7.

Im Haus eines Tuchhändlers hatte Rouwen einmal vor langer Zeit, als er noch ein halbwüchsiger Junge gewesen war, ein Mosaik gesehen. Der Händler hatte ihn in den Keller geführt und von dort aus in einen darunter liegenden Raum. Es hatte ihn geängstigt, denn dort hinabzusteigen, war wie durch das Angstloch eines Verlieses zu klettern. Nass und modrig war es in diesem Raum gewesen, alten Wein hatte der Händler dort gelagert. Doch die Furcht war vergessen beim Anblick des Mosaiks im Boden. Es sei aus der Römerzeit, hatte der Händler gesagt, und die beiden dargestellten Kämpfer nannte man Gladiatoren. Weshalb diese beiden allerdings eindeutig weibliche Formen hatten, konnte sich der Mann nicht erklären … Hatten die Römer tatsächlich Frauen gegeneinander antreten lassen?

Rúnas Anblick draußen auf dem Dorfplatz erinnerte Rouwen an diese Begebenheit. Er hatte den Tisch des Seidmanns an die Wand unterhalb des Rauchlochs geschoben und war darauf gestiegen. Ein wenig musste er sich ducken, da er mit dem Kopf gegen die Strohdecke stieß. Das herabhängende Stroh behinderte seine Sicht, sorgte aber auch dafür, dass niemand ihn bemerkte.

Rúna stand auf einer Seite des Dorfplatzes. Ein Kettenhemd schmiegte sich an ihre Brüste. Darunter trug sie eine ärmellose, gepolsterte Tunika. Das Götzenamulett – Thors Hammer – schmückte ihren Hals, Reife zierten ihre schlanken Arme. Muskeln und Sehnen spielten unter der hellen Haut. Der Haarzopf saß wie eine eingeringelte Schlange auf ihrem Kopf. Die Mittagssonne fing sich darin und ließ ihn wie Gold glänzen. Rouwen konnte sich nicht sattsehen an ihrem Gesicht mit den blitzenden Augen und den gerunzelten Brauen. Nicht an ihrer wohlgeformten Gestalt und den langen Beinen in der eng sitzenden Lederhose. Und schon gar nicht an ihren nackten Füßen mit den Zehenringen.

Von seiner Position aus konnte er einen Teil des Dorfplatzes überblicken. Das Langhaus des Häuptlings mit dem großen Adler auf dem First erhob sich auf der anderen Seite. Linkerhand schmiegten sich kleinere Häuser in den Hang, teils wirkten sie wie unterirdisch errichtet. Und rechts standen Schuppen und ein Pferdestall. Ein Teil des Platzes war mit Stöcken abgesteckt und mit Stolperfallen wie Steinen und knorrigen Ästen ausgelegt. Dort umkreisten sich Rúna und Yngvarr mit stumpfen Schwertern. Etliche Yoturer, Männer sowie Frauen und Kinder, ließen ihre Arbeit ruhen und sahen ihnen zu, Anfeuerungsrufe hallten über den Platz. Auch Baldvin war unter den Zuschauern. Der Zwerg hatte die Pranken in die Seiten gestemmt. Seine Miene wirkte hochzufrieden. Er schien vor Stolz auf sein Töchterlein geradezu platzen zu wollen.

»Rúna, los, ziele auf seine Knie!«, rief eine Frau.

»Nein, auf sein Gemächt!«, kam es von einer anderen, eine Bemerkung, die ihr von den Frauen Beifall und Gelächter und von den Männern Pfiffe einbrachte.

»Versohl ihr den Hintern, Yngvarr!«, forderte Haakon Steinriese nuschelnd, dessen gebrochene Nase immer noch angeschwollen war.

Rúna lachte.

»Zeig ihr, wie ein Mann kämpft!«, rief er dann.

Ihr Lachen erstarb. Mit beiden Händen schwang sie das Schwert und ließ es auf Yngvarrs Klinge niedersausen.

Auch der ungehobelte Wikinger war ein beeindruckender Anblick: Zwei schmale Zöpfe waren in sein langes blondes Haar eingeflochten, das wie die Mähne eines galoppierenden Pferdes auf und nieder flog. Seine muskulösen Arme waren ebenfalls mit silbernen und goldenen Reifen verziert. Statt eines Kettenhemdes trug er ein ledernes Wams, und an seiner Hüfte steckte eines von Rouwens Messern in einer Scheide. Seine Stiefel aus dunklem Hirschleder wirkten wie von einem Meister gemacht.

Man musste zugeben, dass die beiden gut zueinander passten.

Rúnas Füße tanzten über die Hindernisse so geschickt wie die eines Rehs, das über Stock und Stein setzte, um dem Wolf zu entkommen. Ab und zu holten die Zuschauer geschlossen Atem, wenn sie einem scharfkantigen Stein zu nahe kam oder sich ihre Füße in einem Zweig zu verfangen drohten. Doch sie strauchelte nie. Ebenso wenig wie Yngvarr. Er trat einfach nieder, was ihm in den Weg kam, oder stieß einen lästigen Stein beiseite.

»Höher halten, Rúna«, ermahnte er sie, oder: »Gib auf deine Deckung acht, ich hätte deinen Oberschenkel eben böse aufschlitzen können.« Dann presste sie die Zähne zusammen und verstärkte ihre Bemühungen, was ihr neuerlichen Beifall einbrachte.

