15.

Wenigstens Arien hatte Grund zum Strahlen. Stolz saß er vor der wuchtigen Gestalt des Schotten auf dessen Schlachtross und blickte in alle Richtungen. Rúna freute sich, dass er keine Angst zeigte. Ihr fiel auf, dass er in letzter Zeit weniger gehustet hatte. Woran das wohl lag? Das Hasenohr trug er längst nicht mehr unter dem Ärmel. Vielleicht tat es ihm gut, dass sie den nassen Winter hinter sich hatten? Oder einfach, dass es, seit sie hier angekommen waren, noch nicht geregnet hatte? Die Wolken türmten sich zwar übereinander und zeigten alle Schattierungen von Grau, doch nur ab und zu spürte Rúna einen kleinen Tropfen im Gesicht. Sie war froh darum, denn das Laufen über saftige Wiesen oder schmale Wege, die hin und wieder von alten Wagenspuren durchzogen waren, war anstrengend genug. Liebend gern säße sie an Ariens Stelle dort oben auf dem großen Rappen.

Allerdings nicht mit diesem Schotten hinter sich. Wenn, dann mit Rouwen.

Recht häufig sahen sie Bauern auf den Feldern. Die Männer hatten sich ihre Tuniken zwischen den Beinen hindurchgezogen und in ihren Strickgürteln festgeklemmt, damit sie nicht störten. Die Frauen ebenso ihre Kleider. Sie richteten sich auf, wischten sich über die schweißfeuchten Gesichter und starrten auf den seltsamen Zug. Wirkten sie ängstlich? Das war auf die Entfernung nicht zu sagen.

»In früheren Zeiten hätten sie nicht so geglotzt«, hörte sie hinter sich Sverri in den Bart murmeln. »Da wären sie schreiend vor uns davongelaufen.«

»Ich fürchte, unsere Vorfahren lachen gerade in Walhall über uns«, brummte Gorun der Schiffsbauer.

»Keine Sorge, Männer.« Yngvarr, der vor Rúna lief, blickte über die Schulter. »Wenn das hier vorbei ist, suchen wir uns ein üppig bestücktes Kloster an der Küste und rauben es aus. Und du, Wirbelwind, kommst dann endlich zu einer richtigen Wikingfahrt.«

Baldvin sagte etwas wie »darüber reden wir, wenn es soweit ist«, und sie stellte fest, dass diese Aussicht sie nicht mehr so sehr freute wie früher. Vielleicht, weil sie bereits zwei Fahrten gemacht hatte und beide mehr als seltsam verlaufen waren. Die erste hatte mitten auf dem Meer ihr Ende gefunden, als sie Rouwen aufgelesen hatten, und diese hier … Nun, die Götter mochten geben, dass sich diese Reise doch noch als eine entpuppte, von der man den Kindern am heimischen Herdfeuer gern und stolz erzählte.

Ihr kam Stígrs Prophezeiung in den Sinn – dass der Schaukampf mit Rouwen ihr Leben zum Guten beeinflussen würde. Wo war denn das Gute? Sie sah es weit und breit nicht. Nur Verwirrung.

Am Nachmittag gelangten sie an einen kleinen Fluss. Angus winkte einer Fähre am anderen Ufer, die sich sogleich in Bewegung setzte. Der Fährmann, ein kleiner geduckter Mann, dem das Haar aus Nase und Ohren spross, verbeugte sich tief vor dem wuchtigen Krieger und seinem ebenso eindrucksvollen Pferd. Die Wikingertruppe bedachte er mit ängstlichen und misstrauischen Blicken. Trotzdem setzte er sie ohne zu Murren über.

Auf der anderen Seite des Flüsschens erstreckten sich lichte Laubwälder. Hutewälder nannte man sie, erklärte Rouwen. Die Bauern jagten die Schweine zum Fressen hinein; dadurch verschwand das Unterholz, und man konnte ungehindert über Schichten alten Laubes hinweglaufen. Rúna gefiel diese Art von Wald. Auch wenn die Nebelschwaden, die hier und da hindurchwaberten, etwas Unheimliches an sich hatten. Als sie an einem alten Gemäuer vorüberkamen, das die Wurzeln der Eichen und Ulmen schon vor langer Zeit zum Einsturz gebracht hatten, jauchzte Arien auf.

