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Bei den Dirnen
Kisten tragen und abstauben, denn wir übersiedeln das Geschäft, kleines Mädchen, sehr wenig Lernen, Dein Buch, Dirnen, Macaulay »Lord Clive«; auch so ergibt sich ein Ganzes
Karte an Max Brod, 27. Mai 1906
Wir könnten statt unseres geplanten Nachtlebens von Montag zu Dienstag ein hübsches Morgenleben veranstalten, uns um 5 Uhr oder ½ 6 bei der Marienstatue treffen – bei den Weibern kann es uns dann nicht fehlen – und ins Trokadero oder nach Kuchelbad gehn oder ins Eldorado. Wir können dann, wie es uns passen wird im Garten an der Moldau Kaffee trinken oder auch an die Schulter der Josci gelehnt. Beides wäre zu loben.
Brief an Max Brod, 29. März 1908
nur dein Buch, das ich jetzt endlich geradenwegs lese, tut mir gut. So tief im Unglück ohne Erklärung war ich schon lange nicht. Solange ich es lese, halte ich mich daran fest, wenn es auch gar nicht Unglücklichen helfen will, aber sonst muss ich so dringend jemanden suchen, der mich nur freundlich berührt, dass ich gestern mit einer Dirne im Hotel war. Sie ist zu alt, um noch melancholisch zu sein, nur tut ihr leid, wenn es sie auch nicht wundert, dass man zu Dirnen nicht so lieb wie zu einem Verhältnis ist. Ich habe sie nicht getröstet, da sie auch mich nicht getröstet hat.
Brief an Max Brod, 29./30. Juli 1908
Ich gieng an dem Bordell vorüber, wie an dem Haus einer Geliebten.
Tagebuch, 1909
[Paris:] Rationell eingerichtete Bordelle. Die reinen Jalousien der grossen Fenster des ganzen Hauses herabgelassen. In der Portierloge statt eines Mannes ehrbar angezogene Frau, die überall zu Hause sein könnte. Schon in Prag habe ich immer den amazonenmässigen Charakter der Bordelle flüchtig bemerkt. Hier ist es noch deutlicher. Der weibliche Portier der sein elektr. Läutewerk in Bewegung setzt, der uns in seiner Loge zurückhält, weil ihm gemeldet wird, dass gerade Gäste die Treppe herabkommen, die zwei ehrbaren Frauen oben (warum zwei?) die uns empfangen, das Aufdrehen des elektr. Lichtes im Nebenzimmer in dem die unbeschäftigten Mädchen im Dunkel oder Halbdunkel sassen, der ¾ Kreis (wir ergänzen ihn zum Kreis) in dem sie um uns in aufrechten auf ihren Vorteil bedachten Stellungen stehn, der grosse Schritt, mit dem die Erwählte vortritt, der Griff der Madame mit dem sie mich auffordert … ich mich zum Ausgang gezogen fühle. Unmöglich mir vorzustellen wie ich auf die Gasse kam, so rasch war es. Schwer ist die Mädchen dort genauer anzusehn, weil sie zu viele sind, mit den Augen blinzeln, vor allem zu nahe stehn. Man müsste die Augen aufreissen und dazu gehört Übung. In der Erinnerung habe ich eigentlich nur die, welche gerade vor mir stand. Sie hatte lückenhafte Zähne, streckte sich in die Höhe, hielt mit der über der Scham geballten Faust ihr Kleid zusammen und öffnete und schloss gleich und schnell die grossen Augen und den grossen Mund. Ihr blondes Haar schien zerrauft. Sie war mager. Angst davor nicht zu vergessen den Hut nicht abzunehmen. Man muss sich die Hand von der Krempe reissen. Einsamer, langer sinnloser Nachhauseweg.
Reisetagebuch, 1911
Im B. [Bordell] Suha vorvorgestern. Die eine Jüdin mit schmalem Gesicht, besser das in ein schmales Kinn verläuft, aber von einer ausgedehnt welligen Frisur ins Breite geschüttelt wird. Die drei kleinen Türen, die aus dem Innern des Gebäudes in den Salon führen. Die Gäste wie in einer Wachstube auf der Bühne, Getränke auf dem Tisch, werden ja kaum angerührt. Die Flachgesichtige im eckigen Kleid, das erst tief unten in einem Saum sich zu bewegen anfängt. Einige hier und früher angezogen wie die Marionetten für Kinderteater, wie man sie auf dem Christmarkt verkauft d.h. mit Rüschen und Gold beklebt und lose benäht, so dass man sie mit einem Zug abtrennen kann und dass sie einem dann in den Fingern zerfallen. Die Wirtin mit dem mattblonden über zweifellos ekelhaften Unterlagen straff gezogenem Haar, mit der scharf niedergehenden Nase, deren Richtung in irgendeiner geometrischen Beziehung zu den hängenden Brüsten und dem steif gehaltenen Bauch steht, klagt über Kopfschmerzen, die dadurch verursacht sind, dass heute Samstag ein so grosser Rummel und nichts daran ist.
