Eigenheiten
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Der unglückliche Wohltäter
Ich hatte einmal als ganz kleiner Junge ein Sechserl bekommen und hatte grosse Lust es einer alten Bettlerin zu geben, die zwischen dem grossen und dem kleinen Ring sass. Nun schien mir aber die Summe ungeheuer, eine Summe die wahrscheinlich noch niemals einem Bettler gegeben worden ist, ich schämte mich deshalb vor der Bettlerin etwas so Ungeheuerliches zu tun. Geben aber musste ich es ihr doch, ich wechselte deshalb das Sechserl, gab der Bettlerin einen Kreuzer, umlief den ganzen Komplex des Rathauses und des Laubenganges am kleinen Ring, kam als ein ganz neuer Wohltäter links heraus, gab der Bettlerin wieder einen Kreuzer, fing wieder zu laufen an und machte das glücklich zehnmal. (Oder auch etwas weniger, denn, ich glaube die Bettlerin verlor dann später die Geduld und verschwand mir.) Jedenfalls war ich zum Schluss, auch moralisch, so erschöpft, dass ich gleich nach Hause lief und so lange weinte, bis mir die Mutter das Sechserl wieder ersetzte.
Du siehst, ich habe Unglück mit Bettlern, doch erkläre ich mich bereit mein ganzes gegenwärtiges und künftiges Vermögen in kleinsten Wiener Kassenscheinen dort bei der Oper langsam einer Bettlerin auszuzahlen unter der Voraussetzung dass Du dabei stehst und ich Deine Nähe fühlen darf.
Altstädter Ring, um 1880
Zu den zahlreichen Problemen, die sich zwischen Kafka und der von ihm geliebten Milena Jesenská ergaben, gehörte auch der sehr unterschiedliche Umgang mit Geld. »Einmal hat er einer Bettlerin zwei Kronen gegeben«, erzählte sie Max Brod, »und wollte eine Krone heraushaben. Sie sagte, daß sie nichts habe. Wir sind gute zwei Minuten dagestanden und haben darüber nachgedacht, wie wir die Sache durchführen sollten. Da fällt ihm ein, er könne ihr beide Kronen lassen. Aber kaum hat er ein paar Schritte gemacht, wird er sehr verdrießlich. Und derselbe Mensch würde mir selbstverständlich sofort mit Begeisterung, voll Glück zwanzigtausend Kronen geben.« Diesen Vorfall brachte sie auch gegenüber Kafka noch einmal zur Sprache, der sich jedoch erfindungsreich verteidigte und dabei unter anderem seine Kindheitserinnerung anführte.
Sich selbst warf Kafka »Geiz in kleinen Dingen vor«, und tatsächlich konnte er finanziell ebenso großzügig wie kleinlich sein. Er genoss es, Geschenke zu machen, auch Geld zu geben, doch es musste ganz und gar freiwillig geschehen. Mit einer abgenötigten Spende, mit falschem Wechselgeld oder unbedachten Ausgaben konnte er sich nur schwer abfinden – selbst wenn es nur um ein ›Sechserl‹ ging.