»Das haben die Römer gebaut! Ganz bestimmt!«

»Stimmt«, bestätigte Angus und packte ihn am Gürtel, damit er nicht herunterrutschte. »Von dem Haus dort sagt man sich, es sei ein Bordell gewesen.«

»Was ist denn das?«

»Ein Freudenhaus.«

»Und was ist das?«

Die Männer lachten.

»Keine Sorge, du kommst bald in das Alter, in dem man herausfindet, was den Frauen Freude macht«, rief Sverri.

Angus erging sich in der Beschreibung eines Mosaiks, das sich angeblich dort unter den eingefallenen Mauern befände. Nachdem er ausführlich erzählt hatte, wie viel, genauer gesagt, wie wenig die Frauen darauf anhatten, ging auch Arien langsam auf, was ein Freudenhaus sein mochte. Er errötete, und Rúna bemerkte, dass auch Rouwen stur geradeaus starrte. Sie wusste selbst nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollte.

»Auf Burg Daenston gibt es auch ein Mosaik«, erklärte Angus. »Allerdings zeigt es bloß Jagdszenen. Lord MacCallum hat es einem Bischof abgekauft, und der wiederum hatte es von irgendjemandem geschenkt bekommen, der es auf seinem Grund und Boden ausgegraben hatte. Im Gegenzug, so hörte ich, bekam dieser seine ganzen Sünden vergeben. Drei Dörfer bezahlte MacCallum dafür und ließ es in die Wand eines der Turmzimmer einlassen.«

Wenigstens verging die Zeit über solches Geplänkel.

»Hier können wir übernachten«, sagte Angus Stunden später, als sie einen Bauernhof erreichten. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen.

Rúna war froh. Ihr taten die Füße weh, und Arien war zusehends still geworden. Als Angus ihn in Rouwens Arme hinabgleiten ließ, keuchte er unterdrückt auf. Der Schotte saß ab und schritt mit Baldvin zu dem Bauer, der sich in seiner Tür aufgebaut hatte und die Neuankömmlinge feindselig musterte.

Behutsam stellte Rouwen Arien auf die Füße. Breitbeinig wankte der Junge auf das niedrige Haus zu.

»Da hilft eine Salbe aus Fett und Ringelblumen. Und Honig.« Rouwen schüttelte den Kopf, während er langsam neben Arien herging. »Hast du denn da oben gar nicht gemerkt, dass du dich wund reitest?«

»Doch, ein bisschen, aber bis eben dachte ich, es ist nicht so schlimm.« Arien biss sich auf die Lippen. Er bemühte sich sichtlich, keine Schmerzenslaute von sich zu geben. Rúna sah Tränen in seinen Augenwinkeln schimmern, die er tapfer herunterschluckte. Aufmunternd schlugen ihm Sverri und Hallvardr auf die Schultern, und er stieß hervor, dass es ja eigentlich überhaupt nicht schlimm sei.

»Mein Haus ist klein; ich habe ja kaum für mich und meine Familie Platz!«, drang die Stimme des Bauern an ihr Ohr. Er stand nach wie vor in der Tür und versuchte sich aufzuplustern, obwohl er so schmächtig wie der Fährmann war.

»Eine zähe Fledermaus«, brummte Yngvarr hinter ihr, und die anderen lachten. Ein Huhn lief gackernd zwischen den Beinen des Bauern heraus; es folgte ein dürrer, zotteliger Hund, den er rasch am Halsstrick festhielt.

»Und der da«, er deutete mit der freien Hand auf Rouwen, »der redet wie ein Engländer. Den nehme ich schon gar nicht auf.«

Angus holte tief Luft. »Lord MacCallum …«

»Der Earl ist weit weg!«

»Du kleiner Wicht, sieh nach oben, es schüttet gleich wie aus Kübeln! Mach Platz und lass uns hinein!«, fauchte Angus.