Tagebuch, 1. Oktober 1911
Ich gehe absichtlich durch die Gassen, wo Dirnen sind. Das Vorübergehn an ihnen reizt mich, diese ferne aber immerhin bestehende Möglichkeit mit einer zu gehn. Ist das Gemeinheit? Ich weiss aber nichts besseres und das Ausführen dessen scheint mir im Grunde unschuldig und macht mir fast keine Reue. Ich will nur die dicken ältern, mit veralteten aber gewissermassen durch verschiedene Behänge üppigen Kleidern. Eine Frau kennt mich wahrscheinlich schon. Ich traf sie heute nachmittag, sie war noch nicht in Berufskleidung, die Haare lagen noch am Kopf an, sie hatte keinen Hut, eine Arbeitsbluse wie Köchinnen und trug irgendeinen Ballen vielleicht zur Wäscherin. Kein Mensch hätte etwas Reizendes an ihr gefunden, nur ich. Wir sahen einander flüchtig an. Jetzt abend, es ist inzwischen kalt geworden, sah ich sie in einem anliegenden, gelblich braunen Mantel auf der andern Seite der engen von der Zeltnergasse abzweigenden Gasse, wo sie ihre Promenade hat. Ich sah zweimal nach ihr zurück, sie fasste auch den Blick, aber dann lief ich ihr eigentlich davon.
Tagebuch, 19. November 1913
das G. [Geschlecht] drängt mich, quält mich Tag und Nacht, ich müsste Furcht und Scham und wohl auch Trauer überwinden um ihm zu genügen, andererseits ist es aber gewiss, dass ich eine schnell und nah und willig sich darbietende Gelegenheit sofort ohne Furcht und Trauer und Scham benützen würde;
Tagebuch, 18. Januar 1922
Beim Kragen gepackt, durch die Strassen gezerrt, in die Tür hineingestossen.
Tagebuch, 20. Januar 1922
Kafka und Hansi Julie Szokoll, um 1907
Wie für die Mehrzahl bürgerlicher Männer seiner Zeit war auch für Kafka der Besuch von Prostituierten zunächst kein moralisches, sondern eher ein hygienisches Problem. Da man sich die männliche Sexualität (nicht aber die weibliche) als Dampfkessel vorstellte, aus dem, um größeres Unglück zu verhüten, gelegentlich Druck abgelassen werden muss, galt es weithin als legitim, wenn Junggesellen oder ›unbefriedigte‹ Ehemänner für Sex bezahlten. Noch der 36jährige Kafka bekam von seinem Vater zu hören – im Beisein der Mutter –, er solle doch lieber ins Bordell gehen, als sich mit der Nächstbesten zu verloben.
Im Prag der Jahrhundertwende gab es Dutzende von ›öffentlichen Häusern‹, daneben aber auch zahlreiche Bars, Nachtcafés und Weinstuben wie das Trocadero oder das Eldorado, in denen es leicht war, mit käuflichen Frauen Bekanntschaft zu schließen. Mindestens zweimal ließ sich Kafka auf Liaisons mit solchen Frauen ein, und es ist sogar ein Foto überliefert, auf dem er mit einer dieser unglücklichen Liebschaften zu sehen ist, der Weinstubenkellnerin Hansi Julie Szokoll. Auch auf den mit Max Brod unternommenen Reisen nach Mailand, Paris und Leipzig suchte man gemeinsam Bordelle auf.
Im Lauf der Jahre, mit zunehmend schärfer werdender Beobachtung und Selbstbeobachtung, wurde Kafka die eigene Sexualität immer problematischer, und im Gegensatz zu Brod war er nicht mehr imstande, Frauen zu ›konsumieren‹. Ab ca. 1912 nahm er am Prager Nachtleben kaum noch teil. Den letzten dokumentierten Besuch eines Bordells im Januar 1922 vermerkt Kafka im Tagebuch nur noch als Zwangshandlung.