Rouwen musste anerkennen, dass Yngvarr sein Handwerk verstand. Gegen diesen Mann zu kämpfen, wäre für niemanden ein Spaziergang. Rúna war schnell und geschickt – doch würde Yngvarr ernst machen, wäre sie sofort besiegt.

Ein leiser, doch drängender Ruf drang an Rouwens Ohren. Zunächst vermochte er ihn nicht einzuordnen. Verwirrt presste er das Gesicht noch näher an die Öffnung. Er erkannte, dass seine Wächter samt und sonders auf diese Seite des Hauses gegangen waren, angelockt von dem Kampf.

»Herr Ritter, Herr Ritter!«

Die Stimme war hell und leise. Arien? Er lauschte. Der Ruf kam von der Rückseite der Seidmannshütte. Rouwen sprang vom Tisch herunter, durchquerte sie mit vier langen Schritten und stieg auf die Truhe unterhalb des schmalen Fensters.

Es war nicht der Häuptlingssohn, auf den er herabblickte.

Sondern Lady Athelna.

Er wusste immer noch nicht, wer sie war. Arien hatte auf seine Nachfrage geschwiegen, und Rúna hatte er nicht mehr gefragt. Zum zweiten Mal erblickte er Athelna, und dieses Mal war sie allein. Wie zuvor trug sie die dunkelbraunen Haare offen, wie es bei unvermählten Frauen üblich war. Die Fußfessel sah er nicht, doch ihre unsichere Haltung verriet, dass sie wieder damit geplagt war.

»Herr Ritter, ich wollte mit Euch sprechen.« Ihr Blick huschte hin und her. »Ich bin Athelna, die Tochter Ian MacCallums von Eastfield. Seid Ihr meinetwegen hier?«

Er zögerte nur einen Augenblick, doch schon schluchzte sie auf und schlug eine Hand vor das Gesicht.

»Also nicht! Mein Name sagt Euch gar nichts.«

»Ich weiß, dass Ihr Athelna heißt, ma dame, aber … nein, mein Hiersein hat mit Eurem nichts zu tun. Weshalb seid Ihr hier?«

Sie rieb sich über die Wange, fasste sich und schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn Ihr es nicht wisst, dann will ich Euch auch nicht damit belasten. Es tut mir leid.«

»Lady Athelna!«, zischte er, als sie sich abwenden wollte. »Bei meiner Ehre, so lasse ich Euch nicht gehen! Sagt mir, weshalb Ihr hier seid und wie ich Euch helfen kann.« Wie willst du ihr denn helfen, du Dummkopf?, schalt er sich sogleich. Was konnte er in seiner Lage schon tun? Dennoch, wenn sie sich ihm nicht anvertraute, war es völlig aussichtslos.

»Nun ja, mein Vater ist ein schottischer Earl, der in Eastfield-upon-Eye-Water lebt …« Sie zögerte, schien zu überlegen, ob wirklich die Zeit blieb, diese Geschichte zu beginnen. Zwei, drei Schritte trippelte sie zurück, um die Lage besser überblicken zu können. Dann kam sie wieder näher und legte den Kopf in den Nacken. Sie war wahrhaftig eine zarte Schönheit, die einen Mann allein durch ihren Anblick um den Verstand bringen konnte. Sogar ihn. Wäre er kein Mönchsritter – und wäre da nicht schon eine andere Frau, die in seinem Kopf herumgeisterte …

»Voriges Jahr war ich auf dem Heimweg von Berwick-upon-Tweed. Dort hatte ich Stoffe gekauft, für mein Verlobungskleid. Ich bin einem Ritter in Edinburgh versprochen …« Sie schluchzte wieder auf und griff nach einer kleinen Silberhülse, die an ihrem Hals hing. Sie hob sie an die bebenden Lippen. Er konnte förmlich sehen, wie sie mit aller Macht die Tränen zurückzwang und sich fasste. »Baldvin Baldvinsson und seine Männer überfielen den Reisezug, töteten meine Eskorte und entführten mich. Ich wusste, wer er war, denn er war in früheren Jahren bereits zweimal nach Eastfield gekommen und hatte versucht, in die Benediktinerabtei einzudringen. Er war auf der Suche nach einem Mönch. Aber Vaters Truppen konnten ihn und seine Leute immer zurückschlagen. In meiner Angst sagte ich Baldvin, dass nach seinem zweitem Angriff tatsächlich ein Mönch bei meinem Vater erschienen war und gebeten hatte, ihn irgendwo zu verstecken, weil er sich vor den Wikingern fürchtete.«

Der Mönch, der Rúnas Mutter auf dem Gewissen hatte, schloss Rouwen sofort.

»Mein Vater wollte dem Gottesmann natürlich auf unserer Burg Asyl gewähren, aber der Mönch, Bruder Oxnac, sagte, er wolle ins Landesinnere, wo es einsam ist; er wolle in Kontemplation gehen. Also brachte mein Vater ihn in eine kleine, verborgene Burg. Ja, Gott verzeihe mir, all das verriet ich Baldvin. Den Standort der Burg jedoch nicht, denn den kenne ich, dem Herrn sei Dank, gar nicht. Baldvin schickte eine Nachricht zu meinem Vater, in der er verlangte, dass man den Mönch an einen bestimmten Ort hoch oben an der schottischen Küste bringt. Dorthin wollte er dann seine Krieger ausschicken. Er hat vorgehabt, Bruder Oxnac zu zwingen, dem Herrgott abzuschwören, indem er ihn häutet. Und dann wollte er ihm den Kopf abschlagen und mich mit diesem grausigen Andenken zurück nach Eastfield schicken. Ja, genau so hat er es mir gesagt!«

Sie schlang die Arme um sich und schüttelte sich.