»Ich denke nicht daran!«

Der schottische Edelknecht schien sich vor Zorn, dass sich ein so niedriger Mann seinen Wünschen nicht unterwarf, zu vergessen. Seine Pranke fuhr an das Schwert an seiner Seite. »Dann eben so, Freundchen.«

»Warte!«

Rouwen eilte auf die beiden zu. Der Bauer reckte sich – kaum standhafter als ein Schilfrohr im Wind, doch offenbar entschlossen, eher auf der Türschwelle zu sterben als sie hinein zu lassen. Hinter ihm, halb verborgen in der Düsternis des Hauses, sah Rúna das blasse, ängstliche Gesicht einer Frau.

»In mein Haus kommt kein Engländer«, verkündete der Bauer.

»Ich bin vor allem ein Armer Ritter Christi vom Tempel Salomons«, sagte Rouwen so ernst wie feierlich. »Im Namen Gottes bitte ich dich um deine Gastfreundschaft.«

»Du willst ein Tempelritter sein? Denen ein Obdach zu gewähren, ist die Pflicht eines jeden Christen. Aber du bist doch niemals …«

Rouwen schob den Ärmel seiner Tunika hoch, so weit, dass sein ungewöhnliches rotes Kreuz auf der Rundung der Schulter sichtbar wurde.

Dem Bauern entglitten die Gesichtszüge. Schließlich schaffte er es, seinen Mund wieder zuzumachen. Zu Rúnas Erstaunen verneigte er sich tief.

»Verzeiht mir, edler Herr. Damit hätte ich niemals gerechnet! Verzeiht mir! Betet für mich!«

»Das tue ich«, Rouwen legte eine Hand auf die dürre Schulter, und der Mann richtete sich wieder auf, gab dem Hund einen Klaps, sodass er fortstob, und trat zur Seite.

»Nicht zu fassen«, murmelte Yngvarr, als er an Rúna vorüber- und auf Rouwen zuschritt. »Ich habe schon auf den Tag gewartet, an dem du deinen Nutzen erweist, und hätte darauf geschworen, dass er nicht mehr kommt.«

Nacheinander traten die Männer ein. Der Bauer höchstselbst ging hinaus, um sich um das Pferd zu kümmern. Im Haus drängelten sich schüchtern die Frau und drei Kinder aneinander und starrten die zwölf Männer an. Rouwen versicherte ihnen, dass sie nichts zu befürchten hätten. Man würde sich in der Nacht im Stall zum Schlafen legen. Regen begann in diesem Moment auf die hölzernen Dachschindeln niederzuprasseln. Rúna war froh, dass sie sich in der Nähe eines fröhlich knisterten Herdfeuers auf eine Bank setzen konnte. Die Bauersfrau entdeckte sie erst jetzt und atmete sichtbar auf. Wie es schien, vertrieb Rúnas Anwesenheit die Furcht der Schottin – da sich eine Frau inmitten dieser Wikingerhorde befand, konnte es ja nicht so schlimm sein. Die Kinder schafften bald Käselaibe heran, und die Bäuerin füllte Humpen mit Ale und Bier und Schalen mit Gerstenbrei, den sie aus einem Kessel schöpfte. Die Männer verteilten sich auf den wenigen Bänken und auf dem strohbedeckten Boden und schmatzten geräuschvoll. Arien zog es vor, im Stehen zu essen.

Nach dem Mahl wies Rouwen die Frau an, eine Salbe zu mischen. Ringelblumen besaß sie nicht, aber andere getrocknete Kräuter, die er mit kundigem Blick sichtete. Neugierig sah Arien zu und ließ sich ihre Wirksamkeit erklären. Fast schien es, als habe er den Grund, weshalb er sich damit beschäftigte, vergessen. Rúna wurde es so warm wie bang ums Herz, als sie seine Augen leuchten sah. Er hing an Rouwens Lippen.

Diesen wunderschönen, dachte sie seufzend.

