist des Lords Eigentum. Sie ist abgelegen und klein; früher, als er noch im Saft stand, hat er sie als Ausgangsbasis für Jagden in die umliegenden Wälder genutzt. Der englische König interessierte sich nie dafür, wie er auch MacCallum selbst in Ruhe gelassen hat, weil dieser ein Mann der Ehre und gottesfürchtig ist. Du bist Engländer, nicht wahr?«

»Allerdings.«

Angus’ Lächeln wurde noch ein Stück breiter und kühler. »Dann verstehe ich dein Misstrauen. Aber wir sollten jetzt aufbrechen.«

Rúna nickte. Ja, sie sollten aufbrechen. Die Frage war nur, was sie am Ziel erwartete. Die lang erwartetet Rache? Oder der Tod?