»Mein Vater schickte aber bisher nur eine Nachricht über einen Mittelsmann. Ich hörte, wie Rúna sie Baldvin vorlas. Darin flehte mein Vater, Gnade walten zu lassen. Der Mönch habe sich ihm anvertraut, und er könne keinen Mann Gottes ausliefern.«

Etwas in Rouwens Brust krampfte sich zusammen. Wäre er ein Vater, wäre ihm der Mönch dann nicht egal? Aber wer mochte wissen, was für ein Mensch Ian MacCallum war … Ein Zauderer vielleicht, ein ängstlicher schwacher Mann. Seine Tochter hingegen erschien Rouwen trotz ihrer Zartheit und ihrer Tränen sehr stark.

»Bitte, wer seid Ihr?«, fragte sie.

»Rouwen von Durham.«

»Ihr seid ein Tempelritter? Ich habe gehört, wie Arien über euch geredet hat. Wie seid Ihr hierher geraten?«

»Baldvins Mannen brachten die Handelskogge auf, die mich und meinen Knappen nach Hause bringen sollte. Wir kamen aus Outremer.«

»Jerusalem ist verloren, ich weiß«, murmelte sie. Fahrig befingerte sie wieder die Hülse. »Die Templer sind die besten Krieger der Welt, sagt man. Ihr werdet alles daransetzen, zu entkommen, nicht wahr?«

Sie wusste nichts von seinem Schwur, der ihm die Flucht erschwerte. Aber es versuchen, ja, das würde er. Er nickte. Athelna sah sich wieder um, ob nicht einer der Wächter käme, und auch Rouwen lauschte auf das, was sich auf der anderen Hausseite tat. Unvermindert hielten die Anfeuerungsrufe, das Klatschen und Johlen und das Klirren der stumpfen Schwerter an.

»Ich will nicht von Euch erbitten, dass Ihr mich auf Eurer Flucht mitnehmt, Herr Rouwen. Damit würde ich sie nur zunichte machen. Doch wollt Ihr meinem Verlobten etwas ausrichten, falls es Euch möglich ist? Er heißt Wulfher und lebt in Edinburgh. Sagt ihm … sagt ihm …« Sie seufzte tief. »Dass ich ihn liebe.«

»Ma dame, wenn es in meiner Macht steht, so sorge ich dafür, dass Ihr es ihm selbst sagen könnt. Ich will Euch keine falsche Hoffnung machen. Ihr seht selbst, wie es um mich bestellt ist, aber ich schwöre, dass ich alles daransetzen werde, Euch beizustehen …«

Aus dem Augenwinkel sah er jemanden heranstürmen. Athelna versuchte einen langen Schritt fort von Stígrs Haus zu tun. Prompt fiel sie wegen der Fußfessel rücklings auf den schmutzigen Boden. Einer der Wächter stürmte heran, packte sie am Oberarm und zerrte sie grob auf die Füße. Rouwen öffnete den Mund, um ihn anzuschreien, dass er sie weniger rüde behandeln solle; doch im gleichen Augenblick hörte er das Türschloss rappeln und einen Knall, als sie mit Macht aufgestoßen wurde.

Er wirbelte herum und sprang von der Truhe. Niemand anderer als Yngvarr kam herein, das stumpfe Übungsschwert erhoben. Nun erst fiel Rouwen auf, dass die Geräusche des Kampfes nicht eben erst verstummt waren.

»Engländer!« Brüllend stürmte der Wikingerkrieger auf ihn zu. »Du hast deine Nase gefälligst nicht in den Wind zu stecken, hast du verstanden?«

Rouwen ging in die Knie und wich dem ersten Hieb seitwärts aus. Mit dieser Waffe würde Yngvarr ihn nicht auf Anhieb töten können, doch mit genug Schwung könnte er ihm einige Knochen brechen. Und er versuchte es. Rouwen sprang an ihm vorbei, zog den Tisch von der Wand fort und suchte dahinter Deckung. Yngvarr machte einen gewaltigen Satz hinauf; Rouwen tauchte darunter hinweg und kam hinter ihm wieder hoch. Auf federnden Knien wirbelte er herum, bereit zum nächsten Ausweichmanöver. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Dieser gottverdammte Schwur, niemanden anzugreifen! Das Versprechen, das er Rúna gegeben hatte, beinhaltete zwar nicht, sich nicht wehren zu dürfen, doch Angriff war immer noch die beste Verteidigung. Und die blieb ihm verwehrt.

Andere erschienen an der Tür und schauten neugierig zu. Was war mit Athelna? Offenbar hatte man ihr nichts getan, denn er hörte sie auf jemanden einreden, dass er unschuldig sei. Ein kurzer Blick durch die Tür zeigte ihm, dass es Rúna war, die sich stirnrunzelnd Athelnas Verteidigung anhörte. Dann kam sie heran. Man machte ihr Platz, und sie trat auf die Schwelle.