Es dauerte nicht lange, bis sich die Gesellschaft auflöste. Nach dem anstrengenden Tag waren alle müde. Rúna und Arien bekamen unter dem Dach die Schlafplätze der Bauersfamilie zugewiesen, die sich in eine Seitenkammer zurückzog. Die anderen schliefen im Stall. Oder machten sich auf ihren Wachrundgang. Sverri und Hallvardr wollten vor der Tür schlafen, denn im Haus war es ihnen zu warm. Dafür nahmen sie sogar in Kauf, vom Regen durchnässt zu werden. Und Rouwen? Rúna wusste es nicht. Vermutlich legte auch er sich im Heu nieder.

Sie schob für sich und Arien zwei der Strohsäcke zurecht und suchte die bereitgelegten Decken nach Ungeziefer ab. Freya sei Dank – sie fand keines. Die Bäuerin hatte ihnen sogar eine Messinglampe mit einem Talglicht gegeben, damit sie sich zurechtfanden. Zweifellos war dies die größte Kostbarkeit, die die Familie besaß, und Rúna überlegte, ihren Kristallanhänger zurückzulassen. Aber damit würden die Bauersleute nichts anfangen können; man würde sie höchstens beschuldigen, ihn gestohlen zu haben. Auch der Sarazenendolch war zu kostbar, und an ihm hing sie längst. Sie würde morgen Sverri um eines seiner schlichteren Messer bitten. Das würden ihre Gastgeber sicher zu schätzen wissen.

Irgendwo raschelte eine Maus. Es roch nach frischem Stroh und altem Staub und der süßlichen Salbe, die Arien auf seiner Kehrseite verteilt hatte. Er war, erschöpft von dem langen ungewohnten Ritt, eingeschlafen, sowie er sich ausgestreckt hatte.

Rúna brauchte hingegen lange, bis auch sie Schlaf fand. Sie träumte sich im Übungskampf mit Rouwen. Er war wie Nebel und entglitt ihren Zugriffen. Dabei lächelte er auf eine Art, die ihr die Sehnsucht in die Brust trieb. Stell dich mir! Bleib hier! Umarme mich! All das wollte sie ihm zurufen, aber ihr Mund war wie zugenagelt. Dann war es plötzlich Yngvarr, der vor ihr stand und mit seinem Schwert auf sie eindrosch. Zornig schlug sie zurück. Oh, diese Wut, woher kam die nur? Sein Lächeln war höhnisch. Kalt. Bedrohlich. Er packte sie und zog sie an sich. Bleib hier, umarme mich, Wirbelwind … Sie schlug nach ihm, doch auch er war nur Nebel …

Irgendwann in der Nacht erwachte sie, froh, diesem und noch anderen wirren Träumen entkommen zu sein.

Jemand redete. »Arien?«, flüsterte sie benommen. Der aber schlief noch, und die Stimmen klangen dunkler. Sie kamen von unten, aus der Wohnkammer, erkannte sie. Rouwen und … ihr Vater.

Was mochten die beiden bereden? Sie schob die Decke weg und glitt vom Strohsack. Lautlos kroch sie dorthin, wo ein Lichtschimmer durch eine breite Bodenritze drang. Nein, lauschen wollte sie nicht, nur einmal kurz hinunterschauen, und dann hinaus, um sich zu erleichtern … Doch was sie sah, ließ ihr den Atem stocken. Tatsächlich unterhielten sich Baldvin und Rouwen miteinander und tranken dabei. Sie hockten nah am Herdfeuer auf einer Bank. Einvernehmlich wie Freunde. Erstaunlich!

»Nein, du hast ja recht«, sagte Baldvin gerade. »Das ist alles wirklich nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe …«

»Diese Burg wird dir wohl geöffnet, aber sicher, dass es keine Falle ist, kannst du nicht sein.«

»Ja, das bereitet mir Kopfzerbrechen. Dass ich meinen Jungen dabei habe, auch. Und dann Yngvarr … Er sieht mich mehr und mehr schief an. Und zu all dem kommt … verdammt.« Er stieß auf und nahm dann einen tiefen Schluck aus seinem Holzbecher.

»Dass Rúna mich liebt. Mich, einen Engländer, einen Christen.«

Ihr Vater nickte schwer. »Einen Mönch.« Er sah Rouwen von der Seite an, schüttelte den Kopf und hielt ihm plötzlich seinen Humpen vor die Nase. Rouwen hob seinen und stieß mit ihm an.

