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Er fühlte sich zerschlagen, ausgelaugt und müde bis auf die Knochen. Aber es war eine Müdigkeit, die nicht auf mangelndem Schlaf beruhte. Zumindest nicht in ihrem Kern. Es war eine Erschöpfung der Seele, die ihn quälte und ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Und mit jedem Tag, an dem er seine schändliche Rolle im Konvent der Oberen zu spielen gezwungen war, wuchs in ihm der Selbstekel, aber auch die Hoffnungslosigkeit.

Rastlos wanderte er in seinem Privatquartier zwischen Erkerfenster und Schreibtisch auf und ab. Dort lag auf der Schreibunterlage vor dem gerahmten Foto seiner Familie ein ledergebundenes, abgegriffenes Buch. Er hatte es schon vor einer guten halben Stunde aus seinem Versteck hinter einer der Holzpaneelen hervorgeholt, mit denen die Wände seines Arbeitszimmers verkleidet waren. Aber er wagte es nicht, sich am Schreibtisch niederzulassen, das Buch aufzuschlagen und sich seiner mehr als zweitausend Jahre alten Botschaft auszusetzen. Er fürchtete sich davor, von Reue übermannt zu werden und die eigene Schande nicht länger ertragen zu können.

Warum hatte er die Bibel aus dem Versteck geholt? Was brachte es ihm, darin zu lesen und einmal mehr daran erinnert zu werden, dass auch seine Seele nicht rettungslos verloren war, sofern er nur zur bußfertigen Umkehr bereit war. Er mochte bereuen, so viel er wollte, eine Möglichkeit zur Buße und Umkehr gab es für ihn nicht. Er war gefangen.

Abrupt drehte er der Bibel auf dem Schreibtisch den Rücken zu und blieb vor dem Fenster stehen. Mit gequälter Miene starrte er hinunter auf den ausgestorbenen Appellplatz, erfüllt von Schuld und Abscheu vor sich selbst.

Aber so war es immer nach einer Lichtmesse. Selbst bei seiner ersten Lichtmesse, als er von der Notwendigkeit und Wichtigkeit seiner Aufgabe noch uneingeschränkt überzeugt gewesen war, hatte er schon Unbehagen, ja sogar einen Anflug von Widerwillen empfunden. Doch damals hatte er es noch geschafft, das ganze Liberty-System vor sich selbst zu rechtfertigen.

Es gab natürlich gute Gründe dafür, so hatte er sich eingeredet, dass die geistigen Architekten des Liberty-Systems sich bei der katholischen Kirche bedient und nicht nur deren Zeremonien für ihre Zwecke umgeschrieben, sondern der Zwangsgemeinschaft in der Sicherheitszone zudem auch noch den Charakter eines Ordens gegeben hatten. Nicht allein, weil es diese Vorlage gab und diese so leicht zu kopieren war, sondern vor allem wegen ihrer Erfolgsgeschichte.

Der Symbolreichtum und die Aura des Mysteriums, das sich jeglicher menschlicher Logik entzog, hatten von Anbeginn der Kirche eine gewaltige Faszination ausgeübt. Und dass diese Faszinationskraft in den Händen machthungriger und skrupelloser Kirchenführer auch bestens dazu taugte, die Gläubigen gefügsam zu machen und sie bis zur Selbstaufgabe zu knechten, ohne dass ihnen ihre Knechtschaft bewusst wurde, das hatten viele Jahrhunderte dunkler Kirchengeschichte zur Genüge bewiesen. Das alles mit moderner Technik und anderem Blendwerk zu kombinieren, war eine geniale Idee gewesen. Es gab viele Arten von Gehirnwäsche, aber wohl keine wirksamere, zumal wenn man sie an Kindern und Jugendlichen und abgeschieden vom Rest der Welt ausübte.

Ja, damals hatte er für all das noch Verständnis und jede Menge logische Argumente für diese abscheuliche Travestie gefunden. Aber davon war längst nichts mehr übrig geblieben. Jetzt schämte er sich bis auf den Grund seiner Seele. Und wie ein Krebsgeschwür fraß ihn das Wissen innerlich auf, dass er Tag für Tag tatkräftig daran mitarbeitete, die in Wahrheit doch frohe und Botschaft des Christentums in pervertierter Form zu missbrauchen, um aus begeisterungsfähigen jungen Menschen willenlose und vor allem ahnungslose Werkzeuge zu machen – und sie ins sichere Verderben zu schicken.