»Rúna«, schnaufte Yngvarr vom Tisch herunter. »Geh, hier ist wenig Platz.«

»Du befiehlst mir?«, fragte sie schneidend. Sie würdigte ihn keines Blickes, ihre Augen lagen auf Rouwen.

»Verzeih, Wirbelwind!« Ein wenig Spott schwang in Yngvarrs Worten mit, und ihr Gesicht rötete sich vor Ärger. Ohne weiter zu zögern, sprang er vom Tisch herunter und stürzte sich erneut auf Rouwen. Der riesenhafte Kerl würde ihn noch entzweihacken, wenn das hier kein Ende nahm … Rouwen wich dem Hieb wieder geschickt aus. Er packte den Tisch, hob ihn mit beiden Händen und drehte ihn in Yngvarrs Richtung. Dessen Klinge, obschon stumpf, drang in das Holz; Rouwen warf den Tisch zur Seite, und das Schwert entglitt zugleich dem Holz und Yngvarrs Pranke.

Der Krieger wollte vor Wut schier platzen. Er klaubte das Schwert vom Boden auf und drang erneut vor. Rouwen wusste, dass er es nicht mehr lange durchhalten konnte, den mächtigen Wikinger in Schach zu halten. Er spürte noch die Schwäche in den Knochen. Wenn den Mann niemand aufhielt, dann …

»Hat ihm jemand verboten, nach draußen zu blicken?«, schimpfte Rúna, während sie Arien im Nacken packte, der leichtsinnigerweise an ihr vorbeiwollte. »War es Athelna verboten, mit ihm zu reden?«

»Sie sind Geiseln!«, gab Yngvarr schnaufend zurück. »Du bist einfach zu nachsichtig. Ginge es nach mir, würde der Christ in Ketten liegen. Und zwar draußen!«

Rúna fluchte, doch Rouwen hörte nicht mehr hin. Er war zu sehr damit beschäftigt, weiterhin den Hieben auszuweichen. Allmählich wurde ihm flau im Magen, während Yngvarr noch wütender zuschlug. Ein Schlag, dem Rouwen gerade noch ausweichen konnte, ging auf den Reliquienschrein nieder. Das Glashäuschen ging endgültig zu Bruch, und die Knochen des Heiligen barsten.

»Wenn Stígr sieht, was du mit seinen Sachen machst!«, lachte jemand.

»Pah, das alte Vogelgerippe!«

Rouwen bemerkte Baldvin. Der zwergenhafte Häuptling stand hinter Rúna und sah an ihr vorbei zu. Nachdenklich kraulte er sich den Bartzopf. Wie lange stand er schon da? Plötzlich tanzten schwarze Flecken vor Rouwens Augen, und ein scharfer Schmerz stieß wie ein langer Dolch durch seinen Kopf. Die Klingenspitze hatte ihn an der Stirn getroffen.

»Hör endlich auf!«, schrie Rúna.

Er ging in die Knie. Dass nun auch der Häuptling brüllte, Yngvarr solle die Waffe niederlegen, drang wie durch einen Nebel an seine Ohren. Taumelnd und nur mit größter Willensanstrengung kam er wieder auf die Füße. Seine Knie stießen gegen die Pritsche. Er konnte sich nur noch drehen und darauf niedersacken.

Laute Stimmen füllten den Raum, und dann sah er Rúna, wie sie über ihm stand und etwas hob. Er zuckte zurück, wollte einen Arm heben, um einen Angriff abzuwehren. Mühelos drückte sie seinen Arm zur Seite und hob ein Stück Tuch. Sanft berührte sie damit seine Stirn. Ein feuriger Schmerz flammte auf. Als sie die Hand wieder wegnahm, war das Tuch blutig.

Der Blick, den sie Yngvarr zuwarf, sprühte vor Zorn. Und als sie wieder herschaute, war er weich. Yngvarr rauschte hinaus.

Allein wegen dieses Blickes hat es sich gelohnt, mich von ihm verprügeln zu lassen, dachte Rouwen. Heiser lachte er auf.

Fragend hob Rúna die Brauen. Dann lächelte sie.

Es war das letzte, was er sah, bevor er ohnmächtig wurde.

Rúna zog das Ende des gefiederten Pfeils an ihr Ohr. Die Spitze folgte einer fliegenden Raubmöwe. Weit oben im hellgrauen Himmel glitt ein Seeadler dahin. Weder um die Gefahr aus der Höhe noch um Rúnas Pfeil schien sich die Möwe zu kümmern. Diese frechen Vögel pflegten sich sogar auf Menschen zu stürzen. Rúna beschloss, sie zu verschonen; stattdessen zielte sie auf einen Zweig, der im böigen Wind auf und ab tanzte. Sie folgte seinen Bewegungen mit den Augen und ließ die Sehne fahren. Der Pfeil streifte ein Blatt, zerteilte jedoch nicht den Zweig.

»Ein guter Schuss«, lobte Baldvin. »Wenn man die Bedingungen berücksichtigt.«

Sie lächelte ihren Vater an. Yngvarr hätte sie verhöhnt und den Zweig anschaulich mit einem Wurf seiner Kriegsaxt zerteilt.