»Verdammt soll ich sein«, murmelte Baldvin.

»Ich ebenso.«

Gemeinsam tranken sie. Rúna wartete, dass Rouwen sagte, er liebe sie ebenfalls.

Er tat es nicht. Er schwieg.

Ich vermute, dass ich sie liebe – so hatte er es gesagt, als herausgekommen war, dass er ein Mönch war. Aber zugleich hatte er zugegeben, nichts von der Liebe zu wissen.

Sie wollte ihn in Gedanken zwingen, es zu sagen.

Nichts.

Verdammt, bei Thor!

»Ich habe das Gefühl, dass mir alles entgleitet«, seufzte Baldvin. Um die Neige zu trinken, musste er den Kopf weit zurücklegen. Rúna zuckte zurück, befürchtete, er könne sie sehen. Aber das war unmöglich, das einzige Licht kam von unten, und außerdem hielt er die Augen geschlossen.

»Ah«, stöhnte er genüsslich und wischte sich mit einem haarigen Handrücken über den Bart. Das Ale war gut; Rúna hatte es am Abend selbst probiert.

»Mir geht es ähnlich«, sagte Rouwen. »Alles ist ziemlich verwirrend.«

Da sind wir zu dritt, dachte sie.

Rouwen war anscheinend warm; er hatte sich seiner Tunika entledigt. Das rote Kreuz, das ihnen diesen Aufenthalt verschafft hatte, leuchtete im Feuerschein. Tatzenkreuz, so nannte man diese Art, hatte er ihr einmal erklärt. Die gespaltenen Enden ließen Rúna an die Schlange am Fuß des Weltenbaumes Yggdrasil denken. Ein Gedanke, den Rouwen entsetzt zurückweisen würde. Von dem sie ihn schnell ablenken müsste … Sie könnte die vollendete Rundung seiner Schulter liebkosen. Mit den Händen die kräftigen Muskeln und Sehnen erspüren. Ihre Finger an seinem Leib hinabwandern lassen …

Rúna ermahnte sich. Solche Gedanken sollte sie sich schnellstens aus dem Kopf schlagen. Überhaupt sollte sie besser verschwinden. Es gehörte sich nicht, die beiden Männer zu belauschen. Außerdem wurde das Bedürfnis, die Blase zu leeren, übermächtig. Auf den Knien schob sie sich aus der niedrigen Kammer und kletterte die Leiter hinunter. Die endete auf der anderen Seite des Wohnraums, und kaum hatte Rúna einen Fuß auf das raschelnde Stroh des Bodens gesetzt, drehten sich Baldvin und Rouwen auf der Bank.

»Ich muss mich nur erleichtern«, sagte sie und hastete die Tür hinaus. Sie grüßte Sverri, der müde antwortete, und lief um das Haus herum, bis zum Rand des nahegelegenen Wäldchens. Rasch hob sie die Tunika und kauerte sich nieder.

Ganz in der Nähe knisterte das Laub unter Schritten.

»Wer da?«, hörte sie Sverri rufen.

»Ich bin’s.« Es war Yngvarr, der sichtlich schlecht gelaunt aus der Düsternis des Wäldchens trat. Rúna duckte sich in die Schatten. Er hielt eine Fackel in der Hand. Fast sah es so aus, als wolle er das Haus niederbrennen. »Ich war im Wald und habe Odin geopfert.«

Wahrhaftig, auf seinen Armen und sogar in seinem Gesicht glänzten Blutspritzer. In der Linken hielt er Rouwens blutiges Langmesser.

»Wir haben Odin bereits ein Pferd geopfert«, sagte Sverri verwirrt.