Aber so groß sein Schuldgefühl und seine Reue auch waren, es gab für ihn kein Entkommen. Er musste weiter in diesem Tal der Schande ausharren.

Ein lauter Zuruf, der über den Hof schallte, ließ ihn kurz aus seinen finsteren Gedanken auffahren. Es war Chapman, der aus dem Schwarzen Würfel geeilt kam und Sherwood drüben bei der Tube etwas zurief. Die beiden waren am besten mit der Technik vertraut und mussten nun dafür sorgen, dass sie die Tube wieder zum Laufen brachten. Keine leichte Aufgabe, wenn man wusste, wie alt die Anlage schon war und dass sie vor der großen Zeitenwende zu einem Vergnügungspark in Norcal gehört hatte.

Er verzog das Gesicht zu einer bitteren Miene. Die Tube war nicht die einzige Anlage, die immer reparaturanfälliger wurde und für die es immer weniger Ersatzteile gab. Zwei der Module unter dem Schwarzen Würfel, die eigentlich noch viele Jahre hätten Strom erzeugen sollen, waren mittlerweile schon ausgefallen. Auch die Lichttechnik machte neuerdings Sorgen. Sie auf dem bisherigen Stand zu halten, wurde immer aufwendiger und schwieriger.

Wie knapp die Ressourcen geworden waren, hatte er gestern nur zu deutlich vor Augen gehabt. Hyperion hatte anstelle des großen regulären Lichtschiffs, das noch immer nicht repariert war, notgedrungen einen kleinen, schnell mit Lichttechnik umgerüsteten Chopper geschickt. Das hatte es früher nicht gegeben und es gab ein beredetes Zeugnis über die angespannte Lage ab. Es hieß, es fehle am nötigen Rohmaterial.

Er lachte freudlos und trocken auf. Es klang wie ein heiseres Krächzen. Auch ihm fehlte es am Nötigsten, und das war eine Kiste mit hochprozentigem Tequila, die der Großraumchopper, zusammen mit anderer Fracht, eigentlich hätte bringen sollen. Nicht einmal der Trost, kurzzeitiges Vergessen in der Flasche zu finden, war ihm also vergönnt. Er konnte nur hoffen, dass der Großraumchopper in den nächsten Tagen doch noch repariert werden und nächste Woche kommen konnte.

Kaum war ihm dieser hoffnungsvolle Gedanke durch den Kopf gegangen, als er sich schlagartig wieder bewusst wurde, warum schon jetzt im Juli und nicht erst wie gewöhnlich im Herbst die Chopper kamen: Im Lichttempel wurde dringend Nachschub gebraucht!

Der Tod kam schneller als bisher!

Es schnürte ihm die Kehle zu, und schnell wandte er sich vom Fenster ab, als unten eine Gruppe älterer Jungen und Mädchen in ihren Schwimmsachen unter fröhlichem Gelächter die Portalstufen hinunterliefen und sich auf den Weg zum See machten. Überglücklich, dass sie wegen des frühmorgendlichen Eintreffens des Lichtschiffs an diesem Tag schon zwei Stunden nach der mittäglichen Freistunde von allem weiteren Unterricht entbunden worden waren und damit einen langen freien Nachmittag hatten.

Er fiel in seinen harten Armstuhl hinter dem Schreibtisch, stützte die Ellbogen auf die Platte und vergrub sein Gesicht in den Händen. Was für ein abscheuliches Leben hatte er nur gewählt! Ein Leben, in dessen Zentrum die Aufgabe stand, Verrat an jungen unschuldigen Menschen zu begehen und sie in den sicheren Tod zu schicken! Und mochte dieses Opfer noch so notwendig sein.

Ein trockenes Schluchzen stieg ihm in die Kehle. Er hatte seine Seele verkauft, um das Leben seiner Lieben zu retten. Aber selbst das vermochte ihn nicht vor dem selbstzerstörerischen Selbsthass und dem schwarzen Abgrund zu bewahren, dem er jeden Tag ein Stück näher kam. Und der Tag war nicht mehr fern, an dem er endgültig den Boden unter den Füßen verlieren und sich widerstandslos in diesen schwarzen Schlund fallen lassen würde.