»Schau, dort drüben, der Birkhahn«, Baldvin deutete in eine von dichtem grünem Gras überwachsene Senke, in der ein Bach plätscherte. Ein schwarzer Hahn mit ein paar weißen Federn und roten Flecken über den Augen umflatterte ein bräunliches Huhn. »Der taugt fürs Abendessen. Hm?«

Sie riss den Bogen hoch, spannte ihn und schoss. Leblos fiel das Tier zu Boden. Den Bogen an der Seite, rannte sie dorthin. Ein Sklave hätte das tun können, doch Rúna zog es vor, ihren Körper zu stählen. Deshalb trug sie heute auch das schwere Kettenhemd. Außerdem liebte sie es, mit den nackten Füßen über das saftige Gras zu laufen. Dabei tief die Luft einzuatmen, die nach dem Salz des Meeres und den würzigen Gerüchen der Tiere und Pflanzen duftete. Überall flatterten und schnatterten Vögel: Seemöwen, Kiebitze, Schnepfen und Schwalben; und hoch in den Lüften kreisten Bussarde und Turmfalken. Eine Schar Enten erhob sich schimpfend aus dem Bach, als Rúna dort ankam und den Kadaver im Laufen aufhob.

Zurück bei Baldvin band sie ihn am Sattel ihres Ponys fest.

»Also, noch einmal wegen des Engländers«, nahm er den Faden ihres Gesprächs wieder auf. »Du hast für ziemliches Durcheinander gesorgt, indem du ihm die Fesseln genommen hast.«

»Ich habe für Durcheinander gesorgt? Aber Vater. Du hast ihn überhaupt erst gefangen genommen.«

In der ihm eigenen Art strich er sich über den Bartzopf. Über seine rechte Hand zog sich eine breite Narbe, die aussah, als habe er sich dort verbrannt. Es war die Spur der gerissenen Rahsegelschot, die ihm während seiner letzten Wikingfahrt die Hand verletzt hatte. Er lächelte verschmitzt, und seine wasserblauen Augen leuchteten, als er zu ihr aufsah. »Ja, das stimmt. Du meinst wirklich, er hat sich nicht gewehrt, weil er es dir geschworen hat?«

»Ja, Vater, das glaube ich.«

»Trotzdem ist deine Idee, ihn wie Athelna frei herumlaufen zu lassen, ziemlich gewagt. Um es vorsichtig auszudrücken.«

»Was soll er tun? Du wirst ihn weiterhin von ein paar Männern bewachen lassen. Ob sie hinter ihm hertrotten oder sich rund um Stígrs Haus langweilen, ist doch gleich. Und weit käme er ohnehin nicht. Nicht mit einer Fußkette.«

»Warum liegt dir eigentlich so viel daran?«

Das wusste sie selbst nicht so genau. Weil er ein so schönes, starkes, gefährliches Raubtier war, das es nicht verdiente, in Stígrs schäbiger Hütte zu darben? Das konnte sie ihrem Vater schlecht sagen. »Ich denke ja nur an Stígr«, antwortete sie also. »Er soll wieder über seine Hütte verfügen können, wenn er zurück ist.«

Baldvin warf die rotblonde Mähne in den Nacken und entblößte die gelben Zähne zu lautstarkem Gelächter. »Natürlich. Stígr, natürlich! Weshalb auch sonst?«

Anderntags ritt Rúna auf ihrem Highlandpony über die Insel. Dieses Mal hatte sie auf ihren Bogen verzichtet. Auch auf ihr Kettenhemd. Lediglich ihr Messergürtel, der tief auf ihren Hüften saß, erinnerte daran, dass sie eine Kriegerin war. Aber heute wollte sie sich ausnahmsweise ganz als Frau fühlen. Es musste an der herrlichen Frühjahrssonne liegen, die den Schnee und den Regen der letzten Wochen vergessen ließ. Überall zeigten die Wiesen bunte Flecken, und überall summte und brummte es. An einem alten Broch saß sie ab, ließ Frigg frei grasen und kletterte auf die runde, halb zerfallene Mauer des alten Turms. Hier oben hatte man einen wunderbaren Ausblick auf das wie flüssiges Silber ausgegossene Meer, aus dem sich hier und da die dunklen Felsen anderer Inseln erhoben. An manchen Tagen konnte man hier Wale beobachten. Es roch streng nach den Ausscheidungen einer Basstölpelkolonie ganz in der Nähe. Trotzdem liebte Rúna diesen Ort.

Eine Brise zerrte an ihren Haaren, die sie heute offen trug, und an ihrem schlichten Hauskleid über den ledernen Beinkleidern. Sogar geschmückt hatte sie sich: mit dem eingefassten Kristall. Obschon sie noch nicht wusste, für wen er gedacht gewesen war, hatte sie nicht mehr das Gefühl, sie dürfe ihn nicht besitzen. Rouwen hatte sie vorhin gesehen, und seine Bernsteinaugen hatten aufgeblitzt. Nicht ärgerlich. Eher wohlwollend.