»Ja, aber das war nicht genug! Wir haben einen Christen unter uns. Wir müssen damit rechnen, dass die Götter uns deswegen zürnen.«

»Das glaube ich nicht.«

Yngvarr machte eine unwirsche Handbewegung. »Dieser Mann ist doch wie ein faules Ei im Korb.«

»Er wird seinen Schwur halten.«

»Welchen denn? So viele, wie er sich aufgeladen hat, wird er einen gewiss brechen! Und dann«, er ballte vor Sverri die blutige Faust, »werde ich da sein und ihn töten.«

Am nächsten Tag lag strahlender Sonnenschein über dem wilden Land. Rúna bewunderte die Farbenpracht der Wildblumen auf den Wiesen, die in Blüte stehenden Apfelbäume und die mächtigen Eichen, hellen Birken und knorrigen Kiefern. Vögel gab es auch hier reichlich, doch Schafe von so großer Zahl hatte sie noch nie gesehen. In der Mitte eines tiefblauen Sees, an dessen Ufer sie entlangwanderten, stand eine alte Kirche, die sich in dem ruhigen Wasser spiegelte. Offenbar konnte man sie nur mit einem Boot erreichen, doch keines war zu sehen.

Rouwen machte ein Kreuzzeichen. Er wirkte aufgeräumt, erwähnte die Nacht mit keinem Wort, erzählte dafür von den Römern und einem Wall, den sie quer durch das Land gebaut hatten, dann von alten Völkern, den Pikten und Skoten. Die glorreiche Zeit der Wikinger übersprang er; darüber kannte Rúna selbst genügend Geschichten. Er erzählte von Wilhelm dem Rauen, dem König, und seinem Streit mit dem englischen König, dann von diesem und seinen Söhnen, die ihn bekämpften. Ihr lag die Bemerkung auf der Zunge, dass er über das Land der Schotten bisher mehr erzählt hatte als über seine englische Heimat. Sie wusste ja nicht einmal, aus welcher Gegend er kam. Würde er ihr irgendwann genug Vertrauen schenken, um es ihr zu verraten?

Nur selten begegneten sie anderen Menschen. Einem Mann, der Kräuter sammelte. Einem Schäfer. Einer Familie, die eine Wiese mähte. Das Land wirkte so rau wie friedlich. An Gefahren oder eine Falle mochte man kaum denken. Auch der so schwer einschätzbare Angus plauderte heiter mit Baldvin, während er sein Ross heute zumeist am Zügel führte. Eilig schien er es nicht zu haben – würden sie Burg Daenston heute überhaupt erreichen? Arien verzichtete notgedrungen ebenfalls aufs Reiten und verlangsamte den Zug zusätzlich. Je länger sie liefen, desto unwirklicher kam Rúna das alles vor.

Am Nachmittag machten sie Rast. Rúna schlug sich in einen lichten Hutewald und schoss ein Kitz. Mit des Earls Erlaubnis, wie Angus betonte; andernfalls hätte es sich um Wilderei gehandelt. Mit ein paar Kräutern war bald eine wohlschmeckende Mahlzeit zubereitet. Als alle satt und die Reste verstaut waren, ging es weiter. Träge vom Mittagsmahl, kam kaum eine Unterhaltung auf. Auch Rúna war in ihre eigenen Gedanken versunken. Je näher sie ihrem Ziel rückten, desto mehr Sorgen machte sie sich.

Was, wenn Baldvin in eine Falle tappte und sein Ansehen, gar sein Leben verlor? Wenn Yngvarr sein Scheitern nutzte, sich über ihn zu stellen? Wenn Yngvarr recht hatte, dass Rouwen einen seiner Schwüre brach? Jenen, den er seinem Orden gegenüber geleistet hatte, durfte er gerne vergessen, wenn es nach ihr ginge. Doch was, wenn er sich gegen Baldvin und die Yoturer stellte?

Was, wenn sie alle bei einem Kampf starben?

Dazu durfte sie es auf keinen Fall kommen lassen. Vielleicht sollte sie sich der Sache einfach selbst annehmen und den Mönch zu ihrem Vater bringen. Ihr könnte nun als Vorteil gereichen, was sie bisher im Kampf immer als Nachteil erachtet hatte. Sie war eine Frau. Burgen waren bevölkert; sie könnte einfach hineinspazieren. Eine Ausrede würde sich schon finden.

Und dann würde sie einfach tun, was ihr in Eastfield-upon-Eye-Water schon einmal so vortrefflich gelungen war. Sie würde sich Oxnac schnappen und entführen. Oder, falls das nicht gelang, ihn töten.

