33
Kafka schreibt ein Gedicht und liebt es
Von Kafka sind nur gelegentliche lyrische Versuche überliefert, meist wenige hingeworfene Verse ohne Titel. Weder in den autobiografischen Zeugnissen noch in Max Brods Erinnerungen ist je die Rede davon, dass Kafka an die Veröffentlichung dieser Zeilen dachte. Auch hat er niemals versucht, seine lyrische Begabung durch ein umfänglicheres Werk auf die Probe zu stellen (wie er es für die Form des Dramas mit dem Gruftwächter unternahm).
Es ist jedoch vorgekommen, dass Kafka eigene Verse schätzte und der Überlieferung für wert hielt. So findet sich auf einem Kalenderblatt vom 17. September 1909 das folgende titellose Gedicht:
Kleine Seele
springst im Tanze
legst in warme Luft den Kopf
hebst die Füsse aus glänzendem Grase
das der Wind in zarte Bewegung treibt
Dieses Gedicht behielt Kafka im Gedächtnis; etwa zwei Jahre später trug er es spontan in ein Stammbuch ein, das ihm ein Bekannter aus dem Kaffeehaus vorlegte, ein Sammler namens Anton Max Pachinger (siehe Fundstück 19).
Außerdem bewahrte Kafka das Kalenderblatt mit der Handschrift sorgfältig auf. Erhalten blieb es zwischen den Seiten eines der Oktavhefte, die er 1917/18 in Zürau benutzte, wo er für acht Monate auf dem Gut seiner Schwester Ottla lebte. Entweder hat Kafka das Blatt dort eingelegt, während das Heft bereits in Benutzung war, möglicherweise während eines kurzen Besuchs in Prag. Oder das Gedicht geriet versehentlich in das Zürauer Heft, als Max Brod an Kafkas Nachlass arbeitete. Auch dies würde jedoch voraussetzen, dass Kafka selbst das Kalenderblatt bis zu seinem Tod aufbewahrte, denn Einblick in die Oktavhefte erhielt Brod erst danach.