Als sie ein Geräusch hinter sich hörte, drehte sie sich um und sah Yngvarr auf einem normannischen Ritterpferd herangaloppieren. Es gehörte zur Beute einer seiner Wikingfahrten. Ein solches Pferd hatte sie sich auch erobern wollen – aber das musste nun warten. Es stand noch nicht, da war Yngvarr schon aus dem Sattel gesprungen. Behände kletterte er auf die Mauer, setzte sich dicht neben Rúna nieder und ließ die Beine baumeln. Vorm Heraufsteigen hatte er sich noch einen langen Grashalm ausgezupft, auf dem er nun genüsslich herumkaute. Verschmitzt schaute er Rúna an. Wie anders als Rouwen er doch aussah, mit seinem sauber geschnittenen Bart, den hellen, offenen Flechten und den hellgrauen Augen. Die Grübchen in seinen Wangen vertieften sich, als er lächelte.

Sie wusste noch genau, wie ihr Herz geklopft hatte, wenn sie mit ihm allein gewesen war. Früher.

In einem anderen Leben war das wohl.

Jetzt war es ihr unangenehm. Hatte er sich verändert? Hatte sie sich verändert? Oder was war der Grund?

Tu nicht so, als ob du das nicht weißt.

Yngvarr plauderte über den Frühling, was sie kaum wahrnahm. Erst als er plötzlich auf etwas anderes zu sprechen kam, horchte sie auf.

»Dein Vater plant irgendetwas, was den Engländer betrifft.«

»Was denn?«

»Ich glaube, es geht darum, dem Mann endlich zu entreißen, woher er kommt.«

Kein schönes Thema für einen so schönen Tag, fand sie. Andererseits waren sie schließlich Wikinger und als solche immer im Kampf und auf Beute aus.

Nachdenklich nagte Yngvarr auf seinem Halm herum, während er nach oben blickte, um einem Seeadler zuzusehen, der über der Kolonie der Basstölpel kreiste. »Was sollen wir auch mit einer zweiten Geisel, die hier herumläuft und die Leute vom Arbeiten abhält, weil die Männer auf sie aufpassen müssen und die Frauen glotzen?«

Sie hatte das Gefühl, er verpasse ihr damit einen Seitenhieb, und rückte ein Stück von ihm ab.

»Ich habe dem Häuptling geraten, die Zunge des Mannes mit einem Brandeisen zu lockern. Erst unter den Achseln, und wenn das noch nicht hilft, unter den Sohlen …«

Gütige Freya!

»Was hast du? Du zitterst ja, als hätten wir noch Winter.« Er strich über die weiche Haut ihres unbedeckten Unterarms. Sofort verschränkte Rúna die Arme vor der Brust, doch er ließ sich nicht beirren und schob die Finger unter den aufgekrempelten Ärmel ihres Kleides, um sie zu streicheln. Er rückte näher, und da sie sich nicht bewegte, faltete er behutsam ihre Arme wieder auseinander. Sie zwang sich, ihm das Gesicht zuzuwenden.

Er hatte sie schließlich früher schon so berührt. Und sie hatte es gemocht.

Im Küssen war sie nicht sonderlich erfahren. Yngvarr hatte ihr hin und wieder einen Kuss gegeben, und sie hatte es, nun ja, erträglich und manches Mal sogar schön gefunden. Der Kuss, den er ihr jetzt aufdrückte, war weder das eine noch das andere. Wo blieb das Prickeln, wo das feurige Gefühl im Magen? Es war seit längerem abgeebbt, das hatte sie ja gewusst, aber dass so gar nichts mehr vorhanden war? Seine Hand schlüpfte in den Ausschnitt des Kleides und suchte ihre Brust. Auch das hatte er früher schon getan. Sie hatte es … interessant gefunden. Jetzt jedoch wollte sie, dass er die Finger bei sich ließ. Sie neigte sich zur Seite, um ihnen zu entkommen. Plötzlich lag sie rücklings auf der Mauer, und er war über ihr.

»Lass das«, sagte sie ruhig. »Die Mauersteine pieken im Rücken.«

»Wirbelwind, die merkst du gleich nicht mehr.«

»Aber ich mag jetzt nicht, geh von mir herunter!«

Er hörte nicht. Mit dem ganzen Gewicht lag er auf ihr. Fahrig liebkoste er ihren Hals, während er weiter an ihrem Ausschnitt herumnestelte.

Unfassbar! Früher hätte er ihren Widerstand respektiert und wäre zurückgewichen! Sie versuchte ihn fortzudrücken, aber er war zu stark. Rúna überlegte, mit dem Knie sein eindeutig geschwollenes Gemächt zu rammen, aber da sie befürchtete, dass sie beide dann von der mannshohen Mauer fielen, blieb ihre Gegenwehr halbherzig. Wirkliche Angst hatte sie nicht; auch wenn ihr immer unwohler wurde, als ihre Bemühungen, ihn wegzudrücken, erfolglos blieben.

Doch dann richtete sich Yngvarr etwas auf, genug, dass sie sich zur Seite rollen und an der Außenseite des Brochs hinunterfallen lassen konnte. Sie landete geschickt auf allen vieren. Noch bevor sie sich ganz aufgerichtet hatte, trottete Frigg heran. Sie schwang sich auf den Rücken ihres Pferdes und trieb es sofort an.

»Rúna, Rúna!«, schrie Yngvarr. »Was ist mit dir?«

Sie antwortete nicht, konzentrierte sich nur weiterhin darauf, möglichst schnell wegzukommen.

»Es ist wegen des Engländers!«, brüllte er hinter ihr her.

Vielleicht. Aber nicht nur ich habe mich seit Rouwens Ankunft verändert.

Yngvarr war seitdem anders geworden, noch härter und unbarmherziger!