Damit wäre die Fehde beendet. Die Mutter wäre gerächt, der Vater könnte in Frieden nach Yotur zurückkehren. Rouwen wäre frei. Sie selbst hätte Achtung und Ruhm gewonnen – diese Reise wäre unverhofft zu ihrer Wikingfahrt geworden, und sie könnte der Bürde, einmal Baldvins Thronstuhl zu beerben, gelassener entgegensehen. Und vorher vielleicht sogar mit Rouwen gehen und dessen Zuhause besuchen, das zu verheimlichen er keinen Grund mehr hätte. Oder Rouwen bliebe auf den Hjaltland-Inseln …?

Nein, das war zu weit vorausgedacht. Das Problem seines Keuschheitsschwurs bestand fort. Wie auch immer, wenn es ihr gelang, Oxnac zu schnappen, wären alle anderen Schwierigkeiten mit einem Schlag beseitigt. Wie ein Hieb mit einem Schwert auf einen riesigen Deichselknoten. Ein Held aus dem Orient hatte es einmal so gemacht; Arien hatte über ihn in einem Buch gelesen. Im Laufen befingerte Rúna Falkenkralles Griff.

Sie hatte sich entschlossen. Sie würde diesen Knoten zerhauen.

Für eine gute Stunde folgten sie einem Weg, der sich zwischen grünen Böschungen, aus denen schroffe Felsen stachen, entlangwand. Die Sonne stand schon tief. Immer öfter sahen sie jetzt Schotten, die denselben Weg nahmen; offenbar wollten auch sie zur Burg. Eine Familie zog einen Karren mit Stroh. Andere trugen Strohgarben auf den Schultern. Zwei Frauen hatten lebende Hühner an die Gürtel gebunden, die im Takt ihrer Schritte flatterten und gackerten. Sie alle stockten in ihrem Schritt, als die Wikinger an ihnen vorbei marschierten, wichen zu den Grashängen zurück und tuschelten.

»Die Zeiten sind wirklich übel geworden«, knurrte Yngvarr in seinen Bart. »Niemand hat mehr eine Ahnung, wer oder was wir sind.«

»Sie werden denken, ihr seid Nachkommen norwegischer Siedler«, sagte Angus. »Und dass ihr bewaffnet seid, weil ihr in den Diensten des Earls steht.«

Yngvarr drehte den Kopf zur Seite und spuckte auf diese Worte.

»Bald kommt ein Wirtshaus, dort können wir essen. Bis zur Burg ist es nicht mehr weit. Wenn …«, begann Angus, doch Baldvin schüttelte den Kopf.

»Wir werden uns ausruhen und noch eine Nacht abwarten, aber im Wald. Und du wirst mit uns kommen. Haben wir uns verstanden?«

Der Schotte grinste. »Sicher. Ihr traut mir nicht, und meine Führung braucht ihr jetzt nicht mehr. Damit habe ich gerechnet.« Als wolle er sich ergeben, hob er die Hände. »Ich habe nichts gegen ein Lager im Freien.«

Der Trupp schlug sich in den Wald und fand bald eine geschützte Lichtung. Rúna half Sverri, das Zelt für Arien und sich aufzubauen, dann verkündete sie beiläufig, noch einmal auf die Jagd gehen zu wollen.

»Wann bist du zurück?«, fragte Rouwen.

Sie erschrak. Konnte er ahnen, was sie vorhatte?

»Ich werde mir Zeit lassen, denn ich habe langsam genug von der Gegenwart so vieler Kerle«, sagte sie spitz.

»Sei vorsichtig. Dies ist ein fremdes Land …«

»Ich kann auf mich aufpassen!«, zischte sie.

Es tat ihr leid, ihn so anzufahren, aber er durfte nicht auf den Gedanken kommen, sich um sie zu sorgen – und ihr womöglich zu folgen. Sie bedachte ihn mit einem abweisenden Blick, dann ließ sie ihn stehen und drang tiefer in den Wald. Dort schlug sie einen Bogen um das Lager und kehrte auf den Weg zurück.

So weit, so gut. Jetzt musste sie nur zur Burg, den Mönch finden und entführen oder töten.

Ganz einfach, oder?