Sie galoppierte über die Ebene dahin. Der Wind streifte Yngvarrs Berührungen ab, und sie konnte wieder aufatmen. Der Tag war zu schön, um sich die Laune verderben zu lassen. Sie sprengte eine Gänseschar, winkte den älteren Männern und Frauen zu, die auf den kleinen Ackerparzellen arbeiteten, und galoppierte ins Dorf.

Sie mochte Yotur, an solchen Frühjahrstagen liebte sie es sogar. Doch immer wieder packte sie die Sehnsucht nach einer anderen Welt, eine Welt, wo mächtige Heere gegeneinander kämpften, wo Frauen und Männer große Städte bevölkerten, wo hohe Burgen wuchsen und in den Häfen Dutzende große Schiffe lagen, wo Wissen und Nachrichten ausgetauscht wurden. Yotur bedeutete Sicherheit, Yotur bedeutete Freiheit, die alten Götter zu verehren. Ja, das alles wusste sie. Trotzdem … Seit der Engländer hier war, dachte sie immer öfter an das Abenteuer, Schottland und England und vielleicht sogar andere Länder zu sehen. Erst recht, da Arien nun ständig von der Heilkunde des Südens sprach.

Ihre Augen suchten und entdeckten Rouwen. Er stand vor der hochgelegenen Kirche, umringt von vier Wächtern – und Athelna und der Sklavin Morag, die sich oft in ihrer Nähe aufhielt.

Offenbar unterhielt er sich angeregt mit der schottischen Lady. Rúna versetzte es einen Stich.

Sie stieß die Fersen in die Flanken des Ponys und ritt die Anhöhe hinauf. Die Wächter, unter ihnen Haakon Steinriese, dessen Gesicht immer noch zerschunden aussah, wichen vor ihr zurück. Rouwen und die Frauen wandten sich ihr zu. Rúna fand, dass er prächtig aussah, trotz des kurzen Bartes, den seine untere Gesichtshälfte inzwischen bedeckte, und der Platzwunde an der Stirn. Seine Tunika verbarg gewiss noch einige schlimme Male.

Er neigte leicht den Kopf vor ihr. Ebenso Athelna und die Sklavin, die eingeschüchtert wirkten. Recht so! »Geht!«, wies sie die Frauen an. Athelna warf die Haare zurück, als sie sich aufrichtete, und für einen Moment glaubte Rúna ein störrisches Funkeln in ihren Augen zu sehen. Dann wandte sich die Schottin ab und ging mit winzigen Schritten und von Morag begleitet den Abhang hinunter.

»Geht auch ihr«, befahl Rúna den Männern. Haakon trat vor; seine Kiefer mahlten, als er nach Worten suchte. »Er wird mir nichts tun«, nahm sie seinen Einwand vorweg. Eher, dachte sie, hätte ich euch vorhin am Broch gebraucht.

»Wir bleiben in der Nähe, Herrin Rúna.« Er bedeutete den anderen, ihm zu folgen, und trollte sich.

»Komm mit, Engländer.« Sie lenkte das Tier hinter die Kirche, langsam, damit er mit seinen gefesselten Füßen nicht zurückfiel.

Hier, allen Blicken entzogen, fragte sie ihn sofort: »Was hast du mit Athelna beredet?«

Rouwen runzelte die geschwungenen Brauen. Die Art, wie er die Arme vor der mächtigen Brust verschränkte, erschien ihr aufsässig. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. »Wir haben uns über diese Kirche unterhalten und dass ihr jetziger Zustand eine Schande vor dem Herrn ist. Es gibt Christen hier in Yotur: Sie und mich und noch ein paar Sklaven. Die Kirche sollte …«

»Das könnte dir so passen«, unterbrach sie ihn. »Das hier wird kein Christennest.«

Er reckte das Kinn, und sie hatte den Eindruck, als müsse sie zu ihm aufschauen, obwohl sie es war, die auf einem Pferderücken saß. »Warum bist du gekommen? Nur um zu streiten?«

Er wirkte störrisch, wie er so dastand, und doch konnte sie nicht anders, als in seiner Gegenwart zu schwelgen. Ihn anzustarren, jede Einzelheit – dieser Mund! – in sich aufzusaugen. Die Wunde an der Stirn, die Yngvarr ihm verpasst hatte, war zum Glück nur ein kleiner Kratzer. Sie entsann sich des Gefühls, das ihren Körper durchströmt hatte, als ihr Finger zwischen ihren Beinen auf Wanderschaft gegangen war. Mit untrüglicher Gewissheit wurde ihr klar, dass ein Kuss – ein Kuss von ihm – ähnlich erregend sein würde.

Nicht wie von Yngvarr.

Alles in ihr sehnte sich danach, seinen wunderschönen Mund mit den eigenen Lippen zu berühren. Sie lauschte in sich hinein, ob da vielleicht eine mahnende Stimme irgendwo in ihrem Kopf nistete und sie daran erinnerte, dass er ein Gefangener war. Ein Feind. Ein Christ! Wenn Yngvarr von ihren Wünschen wüsste, würde er Rouwen … Er würde … Nein! Mit einer ärgerlichen Handbewegung verscheuchte sie diese Gedanken, schwang sich von Frigg und machte entschlossen zwei Schritte auf Rouwen zu.

So nah stand sie bei ihm, dass sein warmer Atem über ihre Stirn strich. Freya und alle Götter! Sie begehrte diesen Mann.

»Ich … bin gekommen … um …« Auch das noch, sie stammelte herum wie Arien, wenn er mit den Fingern im Honigtopf erwischt wurde. »Ich will von dir Schwertkampfunterricht.«

Seine Augen weiteten sich überrascht. »Wieso von mir?«

»Weil ich dich habe kämpfen sehen und du gut bist.«

»Yngvarr schien mir kein schlechter Lehrer zu sein«, wandte er ein.

»Du bist besser.«

Sie konnte schlecht sagen, dass sie lernen musste, sich ihres Lehrers – Yngvarrs – zu erwehren. Vorhin hatte sie sich schwach gefühlt. Nein, sie war schwach gewesen. Wäre Yngvarr noch entschlossener vorgegangen, so hätte sie sich ihm ergeben müssen. Sie wollte sich nicht noch einmal so fühlen. Und sie musste sich als würdige Nachfolgerin ihres Vaters beweisen. In alten Geschichten über berühmte Wikingerclans war oft zu hören, dass starke Krieger einen schwachen Anführer zu Fall brachten und den Häuptlingsstuhl an sich rissen …

»Ich will dich nicht unterrichten«, riss Rouwen sie aus diesen sorgenvollen Gedanken.

»Du hast nichts zu wollen. Du wirst gehorchen.«

»Nein. Du bist meine Feindin. Du hast mir einen Schwur aufgezwungen, der mich hindert, dich und deine Leute zu bekämpfen. Dagegen kann ich nichts mehr tun. Aber wenn ich mit meiner Weigerung verhindern kann, dass du noch stärker wirst, dann werde ich wenigstens das tun.«

Sie stapfte auf ihn zu, riss die Hand hoch zu einem Schlag auf seine Wange. Wie er es schon einmal getan hatte, fing er sie mühelos ab. So starrten sie sich eine lange Zeit an. Bis die Spannung zwischen ihnen beinahe unerträglich wurde …

Rouwen lockerte seinen Griff. Rúnas Finger glitten durch die Rundung seiner Hand. Sie wollte, musste ihn jetzt küssen – sollte sie feststellen, dass es enttäuschend wäre, so hätte sie wenigstens eine Erkenntnis gewonnen. Sie umfasste sein Gesicht, reckte sich auf die Zehenspitzen und presste ihren Mund auf seinen.

Ein Keuchen entrang sich ihm – er war überrumpelt.

Auch Rúna war überwältigt davon, endlich diese Lippen zu schmecken. Es übertraf ihre kühnsten Erwartungen. Dieser Kuss hatte nichts mit Yngvarrs unbeholfenen Versuchen zu tun. Dieser Kuss schien eine andere Wirklichkeit zu offenbaren. Rouwens Lippen waren fest und doch von angenehmer Weichheit. Er strich sanft über ihre, was wohlige Schauer durch ihren Körper jagte. Als er eine Hand um ihren Hinterkopf legte, war sie sich nicht sicher, noch fest auf dem Boden zu stehen. Sie schloss die Augen, um dieses Gefühl ganz und gar zu genießen. Um noch mehr davon zu bekommen, mehr … mehr …

Er stieß sie von sich.

Rúna wankte drei Schritte zurück. Das Pony hielt sie auf; sie legte eine Hand an das Halfter, um nicht zu fallen.

»Was …«, keuchte sie. »Warum … warum stößt du mich weg?«

Und warum fragte sie das? Es klang ja fast, als wollte sie sich seine Zuneigung erbetteln? Ihre Hand umschloss den Dolchgriff an ihrem Gürtel. Ja, die vertraute Berührung half ihr, die Fassung wiederzugewinnen. »Du bist vermählt, richtig?«, sprach sie die naheliegendste aller Befürchtungen aus. Freya sei Dank – ihre Stimme klang fest.

Seine noch nicht. »Nein«, keuchte er.

»Aber du liebst eine andere. Etwa Athelna?«

»Allmächtiger, nein!«

»Was ist es dann? Du hast einen Schwur geleistet. Einen Schwur, mich nicht anzufassen.«

»Das«, er wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, »das kommt der Sache schon näher.«

»Wer hat das von dir gefordert? Etwa Yngvarr?«

Er trat vor sie. In seinen Augen blitzte es. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass sich die Bernsteinfarbe veränderte. Als sei er ein Alb. Seine Finger bohrten sich so fest in ihre Schulter, dass es weh tat. Sein Blick und seine Berührung genügten, um ihre Bemühung, selbstsicher und stolz aufzutreten, zum Scheitern zu verurteilen. Sie schaffte es nicht, die herrische Kriegerin herauszukehren.

»Ich entbinde dich von diesem Schwur, Rouwen«, flüsterte sie.

»Das kann nichts und niemand, Rúna Wirbelwind, und wenn ich dich noch so sehr begehre. Du weißt, dass ich keinen Schwur breche. Der im Übrigen mit Yngvarr nichts zu tun hat.«

Sie wollte nicht länger zuhören; was immer er jetzt sagte, es wäre ohnehin nur eine Ablehnung. Sie riss sich von ihm los, schwang sich auf das Pony und galoppierte wütend davon.

Wütend vor allem auf sich selbst, dass sie sich so erniedrigt hatte.